Eva Baronsky

Herr Mozart wacht auf

Roman

 

 

 

Aufbau-Verlag

Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0239-0
ISBN PDF 978-3-8412-2239-8
ISBN Printausgabe 978-3-7466-2696-3

 

Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2011
Die Erstausgabe erschien 2009 bei Aufbau, einer
Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
©2009 by Eva Baronsky

 

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
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Inhaltsübersicht

Präludium

Requiem

Kyrie

Sequenz Dies irae

Tuba mirum

Rex tremendae

Recordare

Confutatis

Lacrymosa

Offertorium Domine

Hostias

Sanctus

Benedictus

Agnus Dei

Communio

Postludium

 

Für Juliana und die Reise nach Wien

 

|7|Lacrymosa dies illa,

Qua resurget ex favilla,

Judicandus homo reus.

Huic ergo parce, Deus.

Pie Jesu Domine,

Dona eis requiem. Amen.

|9|Präludium

Der Tod ist ein kalter Bruder.

Mit klammen Fingern packt er ihn, zerrt ihn, schüttelt ihn, dass ihm die Zähne aufeinanderschlagen.

Oder sind es Sophies Arme, die unter seine Schultern greifen? Er fühlt, wie sie ihn anhebt, die zarte Person, damit Constanze sein schweißkaltes Hemd wechseln kann.

Lasst mich, will er sagen, doch mehr als ein mattes Stöhnen bringt er nicht heraus. Wie soll er all das vollführen, was noch zu tun ist, wenn er nicht einmal mehr weinen kann?

Die harten Schläge von Pferdehufen, sonst ein willkommener Taktwechsel, martern seinen Schädel, als träte der Gaul selbst auf ihm herum.

»Er kommt, dem Herrn sei Lob und Dank!«

Ein Luftzug sagt ihm, dass Sophie aufgesprungen ist, dass Kerzenflammen die Schatten durch den Raum jagen, und er spürt, wie Constanzes Hände die seinen umklammern, als könnten sie ihn festhalten. Er lässt die Augen geschlossen, dennoch weiß er um den Ausdruck ihres Gesichts, der Ton ihrer Stimme verrät die Tränen, die sie mühsam zurückhält, verrät den Wahn, der sie zu packen droht. Kraftlos hebt er die Lider, erkennt schemenhaft das vertraute Antlitz im Schein der Wachslichter. Reichlich Kerzen haben sie entzündet. Der Tod ist ein schwarzer Bruder.

Mühsam reckt er den Arm, vergebens, er reicht nicht mehr an Constanzes Wange, sein Körper ist schwer geworden, als gehöre er einem anderen.

Es pocht hart gegen die Tür, er erschrickt, zuckt und kann sich doch nicht bewegen. Will sich aufbäumen, liegt indes ergeben und weiß, er wird dort liegen bleiben.

|10|Eine Hand wiegt schwer und kalt auf seiner Stirne.

»Tücher sind vonnöten. Auch kaltes Wasser. Rasch.«

Die Stimme des Doktors, aber der hilft ihm nimmermehr.

»Clos-set.« Ein Röcheln, mehr gelingt ihm nicht.

»Lieber Mozart, bleiben Sie liegen.«

Was sollte er auch anderes tun? Clossets kalte Hände greifen seinen Arm, schieben das Plumeau zur Seite, betasten sein Bein.

Der Doktor spricht nur mehr leise. »Er hat der schlechten Säfte zu viel, deren er sich zu entledigen sucht. Der Aderlass wird ihm Erleichterung verschaffen.«

Sosehr er sich auch abplagt an einem Nein, sein Protest bleibt ungehört.

»Wohin mit den Tüchern?« Auch von Sophie kommt nur ein Flüstern. Als hätte eine reizende Frauenstimme ihm je das Leben nehmen können.

»Macht Wickel. Ist das Wasser kalt? Den Kopf kühlt ihm, die Stirne auch.«

Er fühlt die Pfanne an seiner Wade, die Kraft reicht nicht zum Wehren. Schon spürt er den kleinen Schmerz des Schnittes. O diese Blutrünstigen! Noch kälter wird ihm, als liefe mit dem Blut die letzte Wärme, der letzte Rest an Lebenskraft aus ihm heraus. Bald versteht er nicht mehr, was gesprochen wird, nur ein schwaches Murmeln, als sei er längst fort.

Der Tod ist ein stiller Bruder.

|11|Requiem

Requiem aeternam dona eis, Domine

et lux perpetua luceat eis

Te decet hymnus, Deus, in Sion

et tibi reddetur votum in Jerusalem

Als er zu Bewusstsein kam, fror er nicht mehr. Das Gemurmel hielt noch immer an, doch klang es unvertraut – waren fremde Stimmen hinzugekommen? Er drehte sich behutsam zur Seite, zu seiner Verwunderung gelang es ihm schmerzfrei und ohne Anstrengung. Auch die alles verzehrende Mattigkeit war wie weggeblasen, als sei er gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht. Dabei hatte er das Gefühl, nur einen Augenblick eingenickt zu sein. Sollte der alte Doktor Closset ihm gegen jede Erwartung geholfen haben? Freude durchfuhr ihn wie unverhoffte Novembersonne: Die Crisis war überwunden!

 »Stanzi …« Er sprach leise, um sich nicht zu überanstrengen, doch schon während er es sagte, war ihm klar, dass er mühelos laut nach ihr hätte rufen können. Schritte näherten sich, er blinzelte, schloss aber gleich wieder die Lider, das helle Licht blendete.

»Er kommt zu sich, na endlich.« Die Stimme – es war weder Stanzis noch Sophies – klang fremd, zweieinhalb Oktaven zu tief, aber zumindest verstand er die Worte klar.

»Stanzi«, gab er zur Antwort und bemühte sich um ein Lächeln, »Stanzi, so hat er endlich ein Gegengift gefunden?«

»Der hat ja Humor.« Jemand lachte, dann wurde er sachte am Arm gerüttelt. »Alles klar, Mann?«

Zaghaft öffnete er das rechte Auge. Ein Gesicht, ihm völlig fremd, beugte sich über ihn. »Der Closset hat ein Wunder gewirkt«, hauchte er.

|12|»Was? – Scheiße, Mann, hat der etwa …?« Mit einem Ruck zog man ihm die Decke fort und gab ihn der Kälte preis wie ein nacktes Tier.

»Reg dich ab, der ist immer noch auf dem Trip, lass ihn weiterpennen.« Die Decke senkte sich wieder herab.

»Na, der kann was erleben! Ruht sich aus, während wir die Arbeit machen.«

Er riss die Augen auf, sah schemenhaft zwei Gestalten sich entfernen, dem Habitus nach Männer, dann wurde eine Tür geschlossen, und rasch klappte er seine Augen zu.

Irgendetwas stimmte nicht.

Er war nicht mehr zu Hause. Sein Lager fühlte sich anders an, viel weicher und ungleich – ja, federnder; ein subtiler, femininer Duft lag darin. Wohin hatte man ihn gebracht? Wer um alles in der Welt waren diese garstigen Kerle? Und welche Arbeit gab es zu tun? O gütiger Himmel: Sollte das gerade der Franz Xaver gewesen sein?

Er riskierte erneut einen vorsichtigen Blick. Das Gemach, in dem er sich befand, war recht geräumig, durch ein Fenster drang fahles Winterlicht. Er nahm einen tiefen Atemzug. Tot war er jedenfalls nicht. Oder doch? Instinktiv probierte er seine Hände aus, formte die ersten Takte des Sanctus, das zu schreiben er versäumt hatte, ließ die Fingerspitzen über Brust und Bauch gleiten. Erschrocken hielt er inne: Das waren nicht seine Kleider, die er anhatte. Er schob die Decke zur Seite – sie war purpurfarben! –, hob den Kopf und sah an sich hinab. Statt seines gewohnten weiten Leinenhemdes trug er ein kurzes Hemdchen, es hatte weder Kragen noch Knöpfe und war aus einem außerordentlich anschmiegsamen, wenn auch dünnen Stoff gefertigt. Seine Beine steckten in einer dunklen Hose, die nicht bloß übers Knie, sondern weit über die Knöchel reichte. Sie war bequem, samtig und nachgiebig. Sein Sterbekleid? Ein jähes Frösteln erfasste ihn, doch sein Körper fühlte sich fürwahr gesund und lebendig an. Auch der |13|Schädel peinigte ihn nicht mehr, so dass sich die Musik schon wieder ungehindert darin ausbreitete, in bunten Farben und Formen um ihn wogte wie seit jeher und darauf drängte, niedergeschrieben zu werden. Alle Schmerzen waren ihm genommen. Gere curam mei finis – also war dies am Ende … das Paradies?

Er atmete schwer aus, zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern, sah sich nochmals um. Von gebratenen Tauben keine Rede, doch sein Verstand hatte sich ohnehin stets gegen diesen Pfaffenhumbug gesträubt. Indes: So ein kleines Täubchen wäre ihm just recht gewesen, sein Magen fühlte sich alles andere als tot an. Und voll Verwunderung registrierte er, dass seine Blase schmerzte, denn es war nicht jene Art von Schmerzen, die er in den vergangenen Wochen in einem fort hatte erdulden müssen, vielmehr drängte es ihn erfreulich stark, Wasser zu lassen.

Er richtete sich auf, setzte die Füße auf den kühlen Boden. Die hölzernen Dielen knarrten. Erleichtert entdeckte er neben dem Bett einen Nachttopf, doch seine Hose hatte weder Latz noch Eingriff, nur zwei Säckel auf jeder Seite, in einem fand er ein zerknülltes weiches Tuch. Beunruhigt nestelte er an dem wulstigen Hosenbund herum, bis er fasziniert feststellte, dass der recht dehnbar war. So dehnbar gar, dass er, wenn er ihn von sich wegzog und dann losließ, unversehens wie eine Feder wieder zusammenschnurrte und seinen Dienst, die Hose an ihrem Platz zu halten, ganz tadellos verrichtete.

Er ließ den Stoff ein paarmal gegen seinen Bauch klatschen, bevor er ihn zur Gänze herunterzog und nach dem Nachttopf griff. Das vertraute Plätschern ließ ihn ruhiger werden.

Nicht weit von seiner Bettstatt stand ein gläserner Tisch, darauf lag Papier, eine rechte Menge Papier, ein ganzer Stapel gar, weiß wie Jännerschnee und glatt wie feinste Seide. Er strich mit den Fingerspitzen darüber. Paradiesisch glatt, |14|fürwahr, an diesem Ort war nicht zu zweifeln! Eine Feder fand er keine, doch ein Bleyweißstift aus lackiertem Holz und ein anderes Schreibgerät, dessen Beschaffenheit er nicht zu deuten wusste, lagen parat.

Er nickte unwillkürlich. Wer auch immer ihn hierhergebracht haben mochte, zeigte überdeutlich, was er von ihm erwartete: dass er sein letztes Werk, sein Requiem, nun vollende, sei dieser Ort ein Schon, ein Noch oder ein Dazwischen. Und mit dem Gedanken packte ihn ein Grausen: Sollte jener Herr, der ihm unlängst den Auftrag für dieses Werk überbracht hatte, doch ein Todesengel gewesen sein? Constanze hatte ihn einen Narren gescholten, als er in dem hochgewachsenen, stattlichen Mann mit dem dunklen Gewand den Erzengel Michael erkannt hatte. Aber nun – er sah sich abermals in dem fremden Raume um – war die Ahnung zur Gewissheit geworden, zur qualvollen Gewissheit: Sein Auftraggeber war kein Sterblicher. Und das Requiem …! Er atmete schwer.

Eine Ungeheuerlichkeit war das gewesen, mit der er sich nicht einmal für die Dauer eines Herzschlages hatte anfreunden können: Obgleich er der Notensetzer viele kannte, so wusste er darunter doch nicht einen, dem je eine solche Marter auferlegt worden wäre. So brauchte der Steinmetz sich den eigenen Grabstein nicht zu hauen, der Weber seinen Totensack nicht zu fertigen und der Totengräber sich die Grube nicht zu graben – einzig ihm war die peinigendste aller Aufgaben zuteilgeworden, sich selbst eine Totenmesse zu schreiben! Requiem aeternam. Nein, dieses Ende war kein Ende, sondern just der Fortgang aller Qual. Er ahnte, dass man ihn nicht von hier würde lassen, ihm zum Reich der Toten keinen Zutritt würde gewähren, ehe nicht der letzte Taktstrich gesetzt war.

Empörung kam über ihn. Hatte er nicht größten Fleiß gezeigt und bis zum letzten Augenblick daran gearbeitet, dem Süßmayr, diesem Stupido, noch jede so winzig kleine |15|Skizze anvertraut, ihm wieder und wieder alles beschrieben und mit der Stimme intoniert? Und doch war, vom Introitus abgesehen, nichts wirklich fertig, allenfalls Gesang und Basso hatte er niederschreiben können, hier und da eine erste Violin, das Posaunensolo des Tuba Mirum, gewiss, doch für Sanctus, Benedictus, Agnus Dei und Communio hätte er mehr Zeit gebraucht. Was hatte man ihn erst abberufen, um dann derarten auf die Erfüllung seiner Aufgabe zu drängen? Verstand einer die Oberen, gleich, ob sie im Himmel oder auf Erden regierten! Doch er würde es ihnen zeigen, mit einem Sanctus, das sich an Fulminanz nicht überbieten ließe! Mit einem einzigen Gedankenstrich verwarf er, was er dazu vorgesehen hatte, und setzte zu einem neuen, kühnen Thema in gleißend hellen, sonnenwarmen Farben an. Seine Lippen öffneten sich, er begann zu singen, erst tonlos, dann mit leiser Stimme, bis alles Gestalt angenommen hatte.

Sein Blick glitt zu der geschlossenen Tür. Eine Klausur war ihm beschieden, in der ihn nichts Irdisches mehr, keine Opera und keine sonstigen Vergnügungen, von seinem Tun abhalten würde. Warum man ihm indes bei aller Mühe kein Notenpapier bereitgelegt hatte, ließ ihn den Kopf schütteln. Eine wahre Prüfung! Dann strich er sich das wirre, noch fieberfeuchte Haar aus der Stirn und begann, mit Hilfe eines weiteren, sorgsam gefalteten Blatts, immer fünf Linien untereinander zu zeichnen.

 

Mit dem Sanctus kam er rascher voran als gedacht, obgleich er dazu ganze achtunddreißig Takte niederschrieb. Einzig die Reprise ließ er aus, die konnte wahrlich auch ein Nichtsnutz vollenden, und für Notenschreiber vom Range eines Clementi gab es im Jenseits gewiss nicht allzu viel zu tun.

Das himmlische Schreibgerät glitt geschwind über das Papier und schien zudem über einen mirakulösen Vorrat an Tinte zu verfügen; zwar schmierte sie etwas klebrig in den |16|Achteln, doch hatte er schon die fünfte Seite beschrieben, ohne einen einzigen Gedanken auf ein Tintenfass zu verschwenden. Wohlig lehnte er sich zurück, reckte sich in dem dunklen Fauteuil, der bei jeder Bewegung ein wenig mitschwang. Ein Frühstück wäre ihm recht gewesen, doch war man hier offenbar einzig auf die Erfüllung seiner Aufgabe bedacht. Dennoch: Ein angenehmer Ort schien es zu sein, die Luft erquicklich trocken und warm, nicht das geringste bisschen Zugluft störte ihn im Nacken. Einzig seine Füße froren.

Er ließ den Blick durchs Zimmer wandern. Neben ihm auf dem Tisch stand aufrecht ein eigentümlicher, flacher Kasten, wie ein blindes, kleines Fenster oder ein Bilderrahmen ohne Gemälde darin. Dafür glomm an seiner Unterkante ein winziges grünes Licht. Argwöhnisch hielt er seinen Finger in einigem Abstand davor, das Licht strahlte weder Wärme aus, noch flackerte es. Rasch tippte er ein paarmal darauf, es leuchtete jedoch weiter ohne den lässlichsten Anschein von Respekt. Vor dem Kasten befand sich ein Brett, es musste sich um ein Spiel handeln, denn es waren kleine Würfel darauf angeordnet, die das vollständige Alphabet sowie Ziffern und eine Menge Zeichen enthielten. Demjenigen, der es zuletzt bespielt hatte, war es wohl der Mühe nicht wert gewesen, alles wieder an den rechten Platz zu setzten; kein Buchstabe stand, wo er hingehörte. Er griff nach dem A, versuchte, es anzuheben und die gefügige Ordnung herzustellen, doch der Würfel ließ sich nicht herausheben, nur niederdrücken wie die Taste eines Fortepianos. So war es … eine Klaviatur zum Schreiben? Er drückte nacheinander die Buchstaben W-O-L-F-G-A-N-G, doch ertönten keine Laute, nur ein monotones Klackern. Ratlos ließ er davon ab.

Neben der Klaviatur fand er weitere Stapel des weißen Papiers, bereits vollgeschrieben mit Notizen, Zahlen, zarten Zeichnungen, in einer feinen, sehr weiblichen Schrift. |17|Konnte es angehen, dass er nicht der Erste an diesem Ort war, dessen finale Dienste gefordert wurden? Nun, das war immerhin ein tröstlicher Gedanke inmitten der Beharrlichkeit, mit der man ihm hier seine Arbeit abverlangte. Ob er am Ende doch sämtliche Orchesterstimmen würde notieren müssen? Das Benedictus wäre bald skizziert, das Agnus Dei … und dann? Er schluckte. Schließlich würde man alles von ihm fordern. Alles. Auch das Letzte. Das Allerletzte. Auch das Lacrymosa. Allein der Gedanke daran, die Töne, die er sofort mit sich brachte, ließen ihn beben. Nie zuvor war ihm solches widerfahren. Nie zuvor hatte seine eigene Musik ihn derarten zu erschüttern vermocht, dass er sich außerstande sah, sie zu vollenden. Lacrymosa. Dies illa. Wie oft hatte er unter Tränen von seinem Arbeitstisch aufstehen und das Haus verlassen müssen, bis der Lärm der Straßen ihn wieder aufleben ließ. Huic ergo parce, Deus!

Zitternd griff er nach dem wundersamen Schreibgerät.

 

Als bereits ein rechtes Bündel fertiger Seiten vor ihm lag, mischten sich plötzlich fremde Töne in die letzten Takte des Benedictus. Er schrak auf. Eine Frauenstimme sang eine monotone Melodie aus zwei sich ständig wiederholenden Phrasen, begleitet von grellem Geschepper, als schlügen Kochtöpfe gegeneinander.

Sein erster empörter Impuls ließ ihn aufspringen, dann verharrte er, lauschte. Dumpfes Pochen, jemand lief an der Zimmertür vorbei. Instinktiv hielt er den Atem an. Der Erzengel! Doch die Schritte entfernten sich, eine Tür schlug, der Gesang verstummte, Gespräch setzte ein. Er schlich zur Tür, presste sein Ohr gegen das Türblatt. Jemand unterhielt sich mit einem Frauenzimmer, jedoch so undeutlich, dass man die Worte nicht verstehen konnte. Zaghaft drückte er die Klinke herab und steckte den Kopf aus der Tür. Die Stimmen kamen aus dem Nebenraum, und obwohl die Konversation nicht unfreundlich klang, wurde unnatürlich |18|laut disputiert, gerade so, wie man auf einer Bühne zu sprechen hat. Neugierig schlüpfte er hinaus in den halbdunklen Korridor, tappte auf bloßen Füßen über kalte Dielen und lugte am Türrahmen vorbei in ein größeres Zimmer, eine Art Salon, das ihn, ob seiner Helligkeit, blinzeln machte. Die Wände waren vollkommen weiß. Verwundert drehte er sich um sich selbst. Doch unverkennbar: Im Raum wurde gesprochen – und es war niemand darinnen! Entweder seine Sinne oder jemand anders trieb übelsten Schabernack mit ihm. So leise er konnte, schlich er sich in die Richtung eines Wandbords, in welchem das Gespräch zweifelsohne seinen Ursprung nahm, stolperte über ein paar rosenfarbige Wollpantoffeln, fing sich knapp und schlüpfte, ohne nachzudenken, hinein. Dem Klang folgend, berührte er das Bord, spürte ganz eindeutig die Vibrationen, aus jenem überlauten Gespräch geboren, dessen Worte er nicht aufzunehmen vermochte. Das feine Zittern entsprang einer schwarzen, mit Stoff bespannten Kiste.

Überwältigt hielt er den Atem an: ein mechanischer Musikapparat, der Stimmen hervorbrachte! Wie tadellos echt er klang, fast so, als säße jemand in der Kiste, die freilich viel zu winzig dafür gewesen wäre. Trotzdem drehte er sie vorsichtshalber um, doch hinten hing lediglich eine schwarze glatte Kordel heraus. Gewiss war sie zum Aufziehen gedacht. Ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Lippen. Was für ein meisterhaftes Instrument! Ganz anders als die langweiligen Apparate, für die er unlängst ein paar Stücke hatte schreiben sollen – nur widerwillig hatte er einen Teil davon fertiggestellt. Oh, es wäre ihm eine Ehre, für dieses neue Mechanikum eine erhabene Musik zu komponieren – zumal sie offenbar recht lang werden durfte, der Kasten sprach nun schon eine ganze Weile, ohne dass man ihn hatte aufziehen müssen.

Er sah sich um. In dem Salon herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander: Trinkgläser und Flaschen, Kleidungsstücke |19|und allerlei Unrat lagen auf dem Fußboden verstreut. Nichts in diesem Raum, so musste er sich eingestehen, war ihm vertraut, abgesehen von dem Umstand, dass hier offenbar vor kurzem ein Gelage stattgefunden hatte. Hatte er daran teilgenommen? Er schluckte und stellte fest, dass seine Zunge am Gaumen klebte. Einige der herumstehenden Bouteillen waren noch halb gefüllt, er hielt sich einen Flaschenhals an die Nase, roch Bier, nahm ein paar kräftige Schlucke; es schmeckte schal, löschte aber den größten Durst, wenn auch ohne zu erfrischen.

Indes das Mechanikum weiterdröhnte, flog sein Blick im Raum umher, blieb an einem kleinen, zur Vollkommenheit runden Spiegel hängen, der am Boden lag. Er kniete nieder und beugte sich darüber. Der Spiegel war mit einem Loch in der Mitte versehen. Bewegte man den Kopf, tanzten bunte Strahlen verschieden schnell über die Scheibe, ein schillerndes Ballett, stets von einer unsichtbaren Mitte geführt. Das war Musik zum Anschauen! Er wackelte mit dem Kopf, probierte verschiedene Rhythmen, und auch die kleinsten seiner Bewegungen bewirkten immer neue Farbenspiele und wurden zu unerwarteten Klängen. Doch dann bemerkte er, dass ihm übel dabei wurde, und tief atmend richtete er sich auf. Vermutlich fehlte ihm frische Luft.

Er tappte zum Fenster, zerrte und rüttelte am Griff, bis es sich endlich öffnen ließ. Erleichtert lehnte er sich gegen die Brüstung und sah in den grauen Himmel hinauf. Die Atmosphäre, gleichwohl winterlich kalt, war erfüllt von einem anhaltenden Brummen und Rauschen, fast wie von einem Gebirgsbach im Frühsommer. Er lauschte. Von fern stieß jemand zweimal kurz in ein Jagdhorn. Ihn schauerte, er rang nach der kalten Luft, ein beißender, teuflisch unangenehmer Geruch lag darin, der ihm Wasser in die Augen trieb. Keine Engel, keine Posaunen, keine Tauben. Stattdessen bleischwerer Himmel, alchimistischer Gestank und ein hungriger Magen.

|20|Mit der Müdigkeit eines Wanderers, der, am Ende seiner Kräfte, feststellt, dass der halbe Weg weiters vor ihm liegt, stützte er den Kopf in die Hände und sah zwischen kahlen Baumkronen hindurch auf eine Allee. Bestaunte die völlig plane Bahn, die wie aus einem einzigen schwarzen Pflasterstein gemacht schien, als etwas Großes, Glänzendes eilig darüberhuschte, schwarz schimmernd wie ein riesenhaftes Insekt. Erschrocken wich er zurück. Gleich darauf kam ein weiteres, silbriges, diesmal von der anderen Seite, doch nun blieb er stehen, krallte nur seine Hände in die Fensterlaibung und folgte mit seinem Blick dem wunderlichen Vehikel dort drunten. Ja, das war eindeutig ein Fuhrwerk, auch wenn er weder Hufgetrappel hörte noch Pferde ausmachen konnte. Eine Weile sah er mit steigender Neugier den unaufhörlich von rechts und links kommenden Geschossen nach, bis eines langsamer wurde und auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen zwei Bäumen hielt. Es erinnerte ihn tatsächlich an eine Kutsche, hatte vier Räder, wenn auch nur sehr kleine, und er wunderte sich über die Geschwindigkeit, die es damit zustande brachte. Zu beiden Seiten der Kutsche öffneten sich Türschläge, zwei Menschen kletterten heraus und begannen, große Kartonagen aus dem Fuhrwerk zu zerren und fortzutragen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sich wohl anfühlte, mit solcher Geschwindigkeit über die Alleen zu jagen, dachte an die Begeisterung, die er als kleiner Junge empfunden hatte, wenn der Kutscher auf den langen Reisen den Pferden ordentlich die Peitsche gab.

Ein Ruf von der Straße, dem Tonfall nach ein derber Fluch, riss ihn aus seinen Gedanken. Er spähte nach unten, wo just ein Karton auf das Trottoir gefallen war, ein Wust von Papieren und Büchern lag am Boden verstreut.

 

»Bist du wahnsinnig, das ist scheißkalt hier! Mach sofort das Fenster zu!«

|21|Erschrocken fuhr er herum, starrte auf einen hünenhaften Mann, dem das Haar so strubblig vom Kopf abstand wie einem frisch geschlüpften Küken die Federchen; bis auf ein Tuch um seine Hüften war er nackt, und allenfalls ein Lorbeerkranz hätte den Anblick noch zu ergänzen vermocht. Die himmlischen Heerscharen hatte er sich anders vorgestellt.

»Wo hängt’s? Jetzt mach schon!«

Folgsam tastete er nach dem Festerrahmen. Gewahrte erst jetzt, wie angenehm warm der Raum zuvor gewesen war, indes er nicht den mindesten Geruch einer Feuerung bemerkt hatte.

»Ich, äh … bitte ergebenst um Verzeihung, es lag nicht in meiner mindesten Absicht, Euch zu incommodieren.«

»Wie bitte?« Der andere glotzte an ihm herab. »Na wenigstens bist du wieder fit, wir haben schon Angst gehabt, du krepierst uns.«

Er erstarrte. »Wie könnte das angehen?« Mühsam zog er die Mundwinkel in die Breite. »Wo ich doch bereits ein elend Sterbender, ein sterbendes Elend, äh … sterbenselend bin?«

Der Nackte sah aus, als habe er Essig im Mund. »Bist ein Spaßvogel, was? Dann ist es ja gut, dass wir deinen sicheren Tod verhindern konnten. Beim nächsten Mal würde ich mich an deiner Stelle aber zurückhalten.«

»Beim nächsten Mal? Ich … verstehe nicht …«

Ein klackendes Geräusch unterbrach ihn, Schritte näherten sich, und ein gedrungener Posaunenengel mit nussbraunen Locken über der breiten Stirn erschien im Türrahmen.

»He, Enno«, rief der Nackte grinsend, »wir kriegen Hilfe beim Saubermachen. Unser Fundstück ist wieder klar.«

»Na Gott sei Dank.« Der Posaunist bedachte den anderen mit einem Seitenblick und gab ein erleichtertes Schnaufen von sich. »Bist du bestimmt okay?«

|22|Das galt ihm. Vorsichtig sah er von einem zum anderen. Wenn er nicht tot war, konnte dies nicht das Jenseits sein. Wohin also war er geraten? In ein Zwischenreich, für das er keinen Namen kannte? War »ohké« ein Erkennungszeichen? »Ich, ähm …«

»O nein!«, fiel ihm der Nackte ins Wort. »Erzähl uns jetzt bloß nichts von wegen dringend wegmüssen.«

»Kriegst auch ein prima Frühstück.« Der Posaunist, der sich Enno nannte, wedelte mit einer blütenweißen Papiertüte und zog davon.

»Aber zieh um Gottes willen Anjus Schlapfen aus, die kriegt einen Anfall, wenn sie das sieht!«

Er senkte den Kopf, betrachtete unschlüssig das rosenrote Paar. »Bitte zu entschuldigen, aber die Ursache, dass ich mich in dieser Weise bedienet habe, ist, weil ich meines Schuhwerks entbehre und …«

»Die hast du bestimmt in Anjus Zimmer gelassen«, der Nackte deutete mit dem Kopf in Richtung der Kammer mit dem purpurfarbenen Bett. »Wir haben dir gestern was anderes angezogen. In deinem versifften Zeug konnten wir dich unmöglich in ihr Bett legen.«

Er nickte, als habe er verstanden, trat aus den Pantoffeln und drückte sich an ihm vorbei aus dem Salon. Doch im Purpurzimmer lagen weder Schuhe, noch fand er seine Kleidung dort. Stattdessen suchte er aus den Notenpapieren, die er auf dem Sekretär verstreut hatte, heraus, was er brauchte, und bündelte es.

»Hast du sie?« Der Nackte, der nun nicht mehr nackt war, sondern eine lange Hose und ein ebensolches Hemdchen trug wie er selbst, nur dass es nicht weiß, sondern schwarz war, baute sich vor ihm auf. Schwarz – mitnichten die Farbe des Himmels! Er kniff die Augen zusammen, starrte auf die verzierten glutroten Lettern, die auf der Brust des Hünen geschrieben standen: AC/DC. Mittig geteilt durch das lodernde Flammenschwert des Paradieswächters. |23|Was mochte das zu bedeuten haben? Angelus caelestis Domini Christi? War dieser Blonde gar ein direkter Bote Christi, des Herrn? Er senkte vorsichtshalber den Kopf, schielte dann aber irritiert zu dem anderen hinauf. »Äh … sollte es nicht ›Jesu Christi‹ heißen?«

»Hä?«

»Domine JESU Christi!« Er wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Glutlettern.

»Spinnst du?«

»Lass mal, Jost …« Posaunen-Enno kam hinterdrein und hob beschwichtigend die Hände. »Tom hat die Klamotten runtergebracht, die waren eh nicht mehr zu gebrauchen, alles total vollgekotzt.« Enno deutete entschuldigend auf die blaue Hose. »Kannst das anbehalten.«

AC/DC. Er zwirbelte seine Augenbraue. Adorate, Cherubim, Dominum Cantu! Betet an, ihr Engel, den Herrn mit eurem Gesang. Ja, das musste es sein. »Wie herrlich!« Sofort war ihm ein Thema präsent, a-c-d-c, in a minor musste es stehen, selbstredend; leise begann er zu singen. »Aaa-do-raa-te Cheee-ru-biiim …«

»He, Mensch! Was hast du denn da, fass hier bloß nichts an!« Der Cherub hatte die Noten entdeckt und griff danach. »Anju macht mir die Hölle heiß, wenn sie merkt, dass du deinen Rausch in ihrem Bett ausgepennt hast.«

»Die Hölle?« Er presste das Papierbündel entschlossen an die Brust. »Das sind meine. Die hab ich heute in der Früh componiert.«

Cherub Jost sah ihn an, als habe er mit der Sprache der Mohren im fernen Afrika gesprochen, schaute dann auf die Noten. »Sonst fehlt dir nix? Wer bist du überhaupt?«

Er zögerte. Wusste dieser Cherub, den man gewiss zu seinem Empfang bestellt hatte, denn nicht Bescheid? Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Mozart, Wolfgang Mozart, Compositeur aus Wien.«

|24|Enno drehte sich stöhnend um und verließ das Zimmer, Cherub Jost nickte Wolfgang zu.

»Na prima, Herr Mozart, aber jetzt hilfst du uns beim Saubermachen, eher lassen wir dich hier nicht raus. Also komm, kannst gleich in der Küche anfangen.«

Wolfgang straffte den Rücken. Man erwartete nicht allen Ernstes von ihm, dass er eine Küche schrubbte? Einen blauen Teufel würde er tun! Man hatte ihn zum Komponieren bestellt, und nun sollte er sich durch niedrigste Weiberarbeit davon abhalten lassen? Wer war dieser schwarze Engel, der ihn kommandierte wie einen Lakaien? Doch da sein Magen sich allmählich von innen zu zernagen drohte, dünkte ihm, dass er in einer Küche vielleicht fürs Erste am besten aufgehoben sei, und trottete hinterdrein.

»Habt Ihr denn kein Weib hier?«, fragte er. »Und keine Dienstboten?«

Jost fing an zu lachen. »Weiber gibt’s hier nie genug! Und das Personal hat leider heute frei. Aber dafür haben wir ja jetzt dich.«

Entrüstet stemmte Wolfgang die Hände in die Seiten, doch angesichts seiner mehr als disputablen Lage entschied er sich, stillschweigend und in aller Vorsicht nach Aufschluss zu suchen.

Wolfgang betrat hinter Jost einen schmalen Raum mit weißlackiertem Interieur, in dem zwar keine Herdstelle zu sehen war, es jedoch erfreulich kräftig nach Kaffee roch. Jost öffnete ein kleines Kabinett an der Wand und stellte drei Henkelbecher vor ihm ab, goss dampfende dunkelbraune Flüssigkeit ein.

»Mit wem bist du eigentlich gestern hergekommen? Ich hab dich noch nie gesehen.«

Wolfgang beäugte den Cherub von der Seite, der offensichtlich besser über ihn Bescheid wusste als er selbst. »Ich, nun … bin darüber unklar, Monsieur«, erwiderte er leise, »ich war überzeugt, erst seit heute hier zu sein … |25|gewissermaßen. Meine Ankunft sollte Euch annonciert worden sein. Wohl darf ich Euch bitten, mir etwas Aufklärung zu verschaffen.«

»Was? O Mann, du hast ja den totalen Filmriss, warst du etwa schon stoned, als du hier ankamst?«

»Ich befürchte, ich kann nicht ganz folgen …«

Jost taxierte ihn. »An was erinnerst du dich denn überhaupt noch?«

Wolfgang neigte den Kopf zur Seite. »Ich fand mich unversehens und bei Kräften in diesem Eurem Bette, wo ich doch gestern ganz ohne Zweifel glauben durfte, meine Stunde sei gekommen.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, gab Jost in gereiztem Ton zurück. »Ich will aber wissen, wer dich gestern hierhergeschleppt hat.«

»Ich entsinne mich keinerlei Begleitung, es geschah auch nicht aus meinem Willen, das darf ich versichern.«

»Wie bitte? Soll das heißen, du bist einfach so hereingekommen, ohne jemanden zu kennen? Besäufst du dich immer bei wildfremden Leuten?«

»Nun, ich …« Stammelnd wich Wolfgang ein paar Schritte zurück. Sollte er tatsächlich ohne Kenntnis an jenem Gelage teilgenommen haben? Er hatte wohl schon häufiger Bier und Wein in einer Weise zugesprochen, die seiner Erinnerung abträglich war, freilich war ihm niemals alles zur Gänze entfallen. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu molestieren, auch habe ich gewiss nichts angerührt …«

»Du stinkst doch jetzt noch nach Bier wie ein Penner.« Jost rümpfte angewidert die Nase. »Na was soll’s – du hast deinen Spaß gehabt, jetzt kannst du auch was dafür tun. Bitte sehr.« Es folgte eine einladende Handbewegung in Richtung des verdreckten Fußbodens. »Viel Spaß! Da im Schrank ist der Putzeimer.« Jost wandte sich zur Tür, hielt dann aber inne und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sag mal, du bist nicht etwa einer von der Straße?«

|26|Nun war es genug. »Ich bin ein ehrbarer Mann«, fuhr Wolfgang auf, »auch wenn ich gegenwärtig indisponiert scheine!« Das war kein Himmelsdiener, bloß ein ungehobelter Lümmel oder – schlimmer noch – ein Gefallener, und der hatte seine Höflichkeit gewiss nicht verdient. Er sah Jost scharf ins Gesicht. »Und wenn Er einen Funken Anstand hätte, der schwarze Herr Cherub, so ließe er es an der nötigen Gastfreundschaft nicht fehlen. Ich habe seit meiner Ankunft nichts gegessen!«

»Du glaubst wohl, du bist im Hotel?«

»Mitnichten! Gleichwohl – in einer Spelunke übelster Art. Und mit den rechten Leuten darinnen! Wenn er nun die Güte hätte, mir mein Schuhwerk zu bringen, damit ich diesen ungastlichen Ort unverzüglich verlassen kann!«

Jost sah verächtlich auf Wolfgangs Füße hinunter, hob zu einer Bemerkung an, riss die Augen auf und fing an zu brüllen. »Scheiße, Mann! Alles voller Blut! Merkst du nicht, wenn du durch Scherben latschst?«

Wolfgang sah verdutzt an sich herab. Justament spürte er den stechenden Schmerz an seinem linken Ballen und hob den Fuß. Eine Blutspur zog sich über den dreckverschmierten Boden.

»Pass doch auf, geh von meinen CDs runter!« Mit spitzen Fingern hob Jost zwei blutbefleckte, silbern schillernde Scheiben auf, jener gleich, die Wolfgang im Salon hatte herumliegen sehen.

»Au weh!« Wolfgang griff nach einem zerknüllten Tuch, das am Boden lag, presste es auf den Ballen und sank auf einen Stuhl.

»Is was passiert?« Enno steckte den Kopf zur Tür herein.

»Das Schwein! Meine CDs sind voller Blut!« Jost neigte sich über ein Becken und wusch die Silberscheiben sauber.

Gebannt starrte Wolfgang auf das glänzende Rohr, aus dem Wasser herauslief, ohne dass Jost eine Pumpe bedient hätte. »Es läuft«, hauchte er. »Ganz von selbst.«

|27|»Du lieber Himmel.« Enno beugte sich über Wolfgangs Fuß, nahm vorsichtig das Tuch von der Wunde. »Und wie das läuft! Der Schnitt ist ganz schön tief.« Er griff in eine Lade und reichte ihm ein zwei Finger breites, weiches Stück Stoff. »Hier – mach schnell ein Pflaster drauf.«

Wolfgang nickte artig, legte das Stoffstückchen auf den blutenden Schnitt.

Enno stöhnte. »Bist du wirklich so unfähig, oder stellst du dich extra blöd an?« Er nahm ihm den inzwischen blutigen Verband fort, riss von einem weiteren ein Papier ab und drückte ihn auf die Wunde.

»Pass bloß auf, so ein Penner hat garantiert Aids!«, rief Jost, doch Enno zuckte kurz die Achseln und zog einen zweiten Stuhl heran. Wolfgang bewegte verwundert den Fuß – der winzige Verband hielt ganz von selbst.

»Damit kann er jedenfalls vorerst nicht auftreten.« Enno deutete auf den Stuhl. »Hier, leg das Bein hoch, vorsichtig.«

»Und putzen natürlich auch nicht, wie? Sehr praktisch! Verdammt, mir reicht es jetzt! Durchgefüttert werden will er auch noch.« Jost schnaubte wie ein Pferd. »Ich hab neulich einen Film gesehen, da hat sich ein Penner bei einer völlig friedlichen Familie eingenistet. Ich sag’s euch: Am Schluss haben sie ihn umgebracht! Also: Entweder du hilfst uns beim Saubermachen oder du verschwindest. Sofort!«

»Soll er seinen Saustall selber putzen, der falsche Engel! Gefallener! Dämon!« Mit einem Ruck stand Wolfgang auf, biss sich auf die Lippen und marschierte hocherhobenen Hauptes aus der Küche. So schnell er eben konnte, indem er vom linken Fuß nur die Ferse aufsetzte, suchte er nach dem Ausgang.

»Warte, du kannst doch nicht mit nackten Füßen in die Kälte raus.« Enno machte offenbar Anstalten, ihm zu folgen.

|28|»Vergiss den«, tönte Josts Stimme, »es macht keinen Unterschied, ob er mit oder ohne Schuhe auf seiner Parkbank liegt.«

Einen Triumph würde er einem solchen Fexen nicht gönnen. Lieber fror er sich die Füße ab. Das ganze Treppenhaus hallte, als er die Tür hinter sich ins Schloss warf.