Oliver Maria Schmitt

AnarchoShnitzel schrieen sie

Ein Punkroman für die besseren Kreise

 

Neurasthenie, die

Nervenschwäche. Eine Störung des gesamten Nervensystems, […] erzeugt naturgemäß eine krankhafte Aufregung, gedrückte Stimmung, Mangel an Stetigkeit des Gedankenganges, minutiöse, zu immer neuen Beobachtungen führende Selbstbeobachtung. […] Vorzugsweise betroffen werden die geistig arbeitenden Klassen, naturgemäß in höherm Maß in dem lebhaften Treiben der großen Städte als auf dem Lande; Beamte, Offiziere, Ärzte, Gelehrte und Künstler stellen das größte Kontingent. […] Zuweilen ist die sexuelle Erregbarkeit gesteigert, zuweilen erloschen. […] Mißbrauch von Alkohol und Tabak spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle.
Aus: Meyer’s Lexikon, 6. Aufl., 1906

 


Punk, der

Punk. pUnK. Sicherheitsnadeln. Sex Pistols, Rasierklinge, God S(h)ave the Queen. No future. London. 1977. Punk = Garbage = Abfall, Müll. Alptraum aller Eltern. Abgefackt ist in. Hinterhof. Schmutz. Ratte. Verratzte Matratze. Johnny Rotten, the Damned. Abschaum. Arbeitslosigkeit. No future. F … die Bourgeoisie. […] Rock ’n’ Roll is dead. Zerrissene Klamotten. Sicherheitsnadel durch die Backe. Durch die Bank, weg. Never mind the bollocks. No future. Lila-violett gefärbte Haare. Fack. Probleme. SexPIStOls. Buchstaben aus Zeitungen. Brutal und häßlich. No future. Hämmer die Drums. Schrapp die Gitarre. Anarchie ist machbar, Herr Nachbar. Schrapp die Gitarre laut und schnell. […]

Fragst du zehn verschiedene Punks nach der Definition von Punk, dann bekommst du zehn verschiedene Antworten. Doch auf eine Sache kann man sich einigen. Punk ist mehr als nur eine Musikrichtung, es ist eine Art zu leben und ein Lebensgefühl.
Aus: www.laut.de, 2006

Vorspann

Die beteiligten Personen

Peter Hein Erzähler. Hilfsgitarrist. Liebeskranker Neurastheniker, gut frisiert.

Dr. Jürgen Hollenbach Beleuchter. Schlagzeuger und Arzt. Betreuer. Mitreisender aus Überzeugung.

Itty Lunatic Aktivistin. Sängerin. Die wildeste und schönste von allen. Lebt verschüttet.

Nigel Johannes Neumann Manager. PR-Profi, Dandy und Obskurant. Vielleicht aus Wallonien.

Bodo Krämer Geschäftsmann. Bassist. Rockenroller ohne Hemmungen. So.

Andrea Krämer, geb. Ahnert Ehefrau, Ex und Liebhaberin. Auch verdammt begehrenswert.

Rolf Nippwerth Züchter. Keyboarder und Komponist, Tüftler, Künstler und Checker. Der einzige mit Bart.

Hector Schmitz Verlorener. Leadgitarrist und Frontmann. Eine Erscheinung, ein echter Punk.

Kind Ein Kind.

Thor Steinar Demokrat. Kein Belgier.

Genorad Diether Ein Polittalent ohne Beispiel.

Nora diNegri Sängerin. Spielt kaum eine Rolle.

Ilka Wurstbraterin.

Dr. Nerdini Musikexperte und Archivar.

Herr Erster Schrotthändler.

Herr Hipp Verwirrter Polizist.

Olli Extrem sympathischer TV-Moderator.

In Nebenrollen: Ein Autoverleiher, dessen Vorgesetzter, das Ehepaar Giesinger, zwei Imbißbudenbewohner, Polizisten, drei Trippers, viele Silberzwiebeln, zwei Homies, Schlammlochbewohner, Killerrussen, der Chor der Punks, Demagogen, ein Praktikant, ein Regisseur.

Vorspiel

Ich beginne ganz vorne. Wie der Punksalat Mitte der Siebziger angefangen hat, weiß ja jeder: An einem Freitagnachmittag des Jahres 1975 betrat der arbeitslose Kunststudent John Lydon, der sich dann Johnny Rotten nannte, ein in der Londoner King’s Road gelegenes Bekleidungsgeschäft namens «SEX», das von dem ehemaligen Kunststudenten Malcolm McLaren und der Kunstschneiderin Vivienne Westwood betrieben wurde, um dort andere Kunststudenten zu treffen, von denen einer John Simon Ritchie hieß, sich später Sid Vicious nannte und noch viel später an einer zu großzügig bemessenen Heroinportion verschied, nachdem er in einem New Yorker Kunststudentenhotel neben seiner toten Freundin aufgewacht war usw. usf. – die Geschichte der Sex Pistols muß man nicht mehr erzählen.

Sehr wohl aber die der nur unwesentlich unbekannteren Punkband Gruppe Senf. Ihr verdanke ich alles. Nicht nur mein erstes Punkkonzert und meine erste große Liebe unter der noch jungen Regierung Kohl, sondern im Nachgang auch alles, was im Herbst 2005 geschah, nämlich die unverhoffte Begegnung mit meiner eigenen Vergangenheit, mit dem geheimnisvollen Leben im deutschen Osten und meinen endgültigen Ausstieg aus der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Band verschaffte mir eine mißlungene Liebesnacht in einem beheizten Schlammloch nahe der polnischen Grenze, ein erwachsenes Kind unklaren Geschlechts, zwei üble Flashbacks, von denen einer nicht mal echt war, vier Übernachtungen in kalten Automobilen, eine Anzeige wegen Internetbetrugs und siebzehn Strafzettel für zu schnelles Fahren. Und schließlich die Gewißheit, daß die erste große Liebe bisweilen auch die letzte ist.

Sicher, es gibt schönere Dinge, als mit einem angeblichen Arzt in einem viel zu großen Auto sinnlos durch die Ostzone zu gondeln, doch ich wußte nicht, wo es diese Dinge gab und was sie im Schnitt kosteten. Lange bevor Jürgen Hollenbach Arzt und ich sein Chauffeur wurde, waren wir Kunststudenten.

Genaugenommen keine richtigen Kunststudenten, vielleicht wollten wir auch niemals welche werden, eigentlich hatten wir nicht den geringsten Plan, wer oder was wir überhaupt jemals werden wollten – dafür waren wir ja noch viel zu klein, damals, 1982, in dem Jahr, in dem Dr. Kohl sich an die Macht geputscht hatte.

Davon bekamen wir in der schwäbischen Heimat nur wenig mit. Es lag ein Grauschleier über der Stadt. Dumpf ruhte Hellingen, die unquirlige Metropole des Unterlandes, wie eh und je am Kreuzungspunkt vielbefahrener Ferienautobahnen und ließ sich von amerikanischen Besatzungssoldaten in aller Ruhe mit Atomraketen vollstopfen. Da waren wir natürlich dagegen. Gegen Hippies aber auch, genauso wie gegen neue Autobahnen und alte Ansichten, gegen die Volkszählung, Heinrich von Kleist und Coca-Cola. Wir wären sogar gegen die Dezimalrechnung oder gegen das öffentliche Verkaufen und Verspeisen von Maultaschen gewesen, wenn das nur irgendwie gegangen wäre, denn wir befanden uns am Anfang des Protestalters und waren prinzipiell gegen alles.

Wir hatten alle den gleichen Job, wurden im Morgengrauen von Hollos Vater mit seinem übelriechenden Peugeot 504 abgeholt und mußten uns dann stundenlang von einem Typen mit Schnauzbart und Breitcordhosen vollabern lassen. Sie nannten es «Schule» und bezahlten uns mit Noten, die auf dem freien Markt nichts wert waren. Obwohl man am Robert-Koch-Gymnasium überhaupt nicht Kunst studieren konnte, sind vor, nach und neben Gruppe Senf auch zahlreiche andere lärmerzeugende Formationen aus der sogenannten Hellinger Schule hervorgegangen, unter anderem Tiefschlag, Cream Jeans, Bodycheck, die Six Pack Blues Band, UVW – Die UnVreien Wähler, Lothar and the Landesfathers, Faust III und der Oberstufenchor des Robert-Koch-Gymnasiums. Nicht alle schafften es bis zum ersten Auftritt.

Auch Gruppe Senf hatte ihn noch vor sich. Wir suchten Zuflucht am Busen der Muse Polyhymnia, weil wir uns davon Ruhm, Autogrammpostkarten und vor allem Weiber versprachen, die uns dann die Verstärker tragen sollten.

Am Beginn unserer Karriere hatten wir natürlich noch keine Weiber. Nicht mal Instrumente. Geschweige denn Verstärker. Nur den unbedingten Willen, auf einer Bühne herumzustehen und von Millionen Fans angebetet zu werden. Aus Pappe, Styropor und Bindfaden bastelten wir uns längliche, an Tennisschläger oder Baseballkeulen gemahnende Objekte, die so ähnlich aussahen, wie wir uns echte Stromgitarren vorstellten: irgendwie komisch geformt und am Ende dick, mit einem Kabel dran.

Wie die Beatles oder die Beastie Boys begann auch Gruppe Senf als Zwiegespann. Das erschien meinem Kumpel Hector und mir erst mal genug, und falls es nicht hingehauen hätte und man sich wieder hätte auflösen müssen, dann wäre das zu zweit ja viel einfacher gegangen als etwa mit einer zweiunddreißigköpfigen Big Band.

Wir hielten es nicht einmal für nötig, unsere Musik selbst zu machen – wozu hatte ich denn einen Plattenspieler! Darauf legte ich die einzige Single, die ich damals besaß – Bodo Krämer hat sie irgendwann bei mir vergessen –, nämlich «Some Girls» von Racey. Zu dieser ohnehin sehr bedenklichen Musik vollführten wir dann mit unseren Pappgitarren spastische Verrenkungen und hofften, so ins Fernsehen zu kommen.

Um noch erfolgreicher zu werden, das wurde uns schnell klar, mußten wir die Musik wohl oder übel selbst produzieren. Die dafür benötigte elektrische Gitarre fand ich gebraucht auf einem Gemeindebasar und mußte sie nur noch mit Unmengen von Reinigungsbenzin von den «Atomkraft-nein-danke!»-Aufklebern befreien. Viel lieber wäre ich natürlich wie der Sex-Pistols-Gitarrist Steve Jones nachts in die Villa von Keith Richards eingestiegen und hätte mir dort eine Klampfe gezogen, aber ich hatte absolut keine Ahnung, wo Richards genau wohnte.

Weil es ohne komisch klang, bekam ich an Weihnachten den dazu notwendigen Verstärker geschenkt, eine fabrikneue 30-Watt-Gurke aus volkseigener DDR-Fertigung, der eher die Bezeichnung Verschwächer verdient gehabt hätte. Er hieß «Echolette», und mit ihm klang es immer noch komisch. Hector stahl einfach seinem Vater die Höfner-Jazzgitarre vom Speicher und versuchte, den Kontakt zum Publikum mit einem vollfurnierten Philips-Röhrenradio herzustellen, über das er sich zusammen mit einigen ausländischen Störsendern vernehmen ließ.

Die Ansprüche an die weiteren, noch zu findenden Bandmitglieder waren hoch: Sie mußten sich durch ein Sparbuch qualifizieren, über das sie selbst frei verfügen konnten. Mitschüler Bodo Krämer hatte zwar nie ein Instrument in der Hand gehabt, aber er war klug genug, sich auf den Rat seiner guten Freunde hin sofort eine Baßgitarre mitsamt Verstärker zu kaufen. Baß, so versicherten wir ihm, sei einfach zu spielen, außerdem könnte Leadgitarrist Hector ja ebenfalls über seinen Verstärker gehen, da würde man den Baß sowieso kaum hören.

Dann wurde entschieden, daß Jürgen Hollenbach, der eine Bankreihe hinter uns saß, Schlagzeuger werden sollte. Bislang hatte der dicke Hollo zwar nur als Altflötist und Philosoph von sich reden gemacht, aber er war wenigstens ohne zu zögern bereit, seine gesamten Ersparnisse für ein Schlagzeug auszugeben. Nach dem Kauf telefonierte Hollos Mutter aufgeregt herum, ob wir ihren elenden Sohn dazu angestiftet hätten, sein Konto zu plündern. «Das ist doch Wahnsinn», schimpfte sie, «der Flötenlehrer hat mir versichert, daß der Jürgen zwar nicht ganz unmusikalisch ist, daß er aber große Probleme damit hat, halbwegs den Takt zu halten.»

Dies stellte sich schon nach der ersten Probe als völlig zutreffend heraus. Um jemanden zu haben, der Hollo beim Takthalten half, engagierten wir Rolf Nippwerth, eine echte Begabung am Klavier. Leider ausschließlich am Klavier. Mit seinem neuen Synthesizer, einem Korg MS 20, kam er überhaupt nicht zurecht. Er kriegte nur Quietsch- und Spratzelgeräusche hin, die den ratlos trommelnden Hollo derart irritierten, daß er fast schon wieder im korrekten Takt auf die Toms haute.

Uns schwebte wohl vor, eine Art Crossover zu spielen aus bluesigem Rock ’n’ Roll, modalen Jazz-Elementen mit chromatischen Läufen, kunstvollen Krautrock-Soli und elektrisierenden Latino-Rhythmen, aber sosehr wir uns auch abrackerten, es kam immer nur Punkrock dabei heraus, wobei die Betonung nicht auf Rock lag. Wir gaben uns einen merkwürdigen Namen und mit dreizehn Jahren unser erstes Konzert beim jährlichen «Newcomer-Festival» im Keller des städtischen Bürgerhauses.

Wir hatten zwei selbstkomponierte Stücke dabei, die wir immer abwechselnd spielten. Da wir des Zusammenspiels in keiner Weise mächtig waren, hörten sie sich jedesmal völlig neu und anders an. Das eine Stück war unser Hit, es hieß, wie die Band, «Gruppe Senf» und ging so:

Wir lieben die Stürme

Und brausendes Bier

Wir sind Gruppe Senf

Und spielen heute hier

Hey, Gruppe Senf, Gruppe Senf

 

Mozart ist tot

Und Karajan ist out

Jetzt kommt Gruppe Senf

Auch wenn’s euch vor uns graut

Hey, Gruppe Senf, Gruppe Senf usw.

Daß Bodo Krämer nicht Baß spielen konnte, fiel nicht weiter auf, da sein selbstgelötetes Kabel bereits nach der ersten Nummer nur mehr ohrenbetäubende Knack- und Brutzelgeräusche produzierte. Wütend schauten wir in Rolfs Richtung, aber der hatte seinen Synthi noch gar nicht angeschaltet, weil er das Netzkabel im Proberaum vergessen hatte. Schlagzeuger Hollo wußte nicht, daß man ein Drumset auf der Bühne verkleben oder zumindest auf einen Teppich stellen muß, damit es nicht wegrutscht. Schon dreißig Sekunden nach Auftrittsbeginn setzte er sich langsam in Bewegung, rutschte zunächst Richtung linker Bühnenrand, verschwand dort nach einiger Zeit und machte sich, weil er aus Nervosität über seinen ungeplanten Positionswechsel immer schneller spielte, zügig auf den Weg durchs Publikum.

Gitarrist Hector nahm die Verfolgung auf, versuchte ihn zu stellen und während des Spielens wieder auf die Bühne zurückzutreten und zu -schieben. Er war jedoch zu stark angetrunken und hatte nur ein sehr kurzes Kabel an seiner Höfner. Als es ruckartig zu Ende war, kippte er polternd um. Ich selbst hatte vor lauter Aufregung meinen hochwirksamen Verzerrer Marke Eigenbau statt auf 0,5 auf 10 gestellt, was mit Original-«Echolette»-Verstärkung wie eine verblüffend gut funktionierende Kreissäge klang.

Um das Publikum auch noch mit einem Spezialeffekt zu demütigen, hatten wir einen Überraschungsgast dabei, einen weiblichen, worauf wir besonders stolz waren. So was hatten sonst nur Profis. Ich hatte ihr den Job angeboten, weil es die einzige Möglichkeit war, mit dem schönsten Mädchen des Stadt- und Landkreises Hellingen völlig unverbindlich ins Gespräch zu kommen. Sie hieß Itty Lunatic, und als sie mit zerrissenem Glockenrock, einer Pelzstola und einem Pfund Seife im karottenroten Haar zum Mikrophon schritt und mit gellender Stimme «Kraft durch Müsli!» hineinkeifte, war die Bühnenshow von Gruppe Senf perfekt.

Nach einer endlosen halben Stunde forderten die noch im Saal verbliebenen dreißig Zuschauer, die wir alle selbst mitgebracht und mit Anwesenheitslisten überprüft hatten, eine Zugabe, die der Veranstalter aber wegen der hundert anderen Leute, die im Foyer auf die nächste Newcomerband warteten, nicht gestattete.

Die Lokalzeitung vom 25. Juni 1982 berichtete wie folgt: «Nun, wie dem auch sei, die erste Band konnte mit gutem Gewissen als echter Newcomer bezeichnet werden, denn für Gruppe Senf war es der erste Auftritt überhaupt. Der Name dieser Gruppe kann ruhig wörtlich genommen werden: Während die anderen Bands Musik machten, gab sie nur ihren Senf dazu und enttäuschte so alle arglosen Zuschauer, die gehofft hatten, daß die Punk-Welle spurlos an unserer Stadt vorübergegangen sei. Die meisten Zuschauer standen dem, was die fünf Nachwuchs-Punker aus den Verstärkern scheppern ließen, eher hilflos gegenüber; die Meinungen reichten von ‹So was hab ich noch nie gehört!› bis zu ‹Ha, irgendwie isch’s doch lustig!› Und so war es dann auch: Nicht gut, aber lustig, nicht schön, aber etwas Besonderes. Die fünf Musiker können zwar – noch? – kaum mit ihren Instrumenten umgehen, sie können keinen geraden Takt halten und haben kein vernünftiges Ende für ihre Lieder, doch der Mut, mit dem sie sich auf der Bühne dem Publikum präsentieren, ist bewundernswert.»

Schon einen Tag nach Erscheinen dieser, wie wir fanden, tendenziösen und mißgünstigen Kritik rief ein aufgeregt schwadronierender Herr bei mir an und stellte sich als «NJN» vor. «Übersetzt heißt das Nigel Johannes Neumann, logo», näselte er und erklärte, daß er als «Producer, PR-Performer und Popmanager» ab sofort die operativen Tätigkeiten der Band in die Hand nehmen werde, denn offensichtlich habe unsere «komische Senftruppe da» noch keinerlei Management, anders sei ein «derartiger Scheißartikel» in einer für die weitere Plattendistribution sehr wichtigen Zeitung gar nicht zu erklären. Wenn er nun die Geschäfte besorge, sähe er die Schlagzeilen schon vor sich: «Gruppe Senf – jung, kaputt und supersüß. Die schärfste Band der Achtziger!» Weil ich nicht schnell genug widersprach, nahm «Enn-Jay-Enn», wie er sich selbst aussprach, Gruppe Senf unter Exklusivvertrag.

Der Fehler unseres Lebens.

Dem Auftritt folgten weitere, unsere Combo wurde im Weichbild der Heimatstadt zur berühmtesten Punkband, vor allem deswegen, weil es keine zweite gab. Schon gar keine, die noch schlechter war als wir. Um das Publikum davon abzuhalten, uns während der Konzerte mit Gegenständen oder Nahrungsmitteln zu bewerfen, kamen wir ihm zuvor und warfen von der Bühne aus Nahrungsmittel ins Publikum: kartonweise Mohrenköpfe, Haferflocken und mehrere Kilo angegangener Tomaten. Itty Lunatic lief mit einem Sprühtank auf dem Rücken durchs Publikum und machte alle mit H-Milch naß, verloste wertlose Preise und schlug Fernseher mit großen Hämmern in kleine Stücke.

Den Rest muß man gar nicht mehr erzählen, er ist langweilig wie alle echten Erfolgsgeschichten. Es ging eben immer weiter aufwärts. Der vorläufige Höhepunkt unserer Karriere war erreicht, als in einem Stadtbus der Linie 12 ein mit Edding geschmierter Schriftzug auf einem Holzsitz entdeckt wurde: «Gruppe Senf – oi, oi!»

Keiner von uns hatte es da hingeschrieben.

Das ist wahrer Ruhm, dachten wir und verfolgten staunend mit, wie wir innerhalb weniger Wochen unter falschem Bandnamen mit unserem Song «Scheißstaat» bis auf Platz 53 der deutschen Verkaufshitparade vordrangen. Hektisch machte sich NJN daran, den Welterfolg zu organisieren, was aber aus verschiedenen Gründen nicht klappte. Rolf, der mit seinem Synthesizer mittlerweile einwandfreie Knack- und Fiepsgeräusche herstellen konnte, war mit dem musikalischen Konzept unserer Band unzufrieden. Hector plante jedesmal, wenn er besoffen war, eine Solokarriere, für Krämer warf die Sache «sexualmäßig» zu wenig ab, und Hollo wollte hauptsächlich seine Ruhe, «über alles nachdenken» und demnächst sogar Schlagzeugstunden nehmen. Ich wollte eigentlich nur Itty nehmen, egal von wo, doch das wollte Itty leider nicht. Wir fünf waren nun mal sehr verschieden.

Nur in einem Punkt waren wir uns einig: im Haß auf den Mann, der uns durch unsinnige Intrigenwirtschaft hinter unserem Rücken zur Lachnummer gemacht hatte: NJN. Es gab nur einen Weg, ihn maßlos zu ärgern: Wir lösten uns auf.

Das war vielleicht ein Fehler. Doch war es vielleicht ein noch viel größerer Fehler, daß wir uns Jahrzehnte später wiedervereinigen wollten. Obwohl – sonst hätte ich Itty wahrscheinlich nie wiedergesehen. Wiedervereinigungen sind halt so eine Sache 

1

Mein Dokter und die DDR

Wir waren irgendwo vor Eisenach, am Rande der alten BRD, als die Angriffe begannen. Ich weiß noch, daß mein Arzt seltsame Sachen rief wie: «Mir zieht es die Schädeldecke weg, ich krieg Panikattacken, überall diese Scheißviecher in der Luft, der verdammte Osten macht mich wieder fertig! Alarm!» Und plötzlich spürte ich es auch: Vor mir, über mir und um mich herum hing ein schrilles, ein kreischendes und trommelfellzerschredderndes Sägen in der Luft. Überall schwirrten komische Mistviecher, ich weiß nicht mehr, Mücken oder Käfer oder Fledermäuse. Ich schwitzte. Fack! Mir war, als würde mein Gehirn durch eine Kaffeemühle gedreht. Ich wurde völlig neurasthenisch, allein schon vom Anblick meines Arztes: Er war von Zuckungen befallen, hatte Schaum vor dem Mund und schrie: «Blendgranaten! Sperrfeuer! Der Mob will uns lynchen, aaargh!»

Mörderisch wummerndes Baßbrummen und grelle Fanfarenstöße kündigten unser Ende an, infernalisches Geschrei und Geheule des Jüngsten Gerichts tobte in unserem dahinschießenden Wagen. Kam wahrscheinlich von draußen. Das muß der aufgepeitschte Ostmob sein, dachte ich, der uns nach dem Leben trachtet. Ich kannte mich ja nicht aus und vertraute Dr. med. Hollenbach, der panisch den Knopf für die Zentralverriegelung auf dem Wurzelholzarmaturenbrett suchte. «Wir müssen uns einschließen, die machen uns alle, todsicher!» schrie er. Hatten wir überhaupt eine Chance?

«Scheiße, o heilige Schweinescheiße», jammerte ich und drohte mit der Faust nach draußen. «Ihr Mistkäfer, ihr verfackten! Verpißt euch gefälligst! Laßt mich und meinen Kumpel und unser schönes Auto in Ruhe!»

Der Wagen stoppte ruckartig, als wäre er gegen eine Wand gefahren. Der Lärm verstummte. Mit einem deutlichen Zischen atmete die Hydraulikfederung aus, der Motor soff ab, und eine weibliche Stimme sagte: «Wagen in Ruheposition.»

Alles war friedlich und still. Weder Mücken noch Käfer, noch Fledermäuse, nichts.

Ich war verblüfft. Dr. Hollenbach komischerweise nicht. Mit einer eleganten Handbewegung wischte er den Schaum seines übergeschwappten Dosenbieres von Windschutzscheibe, Armaturenbrett und Mund und trötete triumphierend: «Linguatronic! Ich hab dich gewarnt, Zombie, du hättest die Sprachsteuerung deaktivieren sollen. Es bringt nichts, wenn man einem Auto ins Fahren reinredet.»

«Laß das mit dem ‹Zombie›», sagte ich.

«Wagen in Ruheposition», schnarrte die Computerdame. «Soll die Fahrt fortgesetzt werden?»

«Halt die Klappe.» Ich drehte ihr den Saft ab. Hinter uns hupten mürrische Ostler. Wir standen mitten auf der Bundesstraße.

«Hab dir ja gleich gesagt, daß Einstürzende Neubauten uns schlecht draufbringen.» Der Doktor dozierte nun äußerst zufrieden: «Das ist keine Musik zum Autofahren, die sind ja selbst alle bekloppt geworden. Blixa Bargeld kocht bei Biolek und läßt sich von Goethe-Instituten alimentieren, dieser Wichser, dem polier ich noch mal die Fresse. Und den Mistviechern auch, wenn sie uns wieder angreifen.» Suchend blickte er um sich, doch die Viecher blieben verschwunden.

«Die können von Glück sagen, daß wir sie uns nur eingebildet haben.» Er schaute prüfend auf das leere Tablettenröhrchen in seiner Hand, dann auf mich. «Los, fahr weiter, aber schnell, damit wir dieses Scheißland endlich hinter uns haben.»

Der hatte gut reden. Wir hatten ja noch alles vor uns! Durch das getönte Panzerglas sah ich nach draußen. Es schiffte gottserbärmlich. Da war gar nichts, nicht mal Landschaft.

«Ist das schon der Osten?»

«Glaubst du etwa, man hätte uns im Westen angegriffen? Gib Gas, Zombie.»

«Laß das mit dem ‹Zombie›.»

«Rotscher, Zombie.»

«Arschloch.»

«Sag ich doch. Prost!»

Er hatte die Ein-Liter-Faxe-Dose mittlerweile wieder unter seinem beheizten Nappaledersitz hervorgeklaubt. Ein Schluck war wohl noch drin. Im Dosenumdrehn wurde er Geschichte.

 

Es war schon fast Mittag, und Tausende Kilometer lagen noch vor uns. Vielleicht sogar mehr, ich wußte es nicht. Ich war ziemlich verstört, denn ich hatte nicht damit gerechnet, daß Ostdeutschland so gefährlich werden würde. Insgesamt war ich ja guter Dinge: Auf uns wartete ein echtes Abenteuer und am Ende vielleicht sogar erotische Erfüllung oder auch sehr viel Geld – obwohl … Geld war kein Argument, davon hatte ich genug. In den letzten fünfzehn Jahren hatte ich jedenfalls alle Gelegenheiten verstreichen lassen, auch nur einen Fuß ins Beitrittsgebiet zu setzen. Es interessierte mich einfach nicht.

«Paß auf, was ich sage», raunte verschwörerisch mein Arzt und nahm die leere Bierdose vom Schoß, um mir damit zu drohen. «Du mußt vorsichtig sein, du warst noch nie in der Zone. Ich dagegen kenne das Leben dort, ich war im Osten auf Tour, in allen großen und kleinen Städten, mit Rockbands und Schlagerkapellen. Deshalb laß dir eines gesagt sein: Was immer auch passiert und egal, was diese Mesotypen da draußen auch machen – die Verhandlungen führe ich, verstanden? Ich weiß, wie die ticken.»

Rasselnd atmete er durch, zündete sich eine an, inhalierte nachhaltig und scannte die Gegend. Lautlos zischte sie an uns vorbei.

«Wird es gefährlich werden?»

«Der Osten ist gefährlich.» Doktor Hollenbach knetete selbstvergessen den Filter seiner Kippe und setzte hinzu: «Aber man kann ihn überleben. Ich selbst bin der Beweis.»

Der Beweis machte sich an dem Kabel zu schaffen, das von seinem iPod zur Multimedia-Konsole des Wagens führte, rasterte einen Titel ein, drückte die Play-Taste – und die auf sechzehn Membranen und Kalotten verteilten zig Millionen Watt im Gehäuse unseres rubinschwarzen Mercedes-Bombers ballerten los: «Let’s lynch the landlord, man!» schrie Jello Biafra, und die Dead Kennedys ließen es laufen. Eine amtlich verzerrte Gitarre gab das Tempo vor, das für Kennedys-Verhältnisse noch langsame Schlagzeug purzelte rein, und der berühmte, später von den Toten Hosen geklaute Baßriff sorgte für das Gerüst der glamourösen Punkhymne. Wütend sang Biafra vom unangemeldeten Hausbesuch seines Vermieters, von den Schaben und Ratten in der abgewrackten Wohnung, vom Regen, der durch die Decke kommt, und dem Backofen, der nach Dachau riecht. Meine Ost-Panik war fürs erste gebannt, ich atmete durch, und überall im Wagen waberte nun ein Klangwolkenmischmasch aus zerbröseltem Gitarrengekreische, Altherrenpunk und wilder Wut auf irgendwas. Die Musik war schnell und hart und duldete keinen Widerspruch, schon gar nicht von mir.

«Sachma», fragte Dr. Hollenbach, «bist du eigentlich noch Punk?»

Was für eine Frage! Sah man das denn nicht? Doch gerade als ich meinen Arzt mit wüsten Beschimpfungen für diese Impertinenz überziehen wollte, fiel mir keine rechte Antwort ein. Punk. Wann war man denn einer? Und wann keiner mehr?

 

Wenn ich nachdenke über Punk und über mich, dann weiß ich, daß er mich genau zur richtigen Zeit getroffen hat, ich war zwölf oder dreizehn. Ich hatte keine Ahnung, was das genau bedeutete, die krachende Musik, die Menschen, die sie machten, die empörten Zeitungsberichte – aber all das fand ich geheimnisvoll und magnetisch. Ich spürte, daß da etwas Starkes und Kraftvolles war. Denn das einzige und zugleich beste, was Punk mich gelehrt hat, war: dagegen zu sein. Oder wie die Urväter aller schnellen und lauten Bands, die seligen Ramones sangen: «I’m against it!» Insider hatten mich schon früh wissen lassen, daß die Welt mit einer «Matrix aus Scheiße» überzogen war, wie der Fäkalforscher Heinz Halfpape das einmal nannte; und Punk half mir, mit dieser Scheiße fertig zu werden.

Wir waren in Hellingen die ersten Punks und wurden dementsprechend gefeiert. In Kneipen und auf Postämtern hingen unsere Fotos aus, und nette Nachbarn markierten nachts unsere Haustüren mit einem großen P. Dabei war es gar nicht einfach, Punk zu werden. Es gab keine Ausrüsterläden, keine Doc-Martens-Shops oder Killernietenfachgeschäfte. Gewisse Hygieneartikel gehörten zur Grundausstattung: Seife brauchte man, um sie sich in die Haare zu schmieren, eine Nagelschere, um sich Löcher ins T-Shirt zu schneiden. Ich hatte andere Sorgen. Ich wollte unbedingt so aussehen wie Johnny Rotten. Aber ich wußte nicht, wie ich das mit den Haaren hinkriegen sollte. Aus dem «Musikexpress» riß ich ein Foto des Sex-Pistols-Sängers aus, auf dem seine räudige, furunkelrote Strubbelfrisur besonders gut zu sehen war, ging damit zum Friseurmeister Mack in der Turmstraße und zeigte ihm das Bild: Genau so eine Haartracht wollte ich auch haben. Meister Mack stutzte, sein schnauzbärtiger Assistent war ratlos. Eine solche Frisur war der Hellinger Friseurinnung weder bekannt noch vorstellbar. Die beiden gaben sich alle Mühe, aber hinterher sah ich aus wie ein schlecht gefärbter Alptraum, in dem Brigitte Mira die Hauptrolle spielte.

Einige Frisurenwechsel später, mit Abitur und gebrochenem Herzen, ging ich zum Studieren ins Ausland. Ein Riesenfehler. Denn ich wählte das langweiligste Ausland der Welt: die Schweiz. Dort begann ich ein Kunststudium, auch wenn niemand sonst in der Schweiz Kunst studierte, weil das kein Geld brachte. Die wahren Schweizer Kunststudenten lebten sowieso in Rom oder, wenn ihre Eltern verarmt waren, in New York. Nach dem ersten Semester brach ich mit der Kunst beziehungsweise sie mit mir. Alle meine Kommilitonen hatten ebenfalls abgebrochen und sich für ein Leben in Saus und Braus entschieden. Sie wurden Schweizer Sozialhilfeempfänger. Ich aber beschloß, Computerunternehmer zu werden.

Und nun, nach über zwanzig Jahren, bin ich tatsächlich IT-Unternehmer und frisurentechnisch immer noch sehr aufgeschlossen – und endlich auf dem besten Weg, wieder ein echter Punk zu werden. Mit allen Konsequenzen. Ein ehemaliges Bandmitglied der legendären Neurotic Arseholes, heute ein fleißiger Landschaftsgestalter mit eigenem Betrieb, hat mal in einem Interview erzählt, wie er in der Fußgängerzone seiner Heimatstadt Minden mit dem Bürgermeister spazierenging, weil er gerade einen respektablen Deal mit der Stadt klargemacht hatte. Aus dem Ghettoblaster einer Bettelpunkgemeinschaft tönte seine eigene Stimme und sang die frühe Hymne «Kalte Steine»: «Alle Straßen sind so kalt und dunkel/​Alle Menschen sind so kalt und leer/​Keiner merkt was, keiner fühlt wie ich/​Ich bin allein und frage mich:/​Tu ich’s oder schaff ich’s nicht?/​Ich hab den Drang, ich töte mich …» – und da sei es ihm eiskalt den Rücken runtergelaufen. Fack, das ist sein Problem. Ich bin jetzt wieder Punk, zumindest empfinde ich das so. Ich lehne es einfach ab, stumpf und erwachsen zu werden. Das machen doch schon alle anderen.

Bis heute habe ich eine merkwürdige Schwäche für Punkmusik, weil sie wenig, fast nichts mit Können zu tun hat, dafür aber viel mit Attitüde und Lebendigkeit. Ich mag die komischen, unernsten, schnellen Sachen genauso wie das primitive und harte Geschrubbe, wie es etwa die britische Band Exploited betrieb. Das hat so was krankhaft Konsequentes. Sie war es, die 1981 der noch zuckenden Leiche Punk entgegenschrie: «Punk’s Not Dead!» Und allein auf ihrem phantasievoll benamsten Album «Fuck The System» fand man neben dem gleichnamigen Titelstück auch noch Songs wie «Fucking Liar» oder «You’re A Fucking Bastard». Bei letzterem hatte Sänger Wattie Buchan nichts Besseres zu tun, als insgesamt vierunddreißigmal die Zeile «You’re A Fucking Bastard» zu brüllen, einundzwanzigmal «And A Shit Fuck Too» und leider nur dreimal «And A Shit Cunt Too» – und fertig war der Text.

Zu den hektischen Rhythmen von Punk habe ich die wichtigsten Erfahrungen meines Lebens absolviert: den ersten Geschlechtsverkehr, den ersten Autounfall, den ersten Kreuzbandriß und den zweiten Autounfall. Das kann mir keiner nehmen.

Den zweiten erlebte ich mit meinem zweitbesten Freund Hollo. Mit ihm konnte man Briefkästen stehlen, nachts in aufgebrochenen Autos rauchen und fremde Post lesen und morgens die kommentierten und korrigierten Briefe mit dem Vermerk «So nicht!» wieder bei den Absendern einwerfen.

Der Facharzt Dr. med. Jürgen Hollenbach ist, wie er heute gerne sagt, ein «angesehener Allgemeinmediziner». Er kennt das Geheimnis des Lebens, hütet sich aber, mir dieses mitzuteilen. «Arztgeheimnis», sagt er nur. Ich glaube, er ist ziemlich intelligent. Leider habe ich dafür keine Beweise. In gewisser Hinsicht ist mein Arzt ein grober Mensch, doch kennt er weder Falschheit noch Tücke. Hemmungen allerdings auch nicht. Er behauptet, eine Koryphäe «auf praktisch allen Gebieten» zu sein.

Nach außen hin wird er durch einen wunderbaren Körper vertreten, von dem ein beliebtes Mallorca-T-Shirt behaupten würde, Bier habe ihn geformt. Die storchigen Beinchen sind in schwarze Jeans mit applizierten Fettflecken verpackt, die geschickt darauf balancierte zyklopenhafte Körpermasse kündet stolz vom gelernten Pykniker und seinen stillen Fettreserven. Gekrönt wird die imposante Erscheinung von einem gewaltigen zapfen-, fast birnenförmigen Kopf samt Stirnglatze und Blumenkohlohren. Haare: ja, auch, aber das gibt sich. Seit wir unterwegs sind, seit vierundzwanzig Stunden, wurde er schon zweimal an Tankstellen für Guildo Horn gehalten. Mir ist das peinlich, ihm nicht. Dafür gibt er einfach zu gern Autogramme.

 

Bad Hersfeld und Rotenburg an der Fulda hatten wir vor knapp einer Stunde gefahrlos passiert und die abgewickelte Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik im Handstreich genommen. Eine andere Welt, ein fremder Stern. Vom Kannibalen-Land ins Reich der Kindermörder, wenn man der Westpresse, Jörg Schönbohm und meinem Beifahrer glauben durfte.

Auf den ersten Blick sah hier alles aus wie im Westen: die Häuser, der Himmel, die Autos. Nur die Felder waren jetzt nicht mehr handtuchbreit, sondern großflächig bestellt – «alles LPG», wie der Medizinmann erklärte. Doch ließ er sich nicht von der vermeintlichen Friedfertigkeit der Verhältnisse täuschen. Er wußte, daß hinter den biederen Fassaden Arroganz, Infamie und Brutalität lauerten.

Als ich, weil ich nach rechts in die Landschaft spähte, versehentlich über ein liegengebliebenes Reifenstück bretterte, goß Hollo wieder ordentlich Bier auf sein verwaschenes Clash-Shirt. Das Alter des verblichenen Kleidungsstücks hätte man nur noch mit der C-14-Methode bestimmen können.

«Hoppela, poppela», bemerkte er eloquent und betätigte die Replay-Taste. Der Wagen erbebte kurz, schnell und hart. Dann wurde – «Let’s Lynch The Landlord» – der Vermieter erneut gelyncht.

 

Bevor die Musik uns zu langweilen beginnt, will ich ein wenig zurückblenden. Dieses merkwürdige Abenteuer nahm seinen Anfang nämlich nicht an der DDR-Grenze und in unserem Auto, sondern, wie so viele schlechte Geschichten, die das Leben schrieb, mit einem Anruf. Gestern vormittag klingelte mein Telefon. Weil er seinen Namen nach guter deutscher Sitte in den Hörer brüllte, wußte ich gleich, wer dran war: «Hollenbach!»

Ich hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, zu keinem von Gruppe Senf, denn nach dem jähen Ende unserer Karriere kehrte ich nicht mehr nach Hellingen zurück. Meine Eltern, die mich nach meiner Konversion zur Church of Punk verstoßen hatten, zogen wieder nach Hamburg, von wo sie stammten, und ich war über den Schweizer Umweg schließlich in Frankfurt am Main gelandet.

Instinktiv war mir klar, daß es nur um Itty gehen konnte, um die mirakulöse Missis Lunatic. Freilich sagte Hollo das nicht, er raunte nur: «Ich muß dich sofort sprechen. Du weißt, wo meine Praxis ist. Bring deinen Paß mit, deinen Führerschein, deine Kreditkarte und zwei Stangen Reval. Das ist die Praxisgebühr, ohne die kommst du nicht rein.»

Schon Sekunden nach dem Anruf hatte ich mich entschieden, loszufahren. Ich zog die Küchenschublade raus, in der mein Paß lag, kippte mein Leben auf den Tisch und zog Bilanz: Mein Ausweis bescheinigte mir, Peter Julius Hein, wegen meines gesunden Teints vormals auch «Zombie» genannt, sechsunddreißig veruntreute Lebensjahre. Ich versuchte, mich an jedes einzelne zu erinnern, und kam auf etwa zwölf: Aussetzung im Kindergarten, Einschulung, im Kaufhaus verlaufen, Masern, Pocken, Arm im Gips, auf dem Schulklo eingesperrt, der vollgekotzte Bierkasten, Fahrprüfung versiebt, zwei, vielleicht drei weggelaufene Freundinnen, Studium in der Schweiz, Tripper und schließlich die Computerfirma – das war meine verschwendete Jugend.

Egal, ich fuhr einfach los. Hatte ich überhaupt Freunde, von denen ich mich verabschieden mußte? Nicht daß ich einsam gewesen wäre oder gar das Gefühl gehabt hätte, es zu sein – im Gegenteil. Oft bildete ich mir sogar ein, einen großen Bekanntenkreis zu haben, und mir fielen alle möglichen Namen von guten Freunden ein: George Maciunas, Carl Hofer oder Willem de Kooning. Beim Googeln fand ich dann heraus, daß es gar keine Freunde waren, sondern verstorbene Künstler, denen ich niemals begegnet war. Ganz schön peinlich. Ich blätterte im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland herum und stellte fest, daß es seit Jahren abgelaufen war. War meine Identität überhaupt gesichert? Wußte der Staat noch, daß es mich gab?

Meine beiden Angestellten, die am Stadtrand von Frankfurt die Geschäfte besorgten, wußten jedenfalls von meiner Existenz. Ich gab ihnen den kollegialen Rat, während meiner Abwesenheit noch härter zu schuften als sonst, schloß die Portokasse zweimal ab, ließ die Mainmetropole hinter mir und raste mit dem Bummelzug in meine Geburtsstadt. Hellingen.

Das Anwesen des Dr. Hollenbach mußte ich nicht suchen, es war noch immer die Adresse, die ich seit Kindheitstagen kannte.

«Du weißt, wo Itty ist», sagte ich zur Begrüßung.

«Ich weiß nur, daß sie bei Rolfi ist», grüßte mein Arzt zurück und lächelte nicht.

«Ich habe sie achtzehn Jahre nicht gesehen.»

«Ich auch nicht. Es war eine schöne Zeit.»

«Wieso? Warst du etwa nicht in sie verliebt?»

«Wer denn nicht? Aber im Gegensatz zu dir bin ich drüber weg. Die hatte sie doch nicht mehr alle, und dann der ganze Scheiß mit Hector …»

«Mit Hector? Und der ganze Scheiß mit mir? Der zählt wohl nicht, wie?»

«Exacto. Aber da wir schon beim Süßholzraspeln sind – erst mal die formalen Fragen: Wo ist die Praxisgebühr? Wie war deine Fahrt? Wie geht’s dir so? Und, ganz wichtig: Wie geht’s eigentlich mir so?»

«Mir geht’s bombe und dir auch. Außerdem bist du fett geworden.»

«Das mußt ausgerechnet du sagen.»

Der Formalitätenaustausch drohte leicht aus dem Ruder zu laufen, aber dafür, daß wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen hatten, war das Update schnell vollzogen.

Hollo wohnte noch immer im Haus seiner Eltern, und dafür hatte er eine einleuchtende Erklärung – sie waren gestorben: «Beide Krebs, zack, weg.» Das tat mir ein bißchen leid, ich kannte die alten Hollenbachs von früher und hatte sie in guter Erinnerung, weil sie unsere Band immer in ihrem riesigen Weinkeller proben ließen; was ihrem Verhältnis zur Nachbarschaft nicht gerade zugute kam.

Dr. Hollenbach saugte hungrig an seiner Zifte und berichtete von seinen immensen beruflichen Erfolgen. Daß er zur Wendezeit in Berlin Medizin studierte, setzte er als bekannt voraus; nicht bekannt war allerdings, ob er jemals praktizierte. Durch ihn herbeigeführte «Spontanheilungen» habe es durchaus gegeben, behauptete er, Dankesschreiben aus aller Welt lägen vor. Aufgrund der «Korruption», ja des «Intrigantentums» in der Heilberufssparte habe er den Arztkittel jedoch vor geraumer Zeit an den Nagel gehängt und die Branche gewechselt. Seit einigen Jahren betreibe er nun ein Bühnentechnik- und Beleuchtungsunternehmen, die Firma «Hollo Stage & Sound», deren künstlerischer Direktor, Cheftechniker und einziger Angestellter er sei. Dies zu seiner größten Zufriedenheit.

Ich fand es erstaunlich, daß Hollo arbeitete und wahrscheinlich sogar davon leben konnte. Viele meiner Bekannten waren über die Jahre zu «urbanen Pennern» geworden, wie man das jetzt ja wohl nennt, zu unterbeschäftigten Kreativarbeitern, die am Rand der Städte und des Existenzminimums vegetieren, dafür aber auch nicht regelmäßig arbeiten müssen. Ich muß auch nicht regelmäßig arbeiten, doch hauptsächlich deswegen, weil ich Leute um mich geschart habe, die an meine Autorität glauben und für mich ackern – damit ich am Rand der Stadt weit oberhalb des Existenzminimums in einem Loft vegetieren kann.

So berichtete ich von meinen ungeheuren beruflichen Erfolgen, von der Internetfirma, die ich unterhielt, von der großen Zahl an Frauen, die ich nicht mehr unterhalten mußte und wollte, ja überhaupt von meinen mikro- und makroökonomischen Erkenntnissen. Der Dokter rutschte immer ungeduldiger in seinem Chefsessel hin und her.

«Du redest jetzt schon seit Stunden, aber als dein Arzt muß ich dir sagen: Du hast nicht mehr viel Zeit.»

Schwach funzelte die Novembersonne in das Büro am Stadtrand von Hellingen und kämpfte sich mit letzter Kraft durch den aufquellenden Revalsmog. Rauchschwaden schlichen umher, umschmiegten die Blechregale an der Wand, in denen allerhand elektrischer Sperrmüll vor sich hin rottete, Kabel, Stecker, Mischpulte, Scheinwerferteile und festmeterweise verdreckte, gammelnde Bücher. Aus einem verstaubten Waschbecken ragte mahnend das Skelett eines Gummibaums. Darüber ein verwittertes Plakat mit einem Südsee-Sonnenuntergang, trommelnden Hippies am Strand und den Worten «GOMERA – die Kolumbusinsel». Zwei Beine des riesigen Schreibtischs waren amputiert und durch geschickt gestapelte, nach oben sich verjüngende Büchersäulen ersetzt worden. Auf der Tischplatte lagerten Bierdosen, volle Aschenbecher, leere Medikamentenpackungen und ein in Sterlingsilber gefaßtes Porträtfoto des Arztes.

Und während ich noch überlegte, ob ich Hunter S. Thompsons Tatsachenroman «Angst und Schrecken in Las Vegas» gefahrlos aus dem stützenden Stoß herausziehen konnte und wie der Feldscher das mit der wenigen Zeit wohl meinte, was das überhaupt alles zu bedeuten hatte, ob er mir nur eine Woche, einen Monat oder gar ein halbes Jahr gab und wozu eigentlich, währenddessen stocherte Hollenbach im Aschenbecher nach einem freien Plätzchen für die Kippe, drückte sie aus und schaute mich aus rot aquarellierten Augen an: «Keine vierundzwanzig Stunden.»

Wie aus dem Nichts, um nicht zu sagen: «direkt aus dem Nichts» habe heute morgen Rolf Nippwerth angerufen, «die alte Frickelsau», und umständlich erklärt, daß er schon seit Jahren nicht mehr hier in Hellingen wohne, was ihm, Hollenbach, «arschklar» gewesen sei, sondern ganz woanders und ganz allein, und daß eben gerade und wiederum wie aus dem Nichts Itty Lunatic bei ihm, Rolf, aufgetaucht sei, und nun – an dieser Stelle habe jedoch Itty die Herrschaft über das Telefon erlangt und hastig hineingehustet, daß sie «spätestens» in vierundzwanzig Stunden den Rest der alten Band bei Rolf sehen wolle, es ginge «auf Leben und Tod» – obwohl es eigentlich «um Leben und Tod» heißen müsse, flocht Hollenbach ein –, sie jedenfalls, Itty, würde uns in Rolfis Haus erwarten, und darüber hinaus erwarte sie, daß «wir alle»– und mit «wir» habe sie unmißverständlich Gruppe Senf gemeint, unsere alte Band, und zwar «ausschließlich» unsere alte Band, also «ausdrücklich ohne NJN» –, daß wir alle in naher Zukunft wieder zusammen spielen würden, «schon in wenigen Tagen», wenigstens für ein einziges Konzert.

Genaueres folge dann vor Ort.

Und «Wehe!» habe sie noch gesagt, «wehe, eine von euch Pfeifen kneift!» Mit dieser subtilen Drohung habe sie den Anruf beendet.

«Aha», sagte ich.

«Genau.»

«Klang sie verrückt?»

«Sagen wir’s so: Sie klang verwirrt, aber entschieden.»

«Also normal.»

«Sag ich doch.»

«Gut. Dann fahren wir eben zu Rolf. Jetzt sofort!»

Anstatt frisch aufzuspringen, lehnte sich Dr. Hollenbach jedoch derart zufrieden in seiner Sesselruine zurück, als sei sein gesamter Rücken mit Millionen erregbarer Lustnoppen überzogen.

«Weißtu, es gibt da noch ein Problem. Als Arzt würde ich sogar von Komplikationen sprechen.» Verwegen saugte er das letzte Leben aus seiner Reval.

«Mach’s halblang.»

«Ich weiß nicht, ob du’s schon wußtest, aber Rolf …»

Er machte eine Kunstpause.

«Rolf wohnt in der Zone.»

«Aha. Und was soll das für eine Zone sein? Eine Brandschutzzone, eine Fußgängerzone?»

Er war ehrlich verblüfft. «Na, in der DDR.»

Jetzt war ich verblüfft. «In der Ostzone?!»

«Halb so wild, Zombie.»

«Laß das ‹Zombie›, laß es einfach. Du weißt, wie ich es hasse, und du weißt, wie ich heiße.»

«Okay, Zombie, ich laß es. Rolfi wohnt jedenfalls drüben.»

Daß unser Keyboarder nach dem Abitur das Weite gesucht hatte, wußte ich. Doch Hellingen war nicht gerade klein. Rolf hätte also, um die Stadt zu verlassen, durchaus nach Hellingen-Sontheim ziehen können, vielleicht auch nach Hellingen-Frankenbach, Hellingen-Horkheim oder Hellingen-Klingenberg, möglicherweise sogar Hellingen-Neckarsulm, obwohl, Moment: Neckarsulm gehörte doch gar nicht mehr zu Hellingen, wohl aber Hellingen-Ost 

«In Thüringen irgendwo», unterbrach Hollenbach meinen Gedankengang. «Kölleda heißt das Nest», präzisierte er, und es schien, als könne er sich die Tragweite dieser Tatsache erst durch das Abspulen eines Mantras richtig bewußt machen: «Kölleda in Thüringen in der Zone.»

Keine Ahnung, wo das sein sollte, aber irgendwie war ich von dem Plan sofort begeistert. Zwar würde es nicht gerade ein Kinderspiel werden, die ehemaligen Mitglieder der unbegabtesten, zerstrittensten und hoffnungslosesten Punkrockband Deutschlands mehr als zwanzig Jahre nach ihrer

für

«Das bedeutet mir gar nichts», sagte ich cool, «vielleicht fahre ich überhaupt nicht mit.»

«Wieso?»

«Wegen Hector.»

«Egal, worum es ging: Entweder war er dagegen, weil er nicht im Mittelpunkt stehen konnte, oder er war dagegen, weil er besoffen war. Oder beides.»

«So, hat er den?»

«Tot? Hector? Ach …»

«Verkehrsunfall. Ist überfahren worden.» Hollos Stimme sackte weg. «Von einem Ostler.»

«Wir müssen da drüben eben total vorsichtig sein», sagte ich. «Also los jetzt! Fahren wir in die Zone!»

«Ist noch einer gestorben?»

«Wieviel?»

«Macht nix. Ich kann ja fahren.»

So kamen wir nicht weiter, ja nicht mal weg. Ich hieß meinen Arzt den Computer hochfahren und online zu gehen, dann legte ich meine Kreditkarte bereit. «Auto ist kein Problem, ich besorg uns eins. Wir nehmen ein möglichst fettes Teil, damit die Ostzonalen ordentlich Respekt haben.»

«Genau, irgendeine Riesenmaschine. Aber auf keinen Fall BMW, Bayernschüsseln sind uncool», statuierte der Arzt, während ich durch die Google-Homepage stocherte. «Ach was, nimm lieber was Kleines. Alles andere sprengt mein Budget.»

«Echt? Dann hol uns einen Daimler, den größten, den es gibt. Die neue S-Klasse! Einen richtigen fetten Benz-Bomber!»

«Sammeln des Wagens in Zweig-Wirtschaft Hellingen, Ihrer Taxi-Anreise ist im Bonus-Programm enthaltet. Ihrer Rate ist einschließend aller zwangsmäßigen Versicherung total 0,00 Euro, dies beinhaltend: Kollision Schaden Verzichterklärung Versicherung (CDW mit einem Überfluß), Befreien Diebstahl Schutz Versicherung, Mehrwertsteuer @16 %, Unbegrenzte Freie Zurückgelegte Meilenzahl, Dritte Partei Haftung Versicherung, Straße Karte von Deutschland und 24 Stunde Frieden von Gemüt Zerlegung Decke.»

Hollo sagte nichts, aber ich konnte genau sehen, wie beeindruckt er war.

«Raucherfahrzeuge führen wir nicht», hatte der teigige junge Servicemann hinter seinem Serviceschalter gesagt und sich die servicefarbene Krawatte zurechtgeschoben. «Wir sind ein internationales Unternehmen, unsere Leihfahrzeuge sind grundsätzlich Nichtraucherfahrzeuge. Wenn der Rauchmelder anspringt oder der Zentralcomputer eingreift, bleibt das Fahrzeug stehen, und der Kunde trägt die Abschlepp- und Wiederingangsetzungskosten. Durch rauchfreie Wagen das Lebensgefühl steigern – das ist unsere Philosophie.»

«Ich kann es mir denken.»

«Bestimmt, Herr Hollenbach, aber wir haben auch unsere Bestimmungen. Alle unsere Fahrzeuge sind Nichtraucherfahrzeuge.»

«Sie sind ein braver junger Mann», lobte sanft der Heiler. «Ich wünschte, ich hätte Sie schon bei früherer Gelegenheit kennengelernt.»

  

 

Ich hatte Gefallen daran, plötzlich wieder ein echter Rockenroller zu sein. Zwar ging es mir ja ganz leidlich, nur an manchen Tagen fühlte ich mich seltsam, verbufft, malade, falsch abgelegt. Meistens an Tagen mit einem G hintendran. Doch ab heute würde alles ganz anders sein. Grimmig grinsend würde ich den ollen Abwasch einfach stehenlassen, nachts überall das Licht brennen lassen und mit einem unendlich überlegenen Lachen Pfandflaschen in den Altglascontainer pfeffern. Ein Gefühl, das kein Spießer je kannte. So würden wir beide, mein Freund Hollo und ich, wild und verwegen den großen deutschen Traum leben.