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Über Methode und Aufgabe
einer Analytischen Sozialpsychologie.
Bemerkungen über Psychoanalyse
und historischen Materialismus

Erich Fromm
(1932a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie. Bemerkungen über Psychoanalyse und historischen Materialismus in: Zeitschrift für Sozialforschung, Leipzig 1 (1932) S. 28-54. Erneut veröffentlicht 1970 in dem Sammelband Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (1970a) beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main. Wiederabdruck 1980 in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) GA I, S. 37-57.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band I, S. 37-57.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1932 und 1980 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Die Psychoanalyse ist eine naturwissenschaftliche, materialistische Psychologie.[1] Sie hat als Motor menschlichen Verhaltens Triebregungen und Bedürfnisse nachgewiesen, die von den physiologisch verankerten, selbst nicht unmittelbar beobachtbaren „Trieben“ gespeist werden. Sie hat aufgezeigt, dass die bewusste Seelentätigkeit nur einen relativ kleinen Sektor des Seelenlebens ausmacht, dass viele entscheidende Antriebe seelischen Verhaltens dem Menschen nicht bewusst sind. Sie hat insbesondere private und kollektive Ideologien als Ausdruck bestimmter, trieblich verankerter Wünsche und Bedürfnisse entlarvt und auch in den „moralischen“ und ideellen Motiven verhüllte und rationalisierte Äußerungen von Trieben entdeckt.[2]

Freud hat zunächst, ganz entsprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen Seelenlebens wirksam sind: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe.[3] Die den Sexualtrieben innewohnende Energie hat er als Libido bezeichnet, [I-038] seelische Vorgänge, die von dieser Energie gespeist sind, als libidinöse.[4] Unter Sexualtrieben hat Freud in berechtigter Erweiterung der üblichen Verwendung dieses Begriffes alle, analog den genitalen Impulsen, körperlich bedingten und an Körperstellen („erogenen Zonen“) haftenden Spannungen, die nach lustbringender Abfuhr verlangen, verstanden.

Als Hauptprinzip der Seelentätigkeit nimmt Freud das „Lustprinzip“ an, die Tendenz zu maximaler, lustbringender Abfuhr der Triebspannungen. Dieses Lustprinzip wird durch das „Realitätsprinzip“ modifiziert, das unter dem Einfluss der Beobachtung der Realität Verzicht oder Aufschub von Lust zugunsten der Vermeidung größerer Unlust oder der Gewinnung künftiger größerer Lust fordert.

Die Eigenart der spezifischen Triebstruktur eines Menschen sieht Freud durch zwei Faktoren bedingt: die mitgebrachte Konstitution und das Lebensschicksal, vor allem das Schicksal seiner frühen Kindheit. Er geht davon aus, dass mitgebrachte Konstitution und Erleben eine „Ergänzungsreihe“ bilden und dass die spezifisch analytische Aufgabe die Erforschung des Einflusses des Erlebens auf die gegebene Triebkonstitution ist. Die analytische Methode ist also eine exquisit historische: Sie fordert Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal. Diese Methode hat ihre Gültigkeit sowohl für das Seelenleben des Gesunden wie das des Kranken, der neurotischen Persönlichkeit. Das, was den neurotischen Menschen vom „normalen“ unterscheidet, ist die Tatsache, dass bei diesem sich die Triebstruktur optimal seinen realen Lebensnotwendigkeiten angepasst hat, während bei jenem die Triebentwicklung auf gewisse Hindernisse gestoßen ist, die eine genügende Anpassung der Triebe an die Realität verhinderten.

Um die Tatsache der Anpassung und Modifizierbarkeit der Sexualtriebe an die Realität ganz verständlich machen zu können, ist es notwendig, auf gewisse Eigenschaften der Sexualtriebe hinzuweisen, Eigenschaften, die sie gerade von den Selbsterhaltungstrieben unterscheiden.

Die Sexualtriebe sind im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben aufschiebbar, während jene imperativischer Natur sind, d.h. eine längere Nichtbefriedigung den Tod herbeiführt, bzw. seelisch absolut unerträglich ist. Diese Tatsache bewirkt, dass die Selbsterhaltungstriebe ein Primat vor den Sexualtrieben haben; nicht in dem Sinn, dass sie an sich eine größere Rolle spielen, aber so, dass im Falle des Konflikts sie die eindringlicheren sind, dass sie sich, solange sie noch unbefriedigt sind, als die stärkeren erweisen.

Damit ist eng verknüpft, dass die Regungen der Sexualtriebe verdrängbar sind, während die sich aus den Selbsterhaltungstrieben ergebenden Wünsche nicht aus dem Bewusstsein entfernt werden und im Unbewussten deponiert bleiben können. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen beiden Triebgruppen ist die Tatsache, dass die Sexualtriebe sublimierbar sind, d.h. dass an die Stelle der direkten Befriedigung eines sexuellen Wunsches eine vom ursprünglichen Sexualziel entfernte, mit Leistungen des Ich amalgamierte Befriedigung treten kann. Die Selbsterhaltungstriebe sind solcher Sublimierung nicht fähig.

Von besonderer Wichtigkeit ist ferner die Tatsache, dass die Befriedigung der Selbsterhaltungsimpulse immer wirklicher Mittel bedarf, dass aber die Befriedigung der [I-039] Sexualtriebe oft in Phantasien, ohne Aufwendung realer Mittel, vor sich gehen kann. Konkret gesprochen heißt das: Den Hunger der Menschen kann man nur mit Brot befriedigen, aber etwa ihre Wünsche, geliebt zu werden, mit einer Phantasie von einem gütigen, liebenden Gott oder ihre sadistischen Tendenzen mit blutigen Volksschauspielen.

Wesentlich ist endlich, dass die verschiedenen Äußerungsformen der Sexualtriebe – wiederum im Gegensatz zu den Selbsterhaltungstrieben – in hohem Grade untereinander vertauschbar und verschiebbar sind. Bei Nichtbefriedigung einer Triebregung kann diese durch eine andere ersetzt werden, deren Befriedigung – aus inneren oder äußeren Gründen – möglich ist. Diese Verwandelbarkeit und Vertauschbarkeit innerhalb der Sexualtriebe ist einer der Schlüssel zum Verständnis des neurotischen wie des gesunden Seelenlebens und ein Kernstück der psychoanalytischen Theorie. Sie ist aber auch eine gesellschaftliche Tatsache von höchster Bedeutung. Sie erlaubt es, dass gerade diejenigen Befriedigungen den Massen geboten und von ihnen akzeptiert werden, die aus sozialen Gründen zur Verfügung stehen bzw. von der herrschenden Klasse erwünscht sind.[5]

Zusammenfassend ergibt sich also, dass die Sexualtriebe infolge ihrer Aufschiebbarkeit, Verdrängbarkeit, Sublimierbarkeit und Verwandelbarkeit einen viel elastischeren und geschmeidigeren Charakter haben als die Selbsterhaltungstriebe. Sie lehnen sich diesen an, folgen ihren Spuren (Vgl. S. Freud, 1905d). Die Tatsache der größeren Geschmeidigkeit und Wandlungsfähigkeit der Sexualtriebe bedeutet aber nicht, dass sie auf die Dauer unbefriedigt bleiben können. Es gibt nicht nur ein physisches, sondern auch ein psychisches Existenzminimum, d.h. ein notwendiges Mindestmaß der Befriedigung der Sexualtriebe. Die hier charakterisierten Unterschiede zwischen Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben bedeuten vielmehr nur, dass sich die Sexualtriebe in hohem Maße den Befriedigungsmöglichkeiten, d.h. den realen Lebensumständen anpassen können. Sie entwickeln sich schon im Sinne dieser Anpassung, und nur bei neurotischen Individuen liegen Störungen der Anpassungsfähigkeit vor. Die Psychoanalyse hat gerade diese Modifizierbarkeit der Sexualtriebe aufgezeigt, sie hat gelehrt, die individuelle Triebstruktur aus dem Lebensschicksal bzw. aus der Beeinflussung der mitgebrachten Triebanlage durch das Lebensschicksal zu verstehen. Die aktive und passive Anpassung biologischer Tatbestände, der Triebe, an soziale ist die Kernauffassung der Psychoanalyse, und jede personalpsychologische Untersuchung geht von dieser Grundauffassung aus.

Freud hat sich ursprünglich – und auch späterhin vorwiegend – mit der Psychologie des Individuums beschäftigt. Nachdem aber einmal in den Trieben die Motive menschlichen Verhaltens, im Unbewussten die geheime Quelle der Ideologien und Verhaltungsweisen entdeckt waren, konnte es nicht ausbleiben, dass die analytischen Autoren den Versuch machten, vom Problem des Individuums zu dem der [I-040] Gesellschaft, von der Personalpsychologie zur Sozialpsychologie