Allen Zadoff

Boy Nobody

Ich bin dein Freund.
Ich bin dein Mörder.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Petra Post und Andrea von Struve

Impressum

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe
bloomoon, München 2013

Copyright © 2013 by Allen Zadoff

Titel der Originalausgabe: Boy Nobody

Die Originalausgabe erscheint 2013 bei Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, Inc., New York.

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, USA. All rights reserved.

© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Allen Zadoff

Übersetzung: Petra Post und Andrea von Struve

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originalcovers mit Bildmaterial von © Arcangel Images/​Tim Robinson und © the-parish.com

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3 - 7607 - 9993 - 3

ISBN Printausgabe 978 - 3 - 8458 - 0005 - 9

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ich nehme mir einen Baseballschläger.

Es ist ein Rawlings Composite. Ich prüfe, wie er in der Hand liegt. Wegen einer kleinen Delle am vorderen Ende ist er nicht richtig ausbalanciert.

Ich halte ihn an beiden Enden hoch über den Kopf und strecke mich. Das Match ist vorbei: Natick gegen Wellesley. Ich stehe mit den anderen Spielern vom Natick-Highschool-Team auf dem Parkplatz vor dem Stadion. Die Jungs sind ganz aus dem Häuschen, feiern wie wild unseren Sieg.

Und genau das tue ich auch.

Ich bin einer von euch. Ich bin jung. Ich bin tough.

Ich lächle und recke mich. Dann lehne ich mich zurück, hole aus und lasse den Schläger durch die Luft sausen.

Um ein Haar hätte ich Jack Wu am Kopf getroffen, der plötzlich hinter mir aufgetaucht ist.

Der Schrank im schwarzen Anzug, der ganz in der Nähe steht, strafft sich kaum merklich. Aber er greift nicht ein.

Er ist Jacks Bodyguard und Fahrer, ein Schatten, der ihm nicht von der Seite weicht. Jacks Vater ist reich. Reich und ängstlich. Und das nicht ohne Grund.

Jack kann den Bodyguard nicht ausstehen. Das hat er mir schon x-mal erzählt. Ich bin Jacks Freund, sonst würde er mir so was nicht anvertrauen.

»He, pass mit dem Schläger auf, Mann«, sagt Jack und boxt mir gegen die Schulter. Aber nur leicht.

Der Schrank macht einen Schritt auf Jack zu, und Jack, der ihn kommen sieht, fährt herum.

»Platz, Rover!«, schnauzt er ihn an, als wäre sein Leibwächter ein Pitbull.

Der Schrank grinst, macht gute Miene zum bösen Spiel, aber wahrscheinlich würde er Jack am liebsten eine Tracht Prügel verpassen. Stattdessen lehnt er sich an den schnittigen schwarzen Mercedes und wartet.

»Die hast du ja echt plattgemacht«, sagt Jack und deutet mit dem Kopf Richtung Spielfeld.

»Man tut, was man kann.«

»Jedenfalls haben die andern ganz schön alt ausgesehen«, meint Jack und boxt mir wieder gegen die Schulter.

Diesmal zuckt der Schrank nicht mal mit der Wimper. Aber die anderen Jungs schauen zu uns herüber.

Zwei Schläge gegen die Schulter. Er will wohl testen, wer der Überlegene von uns ist.

Eine Provokation, auf die ich reagieren muss.

Ich wäge meine Alternativen ab:

Ich kann den Schwanz einziehen und gar nichts machen.

Ich kann mit den gleichen Waffen zurückschlagen.

Ich kann zu härteren Mitteln greifen und ihm zeigen, wer der Stärkere ist.

Wie soll ich mich entscheiden?

Jack ist ja eigentlich mein Freund, und einen Freund würde man nur kumpelhaft zurückboxen. Im Zweifelsfall mitspielen. So hab ich’s gelernt.

Also entscheide ich mich für die zweite Möglichkeit.

Ich boxe Jack leicht gegen die Schulter.

»Au!«, schreit er in gespieltem Schmerz. »Bleib locker, Mann.«

Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden:

Ich schwinge den Schläger. Jack boxt mich. Ich boxe zurück.

Wir lachen, während uns der Schrank aufmerksam beobachtet.

Für einen Außenstehenden sind wir einfach zwei befreundete Baseballcracks, die sich gegenseitig hochnehmen.

»Gehen wir noch zu mir, in den Hochsicherheitstrakt?«, fragt Jack.

Hochsicherheitstrakt. So nennt er sein Zuhause.

»Ja, aber nur kurz«, antworte ich.

Als Jack auf den Mercedes zugeht, reißt der Schrank sofort die hintere Wagentür auf.

»Mein Freund kommt mit«, sagt Jack zu ihm.

»Okay, Sir.« Der Pitbull fordert mich mit einer knappen Geste zum Einsteigen auf.

Das Lederpolster im Mercedes fühlt sich weich an.

Man versinkt förmlich darin. Am liebsten möchte man sich hineinfallen lassen und alles um sich herum vergessen. Wir kümmern uns um dich. Wir bringen dich sicher an dein Ziel, scheint es einem zuzuraunen.

Ich frage mich, wie es wohl wäre, einen Vater zu haben, der sich teure Autos und Bodyguards leisten kann. Noch dazu einen, der sich das alles leistet, damit es seinem Sohn gut geht und ihm nichts passiert.

Aber an so was sollte ich jetzt besser nicht denken. Nicht, solange ich einen Job zu erledigen habe.

Ich sehe Jack an. Er hat sich ins Polster zurückgelehnt und die Augen geschlossen.

»Ich hab nachgedacht«, sagt er.

»Wow, mal was ganz Neues.«

»Blödmann.« Er lächelt, seine Augen sind immer noch geschlossen. »Ich hab über uns nachgedacht.«

»Bitte keine peinlichen Geständnisse. Mir wird schon ganz anders.«

»Kann man mit dir nicht mal ’ne Minute lang ernsthaft reden?«

»Also gut, ich geb dir sechzig Sekunden, aber keine Sekunde länger.«

»Weißt du eigentlich, dass du mein einziger Freund bist?«

»Du hast doch haufenweise Freunde.«

»Aber keine, die ich zu mir nach Hause einlade. Und denen ich vertraue.«

»Du vertraust mir?«

»Sag ich doch.«

Der Schrank auf dem Fahrersitz hüstelt. Will er Jack warnen oder sich in Erinnerung rufen? Vielleicht hat’s ja auch gar nichts zu bedeuten. Nur ein Kratzen im Hals.

»Wenn das so ist, könntest du mir doch hundert Dollar leihen, oder?«

»So sehr vertrau ich dir nun auch wieder nicht«, sagt Jack und lacht.

Er boxt mich gegen den Arm.

Ich lass es mir gefallen.

Am Sicherheitstor tippt der Schrank einen Code ein.

Das große Metalltor gleitet zur Seite und gibt den Blick auf eine lange Auffahrt frei.

Wir fahren ein paar Meter und halten vor einem Wachhäuschen. Der Schrank nickt dem Wachmann zu und hält zwei Finger hoch: zwei Personen. Jack und ich. Der Wachmann notiert es sich auf einem Klemmbrett. Er hat mich schon öfter gesehen und winkt uns durch.

Wir fahren weiter. Hinter einer scharfen Kurve kommt das Haus in Sicht. Ziemlich groß, aber nichts Bombastisches. Der Schrank setzt uns vor dem Eingang ab.

Jack tippt den Sicherheitscode ein.

Es piept kurz. Haustür offen, sagt eine Computerstimme.

Als die Tür wieder zufällt, piept es noch einmal. Haustür geschlossen, sagt die Stimme.

Jacks Vater kommt mit einem Bier in der Hand in den Flur geschlendert. Er heißt Chen Wu, aber seine Freunde nennen ihn John. Er ist der Chef einer Hightechfirma, die jede Menge Geschäfte mit der Regierung macht.

Und er gibt einen Haufen Geld für seine Sicherheit aus.

Warum tut er das? Weil es ihm gefällt. Weil man sich ungeheuer wichtig fühlt, wenn man von lauter schwer bewaffneten Typen umgeben ist. Und es beruhigt einen natürlich. Außerdem fühlt sich seine Frau sicherer und macht ihm nicht mehr die Hölle heiß.

Aber Mr Wu ist nicht der Einzige mit einem Sicherheitsfimmel. Die ganzen Wirtschaftsbosse haben’s mit der Angst gekriegt, als letztes Jahr das Kind eines Industriebonzen umgebracht wurde. Es wurde in den Osterferien bei einem Entführungsversuch in Mexiko erschossen. Und jetzt sind sie die reinsten Sicherheitsfanatiker. Reiche Kids wie Jack können nicht mal aufs Klo gehen, ohne dass ein ganzes Spezialkommando in Aktion tritt.

»Hallo, Jungs«, begrüßt uns Jacks Vater.

»Hallo, Dad. Ich muss dringend pissen. Sorry, auf die Toilette, mein ich natürlich.« Jack dreht sich um und geht zur Treppe.

»Ich kann aber nicht lang bleiben«, sage ich.

»Was, du willst schon wieder weg?«, fragt Jack enttäuscht.

»Ich muss meine Mutter anrufen. Bei ihr müsste’s jetzt Vormittag sein, glaub ich.«

»Scheiße, Mann«, sagt Jack. Er sprintet die Stufen hoch.

»Willst du was Kaltes trinken? So viel Zeit hast du doch sicher noch«, sagt Jacks Vater.

»Vielleicht ein Bier?«

»Wie alt bist du denn?«

»Sechzehn.«

»Vergiss es, mein Junge. Mehr als ’ne Cola ist nicht drin.«

Ich zucke mit den Schultern, als wäre ich frustriert, und folge ihm in den Hobbyraum.

»Wie war das Spiel?«, fragt Jacks Vater.

»Super. Sie sollten sich wirklich mal eins ansehen.«

»Highschool-Baseball ist nicht so mein Ding.«

Aber Jacks Ding. Das wäre doch Grund genug.

Diese Managertypen sind alle gleich. Mr Wu arbeitet Tag und Nacht. Außer freitagabends. Das ist die einzige Zeit, in der er ausspannen kann, und die will er nicht gerade mit seiner Familie verbringen. Nachdem er sich erholt hat, arbeitet er wieder das ganze Wochenende. Na ja, seine Sache.

Weil Freitagabend ist, ist er hier. Genau wie ich.

Das ist das Entscheidende.

Wir gehen in die Küche. Inzwischen sind wir beim Thema Profibaseball gelandet. Hier in Boston sind es natürlich die Red Sox, über die man redet.

Mir fällt auf, dass in dem teuren Messerblock auf der Küchentheke ein Messer fehlt. Nach dem Schlitz zu urteilen, muss es ein ziemlich großes Messer sein – eine ideale Waffe.

Ich schaue mich um. Mein Blick bleibt an der Spüle hängen.

Das Messer liegt auf einem Schneidebrett neben der Spüle, etwa drei Meter von uns weg. In sicherer Entfernung.

Ich entspanne mich und atme tief aus. Dann setze ich mich an den Küchentisch, greife in meinen Rucksack und hole einen Kugelschreiber heraus.

Jacks Vater, der am Kühlschrank steht, sieht mich fragend an.

»Machst du dir Notizen?«

»Mich interessiert’s eben, was Sie von den Red Sox erzählen.«

Jacks Vater lächelt. Ich lächle zurück.

Im Zweifelsfall mitspielen.

Ich drehe an der Kappe und drücke zweimal darauf, sodass die Spitze herausspringt.

Jacks Vater beugt sich vor und reicht mir eine Dose Cola.

Im selben Moment ramme ich ihm die Kulispitze in den Unterarm. Der winzige Zylinder entleert sich und sofort setzt die Wirkung des Gifts ein.

Jacks Vater sieht mich mit großen Augen an. Sein Mund zieht sich zusammen und formt ein W.

Vielleicht will er warum fragen.

Vielleicht aber auch was. Was machst du da?

Aber das Gift wirkt schnell. Wie schnell, das hängt vom Alter und der Konstitution des Opfers ab. Und da hat Jacks Vater schlechte Karten. Er ist nicht gerade der Fitteste.

Also wirkt es fast sofort. Schneller, als man warum oder was sagen kann.

Jacks Vater schwankt, ich fange ihn auf und lege ihn neben dem Küchentisch auf den Boden. Ich lasse ihn nicht fallen, weil ich nicht will, dass Jack von dem Lärm aufgeschreckt wird und in die Küche stürmt. Ich will nicht, dass irgendjemand hereinkommt. Zumindest noch nicht.

Ich brauche 15 Sekunden.

Sechs Sekunden, um seinen Körper so hinzulegen, dass es aussieht, als wäre er gefallen. Mit dem Ellbogen stoße ich die Bierdose um. Der Schaum tritt zischend aus.

Fünf Sekunden, um den Kugelschreiber und den Notizblock wegzustecken, den Reißverschluss des Rucksacks zuzuziehen, der an der Stuhllehne hängt.

Vier weitere Sekunden, bis die chemische Reaktion in Mr Wus Körper so weit fortgeschritten ist, dass jeder Wiederbelebungsversuch sinnlos ist.

Fünfzehn Sekunden.

Das war’s.

Ich betrachte die Leiche. Der Mann, der John Wu war, ist tot.

Ein Ehemann ist tot.

Ein Vater ist tot.

Jack hat gesagt, dass er mir vertraut.

Das war ein Fehler, denke ich.

Inzwischen sind zwanzig Sekunden vergangen. Gleich schließt sich das Zeitfenster.

»Hilfe!«, rufe ich.

Ich reiße die Küchentür auf und schreie: »Hilfe! Ein Arzt!«

Jack kommt die Treppe heruntergestürzt. Beim Anblick seines Vaters wird er ganz weiß im Gesicht. Ein Laut entfährt ihm, irgendwas zwischen einem Stöhnen und einem Schrei.

Die Sicherheitsleute kommen angerannt. Ein Blick auf Mr Wu genügt und sie wissen Bescheid.

Danach ist alles Routine.

Ich trete beiseite und schaue zu.

Wiederbelebungsversuche, Sanitäter, das ganze Programm.

Ich versuche, mich zwischen den Helfern hindurchzuzwängen, um nah am Geschehen zu sein und Jack beizustehen. Das wird schließlich von einem Freund erwartet. Aber der Schrank hält mich zurück.

Er legt mir sanft den Arm um die Schultern, als wäre er mein Vater. Am liebsten würde ich ihn abschütteln, aber das verkneife ich mir.

»Vielleicht solltest du jetzt besser gehen«, sagt er.

»Aber was ist mit Jack?«

»Das ist eine Familienangelegenheit.«

Ich lasse die Schultern sinken.

»Mein Rucksack«, sage ich.

Er drängt sich an den Sanitätern vorbei, nimmt meinen Rucksack von der Stuhllehne und reicht ihn mir, dann begleitet er mich zur Haustür.

Ich werfe einen Blick zurück. Das Letzte, was ich sehe, ist Jack, der zusammengekrümmt auf dem Sofa sitzt, sein Kopf berührt fast die Knie.

Ein Bild des Jammers.

Und das alles meinetwegen.

Ich gehe an dem Krankenwagen mit blinkendem Blaulicht vorbei.

Dann an den Autos vom Sicherheitsdienst und an den Polizisten, die in ihre Funkgeräte bellen.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, fragt mich der Wachmann am Tor.

»Danke, ich komm schon klar.«

»Schlimme Sache.«

»Ja, schrecklich.«

»Auch noch während meiner Schicht«, sagt er kopfschüttelnd. »Aber die können mich doch nicht dafür verantwortlich machen, oder? Ich bin schließlich nicht der liebe Gott. Ich entscheide nicht über Leben und Tod.«

Falsch. Man muss nicht Gott sein, um über Leben oder Tod zu entscheiden. Man muss nur bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.

»Pass auf dich auf«, sagt er.

»Mach ich.«

Er öffnet mir das Tor und schon bin ich draußen.

Ich laufe betont langsam die Straße hinunter, wie jemand, der unter Schock steht. Dabei sehe ich glasklar. Ich denke über meine nächsten Schritte nach. Gehe in Gedanken noch einmal den Plan für meinen Abgang vom Tatort durch.

Und vielleicht denke ich auch einen Moment lang an Jack.

Für vier Wochen war er mein bester Freund. Jetzt nicht mehr.

Er wäre bestimmt nicht begeistert, wenn er wüsste, dass ich seinen Vater getötet habe. Aber das wird er nie erfahren. Das Gift hinterlässt keine Spuren. Jacks Vater hatte einen Herzinfarkt. Das wird eine mögliche Autopsie bestätigen. Die Familie wird ihre Beziehungen spielen lassen. Ein paar Telefonate führen oder ein paar Computertasten drücken, und fertig.

Im Falle einer Autopsie wird man nichts finden.

Natürliche Todesursache wird es im Untersuchungsbericht heißen.

Das ist meine Spezialität. In meinem Beisein sterben Menschen, aber niemand verdächtigt mich. Es scheint sich immer um einen unglücklichen Zufall zu handeln. Ein Junge oder ein Mädchen lernt mich in der Schule kennen; wir verstehen uns auf Anhieb, freunden uns an. Kurz darauf wird die Familie von einem tragischen Ereignis heimgesucht.

Es scheint keinen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen zu geben, aber der Schein trügt.

Jack hatte von alldem keine Ahnung, als wir uns vor einem Monat kennenlernten. Ich tauchte plötzlich in seinem Leben auf und jetzt verlasse ich es ebenso plötzlich wieder.

Ich habe einem anderen Menschen das Herz gebrochen, sein Leben von Grund auf verändert. Zum Glück fühle ich nichts dabei.

Ich fühle überhaupt nichts.

Falsch.

Mir ist kalt. Ich habe Hunger. Ich spüre den Stoff meines neuen Hemds auf der Haut und den Kies unter meinen Füßen.

Aber das sind Empfindungen, keine Gefühle.

Früher einmal hatte ich auch Gefühle. Zumindest glaube ich das. Aber das ist schon lange her.

Das war vorher.

Er hieß Mike.

Und er war mein bester Freund.

Zumindest dachte ich das.

Er war neu an der Schule, aber es kam einem nicht so vor. Es schien, als wäre er schon immer da gewesen.

»Für was interessierst du dich denn so?«, fragte er mich bei unserer ersten Begegnung.

»Ich lese gern.«

Damals war ich zwölf und besaß so viele Bücher, dass mein Dad mir ein zweites Bücherregal bauen musste.

»Liest du diesen Vampirkram?«, fragte er.

»Nein, Action, Abenteuerromane. Science-Fiction, aber nur gute.«

»Cool«, sagte er. »Interessiert mich auch.«

Es schien ganz natürlich, dass wir Freunde wurden. Wir verstanden uns auf Anhieb, als würden wir uns schon ewig kennen. Brüder im Geiste, wie es so schön heißt.

Nach einer Woche waren wir unzertrennlich. Nach zwei Wochen übernachtete er regelmäßig bei uns.

Wir blieben lange auf, setzten uns einfach über die Verbote meiner Eltern hinweg, redeten über Gott und die Welt, tauschten Bücher aus, unterhielten uns über Mädchen.

In diesem Jahr wurde mir bewusst, dass Mädchen BHs trugen und man beim richtigen Lichteinfall durch ihre Blusen sehen konnte. Mike erklärte mir, dass man an einem sonnigen Tag nur dafür sorgen musste, dass das Mädchen zwischen einem selbst und dem Fenster stand. Für mich war er ein Genie.

Mike und ich. Zwei zwölfjährige Jungs, die herumalberten, quatschen, glücklich waren, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben.

Im Nachhinein frage ich mich, warum es mir nicht seltsam vorkam, dass ich nie bei ihm zu Hause war, nie seine Eltern kennenlernte. Er erzählte mir, dass sein Dad als Firmenanwalt oft geschäftlich unterwegs wäre. Mein Dad war Uni-Professor, der manchmal zu Konferenzen reiste. Also wusste ich, wovon er redete.

Seiner Mutter würde schnell alles zu viel, sagte er. Kinder nervten sie.

Meine Mutter war auch oft genervt. Aber nicht wegen irgendwelcher Gäste ihres Sohnes, sondern wegen meinem Vater. Damals schien es, als würden sie schon seit Monaten streiten. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, aber es war ein Konflikt, der immer wieder hochkochte und die Atmosphäre vergiftete, selbst wenn sie kein Wort miteinander wechselten.

Die ganze Familie war wie gelähmt.

Ich erzählte Mike davon.

Er war mein Freund. Es tat mir gut, ihm davon zu erzählen, ihm etwas anzuvertrauen.

Ich wusste nicht, dass er meine Eltern umbringen würde.

Es passiert manchmal, wenn ich einen Auftrag erledigt habe.

Dann kommen Erinnerungen hoch. Ich weiß nicht, warum.

Sie verschwinden wieder, wenn ich abgelenkt bin.

Ich bin jetzt eine Meile von Jacks Zuhause entfernt und nähere mich der Stelle, wo ein Wagen für mich bereitsteht. Normalerweise würde ich so schnell wie möglich die Stadt verlassen.

Normalerweise.

Aber heute stimmt was nicht.

Ich spüre es, kurz bevor es passiert. Irgendwas hat sich kaum merklich verändert. Jeder Mensch besitzt Intuition, aber nicht jeder weiß sie zu deuten. Ich habe gelernt, darauf zu hören, kleine Veränderungen in meiner Umgebung wahrzunehmen, Ereignisse vorherzusehen.

Und ich habe gelernt zu reagieren.

Meine Intuition sagt mir, dass etwas passieren wird.

Und dann passiert es.

Eine dunkelgraue Limousine biegt um die Ecke. Als der Fahrer mich bemerkt, macht der Wagen einen Schlenker nach links. Das geschieht im Bruchteil einer Sekunde, wie wenn jemand im letzten Moment ein Schlagloch entdeckt und das Steuer herumreißt, um ihm auszuweichen.

Aber hier ist kein Schlagloch, hier bin nur ich.

Es ist eine natürliche menschliche Reaktion: Wenn man plötzlich etwas entdeckt, wonach man gesucht hat, reagiert der Körper. Beim Poker nennt man das einen Tell, einen Tic, der den Spieler verrät.

Dieser Fahrer hat einen Tell. Das ist gut.

Denn bis der Wagen mitten auf der Straße zum Stehen kommt, habe ich ein paar Sekunden Zeit, um mich vorzubereiten.

Blitzschnell erfasse ich meine Umgebung: Die Straße hinter mir ist leer. Links und rechts sind Vorgärten mit Bäumen und Sträuchern, die den Blick der Hausbewohner auf die Straße versperren. Etwa zwanzig Meter vor mir steht der Wagen.

Ich gehe ein paar Schritte darauf zu und kann jetzt auch das Nummernschild erkennen. Es ist keiner der Wagen von Jacks Vater, denn dieser hier hat ein Diplomatenkennzeichen.

Die Türen öffnen sich. Vier Asiaten steigen aus. Lässig, als wären vier Anzugtypen mitten auf einer Vorortstraße das Normalste der Welt.

Meine zwei Möglichkeiten:

Ich kann mich in die Büsche schlagen. Sehen, wie gut sie zu Fuß sind.

Manche behaupten, dass es in einer solchen Situation sinnvoller ist, sich jeden Gegner einzeln vorzunehmen.

Ich bin anderer Meinung.

Es gibt einen Trick, den ich von den Leuten, die mich ausgebildet haben, gelernt habe: Fokussiere die eigene Schlagkraft und komm deinem Gegner so nah, dass sein Aktionsradius eingeschränkt ist.

Diesen Trick wende ich an.

Das Problem ist: Ich trage keine Waffe und meinen Giftkuli habe ich in einem Gully entsorgt. Mein leerer Rucksack liegt in einem Müllcontainer.

Also muss ich mich ganz auf mein Können verlassen.

Meine Fähigkeiten sollten reichen.

Aber sicher bin ich mir nicht.

Unbeirrt schlendere ich auf den Wagen zu. Zehn Meter noch. Ich bin ein harmloser sechzehnjähriger Junge, der die Straße entlanggeht. So sollen sie mich sehen.

Außerdem ist es die Wahrheit. Ich bin sechzehn. Und ich gehe die Straße entlang.

Beim Näherkommen höre ich, wie sich die Männer auf Mandarin unterhalten. Ich sehe, dass sie billige Anzüge tragen und dass ihre Jacketts über den massigen Schultern spannen.

Diplomaten haben keine massigen Schultern. Vielleicht, wenn einer Bodybuilding betreibt. Aber nicht gleich vier auf einmal.

Ich kenne diese Typen nicht. Sie sind mir bei diesem Auftrag nie begegnet. Aber sie wissen irgendwas über mich, weil sie mich anstarren wie hungrige Löwen ihre Beute.

Ich muss mich vorsehen.

»He, du da«, sagt einer von ihnen. »Wir haben uns verfahren. Kannst du uns vielleicht helfen?«

Sein Englisch ist gut. Seine Masche weniger.

Niemand parkt seinen Wagen mitten auf der Straße, um nach dem Weg zu fragen.

Das Ganze ist lächerlich, aber ich bin ein Teenager, also unterschätzen mich die Leute.

Die meisten Teenager wollen unbedingt beweisen, wie tough sie sind.

Ich nicht.

Es ist gut, wenn man unterschätzt wird. So etwas nennt man einen taktischen Vorteil.

Auf die Frage des Chinesen antworte ich deshalb nur: »Klar. Wohin wollen Sie denn?«

Er ist ein bisschen überrascht, aber nicht sehr.

Unterschätzt mich immer noch.

»Ich habe die Adresse in meinem Handy«, sagt er.

Er hält mir mit ausgestrecktem Arm ein Smartphone hin. Also müsste ich mich ihm auf Armlänge nähern, um aufs Display sehen zu können, aber darauf falle ich nicht herein.

Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu.

Die beiden Typen vom Rücksitz stellen sich hinter ihre Kumpel; die Schlinge zieht sich zu. Sie sind sich ihrer Sache sicher. Das erkenne ich an ihrer Körperhaltung.

Zweimal zwei. Während ich noch ein paar Schritte auf sie zugehe, versuche ich die Situation zu analysieren: muskulöse Oberkörper, Kurzhaarschnitte und Diplomatenkennzeichen. Wahrscheinlich handelt es sich um chinesische Agenten. Ich vermute, dass Jacks Vater mit ihnen Geschäfte gemacht hat und ich ihn deshalb liquidieren sollte.

Aber ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich muss es auch nicht wissen.

Ich stelle keine Fragen. Ich bekomme einen Auftrag und erledige ihn.

Meistens ist das kein Problem, aber diesmal muss irgendwas schiefgelaufen sein, sonst wären sie nicht hier. Ich bin aufgeflogen.

Ich hebe mir die Fragen für später auf.

Jetzt zählt nur eins: Überleben.

Ich kämpfe nicht zum Vergnügen. Ich kämpfe nur, wenn ich muss.

Wenn sie mich erst im Wagen mit den Diplomatenkennzeichen haben, ist es zu spät. Die Polizei wird nicht eingreifen. Keiner wird mir zu Hilfe kommen.

Das muss ich verhindern.

Der Typ, der Englisch gesprochen hat, hält mir sein Smartphone hin. Er erinnert mich an einen dieser Tiefseefische, die so ein Anhängsel vorm Maul hängen haben, um ihre Opfer anzulocken. Eine Laune der Natur.

Leistungskurs Biologie. Thema: Konkurrenten und Räuber in der Tierwelt.

Dieser Typ hat stattdessen ein Handy. Er schwenkt es vor meiner Nase hin und her.

Ich schlucke den Köder.

Ich reiße es ihm aus der Hand.

Und schmettere es ihm gegen das Nasenbein. Ich stelle keine Fragen und ich zögere nicht. Nicht bei vier Männern.

Das Glas splittert. Seine Nase knackt.

Bevor er zu Boden geht, nehme ich mir schon den nächsten vor. Diesmal mit einer Ecke des Handys. Mit einer schnellen Drehbewegung hole ich aus und treffe ihn am linken Auge. Dann stoße ich ihm das Handy ins rechte Auge. Sein Augapfel leistet nur kurz Widerstand, bevor er zerplatzt.

Zwei weniger.

Bisher war das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Das ist jetzt vorbei.

Der dritte Mann kommt auf mich zu. Er ist größer und kräftiger als die anderen. Er schützt sein Gesicht mit den Händen. Er wird nicht in dieselbe Falle tappen wie seine Kumpel.

Aber in eine andere.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich der vierte Mann etwas entfernt hat. Ich nutze meine Chance. Ich hechte zur offenen Autotür und springe in den Wagen. Genau hier wollte mich Nummer drei noch vor einer Minute haben. Aber bei einem Kampf ist eine Minute lang. Er dachte, er könnte mich auf den Rücksitz zerren. Jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als mir zu folgen.

Ich tue so, als wolle ich auf der anderen Seite des Wagens wieder rausspringen.

Stattdessen bleibe ich sitzen.

Er wirft sich auf den Rücksitz.

Auf engem Raum ist der Wendige dem Stämmigen überlegen.

Ich bin wendig. Er ist stämmig.

Er versucht auszuholen, um mir einen Schlag zu versetzen, aber dafür reicht der Platz nicht.

Ich habe immer noch das Handy. Ich packe es mit der Faust und schlage dreimal kräftig zu.

Er ist überrascht, aber nicht außer Gefecht gesetzt.

Mit einem Satz bin ich aus dem Auto, und als er mir folgen will, schlage ich ihm die Wagentür ins Gesicht.

Ohnmächtig geht er zu Boden.

Er kann mit Schlägen umgehen, aber nicht mit einer Wagentür, die ihn am Kopf trifft. Das kann niemand.

Als ich aufsehe, entdecke ich den vierten Mann, der mich mit einer Pistole in der Hand erwartet.

Er hat eine Waffe und ich habe ein kaputtes Smartphone.

Nicht gerade faire Bedingungen.

Ein Anfänger würde jetzt glauben, dass er den Kampf schon gewonnen hat. Aber der vierte Mann ist schlau. Er hat mich beobachtet und dazugelernt.

Er bleibt in sicherer Entfernung.

Er hat die Waffe auf meinen Körper gerichtet. Was bedeutet, dass er damit umgehen kann. Wenn man auf den Kopf zielt und das Opfer eine schnelle Bewegung macht, hat man kaum eine Chance zu treffen. So schon.

Ich benutze keine Waffen, aber ich kenne mich damit aus. Jedenfalls genug, um zu wissen, dass ich ein Problem habe.

Er bedeutet mir mit dem Kopf, mich umzudrehen. Er fuchtelt nicht mit dem Lauf herum, wie es ein unerfahrener Schütze tun würde.

Wenn ich mich jetzt umdrehe, habe ich verloren.

Ich glaube nicht, dass er mich erschießen wird. Er wird mich irgendwo hinbringen und mir Fragen stellen. Das ist viel schlimmer, als erschossen zu werden.

Ich denke an meinen Vater. Als ich ihn das letzte Mal sah, war ich zwölf Jahre alt. Er war mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt und blutete. Jemand hatte ihm Fragen gestellt.

Fragen sind schlecht.

Der Tag, an dem jemand meinem Vater Fragen stellte, liegt lang zurück. Das war in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.

Jetzt steht ein Mann mit einer Waffe vor mir.

Jetzt muss ich mir was überlegen.

Jetzt muss ich um mein Überleben kämpfen.

Der vierte Mann brüllt mich auf Mandarin an. Ich verstehe zwar nicht, was er sagt, aber er ist ziemlich wütend. Er weiß, was ich vorhabe. Ich will Zeit schinden. Informationen sammeln. Und jetzt, wo seine drei Kollegen ausgeschaltet sind, behandelt er mich nicht mehr wie einen Sechzehnjährigen.

Ich sehe die Waffe an. Dann sehe ich ihm in die Augen.

Eiskalt.

Ich bin in Schwierigkeiten.

In diesem Moment klingelt es.

Das Smartphone in meiner Hand. Das Glas ist zersplittert, aber es funktioniert noch.

Das Klingeln überrascht ihn genauso wie mich.

Überraschungen sind gut. Jedenfalls wenn man sie zu seinem eigenen Vorteil nutzen kann.

Ich gehe dran.

»Ni hao ma?«, sage ich. Wie geht’s?

Das ist alles, was ich auf Chinesisch sagen kann.

Ich lausche einen Moment, halte dann das Handy dem vierten Mann hin, als wäre der Anruf für ihn. Er ist so überrascht, dass er nicht weiß, was er tun soll.

Ich schwenke das Handy hin und her. Schüttle den Kopf, als hielte ich ihn für begriffsstutzig. Wir hören beide die wütende Stimme am anderen Ende, die irgendwas brüllt.

Ich weiß nicht, was sie sagt, aber das ist auch egal.

Leistungskurs Biologie. Thema: Konkurrenten und Räuber in der Tierwelt.

Ich wedele mit dem Handy.

Der Typ will danach greifen.

Im selben Moment versetze ich ihm einen Schlag an die rechte Schläfe, eine empfindliche Stelle, drei Zentimeter neben dem Auge. Ich schlage so fest zu, dass das Smartphone zerbricht.

Er sinkt zu Boden.

Geschafft.

Was wäre passiert, wenn das Handy nicht geklingelt hätte?

Nicht jetzt. Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken.

»Der Zufall kann dein Freund oder dein Feind sein«, sagte Mutter immer. »Sieh zu, dass du ihn auf deiner Seite hast.«

Mutter nenne ich die Frau, die mich ausgebildet hat.

Sie hat mir diesen Rat mit auf den Weg gegeben. Und den habe ich eben befolgt.

Ich blicke auf die vier Männer, die um mich herum auf dem Boden liegen.

Ich blicke auf die Waffe zu meinen Füßen.

Mutter hat mir noch etwas beigebracht: Töten gehört zwar zu meinem Geschäft, aber es sollte immer nur das letzte Mittel sein. Ich könnte diese Männer endgültig zum Schweigen bringen, aber das ist nicht nötig. Ich habe ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das genügt.

Sie müssen nicht unbedingt sterben, zumindest nicht jetzt.

Fall erledigt.

Jetzt werde ich telefonieren. Mit meinem iPhone.

Es sieht aus wie ein stinknormales Handy, aber das täuscht. Das Design ist dasselbe, aber es funktioniert völlig anders. Und die Apps? Na ja, die sind alles andere als normal.

Ich öffne die Wetter-App. Und klicke auf UNWETTER-WARNUNG.

Ich halte das iPhone hoch. Kurz darauf taucht auf dem Display eine Karte mit einem GPS-Punkt auf, der meine Position anzeigt. Er leuchtet rot, dann blinkt er grün.

In Kürze wird ein Aufräumkommando hier eintreffen.

Mutter wird nicht sehr erfreut sein. Ich werde wohl einiges erklären müssen.

Ich ziehe die Autoschlüssel aus der Jackentasche des vierten Mannes, steige in die Limousine und starte den Motor. Ich muss sicher keine Angst haben, dass sie das Auto als gestohlen melden. Das sieht chinesischen Agenten nicht ähnlich.

Außerdem hat der Wagen ein Diplomatenkennzeichen. Und ich fahre gern schnell.

Ich rase die Autobahn entlang.

Unter normalen Umständen mache ich das nicht. In der Regel vermeide ich es, Aufmerksamkeit zu erregen.

Aber ein Diplomatenkennzeichen ist praktisch ein Freibrief für schnelles Fahren. Außerdem nimmt es auf der Autobahn niemand mit den Verkehrsregeln so genau.

Ich fahre in Richtung Boston. Die Leitpfosten fliegen vorbei. Mit jeder zurückgelegten Meile fühle ich mich etwas sicherer.

Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel, vergewissere mich, dass mir niemand folgt. Dann öffne ich das Schiebedach, um den Himmel im Auge zu behalten.

Nichts.

Ich denke kurz an Jack, frage mich, wie es ihm wohl gerade geht. Im Bruchteil einer Sekunde wurde er zu einer weiteren Ziffer in einer traurigen Statistik. Der Tod seines Vaters wird den privilegierten Schülern der Natick-Highschool wie eine mittlere Katastrophe vorkommen. Ein junger Mann, der unerwartete Verlust eines Elternteils, eine Zeit der Trauer, dann eine Phase der Akzeptanz.

Aber ich weiß etwas, was Jack nicht weiß:

Das Leben geht weiter.

Selbst nach den schlimmsten Schicksalsschlägen geht es einfach weiter.

Ich bin zwar erst sechzehn, aber diese Lektion habe ich bereits gelernt. Sie hilft mir, das zu tun, was ich tun muss.

Ich weiß noch etwas anderes:

Jacks Vater ist nicht der, für den er sich ausgab.

Jack glaubte, dass sein Vater der Chef einer Hightechfirma war, die wichtige Regierungsaufträge erhielt.

Das stimmt auch.

Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Jacks Vater arbeitete nebenher mit den falschen Leuten zusammen. Nach meinem Intermezzo mit den vier chinesischen Agenten vermute ich, dass es sich um die chinesische Regierung handelte.

Die Einzelheiten gehen mich nichts an. Sie haben mich nicht zu interessieren.

Mein Job ist es, einen Auftrag zu erledigen und anschließend wieder zu verschwinden.

Man teilt mir eine Aufgabe zu. Ich brauche nicht zu denken. Ich habe zu handeln.

Es reicht, wenn ich die groben Zusammenhänge kenne. Deshalb weiß ich über Jacks Vater nur, dass er etwas getan hat, was er nicht hätte tun sollen. Etwas, das ihn zur Gefahr werden ließ, vielleicht sogar zum Verräter.

Ich wurde hierhergeschickt, um dem ein Ende zu setzen.

Das ist meine Spezialität. Ich bekomme einen Auftrag und führe ihn aus.

Laut dem Programm, der Organisation, für die ich arbeite, bin ich ein Patriot, aber Patrioten können wählen. Ich nicht.

Vielleicht stimmt das nicht ganz.

Vor langer Zeit hatte ich die Wahl. Und habe mich falsch entschieden.

Auch mein Vater hatte die Wahl. Und auch er hat eine falsche Entscheidung getroffen, sonst wäre ich jetzt nicht hier.

Aber zurück zu Jack und seinem Vater.

Ich habe mir keine Meinung über das, was ich tue, zu bilden. Aber ich habe mir zu meinem Handeln eine pragmatische Einstellung zugelegt.

Ich habe Jack einen Gefallen getan.

Er weiß nicht, welchen Schaden sein Vater bereits angerichtet hat oder noch angerichtet hätte, wenn man ihn nicht daran gehindert hätte.

Im Gegensatz zu mir wird Jack seinen Vater in guter Erinnerung behalten. Wer und was sein Vater war, wird niemals bekannt werden. Weder Jack noch sonst jemand wird es jemals erfahren.

Jack wird sich an seine glückliche Kindheit erinnern, ohne zu ahnen, dass er in einer Scheinwelt lebte.

Ich habe nicht so viel Glück wie Jack.

Ich kenne die Wahrheit über meine Familie. Zumindest teilweise. Ich weiß, dass mein Vater nicht der großartige Dad war, für den ich ihn hielt, oder der Mann, den er der Öffentlichkeit präsentierte. Aber was ich vom Programm erfahren habe, deckt sich nicht mit meinen Erinnerungen.

Ich weiß nicht, was ich glauben soll.

Ich traue meinen Erinnerungen nicht. Meine Vergangenheit wird immer rätselhafter, verfolgt mich wie ein Schatten.

Es war ein Samstagnachmittag Anfang November.

Ich war zwölf Jahre alt.

Ich wartete auf meinen Vater in seinem Büro an der Universität, als ich einen Anruf bekam. Es habe einen Unfall gegeben und ich solle sofort nach Hause kommen, sagte der Anrufer.

Ich rannte heim. Am Küchentisch saß Mike. Ich war überrascht, ihn dort zu sehen.

»Wo sind meine Eltern?«, fragte ich.

In der Mitte des Tischs stand ein Teller mit Keksen. Haferkekse mit Rosinen. Mom stellte sie immer für uns hin. Ich war ziemlich mager und aß wie ein Spatz. Mike war groß für sein Alter und aß wie ein Scheunendrescher.

»Ich muss mit dir über deine Eltern reden«, sagte Mike.

Ich bemerkte eine Dose Gingerale auf dem Boden vor dem Kühlschrank. Sie war ausgelaufen und die Flüssigkeit bildete eine klebrige, braungelbe Pfütze. Ich starrte darauf, fragte mich, wie sie da hingekommen war, warum sie niemand weggewischt hatte, als Mike unvermittelt den Arm ausstreckte und mich mit irgendwas berührte.

Irgendwas Spitzes, wie ein Reißnagel.

Plötzlich war ich müde.

»Hab keine Angst«, sagte er zu mir.

»Warum sollte ich Angst haben?«

Mir wurde schwindlig und ich schwankte. Mike stützte mich und führte mich ins Wohnzimmer. Ein Freund, der seinem Freund in einer Notlage beisteht.

Dort saß mein Vater auf einem Stuhl, sein Kopf hing auf die Brust, seine Beine waren mit Klebeband am Stuhl festgebunden.

»Das ist aber lustig«, sagte ich.

Wenn man etwas Absurdes sieht, etwas, das man mit dem Verstand nicht fassen kann, interpretiert man es als Witz. Ein natürlicher menschlicher Abwehrmechanismus. Ich habe selbst schon oft davon profitiert.

Damals wusste ich nichts von solchen Dingen. Ich war jung und naiv. Ich dachte, wir spielten ein Spiel.

»Es ist lustig und traurig zugleich«, sagte Mike.

»Ich versteh überhaupt nichts.«

Mike schnalzte mit den Fingern. Einmal. Zweimal.

Der Kopf meines Vaters schnellte hoch. Er konnte nicht sprechen. Sein Mund war mit einem Klebstreifen zugeklebt.

»Dad«, stammelte ich.

Seine Augen sagten mir alles.

Das hier war kein Spiel. Es war gefährlich.

Mike packte mich am Kragen und schob mich näher zu meinem Vater, so nah, dass wir uns fast berührten.

»Siehst du?«, fragte Mike.

Aber er meinte nicht mich.

Ich war erst zwölf, aber ich begriff. Ich konnte es damals vielleicht nicht in Worte fassen, aber ich hatte eine Ahnung.

Mike hatte mich nicht ins Wohnzimmer gebracht, um mir zu zeigen, was er mit meinem Vater gemacht hatte, sondern um meinem Vater zu zeigen, was er mit mir vorhatte.

»Das ist nicht dein Sohn«, sagte Mike zu meinem Vater. »Nicht mehr.«

Ich streckte die Hand nach meinen Vater aus, aber Mike zog mich weg.

Ich war todmüde und schlief beinah im Stehen ein.

»Wer bist du?«, fragte ich Mike.

»Ich bin dein Freund. Ich bin Mike.«

»Du bist nicht mein Freund.«

»Schlaues Bürschchen.«

Seine Stimme klang irgendwie anders. Das war nicht der Mike, den ich kannte. Aber damals war ich noch ahnungslos.

Er führte mich aus dem Zimmer. Ich hatte keine Kraft mehr, mich dagegen zu wehren. Draußen schob er mich in ein wartendes Taxi. Zumindest sah es aus wie ein Taxi, nur die Scheiben waren getönt.

Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater sah.

Es war das Ende von allem, was ich kannte.

Und der Anfang von allem anderen.

Ich trete aufs Gas und spüre, wie der Motor reagiert.

Leitpfosten fliegen am Fenster vorbei. Schemenhafte Konturen am Straßenrand. Verschwommene Gebäude. Verschwommene Gesichter. Vor Jahren habe ich begriffen, dass Geschwindigkeit die Welt verzerrt. Je schneller man sich bewegt, desto verschwommener die Umgebung.

Solange ich in Bewegung bin, halte ich die Welt auf Distanz.

Ein beruhigender Gedanke.

Etwa zehn Meilen von meinem Einsatzort entfernt kommt das Dunkin’ Donuts in Sicht.

Ich fahre auf den großen Parkplatz und stelle den Wagen in einer möglichst entlegenen Ecke ab. Ein richtiges Geschoss. Schade, dass ich ihn hierlassen muss.

Dann steige ich in das Auto um, das für mich bereitsteht. Ein Toyota Camry mit zerschrammter Heckstoßstange und verbeulten Radkappen. Lahm und langweilig. Aber unauffällig.

Ich ziehe mein iPhone aus der Tasche. Ich schiebe den Balken auf dem Display nach links, dann nach oben. Dann streiche ich mit dem Finger schnell nach unten und diagonal wieder nach oben – eine selbst definierte Fingergeste, mit der ich den Sicherheitsmodus aktiviere.

Ich öffne den Ordner SPIELE, tippe auf die Poker-App und dann auf NEUES SPIEL.

Die Karten werden gemischt.

Ich stelle mir ein Blatt zusammen, das einer zehnstelligen Telefonnummer entspricht, und tippe auf GEBEN.

Jetzt stellt der Computer eine Verbindung zu einem anonymen Server her. Meine Stimme wird in ein digitales Signal umgewandelt, in Datenpakete zerlegt, durchs Web geschickt und am anderen Ende wieder zusammengesetzt.

Ein komplexer Prozess, der nicht länger als eine Sekunde dauert.

Nach nur einem Klingeln meldet sich eine Frauenstimme.

»Hallo, Mom«, sage ich.

So nenne ich die Frau, die die Fäden in der Hand hält. Vater kümmert sich um die Aufträge. Mutter organisiert den Rest.

Mutter und Vater. So nenne ich die Leute, von denen ich meine Anweisungen erhalte. Eine Sicherheitsmaßnahme. Wenn jemand unsere gesicherte Verbindung knacken sollte, bekommt er nur harmlose Gespräche zwischen einer Mutter und ihrem Sohn zu hören.

Sohn.

So nennt sie mich.

»Hallo, mein Schatz«, sagt die Stimme am Telefon. Sie klingt, als würde sie sich über meinen Anruf freuen. »Dein Vater hat mir von dem Spiel heute erzählt.«

»Dann weißt du ja, dass ich richtig gut war.«

»Na, und ob.«

»Aber es gab ziemlichen Stress. Hinterher, meine ich.«

Stille.

»Mit vier Typen. Ziemlich aggressiv. Hab überhaupt nicht damit gerechnet.«

»Ich schon.«

Ich bin froh, dass sie von den chinesischen Agenten wusste. Dass ich nichts von ihnen mitgekriegt habe, beunruhigt mich allerdings. Habe ich irgendwas übersehen?

»Was weißt du über sie?«, frage ich. »Ich will denselben Fehler nicht noch mal machen.«

»Soweit ich weiß, haben sie sich das Match angesehen. Und dann sind sie einfach aufs Spielfeld gelaufen. Falscher Ort, falsche Zeit.«

»Ich brauch mir also keine Sorgen zu machen?«

»Nein, überhaupt nicht.«

»Da bin ich ja echt erleichtert.«