Michael Lukas Moeller

Die Wahrheit beginnt zu zweit

Das Paar im Gespräch

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Wovon die Rede ist

Einblick Sprachlose Paare

Erstes Kapitel – «In den letzten drei Monaten mit Zwiegesprächen haben wir mehr voneinander erfahren als in zehn Ehejahren vorher»

Anna und Matthias im Zwiegespräch

Entwicklung kennt keine Sicherheit: Alles fließt

«Krieg ist aller Dinge Vater»

Geboren heißt verlassen werden

Zwiegespräche: Fenster zum gemeinsamen Unbewussten

Beziehung heißt Entwicklung zu zweit

Zweites Kapitel – «Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen»

Erlebnisse der ersten Zwiegespräche

«Meine wesentlichste Erfahrung ist, dass mich Zwiegespräche sehr entlasten» – Katrin und Robert: neun Monate Zwiegespräche

«Ich habe das Gefühl, erotisch befreit zu sein» – Christine und Andreas: drei Jahre Zwiegespräche

Die ganze Beziehung ist die erogene Zone

Drittes Kapitel – Was beide angeht, können nur beide lösen

Die Grundordnung der Zwiegespräche

Bei sich bleiben

Wir werten den anderen ab, wenn wir uns selbst minderwertig fühlen: Paar-Rassismus

Wechselseitige Kolonialisierung

Die dritte Position

Viertes Kapitel – Die Wirklichkeit der guten Beziehung

Fünf Bedingungen einer guten Beziehung

Erste Einsicht: «Ich bin nicht du und weiß dich nicht»

Zweite Einsicht: Wir sind zwei Gesichter einer Beziehung und sehen es nicht

Dritte Einsicht: «Dass wir miteinander reden, macht uns zu Menschen»

Vierte Einsicht: In Bildern statt in Begriffen sprechen

Fünfte Einsicht: Ich bin für meine Gefühle selbst verantwortlich

Fünftes Kapitel – Im Anfang ist das Paar

Barrieren nach der ersten Begeisterung

«Schon beim Aufwachen reicht’s mir – denn abends ist Zwiegespräch»

Selbstkontrolle gegen das Scheitern

Zwiegespräche verbessern sich selbst

Aller Anfang ist schwer

Was unterscheidet Zwiegespräche von anderen wesentlichen Gesprächen?

Wodurch wirken Zwiegespräche?

Zwiegespräche enthalten die Gestalt der genügend guten Mutter

Neun Namen der Zwiegespräche

«Was sagt dein Gewissen? Du sollst werden, der du bist»

Für Célia

Einmaleins

Einer hat immer unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit. –

Einer kann sich nicht beweisen: aber zweie kann man bereits nicht widerlegen.

Friedrich Nietzsche,

Die fröhliche Wissenschaft,

Drittes Buch, Nr. 260

Wovon die Rede ist

 

O ihr Guten! auch wir sind

Tatenarm und gedankenvoll!

Friedrich Hölderlin;

Ode an die Deutschen

 

 

«Mein Essen mit André»

 

 «Wenn du lange mit jemandem zusammengelebt hast, wirst du ständig hören: ‹Was ist denn bloß los?! So toll wie früher ist es auch nicht mehr, aber das ist ja natürlich. Der erste Blütenstaub ist hin. Aber so ist das nun mal.› Ich bin gar nicht dieser Meinung, aber ich denke, du müsstest dir eigentlich ständig diese Frage stellen – und zwar mit schonungsloser Offenheit: ‹Ist meine Ehe überhaupt noch eine Ehe? Ist das sakrale Element noch da?› Genau wie die Frage nach dem sakralen Element in deiner Arbeit: ‹Ist es noch da?› Glaub mir, es ist ein ziemlich schreckliches Erlebnis, plötzlich sagen zu müssen: ‹Mein Gott, ich dachte, ich hätte mein Leben gelebt, aber ich hab überhaupt nicht gelebt. Ich bin Künstler gewesen. Ich habe niemals wirklich gelebt. Ich hab die Rolle des Vaters gespielt ebenso wie die des Ehemannes. Ich hab die Rolle des Gauners, des Regisseurs gespielt. Ich hab mit jemandem im gleichen Zimmer gelebt, hab ihn aber nicht bemerkt. Ich hab ihn auch niemals gehört, war nie wirklich mit ihm zusammen.› Ja, ich weiß, manche Leute, die leben oft völlig aneinander vorbei. Ich meine, das Gesicht des Betreffenden könnte sich in ein Wolfsgesicht verwandeln – und es würde gar nicht auffallen. Es würde gar nicht auffallen. Nein, es würde gar nicht auffallen.»

 

Wovon die Rede ist

 

Wer so von sich sprechen kann, wie viel Glück hat er im Leben gehabt – und ist doch nie glücklich geworden. Mich beeindruckte diese Passage aus dem Film «Mein Essen mit André» von Louis Malle, weil sie ein typisches menschliches Dilemma widerspiegelt – nicht nur der Männer, meine ich.

André leidet an seinem ungelebten Leben.1 Nun muss er sich «eigentlich ständig diese Frage stellen – und zwar mit schonungsloser Offenheit»: Warum lebe ich lange mit jemandem zusammen, lebe mit ihm im gleichen Zimmer – und nehme ihn doch nicht wahr? Warum habe ich ihn niemals gehört? Warum war ich nie wirklich mit ihm zusammen? Warum haben wir beide, auf engstem Raum bei Tag und Nacht, aneinander vorbeigelebt?

Die meisten Menschen leiden stumm an ihrem Leben ohne Liebe. Sie können darüber nicht sprechen. Sie haben resigniert. Darum sagen sie sinngemäß, was André von anderen dauernd zu hören bekommt: «So toll wie früher ist es auch nicht mehr. Aber das ist ja nur natürlich. Der erste Blütenstaub ist hin, aber so ist das nun mal.»

Ich bin seit über zwanzig Jahren in der Praxis und in der wissenschaftlichen Forschung als Paartherapeut tätig. Wie gut kenne ich dieses tonlose Leiden an einer verbrauchten Liebes- und Lebensbeziehung: «So ist das nun mal.»

«Ich bin gar nicht dieser Meinung», sage ich mit André dagegen. Gerade weil ich mit Hunderten von ratlosen Paaren gearbeitet und dabei erlebt habe, dass es so nicht sein muss. Dass wir etwas tun können gegen die Resignation. Dass unsere häusliche Misere keineswegs der natürliche Lauf der Dinge ist, sondern hausgemacht. Jawohl: hausgemacht – wenn auch unter dem Druck der gesellschaftlich bedingten Verhältnisse. Ein verheiratetes Paar in den USA bringt täglich nur noch vier Minuten für ein gemeinsames Gespräch auf.2 Es dürfte bei uns nicht viel anders sein.

Wenn ich beispielsweise Paare im psychotherapeutischen Gespräch frage, wann sie denn zum letzten Mal zusammenhängend und intensiv miteinander gesprochen hätten – und zwar über das, was sie erlebt haben und was sie wirklich bewegt –, beginnen die meisten zu stutzen, zu überlegen und schließlich erstaunt zu antworten: «Ich kann mich gar nicht mehr erinnern – vielleicht im Urlaub letztes Jahr?»

Dann fragt sich, warum sie überhaupt noch eine Beziehung haben. Manche haben sie, weil sie sich reibungslos vermeiden. Sie machen in der Paarpraxis dementsprechend den Eindruck, als seien sie nur aus Versehen da. Leider nur wenige kommen, um rechtzeitig zu verhüten, was unvermeidlich bevorzustehen scheint: das langsame Abstumpfen der Beziehung, das Versanden im Alltag, das Dahinsinken der Lebendigkeit und nicht zuletzt der Liebe. Alle sagen, dass Blütenstaub eben vergehe. Doch macht das Unisono diese Behauptung nicht wahrer. Dennoch ist wohl nicht zu bestreiten, dass ein Verblassen der Beziehung die traurige Regel ist. Mit diesem Buch will ich aufzeigen, dass eine solche Entwicklung kein Zwang des Schicksals ist. Sie muss und sollte nicht einfach hingenommen werden.

Denn für das Dahinschwinden der Beziehung gibt es klare Ursachen. Wenn wir in einer Zeit leben, die denkbar schlechte Bedingungen für die Beziehung und die Liebe bietet, müssen wir etwas tun. Und das können wir, weil die Verhältnisse sich weitgehend durch uns selbst auswirken. Viel ist schon gewonnen, wenn wir eine Beziehungskrise wenigstens so weit klären können, dass sie nicht das übliche, hasserfüllte Ende nimmt. Noch mehr haben wir erreicht, wenn es uns gelingt, ernste Krisen, alltägliche Gereiztheit oder zu glattes Nebeneinander gar nicht erst entstehen zu lassen. Warum ist das so schwer? «Wir wollten einfach glücklich sein. Wir liebten uns, aber wir konnten nicht miteinander reden.» Dieser Satz über eine gescheiterte, geschiedene Ehe hat sich mir eingeprägt. Er trifft ins Schwarze: Die Sprachlosigkeit der Paare, ihre Kommunikationskluft, gilt unter Psychotherapeuten als die größte Bedrohung, ja als Ursache des weltweiten Beziehungssterbens. Von denen, die heiraten, wird sich heute in Mitteleuropa bereits jede dritte Frau, jeder dritte Mann scheiden lassen. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Das Getrenntsein bei bestehender Ehe – wie André es im Extrem beschreibt – ist viel umfassender, wahrscheinlich schon der Normalfall.

Die meisten Paare, die zu mir kommen, haben – ähnlich wie André – immerhin entdeckt, dass ihre Beziehung brachliegt. Sie wissen nicht mehr, wo sie eigentlich stehen. Sollen sie zusammenbleiben oder nicht? Lohnt sich ihre Beziehung überhaupt noch?

Einer meinte: «Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was Beziehung überhaupt ist.» Er scheint mir eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Obwohl die Antwort auf diese Frage sehr einfach ist, brauchte ich Jahre, bis es mir schließlich wie Schuppen von den Augen fiel: Wenn wir uns aufeinander beziehen, halten wir unsere Beziehung lebendig. Aber genau das tun wir immer seltener, immer oberflächlicher, immer aufgabenbezogener. Dinge, die wir zu erledigen haben, Erziehungsfragen, Urlaubspläne, Berufsprobleme, Geldausgaben – darüber zu sprechen, gilt heute schon als höchstpersönlich und ist doch nur eine Form der Alltagsverwaltung, in der wir uns auf anderes, nicht auf uns beziehen. Sofern Paare heute noch miteinander reden, geht es um dieses organisierende, regelnde, sachbezogene, sozusagen technische «Gespräch über etwas» und nicht um das unmittelbare, erlebnisnahe «Sprechen aus sich heraus». Doch nur das Sich-einander-Mitteilen hält eine Beziehung am Leben und befähigt sie zur Entwicklung.

Es kommt also darauf an, dass wir lernen, miteinander wesentlich zu reden. Genau darum geht es in diesem Buch. Es handelt von der Wiederentdeckung des Selbstverständlichen: dem persönlichen, konzentrierten, regelmäßigen Paargespräch.

Die Ehe ist vor allem ein langes Gespräch, sagt Nietzsche. Und er fragt den Leser, den er sich – wie vor hundert Jahren üblich – als Mann vorstellt: «Glaubst du, dich mit dieser Frau bis ins Alter hinein gut zu unterhalten? Alles andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit gehört dem Gespräche an.»3

Auch wer kein Paartherapeut ist, weiß, wie sehr das zutrifft. Sich lieben heißt vor allem: sich verstehen. Das ist: verstanden werden und sich verständlich machen. Und das bedeutet: gut miteinander reden können. Die Kunst des Liebens gründet auf dem wechselseitigen Gespräch, dem «Kreislauf des Paares». Glückliche Paare unterscheiden sich darin von unglücklichen.

Diese Zwiegespräche stelle ich an Beispielen aus dem Leben von Paaren vor. Weil sie sich von anderen wesentlichen Gesprächen erheblich unterscheiden – beispielsweise durch ihre Kontinuität, durch die wachsende Bindung an diesen gemeinsamen seelischen Ort und durch das erklärte Ziel, sich einfühlbar zu machen –, bewirken solche Zwiegespräche ein freundlicheres Klima in der Beziehung. Ja, sie können als seelisches Aphrodisiakum gelten. Denn fast alle erotischen Störungen und Flauten entstehen, weil wir – oft ohne es gewahr zu werden – Probleme mit unserer Beziehung haben; weil wir zu wenig über unsere wirklichen Wünsche und Ängste sprechen; und weil sich Missverständnisse zwischen uns legen.

Erst nach und nach erkannte ich den Zusammenhang einiger grundlegender Einsichten in die Psychodynamik der Zweierbeziehung. Sie ergaben sich gleichermaßen aus meinen Forschungen zur Psychoanalyse des Paarlebens – vor allem im Rahmen eines Projektes zur Entwicklung der Paargruppentherapie – wie aus meinem Engagement für die Selbsthilfegruppenbewegung. Beide Schwerpunktaktivitäten haben sich hier wechselseitig befruchtet. Zwiegespräche kann man als die Tätigkeitsform einer Zweipersonen-Selbsthilfegruppe ansehen. Mit ihnen erreicht die Bewegung der Selbsthilfegruppen den privaten Bereich. Darin liegt meines Erachtens die hohe sozialpolitische Bedeutung dieser Zwiegespräche. Viel zu wenig wird beachtet, wie abhängig unsere Gesundheit und Krankheit vom Paarleben sind. Werden Zwiegespräche auch von Psychotherapeuten, Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und ähnlichen Berufsgruppen vermittelt – wie ich es seit Jahren mit gutem Erfolg bei meinen Klienten tue –, dann eröffnet sich hier eine ganz neue Perspektive für die Zukunft des Helfens.

Die bis zum Überdruss bekannten Streitstrategien und Partnerschaftsdebatten, diese endlose Beziehungsdiskutiererei – das sind keine Zwiegespräche, das sind Zwiespaltgespräche. In solchen «Beziehungskisten» will ich dem anderen weismachen, wie er wirklich ist. Mein seelischer Schwerpunkt liegt beim Gegenüber. Dagegen versuche ich im Zwiegespräch, dem anderen zu zeigen, wie ich mich selbst gerade erlebe. So bleibe ich mit meinem Schwerpunkt bei mir und damit – für viele überraschend – im Zentrum der Beziehung.

Genau so redet André. Weil er wirklich von sich spricht, macht er sich einem anderen verständlich – einem eher entfernten Freund in diesem Falle. Indem er bei sich bleibt, indem er anschaulich sagt, was er meint, indem er den anderen teilnehmen lässt an seinen Selbstbeobachtungen und Überlegungen, kann ihn der andere miterleben. Darin sehe ich das Ideal einer lebendigen Partnerschaft. André entwirft für sich und für seinen Freund ein Selbstporträt – kein statisches, sondern ein werdendes, nicht als Fertigprodukt, sondern als offene Entwicklung. Damit beginnt er sein Leben zu ändern, ja, er beginnt zu leben, er, der von sich sagt: «Mein Gott, ich dachte, ich hätte mein Leben gelebt, aber ich hab überhaupt nicht gelebt.»

Wäre der angesprochene und zuhörende Partner seine Ehefrau, seine Gefährtin oder eine andere wesentliche Person – Kind, Vater, Mutter oder Freund – und redete sie ebenso wie er offen, ausführlich und gefühlsnah über das, was sie bewegt, dann sähen wir ein Zwiegespräch vor uns, einen Austausch von Selbstporträts, eine Beziehung zweier Menschen, die sich mehr und mehr verstehen, statt sich zu entfremden; die sich miteinander entwickeln, statt ihr Dasein nebeneinander fortzufristen; die ihre Bindung vertiefen, statt abzustumpfen – und sei es auch, um zu erkennen, dass sie besser nicht zusammenlebten. Diese Gegenwärtigkeit in der Beziehung ist für mich das von André so genannte «sakrale Element».

Allerdings: Der seelische Umbruch, der Aufbruch dieses Mannes, dem es gelingt, zu sich zu stehen, statt wie üblich beschuldigend auf seine Partnerin auszuweichen, ist ebenso klar, wie seine Worte in einem entscheidenden Moment fehl am Platze sind. Sie wenden sich nicht an den Menschen, den es angeht. Sie bleiben – so wahr und echt sie auch sind – beziehungslos und können daher die wesentliche menschliche Bindung nicht entwickeln helfen. André, Sinnbild für viele von uns, bleibt also nach wie vor Gefangener jener selbstbewirkten Isolation, die er mit den Worten beschrieb: «Ich hab mit jemandem im gleichen Zimmer gelebt, hab ihn aber nicht bemerkt. Ich hab ihn auch niemals gehört, war nie wirklich mit ihm zusammen.» Wer einige Zeit Zwiegespräche geführt hat, wird glücklicherweise diesen Leidenszustand hinter sich haben. Denn er hat nicht nur wieder Sprechen gelernt, sondern ebenso Zuhören.

Wer leicht «über etwas» reden kann, vermag häufig nur schwer von sich zu sprechen. Die eigentümliche Hemmung, wenn das Gespräch persönlich wird, hat wohl jeder erfahren – am deutlichsten, wenn die Sprache angesichts eines geliebten Menschen versagt, dem wir uns noch nicht eröffnet haben. Ähnliche Ängste mobilisieren auch Zwiegespräche. Sie werden deshalb mit zahllosen Argumenten abgewehrt. Ein häufiger Anfangswiderstand versteift sich beispielsweise auf die Behauptung, Zwiegespräche seien zu künstlich, zu gewollt. Von einem geplanten Filmbesuch, Theaterabend oder Freundestreffen würde man das nie sagen. Solche Ängste schwänden zwar durch die Zwiegespräche, doch verhindern sie diese eben auch. Mit unbewusster Konsequenz vereiteln sie ihre eigene Auflösung. Indem ich mit diesem Buch auch das Bewusstsein für solche geheimen Vorbehalte zu schärfen versuche, will ich zu den Paar-Zwiegesprächen ermutigen und befähigen.

Dass diese Kunst zu erlernen ist, habe ich in vielen Jahren beruflich und auch persönlich erfahren. Ohne das regelmäßige, konzentrierte Zwiegespräch der Liebenden bleibt die Beziehung brachliegen, sie stumpft ab und verstummt. Wir verlernen es, uns aufeinander zu beziehen, wenn es uns an wesentlichem, wechselseitigem Austausch mangelt. So stirbt die Beziehung ab, sie wird im wahrsten Sinne totgeschwiegen – oft, ohne dass wir es merken. Aus dem Gespräch kommt Heilung. Sigmund Freud nannte die psychoanalytische Methode «talking cure», «Redekur».4

In einer Zeit der Überflutung durch pausenlos tönende Massenmedien steigt die Skepsis gegenüber Worten. Wie wir mit ihnen die Wahrheit sagen können, so können wir auch mit ihnen lügen. Der Boom bei Angeboten, die Beziehung körpernah und ohne Worte neu zu erfahren, ist eine deutliche Antwort darauf. Sicher ist Sprache nicht alles, aber ebenso sicher ist ohne Sprache alles nichts. Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen.

Das Zwiegespräch ist ein einfaches, uns Menschen natürliches Verfahren: Es ist fast ein angeborenes Verhalten. Wer es erlebt hat, will es nicht mehr missen. Ich selbst habe in der Therapie mit Paaren, in der Lehrtätigkeit mit Studierenden, in Seminaren mit Interessierten und in meinem persönlichen Leben als Mann, Freund, Vater die wohltuende Wirksamkeit, die Mobilisierung der Entwicklung zu zweit, ja das «Glückspotential» regelmäßiger Zwiegespräche erfahren. Ich verstehe nun besser, was Nietzsche mit dem Satz meinte: «Einer hat immer unrecht: aber zu zweien beginnt die Wahrheit» – wenn sie auch dort nicht endet.5