Wolfgang Sandner

Miles Davis

Eine Biographie

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

Eins Zur rechten Zeit

Zwei Spielend lernen

Drei Auswandern

Vier Das Fremde und das Eigene

Fünf Die Renaissance

Sechs Die Meisterschaft

Sieben Das Gravitationszentrum

Acht Die große Pause und die letzten Jahre

Neun Das Erbe

Diskographie

Bibliographie

Bildnachweis

Danksagung

 

für gábor und bálint

Vorwort

Jedes Instrument ist die Verlängerung der Zunge. Immer wieder muss man sich das bewusstmachen, wenn man es mit musikalischen Künstlern zu tun hat. Musiker reden, wenn sie spielen. Und sie haben oft nichts zu sagen, wenn sie reden. Man sollte nicht enttäuscht sein, wenn man mit ihnen spricht und nicht das erfährt, was man wissen will. Man sollte sich lieber anstrengen zu verstehen, was sie sagen, wenn sie spielen.

Es war im Jahr 1960. Miles Davis gastierte mit seinem Quintett in Deutschland. Die Combo trat auch in der Frankfurter Kongresshalle auf. Etwas faszinierend Unnahbares ging von den fünf Musikern aus, die so stoisch aneinander vorbeispielten, und ich fragte mich, was Miles Davis mir mit seiner Trompetenzunge sagen wollte. Denn für mich stand fest, dass der Trompeter, der da auf der Bühne stand, mir ganz persönlich etwas mitteilen wollte. Aber Miles Davis, dieser große Mystiker, hat mir seine Botschaft nicht direkt in die Hand gedrückt. Er hat sie in eine Flasche gesteckt und ein Etikett daraufgeklebt mit einer Zeile von Dylan Thomas: «O make me a mask». Dann hat er einen Korken auf die Flasche gesteckt und sie ins Meer meines Unterbewusstseins geworfen. Viele Jahre später ist die Flaschenpost am Strand meines Gedächtnisses angespült worden. Ich habe die Flasche geöffnet, die Botschaft gelesen und geglaubt, sie verstanden zu haben.

Dann bin ich wieder in ein Konzert von Miles Davis gegangen und habe seine neueste Aufnahme angehört. Aber dabei habe ich eine Überraschung erlebt. Die alte Botschaft hat mir nichts genützt, denn ich bekam eine weitere Flaschenpost mit einem anderen Inhalt, und die Geschichte begann von Neuem. So ist es mir viele Male mit der Musik von Miles Davis ergangen. Immer wieder Flaschenpost. Heute, fünfzig Jahre nach der ersten Begegnung, weiß ich zumindest, was mit für die Größe von Miles Davis verantwortlich gewesen ist: dass er stets neue Botschaften ausgesandt hat, nie stehenblieb, immer vorauseilte. Ich werde wohl noch Jahre mit seiner Flaschenpost verbringen.

Noch etwas ist mir sofort aufgefallen. Miles Davis begann nicht einfach zu musizieren, er trat auf – wie ein Schauspieler, der sich nicht irgendwie auf die Bühne schlich, sondern mit dem ersten Schritt schon klarstellte: Hier bin ich, und das habe ich zu sagen. Sein Gespür für Dramatik, vor allem wenn er flüsterte, war beispiellos.

Machen wir uns nichts vor, Biographien sind Bekenntnisse. Gegen den eigenen Geschmack, die eigene Anschauung und die eigene ästhetische Vorliebe kann man sich kaum einmal dem Leben und dem Werk eines anderen Menschen annähern. Es gibt wenige Jazzmusiker, die so intensiv gelebt haben, so innovativ gewesen sind, mit ihrem schillernden Werk und ihrem wechselhaften Leben so viele Kontroversen ausgelöst haben wie Miles Davis. Das taugt allemal als Stoff für Biographien. Aber machen wir uns auch darin nichts vor: Es können eben nur Annäherungen sein. Einem verwirrten Interviewer hat Miles Davis schließlich einmal den weisen Satz mitgegeben: «Wenn du alles verstündest, was ich sage, wärst du ich.»

Eins

Zur rechten Zeit

Das goldene und das korrupte, das hektische und das überschäumende, das anarchische und das avantgardistische, das dröhnend ins Verhängnis taumelnde Jahrzehnt: Das waren die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Man nannte sie auch das «Jazz Age». Es begann am 16. Januar 1919 mit der Ratifizierung der achtzehnten Änderung zur amerikanischen Verfassung. Mit ihr sollte ein rigoroses Alkoholverbot durchgesetzt werden. Es wurde die einzige Verfassungsänderung des Landes, die man später wieder aufhob. Und es endete mit dem galoppierenden Kursverfall am 25. Oktober 1929, dem historischen Schwarzen Freitag, an dem die Börse von New York zusammenbrach und die Welt in eine große Depression stürzte.

Den schrägen Rhythmus für dieses turbulente Jahrzehnt, von dem vergnügungssüchtige Zeitgenossen hofften, es würde ewig dauern, hatten die Ragtime-Pianisten vorgegeben. Danach war nicht mehr genau auszumachen, ob die Jazzmusiker den Takt für den kollektiven Tanz auf dem Vulkan bestimmten oder doch eher die Gangstersyndikate, die den Jazz als Tarnkappe für ihre dubiosen Geschäfte in den illegalen Saloons und Flüsterkneipen, den Bordellen und Tanzhallen benutzten. Aber wie man auch immer die Szene beurteilen mag, in jenen Tagen profitierten Jazz und Halbwelt voneinander und bildeten eine unauflösliche, auch für die bürgerliche Gesellschaft attraktive Interessengemeinschaft. Wer sich dieser Epoche nähern will, tut gut daran, sich den Klang von Louis «Satchmo» Armstrongs blendender Trompete und Duke Ellingtons exotischem Dschungelstil in Erinnerung zu rufen.

Mitten hinein in dieses «Jazz Age» wurde Miles Davis geboren. Man schrieb das Jahr 1926. Als er knapp fünfundsechzig Jahre später starb, war gerade eine andere Epoche zu Ende gegangen, von der die Welt ebenso angenommen hatte, sie sei für die Ewigkeit bestimmt: der Ost-West-Konflikt und die Teilung der Welt in eine kapitalistische und eine sozialistische Hemisphäre.

Als das Kartenhaus des Sozialismus in sich zusammenfiel, hatte der Jazz seine große Wende schon hinter sich, war der Klang dieser Musik aus den Schmuddelecken amerikanischer Großstädte emporgestiegen und zur internationalen Kunstform geworden. Zum Tanzen war er nicht mehr geeignet, dafür aber konnte man ihn wenigstens einmal im Jahr gefahrlos zur traditionellen Gala im Weißen Haus präsentieren. Es sei denn, eine Eartha Kitt, die man fälschlicherweise für eine naive Diva und arglose Nachtclubsängerin gehalten hatte, brüskierte die geladene Gesellschaft um die Präsidentengattin Lady Bird Johnson mit der kritischen Erwähnung eines irrsinnigen Vietnamkriegs.

An dieser Entwicklung des Jazz vom Entertainment zur engagierten Kunst hatte Miles Davis, der schwarze Trompeter aus gutem Hause, wesentlichen Anteil. Vielleicht war er sogar der Musiker, der mehr als alle anderen die Unabhängigkeit des Jazz wie seiner Interpreten vom Unterhaltungswesen verkörperte. Mehr noch als Satchmo, der sich zeitlebens nicht vom ungerechten Image eines Onkel Tom des Jazz befreien konnte und dessen weißes Taschentuch auf viele Schwarze wie eine Fahne der Kapitulation wirkte. Mehr noch als Benny Goodman, der als Klarinettist von Werken Mozarts und Bartóks ohnehin in die Carnegie Hall gehörte. Und sicherlich auch mehr als Charlie Parker, einer der größten Revolutionäre und einflussreichsten Saxophonisten der Jazzgeschichte. Sein schockierender Lebenswandel war kaum dazu angetan, die immer noch schwelenden Vorurteile einer bildungsbürgerlichen Mittelschicht vom Jazz als einer schlechten Musik für schlechte Menschen aufzulösen.

Miles Davis kam zur rechten Zeit. Er war im Jahr 1945 schon alt genug, um noch mit Charlie Parker zusammenspielen zu können, der an der Spitze der Jazz-Avantgarde marschierte und jene das Fürchten lehrte, die den gleichmäßig schwebenden Swing als den heiligen Gral des Jazz hüteten. Und er war mit neunzehn Jahren doch noch so jung, dass er sich seinen eigenen Weg aus dem Fangnetz des synkopierten Viervierteltaktes und der Akkordfortschreitungen suchen konnte. Das sagt sich freilich leicht: zur rechten Zeit. Wer zur rechten Zeit an der rechten Stelle ist, besitzt ein waches Bewusstsein für das spezifische Parfum einer Epoche, für Atmosphäre und Strömungen – nicht nur in der Kunst. Miles Davis hatte viele Charaktereigenschaften, die ihn zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit im Jazz werden ließen. Eine seiner hervorstechenden Fähigkeiten war sein Gespür für Klimawandel, eine andere seine übernatürliche Empfänglichkeit. Er konnte das Gras wachsen hören.

Seine gestopfte Trompete war schon in den ersten Tagen des Cool Jazz Ende der vierziger Jahre so etwas wie das Erkennungsmerkmal des neuen Stils aus Amerika geworden. Im Soundtrack zu dem Thriller «Fahrstuhl zum Schafott» von Louis Malle aber kamen Klang und Zeitgeist, wenn man so will: die schwermütige Trompete von Miles Davis und die neorealistische Nouvelle Vague aus Europa, erst vollends zur Deckung. Bei seinem Paris-Aufenthalt Ende 1957 hatte er die Musik durch Vermittlung des Schriftstellers und Trompeters Boris Vian in einer einzigen Nacht mit französischen Jazzmusikern improvisiert, als sei er ein Nachfahre jener Lichtspielmusikanten, die um die Jahrhundertwende Stummfilme live begleiteten. Louis Malle hat später erklärt, erst durch die Musik von Miles Davis habe der Film seinen Charakter bekommen, nicht weil sie die Handlung kommentierte, sondern weil sie ihm eine weitere, elegische Qualität hinzufügte.

Der gedämpfte Trompetenton von Miles Davis war so eigentümlich und hat in jener Zeit so viele Nachahmer gefunden, dass er bis heute ausreicht, ein Epochengefühl heraufzubeschwören; ähnlich den Ragtime-Synkopen eines Scott Joplin für die Stimmung der Jahrhundertwende oder wie der Saxophonsatz mit führender Klarinette im Orchester Glenn Millers für die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit. Zum Klima der späten fünfziger und beginnenden sechziger Jahre, dem Aufstieg John F. Kennedys und dem globalen Stimmungsumschwung im Zeichen einer bewusst nur auf sich selbst schauenden Jugend, gehören diese ins unendlich Innere zielenden Klänge so fraglos dazu wie die ratternde, in Europa mit angemessener Verzögerung wahrgenommene Straßenpoesie von Jack Kerouac, das unergründlich melancholische Gesicht von Charles Aznavour und eine sich zwischen Jules und Jim schaukelnd emanzipierende Jeanne Moreau.

Als Miles Davis Ende der sechziger Jahre mit seinem Album Bitches Brew die Sturmglocken des Rockjazz läutete, seinen grauen Anzug mit hautengen Lederhosen und Fransenhemden vertauschte, den Konzertflügel durch ein elektrisches Fender-Rhodes-Piano, das Schlagzeug durch eine Geräuschbatterie ersetzte und alles durch gigantische Verstärker und Hallgeräte jagte, war der Effekt ein ähnlicher. Da hörte Miles wohl schon voraus, was kommende Generationen, die mit Computer, Mobiltelefon und elektronischem Equipment aufwachsen, als ihre akustische Welt zu identifizieren bereit sein würden.

Aber auch noch in anderer Hinsicht besaß Miles Davis ein untrügliches Empfindungsvermögen: für das Verhältnis von Weißen und Schwarzen in einer Gesellschaft, die der afro-amerikanische Schriftsteller James Baldwin einmal als die noch zu vereinigenden Staaten klassifizierte. Es muss Miles Davis sehr getroffen haben, von der falschen Seite des Rassismus bezichtigt worden zu sein. Den Vorwurf aber, er beschäftige in diesen kritischen Nachkriegsjahren mit dem Altsaxophonisten Lee Konitz einen weißen Musiker, wo doch so viele schwarze Brüder arbeitslos seien, hat er mit jener schroffen Souveränität zurückgewiesen, die manche Beobachter als Arroganz missverstanden. Es sei ihm egal, ob ein Musiker schwarz, weiß oder grün sei und Feuer spucke, solange er so gut wie Lee Konitz spiele.

Miles Davis im 30th Street Studio in New York, August 1962.

Miles Davis hat Musiker nie nach ihrer Hautfarbe engagiert und auch nicht nach ihrem Charakter. Sonst hätte er mit vielen, Charlie Parker an erster Stelle, überhaupt nicht zusammenspielen dürfen. Aber natürlich war er sich seiner Herkunft und der bevorzugten Hautfarbe jener Gesellschaft, in der er sich aufhielt, wohl bewusst. Früh schon hat er all die Kopfkissentheoretiker und Muttermilchexperten – diesseits und jenseits des eigenen ethnischen Lagers – in die Schranken gewiesen. Sie, die schon immer zu wissen glaubten, dass man Bluesgitarre nur lernen könne, wenn man mit dem Instrument schlafen gehe, Jazzmusik aber überhaupt nur jene beherrschten, die an der Brust einer schwarzen Mutter aus den Südstaaten auf natürliche Weise mit dem Gefühl für diese Musik versorgt worden seien.

An der angesehenen Juilliard School of Music in New York, wo Miles nur kurz studierte und keinen Abschluss machen wollte, wurde eines Tages die Entstehung des Jazz zum Thema gemacht. Die Dozentin setzte ein abenteuerliches Puzzle aus staubigen Straßen, schummrigen Kneipen, abgebrochenen Flaschenhälsen, blinden Bettelmusikanten und ausgebeuteten Landarbeitern zu einem allzu schlichten Gesellschaftspanorama zusammen. Miles Davis meldete sich zu Wort und sagte, er stamme aus einer reichen Familie, sein Vater sei Zahnarzt in East St. Louis und er selbst habe nie in seinem Leben ein Baumwollfeld gesehen. Aber was eine Blue Note sei und wie man sie spiele, wisse er genau. Offenbar war die Sache doch etwas komplizierter, als es sich eine wohlmeinende Pädagogin vorgestellt haben mag. Auch wenn Miles Davis in seiner Beschreibung des Vorgangs offensichtlich übertrieb, sie zeigt dennoch, wie allergisch er reagieren konnte, wenn es um kulturelle Identität ging. Er bekam Hautausschlag, wenn sich Außenseiter in die inneren Angelegenheiten seiner Musik und seiner Herkunft einmischen wollten.

Hierzu muss man sich vielleicht ein paar Fakten in Erinnerung rufen, um zu verstehen, was Schwarze in der amerikanischen Gesellschaft zu spüren bekamen und was auch zur Erfahrung eines berühmten schwarzen Künstlers gehörte, unabhängig von seinem herausgehobenen Status auf der Bühne. Beim weltweit aufsehenerregenden Busboykott in Montgomery, Alabama, hatten schwarze Bürgerrechtler, unter ihnen Martin Luther King, nicht weniger als 381 Tage massiv protestieren und nahezu die städtische Infrastruktur lahmlegen müssen, bis die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln nach etlichen gerichtlichen Urteilen schließlich im Juni 1956 für nichtig erklärt wurde – Schwarze mussten bis dahin noch nach Aufforderung ihre Sitzplätze für Weiße räumen, vorn im Bus bezahlen und dann wieder aussteigen, um im hinteren Teil ihre Plätze zweiter Klasse einzunehmen. Erst 1965 wurde der Voting Rights Act unterzeichnet, durch den auch ärmere und weniger gebildete Afro-Amerikaner zur Wahl gehen konnten.

Schließlich hob der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten erst 1967, als Barack Obama sechs Jahre alt war und Jimi Hendrix in Monterey auftrat, das Verbot der Rassenmischung in Virginia auf. Als ein selbstbewusster Kenianer vom Volk der Luo und eine schüchterne Weiße aus Kansas – Obamas Eltern – im Jahr 1961 heirateten, war das gemischtrassige Zusammenleben in mehr als der Hälfte aller amerikanischen Bundesstaaten noch ein Straftatbestand. Es gehört zu den Qualitäten eines Buches wie «Dreams from My Father» aus dem Jahr 1995, der frühen Autobiographie des ersten afroamerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, ohne jede Bitterkeit und rückwirkende Anklage auch solche Sachverhalte dargelegt zu haben.

Schwarze Musiker könnten Enzyklopädien mit paradoxen Szenen dieser Art aus der amerikanischen Gesellschaft füllen. Auch Dizzy Gillespies Autobiographie «To Be, or not … to Bop» ist voll mit Geschichten vom nahezu schizophrenen Alltag seines Landes. 1956 wurde er als erster Jazzmusiker vom amerikanischen Außenministerium rund um den Globus auf alle Kontinente als hochoffizieller Botschafter guten Willens geschickt. Ein paar Jahre später sollte er in die «Hall of Fame» seines Heimatstaates South Carolina gewählt werden. Die interne Abstimmung dazu hatte er gegen einen General und einen Kardinal für sich entschieden. Als er in seinem Geburtsort Cheraw, wo sogar eine Straße nach ihm benannt worden war, vor der Verkündung der Auszeichnung schnell noch zum Friseur wollte, wurde ihm verkündet: «Sorry, Sir, wir schneiden keine farbigen Haare.» Um die Geschichte komplett zu machen, hätte eigentlich nur Sir durch Boy ersetzt werden müssen.

Wenn man sich solche Situationen und Erfahrungen bewusstmacht, versteht man vielleicht auch die Sehnsüchte, die aus Pannonica de Koenigswarters postum erschienenem Buch mit dem lakonischen Titel «Die Jazzmusiker und ihre drei Wünsche» hervorgehen. Baronesse Pannonica, eine geborene Rothschild, die schillernde Eminenz in der grauen Existenz mancher New Yorker Künstler, hatte in den Jahren 1961 bis 1966 dreihundert Jazzmusikern die einfache Frage gestellt, was ihnen einfiele, hätten sie drei Wünsche frei. Dass überhaupt so viele Musiker eine derart schlichte Idee mit ihren Antworten adelten und das Werk so zu einem überraschenden Zeitdokument werden ließen, ist nur zu verstehen aus der Stellung der Autorin als einer Art Florence Nightingale des Jazz in Amerika.

Für viele, vor allem schwarze Musiker in künstlerischen Krisen und sozialen Extremsituationen, wurde Pannonica, genannt Nica, zum letzten Halt vor dem Ruin. Ihre Hotelzimmer und Wohnungen waren Zufluchtsstätten etwa für den physisch völlig heruntergekommenen Charlie Parker kurz vor seinem Tod im Alter von fünfunddreißig Jahren. Thelonious Monk verdankt ihr, dass er nicht wegen Drogenbesitzes ins Gefängnis musste und seine für Auftritte in New Yorker Clubs unentbehrliche Cabaret Card zurückbekam. Durch sie hat er schließlich neun Jahre lang bis zu seinem Tod an einem eigens für ihn erworbenen Steinway unbehelligt von der Öffentlichkeit arbeiten und komponieren können. Wer weiß, was aus all den mehr oder weniger offensiv und öffentlich diskriminierten, stets am ökonomischen Abgrund existierenden Musikern geworden wäre ohne Pannonica de Koenigswarter – aus dem depressiven Junkie Bud Powell und dem Epileptiker Coleman Hawkins, dem lungenkranken Pianisten Barry Harris, dem ungehobelten, von Selbstzweifeln geplagten Art Blakey und einer ganzen Phalanx kompromisslos avantgardistischer Jazzmusiker.

Der Name Nica oder ein versteckter Hinweis auf die großzügige Baronesse tauchen nicht umsonst als Widmung in zwei Dutzend Kompositionen auf, etwa in «Nica’s Dream» von Horace Silver und «Tonica» von Kenny Dorham, in «Thelonica» von Tommy Flanagan oder in dem kryptischen «Weehawken Mad Pad» von Thelonious Monk, das von Art Blakey’s Jazz Messengers in New York aufgenommen wurde und mit zusätzlichen Einspielungen eines Quintetts von Monk selbst im hochgelobten Soundtrack von Roger Vadims Verfilmung «Les Liaisons dangereuses» aus dem Jahr 1959 Verwendung fand.

Die Antworten auf die drei Fragen aus dem Buch von Pannonica de Koenigswarter aber lassen gerade in ihrem lakonischen Gestus umso deutlicher auf die Situation von Jazzmusikern in einer Gesellschaft schließen, die den Wert des Jazz als Kunst möglicherweise akzeptieren konnte, den Akteuren aber eine entsprechende soziale Stellung permanent verweigerte. Hank Mobley sehnte sich nach Aufführungsorten mit solchen Klavieren, die den Namen auch verdienten und die für einen Rudolf Serkin, eine Martha Argerich oder einen Glenn Gould Selbstverständlichkeit gewesen sind. Joe Williams wünschte sich, man solle nicht nur über jene Jazzmusiker berichten, die auf Drogen sind oder auf sonst irgendeine Weise entgleist seien, sondern ebenso oft auch von jenen, die Tag für Tag und Jahr für Jahr ihre Familien ernähren. Das seien immerhin mehr als fünfundneunzig Prozent aller Jazzmusiker. Miles Davis aber hat das Dilemma mit drei Worten auf den Punkt gebracht. Sein zynischer Wunsch lautete: «Weiß zu sein.»

Miles Davis war ein Seismograph. Er registrierte alle unterirdischen Beben seiner Zeit. Und mit seinem Instrument zeichnete er alle überirdischen Schwebungen dazu peinlich genau auf. Er wusste, wann es Zeit wurde, seine Vaterstadt zu verlassen und den Ort aufzusuchen, der im Grunde immer schon der rechte Platz für Jazz gewesen ist: New York, die Vierundzwanzig-Stunden-Stadt mit ihrem Presslufthammerdruck auf jeden und besonders auf Musiker, die hier alles sein konnten, nur nicht unangefochten und allein. Aber in New York setzte er sich nicht in ein Straßencafé in der Bleecker Street im Village, um Beatnik-Poeten bei ihren einsamen Vorlesungen aufmunternd zuzunicken. Er ging nicht in einen der Clubs auf der 52nd Street, nicht ins Three Deuces, ins Onyx oder in Kelly’s Stable, um irgendwelchen guten Musikern bei ihrem Kampf zuzuhören, die Besten zu werden. Natürlich spielten da oft die Giganten: Coleman Hawkins, Lester Young, Don Byas und später auch er selbst. Aber auf der Street konnte man vor allem Geld verdienen und von weißem Publikum und weißen Kritikern bestaunt werden.

Miles Davis wollte mehr. Er suchte den König. Er war in die Stadt gekommen, um mit Charlie Parker zu spielen. Den aber konnte er eher oben in Harlem in Smalls’ Paradise, in Monroe’s Uptown House oder auf der 118. Straße zwischen St. Nicholas und der Seventh Avenue finden, in Minton’s Playhouse, dem mythischen Lokal, in dem bei Jam-Sessions montagabends die Lanzen gebrochen wurden und ein vielsagendes Lächeln von Parker oder Dizzy Gillespie über Karrieren und Existenzen entschied.

Miles Davis wusste das. Und er wusste es, weil er aus den «Roaring Twenties» kam und sich selbst mit dem Jazz musikalisch entwickelt hatte. Der Klang von großen Swing-Orchestern aus seiner Kindheit lag ihm noch im Ohr. Er wurde in jenem Jahr zwölf, in dem Benny Goodman sein legendäres Carnegie Hall Concert gab, bei dem sich die ehrwürdige New Yorker Halle nach dem Schlagzeugsolo von Gene Krupa über Louis Primas «Sing, Sing, Sing» in einen Hexenkessel verwandelte. Da hatte der junge Miles schon ein paar Jahre Trompetenunterricht bei einem Patienten seines Vaters in East St. Louis erhalten. Wiederum drei Jahre später gehörte der Sechzehnjährige schon als semiprofessioneller Musiker zu Eddie Randle’s Blue Devils Band. Und natürlich ist an seinen spitzen Ohren nicht spurlos vorübergegangen, dass die großen Swingorchester sich im Lauf der Jahre und durch das gesteigerte Interesse einer breiten Öffentlichkeit immer mehr wie gutgeölte Musikmaschinen anhörten.

So wurde – zumindest für diejenigen, die an Kunst und nicht so sehr an Tanzvergnügen interessiert waren – das Bedürfnis nach einem kleinen musikalischen Schluckauf, nach einem ganz persönlichen, expressiven Seufzer durch die Cis-Klappe eines Altsaxophons immer größer. Nicht von ungefähr war im Swing schon die Zeit der großen Jazz-Solisten angebrochen, von Lester Young und Coleman Hawkins, von Benny Goodman, Lionel Hampton und Buck Clayton. Doch das intimste Saxophonsolo über «Body and Soul», der ekstatischste Schlagzeugchorus zu «Let’s Dance», das kunstvollste Klangfarbenarrangement für «Mood Indigo» oder der rollendste Boogie-Rhythmus für «One O’Clock Jump» halfen nichts. Der Jazz wurde immer populärer und immer kalkulierbarer. Swing, das war schließlich nichts anderes mehr als Musik von der Stange. Dem schoben die bösen Revoluzzer des Bebop in Minton’s Playhouse einen Riegel vor.

In Harlems Lokalen wurden bei den «After Hour Sessions» der Rebellen nach ihren regulären Engagements in Show- und Tanzorchestern aber keine Zehn-Punkte-Programme der musikalischen Revolution verabschiedet. Der Bebop hatte – wie im Grunde alle Stile des Jazz – eine unmerkliche, wenn auch keine schmerzfreie Geburt zu überstehen gehabt. Was in der Zeit während des Zweiten Weltkriegs wirklich geschah, lässt sich offensichtlich im Nachhinein nur noch verklären. Wegen des allgemeinen Aufnahmestopps für Schallplatten durch den Streik der Musikergewerkschaft gibt es kaum Tondokumente zwischen 1942 und 1944. Aber wie die Musik auf die Zeitgenossen wirkte, kann man aus den vielen Ketzereivorwürfen der damaligen Kritik, auch von konservativen Musikern, herauslesen.

Bebop sei nichts als eine launenhafte und neurotische Folge von Effekten um ihrer selbst willen, lautete das gängige Urteil. Als ob das mittlerweile bedenkenlose musikalische Siebdruckverfahren der Swingbands nicht viel eher zu kritisieren gewesen wäre. Was die Bebopper wollten, hat Charlie Parker in einem Interview 1949 erklärt: «Man sagt uns, es gäbe für Musik eine Grenze. Aber, Mann, es gibt keine Grenze für Kunst.» Parkers Allerweltssatz markiert für den Jazz einen gravierenden Einschnitt. Jazz als Kunstform, der Jazzmusiker als autonomer Künstler, das sind Vorstellungen, die erst zu dieser Zeit Mitte der vierziger Jahre, als Miles Davis seine Musikerlaufbahn begann, aufgekommen sind. Die sogenannten Bebop-Verrücktheiten – schier endlose Improvisationen, willkürlich scheinende Soloeinsätze, tonale Schwebezustände, rhythmische Komplexität und ja keine Zugeständnisse, nicht für die Mitspieler und schon gar nicht ans Publikum – waren Gegenpositionen zur glatten Funktionalität des Big-Band-Sounds und zum technischen Schliff des «Commercial Jazz».

Musiker wie Charlie Parker oder Thelonious Monk waren notorisch unangepasst, bewegten sich immer am Rande einer sanften Form von Wahnsinn. Der idealistischen Maxime, Kunst komme von Können, hatten sie sich nie verpflichtet gefühlt. Sie hielten es mehr mit Arnold Schönbergs Anspruch, Kunst komme von Müssen. Charlie Parker blies sein Saxophon nicht, er schrie damit, er brüllte, er schüttete ganze Eimer glitzernder Töne auf die Straße, um für sich und den Jazz einen Weg aus der Sackgasse des Swing zu finden. Er lebte im Untergrund Amerikas, seine Mahlzeiten – Dutzende von Tacos mit scharfer Soße, hinuntergespült mit Unmengen von Whisky – nahm er am Schnellimbiss ein. Er stolperte über Abfalleimer, wenn er nach Hause ging, und er zog die Vorhänge zu, bevor er hinüberdämmerte in einen Zustand, der ihn auffraß wie ein Krebsgeschwür gesundes Gewebe. Mit fünfunddreißig, wie Mozart, starb er: ein König im Jazz und ein Nichts für die geschlossene Gesellschaft der Park Avenue.

Die Musiker wussten, was sie an ihm hatten. Sie verehrten ihn wie einen Thomas Jefferson des Jazz; der Bebop war die kulturelle Unabhängigkeitserklärung des schwarzen Amerika. Wirklich bewusst wurde es den meisten erst viel später. Die paradoxe Befürchtung Schönbergs, die Nachwelt werde durch Übertreibung schlechtmachen, was seine Zeit an ihm durch Vernachlässigung gut gelassen habe, trifft auch auf Charlie Parker zu, den sie Bird nannten. Ein Jahrzehnt nach Parkers Tod meinte der Pianist Lennie Tristano, wenn Bird Plagiatsklagen angestrengt hätte, nahezu jedermann, der in den vergangenen zehn Jahren eine Schallplatte veröffentlicht hatte, wäre vor Gericht gestellt worden. Das aber trifft auf alle Giganten des Jazz zu, von denen kaum je einer Unterricht gab und die doch alle Schule gemacht haben.

Miles Davis fand den König vor dem Heat Wave, einem Club auf der 145. Straße, der in der Geschichte des Jazz in Harlem ansonsten keine große Rolle spielte. Man schrieb das Jahr 1944. Charlie Parker legte seinen Arm um Miles und betrat das Lokal. Von da an gehörte der junge Trompeter aus East St. Louis zur Creme des Jazz in New York. Er hatte seine Ausbildung an der Juilliard School nie zu Ende gebracht, bis zum Abbruch aber doch so viel gelernt, dass er sich auch dadurch von den meisten anderen schwarzen Jazzmusikern seiner Generation unterschied.

Als die Ära des Bebop Mitte der vierziger Jahre ihren ersten Höhepunkt erreichte, stand Miles Davis am Anfang seiner Karriere, lebte in der richtigen Stadt New York und hatte die besten musikalischen Mentoren, die man finden konnte. Er gehörte nicht zu den Gründervätern dieser revolutionären Musikbewegung, aber er hat sie mitgeprägt. Etwas jedoch in seinem Charakter, in seiner Anschauung und in seiner Art zu spielen passte nicht zum aufbrausenden Stil des Bebop. Auch da hat er das kommende Klangideal, das von ihm ausging, erspürt. Miles Davis war schon im Bebop cool. Aber auch wenn er das nie gern gehört hat: Es gab noch einen anderen Trompeter, der coole Musik repräsentierte und ihm zeitweilig in der Gunst des Publikums den Rang ablief: Chet Baker.

In gewisser Weise waren sie Antipoden, obwohl sie doch so viel gemeinsam hatten, vor allem was die Beziehung zur Trompete angeht. Es stimmt zwar, dass zwischen einem Musiker und dem Instrument seiner Wahl eine starke Affinität bestehen muss. Ebenso wahr ist jedoch auch, dass große künstlerische Leistungen nicht selten gegen Widerstände oder durch die Unvereinbarkeit von Charakteren zustande kommen. Die Trompete ist das extrovertierte Instrument des Jazz schlechthin. Dennoch aber waren einige der größten Trompeter jene, die das Wesen ihres Instruments verleugneten. Bix Beiderbecke, Art Farmer, Kenny Wheeler, Miles Davis und Chet Baker wird man jedenfalls nicht in die lange Reihe virtuoser Schreihälse ihrer Zunft einreihen können, eher zu denen, die das Instrument so gespielt haben, wie man es nicht erwartet.

Der Schwarze Miles Davis und der Weiße Chet Baker, drei Jahre jünger als sein Kollege, haben die Schattenseiten der Trompete bevorzugt. Dabei erschienen sie gelegentlich – um einen Poeten zu zitieren – wie zwei manische Maulwürfe, die ihre Gänge in dieselbe Richtung gruben. Aber auch in anderer Hinsicht lassen sie sich vergleichen. Beide haben den Begriff cool nicht nur in ihrer Musik zum Ausdruck gebracht, sondern auch in ihrer Erscheinung. Und vielleicht hat Miles Davis gespürt, dass der schöne Chet ihm – mit einer kleinen Hilfe durch den Fotografen William Claxton – den Rang als Ikone einer Generation abzulaufen drohte. Claxtons Fotos von Chet Baker im weißen T-Shirt haben dessen viriles Image geprägt. Und sie waren so überzeugend, dass Bruce Weber sie noch dreißig Jahre später zum Vorbild nahm für den in seinen Werbefotos für Calvin Klein geschaffenen Modetypus.

Im wesentlichsten Punkt aber gibt es keine Gemeinsamkeiten: im Platz, den die beiden im Pantheon der Jazzgeschichte einnehmen. Chet Baker war ein einsames Genie. Er wird immer das Engelsgesicht des Cool Jazz bleiben, dem ein Heer von Epigonen folgte. Miles Davis war auch ein Genie, zugleich aber ein Katalysator, ein Bahnbrecher, jemand, der nicht nur sich selbst, sondern das große Ganze im Blick hatte. Chet Baker war der Primus in seiner Klasse. Miles Davis wurde zum Grundsteinleger einer Universität. Und wer sie mit Auszeichnung verließ, der gründete im besten Falle eine neue Universität.

Er selbst hatte die Bebop-Fakultät der Charlie-Parker-Universität in Harlem besucht. Ein schwieriges Studienfach, denn Bebop war eine Musikrichtung, zu der immer mehr Leuten immer weniger einfiel. Nicht einmal mit dem Hinweis auf Duke Ellingtons mystisches «It Don’t Mean a Thing (If It Ain’t Got That Swing)» konnte man dem modernen Ausdrucksideal noch beikommen. Als der Bebop aufkam, standen die Füße still. Ob das am Jazz lag und seinen Musikern oder doch eher an den Zuhörern? Für den scharfsinnigen Zaungast LeRoi Jones, der sich später Amiri Baraka nannte, stand fest, wer da zurückgeblieben war: «Es gibt da im Augenblick eine kleine Gruppe von Clubhabitués, die herumposaunt, sie könne zu dieser Musik die Finger nicht schnalzen. Dazu sage ich: Mit euren Fingern muss was nicht in Ordnung sein.»

Immerhin: Beim Bebop konnte man noch außer sich geraten. Zum Cool Jazz aber, der wie eine Rippe aus dem Körper des Bebop entnommen schien, konnte man nun wirklich überhaupt nichts mehr tun, nicht mehr in Ekstase geraten, nicht mehr verrückt spielen, nur noch in die Struktur der Musik hineinhören. Allerdings gebärdete sich auch der Cool Jazz nicht lediglich als ein musikalisches Phänomen. War es eine stilistische Annäherung an Europa? Radikale Umdenker wie Amiri Baraka verstanden den Begriff cool ganz anders: «Cool sein hieß ruhig, ja unbeeindruckt zu sein bei allem Schrecklichen, das täglich passieren kann. In gewissem Sinn ist diese stoische Unterdrückung des Leidens so alt wie der Eintritt des Negers in die Sklavengesellschaft. Vielleicht hat seine Flexibilität den Neger überleben lassen, seine Fähigkeit, cool zu sein – ruhig, unbeeindruckt, detachiert.»

Bebop und Cool waren die ersten Jazzformen, die nicht mehr allgemein «verstanden» wurden, die sich bis zu einem gewissen Grad einer ästhetischen Geheimsprache bedienten. Gut fünfzehn Jahre später kam es zur zweiten, zur Oktoberrevolution des Jazz, und wieder war sie – als Free Jazz oder Free Music – eingebettet in den größeren Rahmen einer Bewegung, diesmal mit stärkerem politischem Akzent. Der Free Jazz eines Don Cherry oder Ornette Coleman einerseits und die nationalistische Bewegung der Schwarzen in Amerika andererseits, die Überblasorgien des Saxophons und die in den Himmel gereckte Faust in schwarzen Lederhandschuhen wurden als zwei Möglichkeiten einer gemeinsamen kulturellen Demonstration und Bewusstseinsbildung interpretiert. Wiederum zwei Jahrzehnte später hat sich auch diese Bewegung zum Stil und zur Spieltechnik relativiert, wobei der Begriff «Jazz» immer mehr abhandenkam. Im Gewirr der Formenvielfalt zwischen Modalem Jazz, Funk, Rockjazz, Electric Jazz, Acid Jazz und Fusion Music konnte man allenfalls noch mit einem Kompass von John Cage Orientierung finden. Cage hatte die Neue Musik im Sinn, seine allumfassende Idee aber ließ sich auch auf den Jazz übertragen: Falls sich jemand als Beschützer des Wortes Jazz fühlt, schütze er es und suche ein anderes Wort für alles Übrige, was durch die Ohren eindringt.

Das entsprach auch einem Miles Davis, der das Wort Jazz stets ablehnte und auf die entsprechende Frage in Interviews die irritierende Antwort gab, er spiele keinen Jazz, er mache Musik. Der Saxophonist Albert Ayler hat es deutlicher formuliert: «Jazz ist Jim Crow. Er gehört in eine andere Ära, eine andere Zeit und an einen anderen Ort. Wir spielen Free Music.» Es gibt wohl keinen schwarzen Musiker, der seine Kunst nicht zumindest zeitweilig als Brandzeichen empfunden hätte. Jazz ist eine Erfindung der Schwarzen: als Musik. Und eine Erfindung der Weißen: als Definition. Gelinde gesagt. Die Musik wurde Jazz genannt und damit gebändigt. Sklaven war es nicht gestattet, ihre afrikanischen Namen zu tragen, sie mussten die Namen ihrer Herren annehmen. Viele Jazzmusiker haben ihre amerikanischen Namen abgelegt und durch afrikanische Phantasiebezeichnungen ersetzt. Man kann es Miles Davis kaum verdenken, wenn er seine Person und seine Musik gegen die bannende Kraft der Benennung schützen wollte. Man kann es keinem Jazzmusiker übelnehmen, wenn er mit seiner Musik aus dem Wald herausbrüllt, was die Öffentlichkeit an sozialer Diskriminierung seit Generationen in ihn hineinruft.

Jazz galt schon zu der Zeit, als es ihn dem Namen nach noch gar nicht gab, als eine Sonderform der Artistik, als eine Verbindung aus schwierigen Kunststücken und grotesker Komik. Als der weiße Entertainer Thomas Rice in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begann, sein Gesicht schwarz anzumalen und einen tanzenden Tölpel namens Jim Crow zu verkörpern, hatte er das Klischee afro-amerikanischer Exzentrik verfestigt. Mehr noch: Jim Crow galt seitdem als Synonym für rassistische Diskriminierung schlechthin. Auch die Jazzmusiker hatten gefälligst Exzentriker zu sein. Dass sie ihr Instrument wie alle anderen auch durch beständiges, mühevolles Üben erlernt hatten, dass die Texte und ihre emphatische Ausdeutung aus nicht gerade rosigen Alltagsbegebenheiten abgeleitet sein könnten, Rhythmus und Melodik so wenig das Ergebnis von Hexerei zu sein brauchten wie eine etwas dunklere Hautfarbe – all das war viel zu direkt, viel zu prosaisch, als dass man es glauben wollte. Mythen sind schon immer die Wirklichkeit des Jazz gewesen. Natürlich haben Albert Ayler und Miles Davis Jazz gespielt, nur das Stigma, das mit dieser Bezeichnung unausweichlich verbunden war, hat ihnen, wie so vielen anderen selbstbewussten Jazzmusikern, nie behagt. Aber auch das Wort cool als Kennzeichnung für eine bestimmte Musik wie eine Haltung ist Miles Davis bisweilen ähnlich übel aufgestoßen. Sein Instinkt hat ihn eben auch da nicht im Stich gelassen: Wer sich nur cool gab, ohne es wirklich zu sein, wurde erbarmungslos entlarvt.

Keine Trompeten-Battle: Miles Davis hat Louis «Satchmo» Armstrong und die Jazztradition immer geschätzt.

Im Bebop-Kreis um Charlie Parker, mit dem er seit 1946 gemeinsam im Aufnahmestudio stand, wurde Miles Davis zum respektierten Musiker geformt: an der Seite von Dizzy Gillespie und Thelonious Monk, Bud Powell und John Lewis, Max Roach und Kenny Clarke, Howard McGhee, Oscar Pettiford und einer Reihe großer Stilisten dieses neuen Jazz. Aber erst Ende der vierziger Jahre kamen der Personalstil von Miles Davis und der Stil der Epoche zur Deckung, wurde aus dem Mitspieler in Bebop-Formationen ein Musiker eigenen Rechts, zunächst mit den Miles Davis All-Stars, alles Musiker, mit denen er auch vorher schon aufgetreten war, nur nicht unter seiner Leitung. Im Herbst 1948 aber schrieb er zum ersten Mal selbst Jazzgeschichte, als er im New Yorker Royal Roost Club zwei Wochen lang ein Nonett unter dem Namen Miles Davis Orchestra vorstellte, mit dem sich ein ganz neues Ideal im Jazz ankündigte. Den Musikern in Minton’s Playhouse wäre ein solcher Klang nicht im Traum eingefallen.

Dort waren alle ständig auf der Suche nach dem individuellen Ton. Aber so großartig die Ergebnisse dieser instrumentalen Materialschlachten gewesen sein mögen, Miles Davis spürte mehr und mehr das Bedürfnis, nicht nur zu spielen und endlose Improvisationsketten aneinanderzureihen. Er wollte etwas Größeres formen, etwas schaffen, was über die Stunde des Wolfs in verrauchten Harlemer Kneipen hinaus Bestand haben könnte. Dass dieser Sound mit sechs Bläsern, darunter Tuba und Waldhorn – beeinflusst von den Arrangements der Big Band von Claude Thornhill und Stücken von Gil Evans –, eine Revolution darstellte, war wohl jedem der daran Beteiligten bewusst. Pete Rugolo aber hat die richtigen Konsequenzen daraus gezogen.

Der musikalische Chef von Capitol Records arrangierte im Zeitraum von anderthalb Jahren drei Aufnahmesitzungen des nur zu sporadischen Clubgastspielen zusammengestellten Ensembles. Daraus entstand eine Einspielung, die später unter dem Titel Birth of the Cool herauskam. Wer nach dem prototypischen Klang des Cool Jazz sucht, kann hier fündig werden, vor allem in den Arrangements von Gil Evans, Gerry Mulligan und John Lewis. Auch wenn das Orchester von Miles Davis nur kurze Zeit existierte, wurden sein Klangideal, seine Instrumentation, die Stimmführung und Setzweise der Arrangements zum Vorbild späterer Stilrichtungen, etwa für den Westcoast Jazz und den Third Stream Jazz.

Birth of the Cool gehört zu jenem halben Dutzend Aufnahmen, die zu Wegmarkierungen des Jazz wurden; wie Louis Armstrongs Einspielungen mit seinen Studiobands Hot Five und Hot Seven, Benny Goodmans Carnegie Hall Concert von 1938, Ornette Colemans Free Jazz von 1959, John Coltranes Ascension von 1965 und Keith Jarretts Köln Concert von 1975. Und das alles war das Werk eines Künstlers, der damals erst zweiundzwanzig Jahre alt gewesen ist und mit Gerry Mulligan einen Arrangeur an seiner Seite hatte, der noch ein Jahr jünger war.

Es blieb nicht der einzige Geniestreich von Miles Davis. Fünf Jahre nach Veröffentlichung des ersten Teils von Birth of the Cool erschien Walkin, zwei Jahre später Cookin’/​Workin’/​Steamin’/​Relaxin’, ein Jahr darauf Miles Ahead, dann Kind of Blue mit John Coltrane, Cannonball Adderley, Bill Evans und Paul Chambers – Giganten allesamt. Und es ging weiter Schlag auf Schlag: Sketches of Spain, E.S.P., Miles Smiles, Sorcerer, Nefertiti, Filles de Kilimanjaro, In a Silent Way, Bitches Brew, Live-Evil, Jack Johnson, On the Corner, Big Fun, Get Up with It, The Man with the Horn, We Want Miles, Star People, Decoy, You’re Under Arrest, Tutu. Man könnte es eine Enzyklopädie des Jazz zwischen 1950 und 1990 nennen. Ganz korrekt wäre es freilich nicht.

Denn Miles Davis hat wohl alle Jazzstile, die bis zu seinem Tod entwickelt wurden, mitgetragen, meist als Pionier, wie im Falle von Cool Jazz, modalem Jazz und Rockjazz. Aber etwas hat er dabei links liegenlassen: den Free Jazz. Spurenelemente dieser Spielform tauchen zwar schon in den Bands mit John Coltrane auf und in der Phase seines Electric Jazz von 1970 an, aber ein Free-Jazz-Musiker par excellence ist Miles Davis nie gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sich der Free Jazz lange Zeit eher destruktiv verhielt: gegen den Swing, gegen Akkorde, Metren, Arrangements, Hierarchien, Absprachen – einfach gegen alles. Vielleicht sogar gegen das Publikum. Miles Davis aber war nie an Dekonstruktion interessiert. Er wollte immer der Schöpfer eines neuen Jazz sein, nicht der Zerstörer eines alten.

Einmal hat er berichtet, dass er alles, was er von Charlie Parker übernommen habe, beim Zusammenspiel mit ihm erlernen musste. Bird redete nicht über Musik. Es scheint, als habe Miles Davis auch diese austernhafte Verschwiegenheit von seinem Lehrmeister der frühen Jahre übernommen. Er sprach ebenfalls nicht mit seinen Musikern. Er ließ sie gewähren, eine Herausforderung ohnegleichen und ein nicht minder großer Vertrauensbeweis. Einen Satz aber scheint er vielen Mitstreitern auf den Konzertpodien und im Studio mitgegeben zu haben: «Spielt nicht, was ihr könnt, spielt, was ihr nicht könnt.» Das klingt wie Richard Wagners legendärer Ausspruch: «Kinder, schafft Neues.» Viele Musiker haben diesen skurrilen Rat befolgt, alles Erlernte beiseitezulassen, über den eigenen Schatten zu springen, unbekanntes Terrain zu betreten, nur Mut zu haben. Diejenigen aber, die es verwirklichten, haben Miles Davis schneller verlassen, als es diesem vielleicht lieb gewesen ist. In den Jahren von 1950 bis 1990 hat Miles Davis nicht weniger als vierzig Pianisten in seinen Bands spielen und wieder ziehen lassen.

Davon, vom sprachlosen Studium an der Miles-Davis-Universität, haben Generationen von Musikern profitiert, die heute den Ton angeben. Bezeichnenderweise wurden sie nicht so sehr vom Interpreten Miles Davis geprägt, nicht von seiner Spielweise, seiner Art der Improvisation oder von seinen Stücken. Beeinflusst wurden sie von seiner Persönlichkeit, seinem Instinkt, seinen großen Ideen und seinem Gespür für Witterungsverhältnisse, von heraufziehenden Unwettern und drohenden Erdbeben. Miles Davis war einer der größten Anreger in der Geschichte des Jazz. Man muss die Aufnahmen, die er hinterlassen hat, durchforsten und wird dabei gerade in den Einspielungen der letzten zwanzig Jahre, vor allem seit Bitches Brew, feststellen, dass alles Mögliche darauf zu hören ist, aber nicht unbedingt viel Trompetenspiel von Miles Davis selbst. Das war auch bei seinen Auftritten so. Miles Davis hat mehr spielen lassen als selbst gespielt. Oft musste er nur einfach da sein: als Resonanzkörper für die Klänge der anderen.

Auch das gibt Hinweise auf seine Ästhetik und sein Gespür für Modernität. Wollte man einen Ahnen aus der Musikgeschichte zitieren, auf den sich Miles Davis hätte berufen können, dann wäre es vielleicht Hector Berlioz, der große Blechverschwender seiner Zeit. Bei ihm in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts taucht zum ersten Mal etwas auf, was zum bestimmenden Merkmal von Musik werden sollte: Klang. Berlioz hat als Erster den Klang der Instrumente als Bestandteil der Komposition angesehen. Miles Davis hat sein Signal hundert Jahre später empfangen. Für ihn aber war nicht nur der charakteristische Ton eines einzelnen Instruments wichtig, vielmehr der Sound der gesamten Band, der Zusammenklang.

Lebenswege führen selten geradeaus. Irgendwo gibt es immer Kreuzungen, an denen man sich entscheiden muss. Es ist verlockend, sich vorzustellen, was daraus entsprungen wäre, hätte Miles Davis den Rat von Jean-Paul Sartre befolgt, in Paris zu bleiben und Juliette Gréco zu heiraten. Wäre er Maler geworden? Talent hat er, wie man weiß, auch dafür besessen. Vielleicht hätte das französische Chanson von Miles Davis profitiert. Mit Sicherheit aber wäre ein signifikantes Kapitel des Jazz nie geschrieben worden. Möglicherweise hätte der Jazz überhaupt einen anderen Verlauf genommen. Viele Künstler gibt es nicht, die solchen Einfluss ausgeübt haben. Miles Davis war einer der Größten in der Geschichte des Jazz. Versuchen wir zu beschreiben, wie es dazu kam.