Mythos, Märchen, Sage?

Gustav Schwab (s. S. 113) lebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und war ein Pfarrer und Lehrer aus Stuttgart. Sein großes Verdienst ist es, ein Standardwerk zur Mythologie geschaffen zu haben: Die Sagen des klassischen Altertums waren vor allem dazu gedacht, die Mythen der Römer und Griechen, mit denen sich Schwab beschäftigte, der zu dieser Zeit bei mehreren Verlagen als Herausgeber antiker Autoren tätig war, der deutschen Jugend näherzubringen. Natürlich konnte man dieser nicht alles zumuten, was da bei Homer, Hesiod oder Vergil zu finden war, und so kürzte Schwab munter vor sich hin oder erzählte dies und das neu, wenn die antiken Vorlagen zu kompliziert schienen oder zu viel Gewalt und Sex enthielten.

Dass Schwab im Titel seines Werks nicht nach griechischer und römischer Mythologie unterscheidet, ergibt durchaus Sinn, hat doch das Römische Reich den griechischen Götterapparat und Mythenschatz im Großen und Ganzen übernommen. Bereits lange vor der militärischen Eroberung Griechenlands durch Rom im 2. Jahrhundert v. Chr. sorgten griechische Pflanzstädte wie Neapel dafür, dass die Bewohner des Römischen Reichs mit der griechischen Kultur in Berührung kamen. Im Laufe der Zeit wurden die Funktionen der einzelnen Gottheiten den heimischen Göttern angepasst – so wurde aus Zeus Jupiter, aus Hermes Merkur usw. Bald gab es nur noch wenige komplett römische Götter (z. B. Janus). Gustav Schwab indes sorgte dafür, dass auch heute noch der Begriff „Sage“ zur Anwendung kommt, wenn von Zeus, Orpheus, Perseus oder Medusa die Rede ist – dabei ist eine Sage durchaus etwas anderes als ein Mythos, auch wenn beide ähnliche Elemente aufweisen. Vom Märchen ganz zu schweigen. Doch wo liegen die Unterschiede zwischen Mythos und Sage, Märchen und Legende?

Wir alle werden als Erstes in unserem Leben mit dem Märchen konfrontiert. Diese Bezeichnung beschreibt eine mündlich tradierte Erzählung mit wundersamen Begebenheiten und phantastischem Personal (Hexen, Zauberer, sprechende Tiere), die in einer unbestimmten Vergangenheit angesiedelt ist („Es war einmal . . .“). Es dient der Unterhaltung, allerdings oft mit einem bestimmten päda­gogischem Hintergedanken. Die Legende rankt sich um tatsächlich existierende Personen oder Geschehnisse und dient dazu, diese nachträglich zu überhöhen. Sie ist zumeist räumlich und zeitlich genau verortet und enthält oft sogar einen wahren Kern. Heute sprechen wir z. B. von der „Legendenbildung“ um eine Person oder ein Groß-ereignis. Die Sage verbindet beides: Sie operiert mit phantastischen Elementen, ist jedoch zeitlich und räumlich verortet. Der ursprüngliche Verfasser ist meist unbekannt, ihre Motive können interkulturell weitergegeben werden. Diese Definition der Sage trifft auch auf die meisten Mythen zu, doch gibt es einen wichtigen Unterschied: Der Mythos trägt eine viel weiterreichende Bedeutung als die drei anderen Erzählformen, die vor allem der Unterhaltung dienen – er verortet den Menschen und erzählt, wie seine Welt so wurde, wie sie ist. Die wichtigste Beziehung, die im Mythos zum Ausdruck kommt (in den Geschichten der Ilias genau wie in denen der Bibel) ist die zwischen Mensch und Göttern.

Ob und wie lange man in der Antike glaubte, dass die einzelnen Erzählungen der Wahrheit entsprachen, ist dabei zweitrangig. Auch wenn man sagen kann, dass z. B. um die Zeitenwende in Rom zumindest die obere Gesellschaft nicht mehr an eine anthropomorphe Entourage von über einem Dutzend Göttern glaubte: Die Mythologie (das Kollektiv der Mythen einer Gesellschaft) blieb auch für aufgeklärte Zeitgenossen ein wichtiger Teil ihrer Kultur – wie ja auch heute viele Atheisten zustimmen würden, dass es durchaus lohnt, sich mit dem Christentum zu beschäftigen, da es eine wichtige Säule unserer heutigen Kultur und Gesellschaft ist. Zugegeben: Hier und da können die Übergänge zwischen den Erzählformen fließend sein. So gibt es z. B. innerhalb der Odyssee von Homer, die Mythen wiedergibt, die sich um Odysseus’ Irrfahrten ranken, Elemente, die aus uralten Märchen des Mittelmeerraums eingeflossen sind.

Was die Mythologie der griechisch-römischen Antike so besonders macht und zugleich von anderen Kulturen unterscheidet, ist der starke Hang zur „Vermenschlichung“ der Götterwelt. Die Olympischen Götter haben nicht nur äußerlich menschliche Züge – sie streiten sich untereinander, spinnen Intrigen gegeneinander, haben Schwächen und machen sich angreifbar. Göttliche Allmacht sieht anders aus. So schreibt Karl Philipp Moritz 1791 in seiner Götterlehre: „Keines der höheren Wesen, welche die Phantasie sich darstellt, ist von Ewigkeit, keines von ganz unumschränkter Macht. [. . .] Weil aber die zu große Nähe und Deutlichkeit des Wirklichen ihrem dämmernden Lichte schaden würde, so schmiegt sie sich am liebsten an die dunkle Geschichte der Vorwelt an, wo Zeit und Ort oft selber noch schwankend und unbestimmt sind“ – und doch hat man Ereignisse wie den Trojanischen Krieg lange Zeit als historisch angesehen. Selbst Schliemann ließ sich noch von Homers Schriften leiten, als er versuchte, Troja zu verorten und auszugraben.

Dass er die Stadt tatsächlich fand, scheint ihm im Nachhinein recht zu geben, zeigt aber vor allem, dass Mythen zu einem gewissen Grad in der Realität verankert sind. So meint man z. B. herausgefunden zu haben, dass der Mythos der Hydra, jener Riesenschlange, der zwei Köpfe nachwachsen, wenn man ihr einen abschlägt, auf bestimmte geografische Bedingungen am Ursprungsort zurückgeht – dort wurde die ländliche Bevölkerung von den unberechenbaren Überschwemmungen eines Flusses in ihrer Existenz bedroht. Dass man die Entstehung eines Mythos aber bis zu einem bestimmten Ort und einer Zeit zurückverfolgen kann, ist in der Regel nicht der Fall. Wir wissen nicht, wer sich diese Mythen wann ausgedacht hat, wir wissen nur, wer sie lange Zeit später aufgeschrieben und für die Nachwelt festgehalten hat – sei es nun Homer (als ältestes schriftliches Zeugnis Griechenlands), Ovid (als wichtigste Rezeption in Rom) oder Schwab (als Aufbereitung für die Moderne, die heute die Originale nicht mehr liest).

Indes, was Schwab da beschrieb, war für die Menschen natürlich nicht neu. Die antiken Mythen gehörten seit der Wiederentdeckung der Antike ab dem 15. Jahrhundert z. B. zum festen Repertoire der bildenden Kunst. Die Originaltexte, in denen sich diese Geschichten finden, wie Ovids Metamorphosen, wurden durchaus rezipiert und gehörten bis in die Zwanzigerjahre auch auf deutschen Gymnasien zum festen Repertoire des Latein- und Griechischunterrichts. Heute ist dies nicht mehr der Fall, und doch finden wir uns immer noch von den mythischen Gestalten der Antike umgeben – sei es in Museen, im Theater oder auch in der Literatur.

In diesem Band kommt nun also vor allem die Literatur zu Wort. Auf die Beschreibung der jeweiligen mythischen Figur, der sie umrankenden Geschichten und einer kurzen Analyse ihrer kulturellen Bedeutung folgt eine Textpassage aus der Weltliteratur, von Sappho bis Kafka, die die Figur aufgreift und in ihrem Sinne verwendet. Es muss kaum erwähnt werden, dass die Auswahl dabei eine subjektive ist – wie auch die Auswahl der Quellen, an denen sich die Nacherzählung einzelner Mythen orientiert. Denn oftmals geben verschiedene Überlieferungsstränge verschiedene Varianten wieder, z. B. in Hesiods Theogonie, Ovids Metamorphosen usw.

Auch die Literaten hatten es nicht immer leicht, sich in der großen Vielfalt der Gestalten zurechtzufinden, und mussten genau aufpassen, wo sie sich bedienten. So sagt Goethe einmal im Gespräch mit Eckermann: „Das Schwierige indessen war, sich bei so großer Fülle mäßig zu halten und alle solche Figuren abzulehnen, die nicht durchaus zu meiner Intention paßten. So habe ich z. B. von dem Minotaurus, den Harpyien und einigen andern Ungeheuern keinen Gebrauch gemacht.“ Andere Autoren hatten durchaus Platz in ihren Werken für diese Monster, wie im Mittelteil des Buches zu sehen sein wird. Neben den literarischen Aufarbeitungen gibt es für jede Figur noch einen weiteren Hinweis auf ein Beispiel zur Rezeption von der Antike bis zur Jetzt-Zeit (aus verschiedenen Bereichen wie Malerei, Musik, Technik u. v. m.). Da nichts von all diesem einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, soll auch dieses kleine Rezeptionsbeispiel nur einen Denkanstoß bieten und zeigen, wie sehr uns auch heute noch die antiken Mythen umgeben – zum Teil ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind.

Ahnentafel der griechischen Götter

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Götter, Göttinnen & Co.

Großer Apollo! wenn du zum Geben aufgelegt bist, so gieb mir – ich fordere nicht mehr – nur ein wenig natürlichen Humor, mit einem Fünkchen deines eigenen Feuers darin, und dann schicke den Merkur, wenn er abkommen kann, mit allen Richtmaßen und Zirkeln und mit meinen besten Empfehlungen obendrein zum – nun, du wirst schon selbst wissen.

Laurence Sterne, Tristram Shandy (1759)

Aphrodite/Venus

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Aphrodite (römisch: Venus) ist in der Mythologie die Göttin der Schönheit und der Liebe. Eines der wichtigsten Zentren ihres Kults war die Insel Zypern, die als ihr Geburtsort galt und auf der ihr schon früh ein Tempel errichtet wurde. Entstanden ist der Aphroditekult wahrscheinlich aus der Verehrung einer archaischen Natur- und Fruchtbarkeitsgottheit. In der antiken Mythologie ranken sich um Aphrodite naturgemäß viele Geschichten. Wie bei allen olympischen Göttern gibt es Erzählungen zu ihrer Geburt, ihrer Interaktion mit den anderen Göttern und zu ihren Begegnungen mit Menschen. Was ihre Geburt betrifft, so gibt es mehrere Varianten – die bekannteste ist zugleich die blutigste: Nachdem der Titan Kronos – der Vater der olympischen Götter – seinen Vater Uranos kastriert, wirft er dessen Genitalien hinter sich ins Meer. Aus dem Schaum, der dabei aufspritzt, entsteht Aphrodite, aus den Blutstropfen die Erynnien (Rachegöttinnen). Vom Meeresschaum stammt auch Aphrodites Name: aphros bedeutet auf Griechisch „Schaum“, die Bedeutung des zweiten Teils des Namen ist unklar. Im Mythos ist Aphrodite mit Hephaistos, dem Schmiedegott, verheiratet, hat aber zahlreiche Liebschaften, so z. B. eine Daueraffäre mit dem Kriegsgott Ares, aus der bezeichnenderweise der Liebesgott Eros (römisch: Amor) hervorgeht. Außerdem zeugt sie mit Dionysos den stets mit riesigem Phallus dargestellten Fruchtbarkeitsgott Priapos und mit Hermes den Hermaphroditos mit männlichen wie weiblichen Geschlechtsmerkmalen (eigentlich wohl eine mythische Figur, die auf eine alte männliche Liebesgottheit auf Zypern namens Aphroditos zurückgeht).

Die sicherlich berühmteste Darstellung Aphrodites in der Malerei, Die Geburt der Venus von Botticelli (1485), zeigt die Göttin in Anlehnung an ihre Entstehung im Meer, wie sie in einem homerischen Hymnus beschrieben ist, in der Schale einer riesigen Jakobsmuschel. Ebenso bekannt ist die Venus von Milo, eine ca. 100 v. Chr. entstandene Marmorplastik, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Insel Milos von einem Landwirt entdeckt wurde – trotz der fehlenden Arme ein Bildnis von großer Schönheit. Allein deshalb bezeichnete man sie als „Venus“, andere Anhaltspunkte dafür, dass es sich überhaupt um eine Götterdarstellung handelt, gibt es nicht.

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Geliebte Aphrodite (von Woody Allen, 1995)

Die Geschichte um einen Mann, der die leibliche Mutter seines Adoptivkinds, eine Prostituierte, kennenlernt und sich in sie verliebt, wäre in der Antike Stoff für eine Tragödie gewesen – bei Woody Allen wird eine intelligente Komödie daraus. Nicht nur der Titel gemahnt an die Antike: Ein klassisch gewandeter Tragödienchor kommentiert immer wieder die Handlung, wie damals bei Euripides oder Sophokles.

Sappho, An Aphrodite (um 600 v. Chr.)

Sappho (ca. 630 – ca. 570 v. Chr.) war eine griechische Dichterin von der Insel Lesbos. Ihre meist an Frauen gerichtete Liebeslyrik galt bereits in der Antike als Spitze der Dichtkunst. Platon bezeichnete sie als „zehnte Muse“. Leider sind ihre Gedichte heute nur noch fragmentarisch erhalten.

Golden thronende Aphrodite,
listenersinnende Tochter des Zeus,
nicht mit Angst und Sorgen belaste,
Hocherhabne, dies pochende Herz!

Sondern komm, wenn jemals dir lieblich
meiner Leier Saiten getönt,
deren Klängen du öfters lauschtest,
verlassend des Vaters goldenes Haus.

Du bespanntest den schimmernden Wagen,
und deiner Sperlinge fröhliches Paar,
munter schwingend die schwärzlichen Flügel,
trug dich vom Himmel zur Erde herab.

Und du kamst; mit lieblichem Lächeln,
Göttliche, auf der unsterblichen Stirn,
fragtest du, was die Klagende quäle,
warum erschalle der Flehenden Ruf.

Was das schwärmende Herz begehre;
wen sich sehne die klopfende Brust
sanft zu bestricken im Netz der Liebe.
Wer ist’s, Sappho, der dich verletzt?

Flieht er dich jetzt, bald wird er dir folgen.
Verschmäht er Geschenke, er gibt sie noch selbst.
Liebt er dich nicht, gar bald wird er lieben,
folgsam gehorchend jeglichem Wink.

Komm auch jetzt und löse den Kummer,
der mir lastend den Busen beengt;
hilf mir erringen, nach was ich ringe,
sei mir Gefährtin im lieblichen Streit.

(Übersetzung: Franz Grillparzer)

Apollon

Apollon (römisch: Apollo) nimmt in der Mythologie in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung ein. Auch wenn er in der Hierarchie der olympischen Götter eine eher untergeordnete Rolle einnimmt, ist er für die Menschen umso wichtiger – und das bereits aufgrund seiner verschiedenen Funktionen: Er ist der Gott der Weisheit, der Heilung und des Lichts, der Prophezeiungen, der Kunst, der Musik und der Dichtung. Als Lichtgott trägt er den Beinamen „Phoibos“ und in der Ilias beweist er sich zudem als exzellenter Bogenschütze. Dabei tritt er im Mythos oft nicht, wie seine Funktionen vermuten lassen, als positiver Menschenfreund auf, sondern als todbringender Vernichter. Zahlreiche Gestalten und Personen tötet er selbst (einen Satyr, die Zyklopen, die Töchter der Niobe) oder er lässt töten (so Orestes seine Mutter Klytaimnestra). Allerdings sind viele dieser Vorfälle Racheakte und somit zumindest gut motiviert. Eine der wichtigsten Kultstätten des Apollon war das berühmte Orakel von Delphi, das lange sogar als „Nabel der Welt“ galt – seine Verehrung dort hing mit seiner Rolle als Gott der Weissagungen zusammen.

Die hellseherischen Fähigkeiten, so der Mythos, sind ihm jedoch nicht angeboren: Erst als er die Riesenschlange Python tötet, geht deren diesbezügliche Kraft auf ihn über. Seine prophetische Begabung kann er auch weitergeben: so z. B. an Kassandra, die daraufhin die Troer vor dem Trojanischen Pferd warnt; leider hat Apollon es zugleich so eingerichtet, dass ihr niemand glaubt (ein weiteres Beispiel dafür, dass der Gott eher Schaden als Heil bringt). In Homers Ilias spielt Apollon aber auch sonst eine wichtige Rolle: Nachdem die Griechen Chryseis, die Tochter eines Apollon-Priesters, rauben und sie Agamemnon zur Frau geben, übt der Gott fruchtbare Rache und schickt eine Seuche über die Griechen. Später dann sorgt Apollon dafür, dass Hektor Achilleus’ Freund Patroklos umbringt. Erst als sich Hektor über den ihn unterstützenden Gott hinwegsetzt, wendet sich das Blatt für die Troer. Doch nicht nur in der Literatur ist Apollon zu Hause – als Gott der schönen Künste ist er sozusagen Dienstherr der Musen und so findet er sich auch in unzähligen Darstellungen in der bildenden Kunst wieder, von der Antike bis in die Neuzeit.

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Apollo-Programm (NASA, 1961–72)

Das Apollo-Programm der NASA ist vor allem bekannt dafür, dass es im Rahmen der Raumfahrtmission Apollo 11 im Jahre 1969 die ersten Menschen auf den Mond schickte. Das Programm erhielt seinen Namen, weil man so an die Treff­sicher­heit des Bogenschützen Apollon anknüpfen wollte – genau wie dessen Pfeile immer treffen, sollten die amerikanischen Raketen stets ihr Ziel erreichen. Spätestens bei der katastrophal verlaufenden Mission Apollo 13 wusste man jedoch, dass dies nicht der Fall war.

Aus: Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Apollo im Belvedere (1759)

Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) war ein deutscher Archäologe und Kunstschriftsteller. Die Veröffentlichung seines Werks Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) war ein ebensolcher Meilenstein für die Entwicklung der Archäologie und Kunstgeschichte wie seine Geschichte der Kunst des Alterthums (1764).

Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung entgangen sind. Der Künstler derselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen. Dieser Apollo übertrifft alle andere Bilder desselben so weit als der Apollo des Homerus den, welchen die folgenden Dichter malen. Über die Menschheit erhaben ist sein Gewächs, und sein Stand zeugt von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend und spielt mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder. Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche, ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen; denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die menschliche Dürftigkeit erfordert. Keine Adern noch Sehnen erhitzen und regen diesen Körper, sondern ein himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strom ergossen, hat gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllt. Er hat den Python, wider weichen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolgt, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreicht und erlegt. Von der Höhe seiner Genugsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus. Verachtung sitzt auf seinen Lippen, und der Unmut, welchen er in sich zieht, bläht sich in den Nüstern seiner Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welcher in seiner seligen Stille auf derselben schwebt, bleibt ungestört, und sein Auge ist voll Süßigkeit, wie unter den Musen, die ihn zu umarmen suchen. In allen uns übrigen Bildern des Vaters der Götter, welche die Kunst verehrt, nähert er sich nicht der Größe, in welcher er sich dem Verstande des göttlichen Dichters offenbarte, wie hier in dem Gesichte des Sohnes, und die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter treten hier, wie bei der Pandora, in Gemeinschaft zusammen. Eine Stirn des Jupiters, die mit der Göttin der Weisheit schwanger ist, und Augenbrauen, die durch ihr Winken ihren Willen erklären, Augen der Königin der Göttinnen, mit Großheit gewölbt, und ein Mund, welcher denjenigen bildet, der dem geliebten Branchus die Wollüste eingeflößt. Sein weiches Haar spielt wie die zarten und flüssigen Schlingen edler Weinreben, gleichsam von einer sanften Luft bewegt, um dieses göttliche Haupt. Es scheint gesalbt mit dem Öl der Götter und von den Grazien mit holder Pracht auf seinem Scheitel gebunden. Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und ich nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würdigkeit anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenigen, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellt sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die lykischen Haine, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrte, denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit. Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben! Die Kunst selbst müßte mir raten und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen. Ich lege den Begriff, welchen ich von diesem Bilde gegeben habe, zu dessen Füßen, wie die Kränze derjenigen, die das Haupt der Gottheiten, welche sie krönen wollten, nicht erreichen konnten.

Athene/Minerva

Die mythische Göttin der Weisheit und des Handwerks – das ist Athene (römisch: Minerva). In Griechenland ist sie außerdem die Schutzherrin der Stadt Athen, wie der Name schon sagt. Oft wird sie auch als „Pallas Athene“ bezeichnet, dies hat mit einer weiteren göttlichen Gestalt zu tun – Pallas, einer Tochter des Meeresgottes Triton, die (nach unterschiedlichen Überlieferungen) entweder Vater, Schwester, Gefährte, Gefährtin oder Gegnerin Athenes ist. Auf jeden Fall tötet Athene versehentlich Pallas und erhält dadurch deren Namen als Beinamen. Ebenso bizarr ist, wie Athene zur Welt kommt: Zeus zeugt sie mit Metis, einer Tochter des Titanen Okeanos. Als Metis schwanger ist, erfährt Zeus durch ein Orakel, dass ihm das noch ungeborene Kind gefährlich werden kann: Wenn es sich um einen Sohn handelt, wird er Zeus stürzen. Daher verspeist Zeus die noch schwangere Metis. Das Kind kommt schließlich aber doch zur Welt, und zwar indem der Schmiedegott Hephaistos Zeus den Kopf einschlägt. Dem Spalt in Zeus’ Schädel entsteigt zu Zeus’ Glück kein Sohn, sondern eine Tochter: Athene, bereits in voller Rüstung mit Speer und Schild, wie sie auch in der Kunst stets dargestellt wird. Athene ist also im wahrsten Sinne des Wortes eine „Kopfgeburt“.

Eine weitere Besonderheit bei Athene ist, dass sie niemals einen Geliebten hat; daher stammt auch ein weiterer ihrer Beinamen: Parthenos, „die Jungfräuliche“. Ein Attribut Athenes neben der Rüstung ist die Eule, die so zum Symbol für die Stadt Athen wurde und vor allem in der Numismatik eine Rolle spielt. Von den antiken Drachmen, auf denen die Eule zu sehen war, stammt das geflügelte Wort: „Eulen nach Athen tragen“. Und auch heute noch findet sich auf der Rückseite der griechischen 1-Euro-Münze eine Eule. Doch auch in Rom spielte die Göttin, in Form ihrer Entsprechung Minerva, eine wichtige Rolle. Zusammen mit Jupiter und Juno bildete sie die sogenannte Kapitolinische Trias, das Göttertrio, das als Schutzgötter der Stadt auf dem Kapitol verehrt wurde. In der Neuzeit findet sich Athene/Minerva als Verkörperung von Fleiß, Tugend und Intelligenz vor allem in Form von Skulpturen, gerne an Schulgebäuden oder vor staatlichen Einrichtungen wie dem österreichischen Parlamentsgebäude in Wien.

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Parthenon (Athen, 430 v. Chr.)

Der große Athene-Tempel auf der Athener Akropolis ist das berühmteste Bauwerk der Antike. Dabei ist bis heute nicht klar, warum man den Tempel „Parthenon“ nannte – vielleicht weil im Tempel Jungfrauen (griech. parthenoi) im Dienste Athenes beschäftigt waren, oder nach einem Beinamen Athenes selbst. Immer wieder wurde der Tempel zerstört und wieder aufgebaut, zuletzt im 19. Jahrhundert, nachdem venezianische Bomben 200 Jahre zuvor die Akropolis in Schutt und Asche gelegt hatten.

Karl Kraus, Unsere Pallas Athene! (1918)

Karl Kraus (1874–1936) war ein österreichischer Publizist, Schriftsteller und Kulturkritiker. 1899 gründete er die bedeutende Satirezeitschrift Die Fackel, die sein wichtigstes Sprachrohr wurde. Er kritisierte die Kriegstreiberei und später den Nationalsozialismus. In den 1920er-Jahren war Kraus dreimal für den Literatur­nobelpreis nominiert.

Gestern früh gab ein Soldat von einem Straßenbahnwagen aus bei der Haltestelle vor dem Parlamentsgebäude gegen die vor diesem stehende Statue der Pallas Athene zwei scharfe Schüsse aus einem Gewehr ab. Der Mann wurde von einem Offizier und zwei Soldaten entwaffnet und das Gewehr entladen. Der Soldat, der offenbar geistesgestört ist –

Wieso? Die kann einen schon aufregen. Ich war nicht im Krieg und trage kein Gewehr bei mir. Aber so oft ich die sehe, in ihrer vollkommenen Nichtbeziehung zu den Dingen, die in dem Haus drin und außerhalb vorgehen, höchstens daß einem der Abgeordnete Groß einfällt oder daß einem jetzt um das viele Stearin leid ist – wie sie dasteht, ein Denkmal des Wiener Schönheitssinnes, so eine noch immer fesche Hausmeisterin des hohen Hauses oder Verkörperung des Ideals halt von etwas Idealem oder Antikem oder in der Art, die meisten Passanten glauben jetzt, daß es die Austria ist oder die Germania, aber die Gebildeten wissen, daß es eine Palastathene ist, eigentlich gehört sie vors Burgtheater, weil sie akkurat aso aussieht, wie ich mir das christlichgermanische Schönheitsideal des Herrn Dr. von Millenkovich in antiker Gewandung vurstelle – so oft ich die sehe: was ist, frage ich da, aus all den Arbeitskräften geworden, die das in den Neunzigerjahren hinpappen mußten, ja die Katzelmacher die haben mit ihnerem Colleoni einpacken können aus Furcht vor uns, aber unserer Pallas Athene, der kann nichts g’schehn, in dem Punkt sind wir sicher, sie steht einmal da, keine feindliche Bombe, keine Kugel wird die treffen, und wenn jetzt einer von den Unsrigen sich so weit hat hinreißen lassen, so handelt es sich um die Tat eines offenbar Geistesgestörten, man darf nicht generalisieren, solche Leute soll man nicht auf die heimischen Kunstschätze loslassen, sondern soll sie einrückend machen, die Pallas Athene die muß uns erhalten bleiben im Weltkrieg, wär’ nicht schlecht – und so oft ich die sehe und alles andere rings herum sehe und höre, da spür’ ich ordentlich, daß ich kein Gewehr bei mir trage!

Castor und Pollux

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Im Griechischen heißen sie Kastor und Polydeukes, bekannter sind sie aber unter ihren römischen Namen: Castor und Pollux, die man auch die „Dioskuren“ (Zeus’ Söhne) nennt. Im Mythos sind sie zugleich Halbbrüder und Vierlinge, denn beider Mutter ist die ätolische Königstochter Leda. In ein und derselben Nacht zeugt Leda vier Kinder: zwei mit Zeus, nämlich Pollux und die schöne Helena, und zwei mit ihrem Ehemann Tyndareos, nämlich Castor und Klytaimnestra (die spätere Frau des Agamemnon). Durch Helena und Agamemnon ist der Zeugungsmythos von Castor und Pollux also eng mit dem Krieg um Troja verbunden. Was besonders skurril anmutet, ist, dass diese Vierlinge im Mythos im wahrsten Sinne des Wortes „zweieiig“ sind: Leda bringt nämlich keine Säuglinge zur Welt, sondern zwei Eier, aus denen dann später die Kinder schlüpfen – da Zeus sich mit Leda in Gestalt eines Schwans vereinigt hat, verwundert dies nicht allzu sehr. Castor und Pollux tauchen immer wieder in der Mythologie auf, etwa als Begleiter Jasons auf der Argo. Gemäß ihrer Abstammung ist Pollux ein Halbgott, Castor jedoch sterblich – dafür, dass dennoch beide als Götter verehrt wurden, liefert der Mythos ebenfalls eine Erklärung: Als Castor stirbt, stellt Zeus Pollux vor die Wahl, entweder dauerhaft auf den Olymp überzusiedeln oder seinem Bruder einen Teil seiner Unsterblichkeit abzugeben. Pollux entscheidet sich für Letzteres und so verbringen beide abwechselnd einen Teil ihrer Zeit in der Unterwelt und auf dem Olymp.

Der Dioskuren-Mythos zeigt also vor allem eines: eine brüderliche Verbundenheit und Loyalität bis über den Tod hinaus. Kein Wunder, dass sie zu den beliebtesten Göttergestalten der Antike gehörten. Vor allem im Römischen Reich gab es zahlreiche Dioskurentempel. Besonders bekannt ist derjenige auf dem Forum Romanum, dessen erster Bau bereits 484 v. Chr. entstand. Dass man Castor und Pollux in Rom schon relativ früh verehrte, ist darauf zurückzuführen, dass sich in der römischen Mythologie bei den Dioskuren griechische mit etruskischen Mythen vermischten. In der Rezeption der Neuzeit hat man alle möglichen Brüderpaare „Castor und Pollux“ getauft – so z. B. zwei Elefanten des Pariser Zoos, die während der Belagerung 1870 durch die Deutschen traurige Berühmtheit erlangten, als sie erschossen wurden, weil man ihr Fleisch brauchte. Wirklich geschmeckt hat das Elefantenfleisch wohl niemandem.

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CASTOR (von Gesellschaft für Nuklear-Service, seit 1995)

Heute denkt man bei „Castor“ wohl eher an Atommülltransporte als an die olympischen Götter. Dabei ist der geschützte Markenname CASTOR der deutschen Firma GNS für ihren Behälter zur Zwischenlagerung bestrahlter Brennelemente eigentlich ein clever gewähltes englisches Anagramm (cask for storage and transport of radioactive material), als dass er auf den Mythos verweist. Für den ebenfalls von GNS hergestellten Behälter POLLUX zur atomaren Endlagerung fand die Firma übrigens (noch) kein Anagramm.

Aus: Wilhelm Heinse, Die Entführung der Töchter des Leykippos von den Dioskuren (1776)

Wilhelm Heinse (1746–1803), eigentlich Johann Jakob Wilhelm Heintze, war ein deutscher Schriftsteller und Bibliothekar. Er war Mitglied im einflussreichen Halberstädter Dichterkreis. Mit seinem Roman Ardinghello, geschrieben nach einer langen Italienreise, brachte er den Lesern bereits 30 Jahre vor Goethes Italienischer Reise Italien näher.

Das Gemälde ward also durch meinen Begriff von mir angesehn, wie andre dasselbe durch ihren Begriff von der biblischen Geschichte der Dina betrachteten, durch ihren Begriff von dem Fragment eines Sabinerinnenraubes, von der Geschichte der Himmel weiß was für einer Prinzessin Armenia und so weiter: und folgendergestalt dem Maler große Gewalt angetan. [. . .]

Es ist die Entführung der Bräute des Lynkeus und des starken Idas, wobei die Söhne der Leda, wenn es sich zugetragen wie Theokrit zu ihrem Lobe singt, nun freilich mehr gezeigt, daß ihr Vater ein Schwan gewesen, als in unserm Gemälde; wo sie nicht so sehr Halbgötter zu sein scheinen, und gütiger aussehn. Auch dürfte man heutiges Tages, wo der Gewalt der Natur Flügel und Kralle abgeschnitten sein soll, auf Prinzen die gleiches täten, kein solches Loblied anstimmen, wie Theokrit auf den Kastor, dessen heißer Begierde der Sicilianer noch dazu das letzte Hindernis seinen Vater Zevs mit einem Wetterstrahl aus dem Wege räumen läßt, damit sie in aller Gemächlichkeit sich austobe: ohngeachtet ihn Braut und Bräutigam freundschaftlich zur Hochzeit eingeladen hatten. Welches jedoch Pindar in der zehnten Nemeischen Ode zur Ehre des Zevs ganz anders erzählt.

Die Hauptperson in unserm Gemäld ist Kastor in griechischer Rüstung auf einem braunroten Rosse, dem ein Amor den Zügel hält, mit dem Pollux, der von seinem Schimmel gestiegen ist, dessen Zügel gleichfalls ein Amor hält. Kastor zur Rechten, Pollux zur Linken.

Kastor hebt auf freiem Feld eine ganz entblößte junge Dame an einem rotseidenen Tuche (das ihr vom Rücken am Hintern durchgeht, der davon einen schönen Widerschein wirft) mit der rechten um den in die Höhe gezogenen linken Schenkel am Knie herum, mit der linken um den rechten Arm – nach seinem Rosse. Pollux hat dieselbe unterm linken Arm mit seiner rechten Schulter gefaßt, und hält mit der linken Hand ihre Schwester unter der rechten Achsel.

Die Schönheit der Gruppe ist schwerlich mit Worten nur einigermaßen sinnlich zu machen.

Kastors Roß steht rechter Seite des Gemäldes zu, und der Schimmel bäumt sich von der Linken her in die Höhe. Die beiden Jungfrauen sind in vollem Licht vor den Pferden in der Mitte.

Die erste, von der linken Seite her, mit den Brüsten und dem Kopf von ihrem Räuber abgedreht, der den linken Schenkel mit dem Knie schon oben am Sattel hat, indes sie das rechte Bein mit dem Schenkel am Pferde sinken läßt, den linken Arm über des Bruders Schulter hinausstreckt, und die rechte Hand an des Räubers Arm über das gehobene Knie hält.

Die zwote steht, gleichfalls von der linken Seite, an der ersten; erstaunt sich sträubend und den Rücken in die Seite krümmend, mit dem Gesicht nach dem Kastor sehend, und mit der Linken ihren Räuber etwas von sich haltend, der sie unter der rechten Achsel faßt. Ihr rechtes Bein steht, bis auf den Schenkel welcher sich schräg zieht, noch gestämmt auf den Boden, und der linke Schenkel, der ganz zu sehen ist, berührt fast mit dem Knie die Erde.

Pollux ist nackend, so weit man ihn sehen kann; denn die Mädchen verbergen von ihm Unterleib und Schenkel.

Kastors Gesicht ist wahrhaftig schöne männliche Jugend, im aufgesproßten braunen krausen Barte. Inbrunst leuchtet überall hervor. Die erhabene Stirn, das in süßer Begierde Wollust ziehende Auge, die Lippen voll Glut, und die Wangen voll Scham, der nervichte Arm, und das Hippodamische der Stellung machen einen reizenden Räuber. „Ach, daß ich dir Leid tun muß! (flüstert er) aber es war nicht möglich, daß du die Meine nicht sein solltest!“ Das Bittende, die Zärtlichkeit ist unbeschreiblich: und die Kühnheit in dem über den Augen Hervorgehenden der Stirn, und die Blüte der Stärke.

Die Jungfrauen sind beide ganz nackend in blonden Haaren, die los und in Flechten den Lüften zum Spiele dienen, wie aus dem Bett oder Bade: und in Jugendfülle, die im Zeitigwerden ist. Der Ausdruck im Gesicht der ersten ist unbeschreiblich fürtrefflich: Ergebung, in der Ohnmacht zu widerstehen; Scham und das süßstechende Gefühl derselben, und Außenbleiben der Überlegung. Die Brüste schwellen sich empor in der drängenden Lage. Sie wendet das Gesicht vom Räuber, und schielt doch zurück. „Ha, nun bist du weg! (scheint sie zu seufzen) er hat dich!“ und doch furchtsam Hoffnung künftiger Freuden. Der junge Halbgott, der das goldne Vließ zurückgebracht und den Archipelagus von den Räubern befreit, hat wider ihren Willen mehr Liebesgewalt über sie, als ihr Bräutigam, was bei einem Mädchen nicht anders sein konnte; aber doch geht ihr dessen Schicksal nahe. Es ist Furcht und Liebe; Zweikampf zwischen Moral und Natur; um die Augen das Bange und Süße, um die Lippen das Weinen und Lächeln. Nur eine Phantasie, wie Rubens hatte, konnte diesen Ausdruck treffen. Ihr Leib schwebt wie eine Rose im Gepflücktwerden.

Die zwote ist im Profil, voll Schönheit und Mädchenheit, und scheint sich auf das, was Mann ist, in Unschuld ein wenig zu verstehen. Sie blickt, sich lässig sträubend, nach dem Kastor, und was dieser mit der Schwester anfängt, und blickt nach ihm nicht ungern, und lieber, als nach dem, welchem sie zu Teile werden soll. Die Drehung, und das Ringen in den Muskeln des Rückens, wie überhaupt das Fleisch des ganzen Rückens gehört unter die fürtrefflichste Malerei.

Dionysos/Bacchus

Er ist der mythische Gott des Weins und der rituellen Ekstase: Dionysos (römisch: Bacchus oder Liber). Er ist einer jener olympischen Götter, deren Verehrung sich am weitesten zurückverfolgen lässt, bis zu den Mykenern im 2. Jahrtausend v. Chr. Ursprünglich stammt sein Kult wohl entweder aus dem Osten oder aus dem Süden (z. B. aus Äthiopien). Er geht mit Sicherheit auf bereits prähistorische Riten zurück, bei denen Rauschmittel wie Cannabis und natürlich auch Alkohol, der schon vor rund 9000 Jahren hergestellt wurde, zur Erlangung religiö-ser Ekstase dienten.

In der Mythologie ist Dionysos der Sohn von Zeus mit der Sterblichen Semele. Sein Zeugungsmythos ist äußerst bizarr: Zeus’ Ehefrau Hera sagt Semele, sie solle (den verkleideten) Zeus bitten, sich ihr in seiner wahren Gestalt zu präsentieren. Als er dies tut, verbrennt sie durch Zeus’ Blitze. Sie ist jedoch bereits von ihm schwanger und es gelingt Zeus, den Fötus zu retten und ihn sich in eine Wunde einzunähen, die er sich selbst am Schenkel beigebracht hat. Dionysos kommt so schließlich als „Schenkelgeburt“ zur Welt. Einer der wichtigsten (und in Kunst und Literatur des öfteren aufgegriffenen) Auftritte des Dionysos in der Mythologie hängt mit dem Theseus-Mythos zusammen: Nachdem Theseus Ariadne einsam und allein auf der Insel Naxos ausgesetzt hat, erscheint der Gott und rettet ihr das Leben, indem er sie in sein Gefolge aufnimmt. Diese umfangreiche Entourage ist besonders für die Welt der Kunst wichtig: Auf festlichen Umzügen begleiten Dionysos Mänaden (bzw. Bacchantinnen), ein glatzköpfiger Silen und zahlreiche Satyrn (römisch: Faune) – vor allem Letztere finden sich auf unzähligen griechischen Vasenbildern, oft in ekstatischen Szenen bzw. beim Geschlechtsverkehr mit Frauen, Männern oder untereinander.