Stefan Slupetzky

Das Schweigen des Lemming

Lemmings dritter Fall

 

Mein Dank gilt folgenden Mentoren, Musen und Mäzenen:

 

Dr. Sabine Haag, Herrmann Kremsmayer, Juergen Maurer, Dr. Alfred Noll, Wilfried Oschischnig, Tomas Slupetzky und – einmal mehr – Dr. Robert Stocker von der Kunstsektion des österreichischen Bundeskanzleramtes.

 

Alle handelnden Personen dieses Romans sind Fiktion, auch und gerade dort, wo sie von der österreichischen Wirklichkeit eingeholt werden.

 

Kunst kommt von Können, käme sie von Wollen,

so würde sie Wulst heißen.

Max Liebermann (1847  1935)

 

Kunst kommt von Können, käme sie von Dürfen,

so würde sie Dunst heißen.

Oskar Glöckel (1908  1965)

 

Kunst ist, wenn man’s nicht kann, denn wenn man’s kann,

ist’s keine Kunst.

Johann Nestroy (1801  1862)

 

Des wahren Künstlers Credo, sein Fanal?

Kunst kommt von Können, denn: Ihr könnt mich mal!

Georg Schweiger (1889  1933)

1

Der Schrei kommt um halb vier vom Osten her. Plötzlich zerreißt er die Stille, gellt durch die Nacht und erstirbt in den Tiefen des Waldes. Eine kurze, eine trügerische Pause tritt nun ein, ehe ein weiteres Brüllen ertönt, tief jetzt und wütend, heiser und wild.

Durch das Buschwerk streicht ein warmer Lufthauch, in den Ästen flattert ein nervöser Vogel auf. Und als hätte die Natur mit seinem zarten Flügelschlag den Taktstock gehoben, als hätte sie nur ihre Kräfte gesammelt, Atem geholt, um für ein dröhnendes Forte gerüstet zu sein, setzt gleich darauf ihr gesamter bombastischer Klangkörper ein. Aus hundert Kehlen kreischt und flötet, jault und krächzt es auf einmal los, aus hundert Mäulern erschallt die markerschütternde Dschungelkakophonie, weitet sich aus, pflanzt sich fort, während das Scharren und Stampfen Hunderter Pranken, Krallen und Hufe den Boden erzittern lässt.

Der Lemming horcht auf. Schüttelt langsam den Kopf und rasch das Gemächt. Schließt dann die Hose und tritt hinter dem Baum hervor. Nach und nach klingt er ab, der gespenstische Lärm, verhallt in den Alleen, bis nur noch vereinzelt die schrillen, hysterischen Rufe der Makaken zu vernehmen sind.

«Affenpack», murmelt der Lemming. «Nervöses Affenpack …» Und während er seinen Rundgang fortsetzt, wenden sich seine Gedanken Darwins Evolutionslehre zu, der belegten Verwandtschaft zwischen tierischen und menschlichen Lemuren. Wie zur Bestätigung schimmert im Mondschein der Kaiserpavillon durch die Bäume, der, wie der Lemming findet, ganz zu Recht im Zentrum des ausgedehnten Zoogeländes steht: Als einziges Gehege dient er der Pflege und Fütterung des Homo sapiens; Tag für Tag finden sich riesige Horden hungriger Primaten hier ein, um Würstel und Schnitzel zu vertilgen, während sich ihre Jungen an Pommes frites und Palatschinken gütlich tun. Nicht anders als die Paviane und Schimpansen schlingen sie alles in sich hinein, was ihnen vom Wärter, dem Kellner nämlich, aufgetafelt wird; nicht anders als der Radau der Makaken klingen ihre fordernden Lockrufe: Zahlen! Ober! Ober! Zahlen!

Der Lemming malt sich eine Herde unbekleideter Wiener aus, die sich mit einer Rotte ebenso nackter Japaner um einen Hamburger balgt. Hausmeister und Direktoren erklimmen schnatternd und johlend die Brüstungen des Pavillons, hopsen ungestüm und zähnefletschend auf dem Dach herum, klatschen sich auf ihre kugelrunden Bäuche und wackeln mit den leuchtend weißen Ärschen. Der Lemming muss schmunzeln – ein Schmunzeln, für niemanden bestimmt als für ihn selbst.

Es kann schon passieren, dass man ein wenig wunderlich wird, wenn man als einsamer Wächter seine Runden dreht. Vor allem in der Nacht. Besonders in Schönbrunn. Und ganz besonders im Schönbrunner Tiergarten. Man hört Myriaden von Stimmen und kann sie nicht verstehen, man fühlt Legionen von Blicken und kann sie nicht erwidern. Man ist nicht allein und ist es doch. Und was man sich trotzdem am wenigsten wünscht, ist die Begegnung mit einem Geschöpf der eigenen Art, die Begegnung mit einem Menschen 

«Hallo … Ist da jemand?»

Einen Moment lang scheint es dem Lemming, als hätte er ein Licht gesehen, ein Funkeln in der Nähe des Polariums. Er verlangsamt seine Schritte. Zieht eine Taschenlampe hervor, schaltet sie ein und richtet den Strahl auf den Boden. Nie in die Gehege leuchten!, so hat er es schon vor zwei Jahren gelernt, als er eingeschult wurde. Die Tiere haben ein Recht auf ungestörte Nachtruhe. Wenigstens die Tiere 

«Hallo?»

Der Lemming bleibt stehen.

Es zählt beileibe nicht zu seinen Pflichten, unerwünschte Besucher einzufangen. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, mögliche Eindringlinge abzuschrecken und – gegebenenfalls – zu vertreiben. Meistens sind es ja harmlose Zeitgenossen, die über Zäune und Mauern ins Innere des Geländes klettern, Jugendliche etwa, die ihren Mut beweisen wollen, oder Obdachlose auf der Suche nach einer freien Parkbank. Es gibt ja schließlich kaum etwas zu stehlen im Zoo: Giraffen und Gnus zählen nicht gerade zur gängigen Beute städtischer Räuber und Diebe, Kamele und Zebras stehen selten auf der Wunschliste von Hehlern und Schwarzhändlern.

Der Lemming starrt in die Dunkelheit. Nein, es war wohl nichts. Eine Täuschung der Sinne vielleicht. Allenfalls ein Reflex des Mondlichts auf dem Glasdach des neu erbauten Regenwaldhauses. Er dreht die Lampe aus und setzt sich wieder in Bewegung. Zu seiner Rechten ragen die mächtigen Silhouetten der Elefanten auf; jetzt, im Spätsommer, dürfen auch sie ihre Nächte im Freien verbringen. Ein Schatten löst sich aus dem Pulk der dösenden Riesen und trottet lautlos auf den Lemming zu. Ein Schatten allerdings, der deutlich kleiner ist als jene seiner Artgenossen. Abu hat erst vor knapp zwei Jahren das Licht der Welt erblickt und seither die goldenen Herzen der Wiener im Sturm erobert. Auch das des Lemming, nebenbei. Jetzt lehnt sich der kleine Elefant an die dicken Baumstämme, die das Gehege umgeben, und reibt sich daran.

«Hallo, Abu …», sagt der Lemming leise. «Alles in Ordnung?»

Abu antwortet nicht. Stattdessen streckt er dem Lemming den Rüssel entgegen.

«Tut mir Leid … Heut hab ich nichts für dich …»

Das waren noch Zeiten, als die Wiener den Zoo gestürmt haben, um verfaulte Äpfel und Bananen, verschimmeltes Brot und vertrocknete Semmeln an die Tiere zu verfüttern. Kinderzeiten – der Lemming erinnert sich noch gut daran. Später konnte man beim Eingang kleine Säckchen mit Getreide und Trockenfrüchten erwerben, die dann wahllos in die Käfige der Panther, Schimpansen oder Nilpferde geworfen wurden … Überhaupt, die Käfige: Vor zwanzig Jahren noch waren es winzige, schmutzige Zwinger, kahle, stinkende Schaukästen, in denen das Elend regierte. Dem alten Löwen beispielsweise stand ein Weg von knapp fünf Metern zur Verfügung, um seinen Bewegungsdrang zu stillen. Er hatte seine Schritte auswendig gelernt und setzte sie Tag für Tag, Woche für Woche in derselben Weise an dieselben Stellen. Er tat es ohne Unterlass, pendelte von früh bis spät zwischen seinen Kerkermauern hin und her. Dieser stetige, rhythmische Trott des Königs der Tiere hat den kleinen Lemming manchmal bis in den Schlaf verfolgt.

Viel hat sich seither geändert im ältesten Zoo der Welt. Seit er im Jahr 1991 privatisiert wurde, weht der Wind der New Economy durch seine Zeilen und Promenaden. Großzügig und modern sind die stahl- und glasbewehrten Freigehege, die man zwischen den kaisergelben Volieren der barocken Menagerie errichtet hat, großzügig auch die Preise, die man für sprechende Stofftiere, Mogli-Burger und Spazierfahrten mit dem lustigen Dumbo-Express berappen muss. Aber bitte: Wo sonst wäre Globalisierung wohl besser am Platz als im Zoo? Bei allen Vorbehalten, die man gegen den Profitwahn der bilanzverliebten Hominiden haben kann: Hier profitieren auch die Tiere davon, das muss sogar der Lemming zugeben. Traurig nur, dass sich der Zweck von Amüsierbetrieben dieser Art im Laufe der Zeit so gewandelt hat. Dienten die Tiergärten früher der puren menschlichen Sensationsgier, so haben sie sich mittlerweile zum globalen biologischen Erfordernis entwickelt: Sie sind die letzten Refugien beinahe ausgerotteter Arten, die letzten Tröpfchen Wildnis, die sich eine moribunde Welt gerade noch hervorzuquälen vermag. Der größte Feind der Natur bietet ihren kümmerlichen Resten heute Schutz – und verdient abermals daran: Kommet und zahlet, sehet und staunet! Wir sind noch immer nicht kaputt!

Der Lemming wendet sich dem Affenhaus zu, in das nun wieder Ruhe eingekehrt ist. Nichts regt sich hinter den Gitterstäben der Gibbons und Makis, nur im gewaltigen Glaskobel der Orang-Utans ist eine leise Bewegung wahrzunehmen: Nonja, die Künstlerin, die Malerin mit den traurigen Augen. Am frühen Morgen wird wieder der Pfleger mit Buntstiften und Lebensmittelfarben in ihr Gehege treten, und die Orang-Utan-Dame wird sich an die Arbeit machen. Tief versunken und hochkonzentriert wird sie ihre Skizzen und Gemälde auf Papier und Leinwand werfen, ungegenständliche Bilder, die wenig später zu Liebhaberpreisen den Besitzer wechseln werden. Über den Chefsesseln nicht weniger Bankiers, Magnaten und Politiker hängen heute schon gerahmte Nonjas, echte Nonjas, wenn auch unsignierte 

Der Lemming tritt näher an die Glaswand, späht hindurch, die Hände links und rechts an den Verschlag gestützt. Und als hätte Nonja schon darauf gewartet, taucht jetzt aus dem Dunkel ihre dichte Mähne auf. Kurz lässt sich ihr zerfurchtes Gesicht erahnen, kurz legen sich ihre langen, ledernen Finger von innen an jene des Lemming. Ein leises Vorbeiwischen nur, eine Geste, ein Gruß – schon ist die Affendame wieder in den Tiefen ihrer Urwaldmaisonette verschwunden.

Der Lemming mag seine Nachtdienste. Er mag seine einsamen Runden durch das menschenleere Tierreich. Wahrscheinlich steckt da ein Rest von Kindlichkeit in ihm, ein pubertärer Hang zum Dschungelabenteuer. Vielleicht ist es aber auch die geradezu biblische Dimension seiner Arbeit, die ihn immer wieder aufs Neue wohlig erschauern lässt:

Sobald die Pforten des Zoos geschlossen sind und die Sonne hinter Hietzing versinkt, verwandelt sich Schönbrunn in eine Arche, die er – und nur er alleine – mit unerschrockener Entschlossenheit durch finstere Stunden steuert. Ja, er mag es, sich wie ein Verschnitt aus David Livingstone und Noah zu fühlen, auch wenn er das üblicherweise nicht zugibt. Zählt es doch zu den Grundgesetzen der Lohnarbeit, dass sie keine Freude machen darf. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben, das hat schon der Allmächtige gesagt. Soll man sich für sein Vergnügen auch noch bezahlen lassen?

Ein Schweißtropfen bahnt sich den Weg in den Kragen des Lemming, während er den Aufstieg zum Polarium in Angriff nimmt. Warm ist es und drückend feucht: beileibe keine Nacht für weite Wanderungen. Trotzdem steht der kleine Elektrowagen des Wachdienstes ungenutzt hinten im Wirtschaftshof. Der Lemming verwendet ihn nie. «Spazieren geh ich zu Fuß», pflegt er zu brummen, wenn ihn die Kollegen von der Tagschicht damit hänseln. Was er unerwähnt lässt, ist eine peinliche Begegnung vor zwei Jahren, damals, als er den Wagen zum ersten und einzigen Mal in Betrieb genommen hat. Eine Begegnung neben dem Gatter des Streichelzoos. Ein Rendezvous mit einem Baum 

Er passiert nun das mächtige Robbenbecken, stapft verträumt und bedächtig den Hang hinan. Und da, inmitten schweifender Gedanken, sticht ihm das Irreguläre ins Auge, das Alarmierende: ein schmaler Lichtstreif, der nur wenige Meter vor seinen Füßen auf den Asphalt fällt. Der Lemming stutzt. Wendet sich stante pede nach links, zur breiten Front des Pinguinhauses hin. Die Tür des Hauses steht weit offen. Ihr Flügel, zersplittert, hängt schief in den Angeln. Heraus strömt das frostige Licht der Antarktis und durchschneidet die schwüle Wiener Nacht.

Man hat so seine Vorstellung von einem Pinguin. Besonders in Wien. Pinguine, so lernt man es hier schon als Kind, leben in großen Gruppen hinter dickem Glas. Sie sehen lustig aus, wie winzige Oberkellner oder Dirigenten, aber sie sind nicht lustig. Sie bieten dem Betrachter selten mehr als ihren nackten Anblick. Kein Schnäbeln und Schnattern, kein Hüpfen und Flattern amüsiert den zahlenden Besucher, auch kein Sprung in das schillernde Wasserbecken, das sich hinter der Scheibe aus Panzerglas durch das Gehege zieht. Völlig unbewegt stehen die kleinen Kellner Seite an Seite, stehen in fahlem Licht auf weiß getünchtem Waschbeton und starren an die Wand. Ein gnädiger Künstler hat dort eine Linie gezogen, einen waagerechten Strich, der die Mauer in zwei Sphären teilt: in eine obere blaue und eine untere weiße. Die Pinguine starren auf den Horizont aus Dispersion, der ihrer kleinen, kalten Welt die Grenzen setzt.

Man hat so seine Vorstellung von einem Pinguin. Doch das Bild, das sich dem Lemming bietet, als er mit gebotener Vorsicht den Raum betritt, läuft jeder Erwartung zuwider. Unlogisch ist es, widersinnig, ja polar zu jeglicher Vernunft, und das im wahrsten Sinn des Wortes.

Reglos wie immer stehen die Kellnervögel im Halbkreis und fixieren den trügerischen Horizont. Zwölf Tiere sind es, die dem Lemming ihre schwarzen Rücken zugewandt haben. Einer aber, der dreizehnte, blickt exakt in die Gegenrichtung. Blickt völlig ungerührt zur Glaswand hin. Er starrt dem Lemming ins Gesicht.

Und er fliegt.

Seine Füßchen schweben einen halben Meter über dem Boden, die flossenförmigen Flügel hat er schräg von sich gestreckt. Wie ein Guru, ein Fakir, ein levitierter Heiliger hängt er in der Luft: Er fliegt zwar, aber er flattert nicht. Nicht mehr, jedenfalls.

Um seinen kurzen Hals liegt eng ein dünner, roter Strick und spannt sich straff nach oben hin, zu einem Fensterriegel in der Decke des Geheges. Durch die Luke aber fällt ein leises Funkeln: Es ist das ferne Leuchtfeuer des Polarsterns – ein stummer Wegweiser in den Pinguinhimmel.

2

«Sauerei! Verdammte Sauerei!»

Der Lemming sprintet los, läuft wieder in die Nacht hinaus. Er umrundet im Laufschritt das Pinguinhaus, bis er vor einer unscheinbaren Hintertür zu stehen kommt. Zutritt verboten – Nur Personal: Die Aufschrift lässt sich in der Dunkelheit gerade noch erahnen. Er drückt die Klinke, die Tür gleitet auf: Natürlich, auch hier ist das Schloss aufgebrochen. Zwei, drei Schritte noch durch einen schmalen, schmucklosen Wirtschaftsraum, und der Lemming stößt den Eingang zum Gehege auf.

Mit dem Licht schlägt ihm jetzt auch die Eiseskälte ins Gesicht, raubt ihm beinahe den Atem. Schon ist er hinter dem erhängten Tier, hebt es mit einem Arm an, versucht mit der freien Hand die Schlinge zu lösen. «Sauerei! Sauerei!», keucht er, und seine Flüche verstofflichen sich, gefrieren sofort in der Luft und schweben als schimmernde Wölkchen nach oben. Beim dritten Versuch erst gelingt es ihm, den kleinen, schlaffen Körper aus der Kordel zu befreien – er sinkt zu Boden, den toten Vogel in seinen Armen.

Ein friedlicher Anblick, trotz allem. Wäre es ein sonniger Vormittag, die staunenden Schulkinder drückten sich jetzt im Besucherraum auf der anderen Seite der Glasfront die Nasen platt. Ein Raunen ginge durch ihre Reihen, und der fachübergreifende Unterricht zwischen Kunst, Religion und Naturkunde wäre perfekt. Im Hintergrund das Dutzend der stummen Apostel, reglos und abgewandt, eine Allegorie der Ohnmacht. Und in der Mitte, zentral komponiert, das Martyrium … Ja, sie ist schon ein klassisches Bild, die Pietà des Lemming mit dem Pinguin.

Die Bilder, die den Verstand des Lemming in diesen Sekunden bevölkern, sind aber eher archaischer als christlicher Natur. Von edlen Regungen wie Milde und Vergebung sind sie weit entfernt. Einmal nur, denkt er, einmal so ein Dreckschwein in die Finger kriegen. Einmal nur, und dann … O nein, kein Pardon. Kein frömmlerisches Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Keine Rücksicht, keine Nachsicht: Auge um Auge, denkt der Lemming, Zahn um Zahn 

Er lässt den Kadaver zur Erde gleiten, um aufzustehen, als sein Blick auf den halb geöffneten Schnabel fällt. Etwas blitzt auf darin, etwas Kleines und Helles, ein Fremdkörper ganz offenbar. Er fasst an die schmalen Kiefer des Vogels. Zwängt sie behutsam auseinander. Was unter der Zunge des Pinguins steckt, ist kein Hering, kein Henkersmahl. Ein Papierschnitzel ist es, den der Lemming mit spitzen Fingern herausfischt, ein zusammengerollter Zettel, kaum größer als eine Sardelle.

Als der berühmte Rabbi Löw im Prag vergangener Tage den Golem erschuf, da vollendete er sein Werk, indem er der leblosen Lehmfigur ein Stück Papier unter die Zunge schob. Der unaussprechliche Name Gottes stand darauf geschrieben, und die magische Kraft dieses Schriftzugs war es, die das Wesen zum Leben erweckte. Der Zettel aus dem Schnabel des Vogels dürfte wohl keine so mächtige Zauberformel enthalten. Trotzdem: Als der Lemming ihn nun auseinander rollt, gilt sein erster Gedanke der Kabbala, jener alten jüdischen Geheimlehre und ihrer legendenumwobenen Zahlenmystik 

181418451742140320011327: eine Ziffernfolge, das ist alles, was auf dem Zettel steht. Der Lemming murmelt sie vor sich hin wie ein Mantra, so andächtig wie auch verständnislos.

Kaum aber ist seine Stimme verhallt, kommt Bewegung in den versteinerten Pinguinpulk, der nach wie vor an der Peripherie des Raumes steht. Eines ums andere wenden sich die Tiere jetzt dem Leichnam ihres Artgenossen zu. Rücken dann ab, mit vibrierenden Flügelchen, trotten in weitem Bogen an den Rand des Wasserbeckens und tauchen ins eisige Nass.

 

«Stropek?» Belegt, ja gebrochen klingt die Stimme am anderen Ende der Leitung, und obwohl sie ihrem Besitzer beinahe den Dienst versagt, scheint sie allemal wacher zu sein als der Rest seiner Lebensgeister. Die Stimme eilt gewissermaßen dem Verstand voraus; sie pflügt gehorsam den Boden für die Aussaat der ersten Gedankenpflänzchen.

«Wallisch hier, Herr Doktor», keucht der Lemming in den Hörer, «Leopold Wallisch.»

Er ist, so rasch es seine unterkühlten Glieder zugelassen haben, vom Polarium zum Häuschen des Wachpersonals gelaufen, ist auf dem kurvigen Weg durch das Dunkel gestolpert, auf dem Dienstweg sozusagen, um seinem Chef – ganz nach Vorschrift – Bericht zu erstatten. Was bedeutet, dass bei groben, vom Wachorgan festgestellten Ordnungswidrigkeiten umgehend der Dienst habende Vorgesetzte zu informieren und dessen weiterführende Entscheidung abzuwarten ist. Im Grunde ein kybernetisches Paradoxon, fast so, als setzte das Rädchen den Hebel in Bewegung, nicht umgekehrt.

«Wallisch …», murmelt Stropek. «Wallisch also … Momenterl …» Das traute Geraschel von Daunen dringt jetzt an das Ohr des Lemming, dann das unverkennbare Klicken eines elektrischen Schalters. Offenbar fällt nun ein Lichtstrahl in das Ödland des Stropek’schen Geistes: Schon treiben die ersten Keime der Erkenntnis aus, streben in Reih und Glied dem schmerzhaften Zustand der Wachheit entgegen.

«Zehn nach vier, Wallisch … Zehn nach vier …»

Im Hintergrund wird jetzt eine Frauenstimme laut: «Was ist denn? Was ist denn passiert?»

«Nix, Mausi, gar nix … Also sagen S’ schon, Wallisch, was ist denn … Was ist denn passiert? Und überhaupt … Sie haben doch heut gar net … Heut ist doch der Pokorny an der Reihe, oder bin i schon ganz vertrottelt …»

«Ja, Herr Doktor», beeilt sich der Lemming zu erklären, «also ich meine, nein, Sie sind natürlich nicht … Das stimmt schon, der Pokorny wär heute dran. Nur, der Pokorny ist kurzfristig … also … verhindert. Erkrankt. Eine Magenverstimmung. Und da hat er mich … Da bin ich halt für ihn eingesprungen.»

Der Lemming hält mit seiner freien Hand die Muschel zu und räuspert sich. Die Bereitschaft, einem Freund mit einer kleinen Notlüge den Rücken zu decken, zählt wohl zur Grundausstattung des menschlichen Anstands. Je entfernter einem aber dieser Freund nun ist, je weiter er also an den Rand des Freundes- oder gar Bekanntenkreises rückt, desto mehr wird die Notwendigkeit zum Luxus, desto edler wird die Tat des Lügenden. Aber Pokorny ist nun einmal ein Kollege, und für Berufsgenossen gilt das Gleiche wie für Verwandte: Das relative Soll der Lüge wird zum absoluten Muss. Ganz einfach aus Gründen familiären Zusammenhalts. Blut ist kein Rotz, das hat schon die Großmutter des Lemming immer gesagt 

Gestern am frühen Nachmittag war es, da hat es an seiner Wohnungstür in der Servitengasse geklingelt, und draußen auf dem Gang ist Josef Pokorny gestanden: ein hagerer Mann mit halblangem, grauem Haar und einer etwas zu groß geratenen, leicht geröteten Nase. Der Lemming war so erstaunt über den unverhofften Besuch, dass er ihn zunächst gar nicht hereingebeten hat. Und als er es schließlich doch tat, war es Pokorny, der abgelehnt hat: «Du, danke, Wallisch, ein anderes Mal … Ich muss dann gleich weiter …»

Sein Kollege hat nervös gewirkt, das ist dem Lemming nicht entgangen, obwohl er ihm bis gestern erst einmal begegnet ist – bei der Hochzeitsfeier eines Elefantenpflegers, die vor einem halben Jahr im Kaiserpavillon stattgefunden hat.

Nachtwächter sind keine besonders geselligen Menschen, und schon gar nicht miteinander. Sie sind ja schließlich aus dem Kreislauf der Geselligkeit herausgerissen, ihr Beruf das Gegenstück zum üblichen Alltag – eine Allnacht sozusagen. Ihr Feierabend ist der frühe Morgen, an dem sie ihr Revier den Beamten der Tagwache überlassen. Tag- und Nachtwächter existieren zwar gewissermaßen kontrapunktisch, aber sie existieren immerhin noch in derselben Welt. Eine größere Distanz der Biotope findet sich nur zwischen alternierenden Nachtwächtern: Sie bewirtschaften einander nie berührende Paralleluniversen; sie drücken einander nicht einmal die Klinke in die Hand.

Der Lemming stand nun also seinem Alter Ego gegenüber und zog fragend die Augenbrauen hoch. Pokorny trug einen schwarzen Koffer in der Hand, aber keinen von der Art, wie man sie zum Transport von Kleidern oder Akten verwendet. Ein unförmiges, asymmetrisches Ding war es, so unförmig und asymmetrisch wie ein handelsübliches Akkordeon.

«Ich hab ein Angebot bekommen», hat Pokorny gesagt, «eines, das ich unmöglich ablehnen kann. Ein Auftritt in Linz, heute Abend … Du weißt ja, Wallisch, in Linz beginnt’s … Und da wollte ich dich fragen, ob es möglich wäre, dass du …»

«Ich hab gar nicht gewusst, dass du Ziehharmonika spielst», hat der Lemming entgegnet und anerkennend genickt. «Und dann auch noch öffentlich …»

«Ja, siehst du, so lebt man aneinander vorbei.» Josef Pokorny hat kurz und ein wenig verlegen gegrinst. Hat dann die Linke so von sich gestreckt, dass der Ärmel seines grünlich karierten Sakkos wie von selbst hochgerutscht ist, und hat – kurz und konzentriert – auf sein nacktes Handgelenk gestarrt.

«Du, also … Ich müsst jetzt dann los, zum Bahnhof … Wie schaut’s aus? Kannst du heut Nacht für mich übernehmen?»

«Sicher», hat der Lemming gemeint. «Sicher, mach dir keine Sorgen. Was tut man nicht alles für die Kunst … Aber jetzt schau nur, dass du den Zug erwischst. Und toi, toi, toi, für dein Konzert …»

«Danke, Wallisch, danke. Das vergess ich dir nicht …» Pokorny hat kurz gezögert, als habe er noch etwas auf dem Herzen, hat dann aber auf dem Absatz kehrtgemacht und ist eilig die Stiegen hinuntergewackelt.

Während der Lemming aus dieser kurzen Reminiszenz in die Gegenwart zurückkehrt, scheint sich Stropek rasant dem Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu nähern. «Verstehe», meint er mit fester, wenn auch gedämpfter, wohl gegen seine Frau hin abgeschirmter Stimme. «Das ist löblich, Wallisch, sehr löblich von Ihnen. Also, wo brennt’s denn jetzt?»

In kurzen Worten schildert der Lemming das Geschehene. Seine nächtliche Runde, die demolierte Tür des Polariums, schließlich den Fund des aufgeknüpften Pinguins.

«Sauerei!», wird er von Stropek unterbrochen. «Eine echte Sauerei … Haben S’ schon die Polizei angerufen?»

«Nein, Herr Doktor. Ich wollte zuerst … Sie wissen schon, der Dienstweg …»

«Gut, Wallisch, sehr brav. Also passen S’ auf, ich sag Ihnen ganz genau, was wir jetzt machen: Sie drehen ruhig Ihre Runde zu Ende, und ich kümmer mich um den Rest …»

«Aber … Wer soll dann das Tor aufsperren? Die Polizei kann doch sonst nicht …»

Der Lemming verstummt. Ihm ist, als hätte er durch den Hörer ein Seufzen vernommen, und zwar eines von jener Art, wie er sie auf den Tod nicht ausstehen kann, eines, das zumeist mit einem ungeduldigen Verdrehen der Augäpfel zusammenfällt. Eine respektlose Geste, verächtlich und beleidigend: Man entblößt das Weiße seiner Augen und stößt Luft aus, was in gewisser Weise schlimmer ist, als dem anderen mit einem kräftigen Furz seinen nackten Hintern entgegenzustrecken.

«Hören Sie, Wallisch. Wir brauchen sie nicht, die Polizei …»

«Aber man muss doch …»

«Jetzt überlegen S’ doch einmal. Was passiert, wenn wir die Sache an die große Glocke hängen? Glauben S’ im Ernst, man wird die Rotzbuben, die das gemacht haben, verfolgen? Geschweige denn erwischen? Eine lächerliche Anzeige, Wallisch, das ist alles, was dabei herausschaut. Ein ärarisches Papierl, das zu den unerledigten Akten gelegt wird. Ein bisserl Besitzstörung und ein bisserl Sachbeschädigung, mehr ist das net in unserer Legislatur. Verstehen S’, Wallisch? Oder glauben S’, man wird uns wegen einem toten Vogel die Mordkommission schicken?»

Der Lemming schweigt. Er schweigt aus einem inneren Widerstreit heraus: Sein Herz will eine andere Sprache sprechen als sein Kopf.

«Der Schaden, Wallisch, wär tausendmal größer als der Nutzen. Solche Eskapaden landen nicht vor dem Richter, sondern immer nur in den Medien. Sie können sich vielleicht vorstellen, was die Reine Wahrheit schreiben tät, jetzt in der Sauren-Gurken-Zeit …»

Ja, allerdings, der Lemming kann es sich vorstellen. Die Schlagzeile würde wahrscheinlich so ähnlich lauten wie: Wer tut so etwas! Und der erklärende Untertitel: Unfassbare Bluttat in unserem Schönbrunner Tierparadies – Wehrloser Pinguin grausam zu Tode gequält

«Am End», fährt Stropek nun fort, «am End bleibt das alles noch an uns hängen. Versagen des Wachpersonals und so weiter. Wie unlängst bei der Dings, im Kunsthistorischen, Sie wissen schon.»

Ja, der Lemming weiß, was Stropek meint. Drei Monate ist es jetzt her, dass der größte Kunstraub der zweiten Republik ganz Österreich erschüttert hat. Über ein simples Baugerüst sind die Täter in das Museum eingedrungen und haben sie mitgenommen, die Dings: die so genannte Saliera nämlich, ein gerade mal dreißig Zentimeter langes, goldüberzogenes Salzgefäß, das im unvergitterten ersten Stock des Gebäudes – gleichsam auf dem Silbertablett – zur Abholung bereitstand. Und was für ein Salzgefäß! Als einzig erhaltene Goldschmiedearbeit des Florentiner Bildhauers Benvenuto Cellini zählt die Saliera zu den bedeutendsten Kunstwerken der Renaissance, was sich nicht zuletzt in ihrem kolportierten Schätzwert niederschlägt: Fünfzig Millionen soll sie wert sein, die kleine Skulptur, Euro wohlgemerkt, nicht Schilling. Stropek hat Recht: Schon am Tag nach dem Diebstahl sind im Kunsthistorischen Museum die so genannten Konsequenzen gezogen worden. Nein, es war nicht der Direktor, den man davongejagt hat, es war die Wachmannschaft, die entlassen wurde 

«Und was das Schlimmste ist, Wallisch, das Allerschlimmste: Es finden sich immer ein paar Idioten, die so einen Schurkenstreich auch noch lustig und originell finden. Die auf solche Ideen nur gewartet haben. Nachahmungstäter, sag ich nur, Nachahmungstäter. Nicht lang, und wir haben den Tiergarten voller erdrosselter Emus, gevierteilter Waschbären und geköpfter Koalas … Aber was erzähl ich Ihnen, Sie waren ja schließlich selbst einmal in dem Metier … Hallo? … Wallisch? … Sind Sie noch dran?»

Die Mauer des Schweigens, das Bollwerk der Stummheit – der Lemming’sche Schmollwinkel quasi – zerbröckelt: Auch wenn er Stropek das despektierliche Seufzen von vorhin noch immer ein wenig verübelt, die Argumente des Chefs sind einfach nicht zu widerlegen. Das Private mit dem Beruflichen zu vermischen mag ja gelegentlich eine der Schwächen des Lemming sein, aber in diesem Fall steht die persönliche Kränkung der professionellen Einsicht nicht im Wege.

«Ja … Ja, ich bin noch da.»

«Und? Haben S’ alles verstanden, oder sind Sie anderer Meinung?»

«Ja, Herr Doktor, also, nein … Es stimmt schon, was Sie sagen. Aber falls ich den Kerl erwisch, dann …»

«Ganz recht, Wallisch, dann übergeben S’ ihn der Polizei. Nur keine weiteren Leichen heut Nacht, wenn ich bitten darf …»

 

Noch herrscht Ruhe am Himmel über Schönbrunn. Es ist aber die Ruhe vor dem Sturm: Hinten im Osten, zwischen der Orangerie und dem Taubenhaus, ziehen die ersten, rötlichen Schlieren der Morgendämmerung auf. Nicht mehr lange, und der Zoo wird sich wieder mit Menschen füllen, keine grölenden Schulklassen diesmal, sondern kulturbewusste Wiener Familien, deren sommerliche Sonntagsphantasien sich nicht allein auf das Krapfenwaldbad, die Donauinsel und das Gänsehäufel beschränken. «Gemma Affen schauen!», heißt es bei ihnen schon am Samstagabend, sofern der Wetterbericht diese Freiluftvergnügung auch zuzulassen verspricht. Und für heute ist ein wahres Kaiserwetter angesagt.

Der Lemming hat seinen Rundgang beendet. Er steht am großen Einfahrtstor des Wirtschaftshofs und wartet auf die Ablöse. Der Pinguin, den er inzwischen notdürftig mit Plastikfolie bedeckt hat, um seinen zwölf gefiederten Gefährten den Anblick des Todes zu ersparen, der Pinguin also wartet auch. Er wartet auf die Herren von der Wiener Tierkadaververwertung, die seinen kleinen Körper in großen Maschinen zu Schmierfett verarbeiten werden. Und er harrt seiner letzten Ruhestätte: Schon wenige Monate später wird er im frisch geölten Getriebe eines rostigen Lastkahns über die Wellen schaukeln. Die blaue Donau hinab bis an das Schwarze Meer.

3

Kaiserwetter also: In der Provinz begrüßen die Hähne den neuen Morgen, in der Stadt beginnt der Tag bereits zu brüten. Gnadenlos blau, gnadenlos windstill stülpt er sich über das Häusermeer, als wollte er alle Ozonrekorde brechen. Gesundheitsbewusste Automobilisten fahren heute mit hochgekurbelten Seitenscheiben: Man muss sich ja irgendwie schützen vor dem verderblichen Atemgift.

Kaiserwetter auch in Ottakring, dem sechzehnten Wiener Gemeindebezirk, der sich – zumindest was seine nordwestlichen Zonen betrifft – nicht ganz zu entscheiden vermag, ob er wohl noch zur Stadt oder schon zur Provinz gehört. Grün ist hier nicht nur der Veltliner, der in den überaus zahlreichen Heurigen ausgeschenkt wird, grün sind auch die Pflanzen in Gärten und Hinterhöfen, die – zumeist gestutzt und kultiviert – auf den benachbarten Wienerwald schielen. Als wären sie verzärtelte Haushunde, die den vazierenden Straßenkötern ihre Freiheit neiden.

Der Hund, der dem Lemming entgegenstürmt, als er das Gartentor öffnet, ist zwar domestiziert, aber vollkommen ungestutzt. Mit wehenden Zotteln und hechelnder Zunge fliegt er über die Wiese, ein wahrer Koloss, den mächtigen Schädel wie einen Rammbock weit nach vorn gestreckt, während hinten der buschige Schwanz hin- und herschlingert wie ein außer Kontrolle geratener Feuerwehrschlauch.

«Castro! Na komm, Castro!» Der Lemming geht in Kampfposition, stemmt seine Beine in den weichen, hohen Rasen, erwartet die unvermeidliche Karambolage. Sekunden später schon liegt er im Gras, den japsenden, schnaubenden, schlabbernden Riesen über sich. Und dessen samtige Zunge auf seinem Gesicht. Es ist bereits ein alter Brauch, ein hundertmal geübtes Ritual, wobei der Lemming die Rolle des Opfers übernimmt, während Castro, der Leonberger, als Folterknecht die Fäden zieht. Auch die Speichelfäden, versteht sich.

«Au, Castro, aus … Genug jetzt … Schon gut …», stöhnt lachend der Lemming. Er rappelt sich hoch und geht, den hechelnden Hund neben sich, auf das kleine Winzerhaus zu, das sich in ein Wäldchen knorriger Obstbäume schmiegt. Statt es jedoch zu betreten, umrunden die beiden das Haus, müde und schweigsam der eine, der andere in sorglosem Tänzelschritt. Und noch bevor sie um die Ecke biegen, kann der Lemming schon riechen, was er erwartet, erhofft hat: den Duft von Kaffee, von frischem Gebäck, von Eiern und Speck … Kurz gesagt: Frühstück.

Die balsamische Vorspeise dieser morgendlichen Mahlzeit aber ist der Duft von Klara Breitners schwarzem Haar. «Kokos», konstatiert der Lemming, als er die Nase darin vergräbt. Klara faltet die Zeitung zusammen, wendet sich um und zieht ihn an sich.

«Schön …», sagt sie. Nur: «Schön …»

Das Liebesleben des Lemming hat sich merklich beruhigt. Beruhigt in einer Art, die der fröhlichen Resignation einer Schiffsbesatzung entspricht, wenn die vorausgegangene Sturmflut Ruder und Kompass zerstört, ihr Leben aber verschont hat. Man lässt sich treiben, vertraut auf das Schicksal, die Strömungen und die Gezeiten. Man lenkt nicht mehr und ist doch in Bewegung, in einer Bewegung, die umso synchroner verläuft, je weniger man sie zu steuern versucht.

Dass der Wind zwischen Klara Breitner und Leopold Wallisch nicht immer günstig stand, dass ihr Kurs nicht selten ein verhängnisvoller Kollisionskurs war, darüber ließen sich ganze Romane schreiben. Allein die missglückten Manöver und Navigationsfehler des Lemming würden mehrere Logbücher füllen. Dazu kam noch, dass Neptun die beiden ordentlich durchgeschüttelt hat, am Anfang ihres Verhältnisses gleich, und dann – zuletzt – vor gut zwei Jahren. Damals hat der Lemming einen halb nackten Mann in Klaras Haus angetroffen: den hünenhaften und muskelstrotzenden Raubtierpfleger Rolf. Klara, die als Tierärztin bisweilen auch im Zoo beschäftigt ist, hatte ihm für ein paar Nächte Unterschlupf gewährt – nicht mehr. An mehr wäre Rolf auch gar nicht interessiert gewesen: Immerhin ist er der schwulste Großkatzenfreund seit Siegfried und Roy. Das musste auch der Lemming am Ende einsehen. Aber vor diesem Ende war er der rasenden Eifersucht wegen schon selbst am Ende gewesen, und sein peinlicher Trugschluss hatte beinahe zum Schluss der Beziehung geführt. Beinahe nur, glücklicherweise: Die Liebe hat schließlich auch diese Klippen umschifft.

Inzwischen hat Neptun wohl die Waffen gestreckt, um seine Sturzwellen und Orkane für weniger duldsame Seefahrer aufzusparen; er hat sich in gewissem Sinn den Wind aus den Segeln nehmen lassen. Der Lemming und Klara dümpeln nun endlich durch ruhigeres Fahrwasser. Treiben neben- und miteinander dahin, einer einsamen Insel entgegen, einem bevölkerten Kontinent? Man weiß es nicht 

Schweigsam verläuft die folgende Stunde: Unter dem schillernden Baldachin der weinumrankten Gartenlaube sitzen die zwei und genießen ihr Frühstück im Grünen. Von weit her kann man ein helles, lang gezogenes Pfeifen hören: Hoch fliegen heute die Schwalben.

Irgendwann aber schiebt der Lemming den Teller von sich, lehnt sich zurück und beginnt zu erzählen. Klara hört zu, mit gerunzelter Stirn, durch deren elfenbeinfarbene Haut schon bald ein bläulicher Streifen schimmert: die pulsierende Ader des Zorns und der Lust, die der Lemming so fürchtet und liebt. Obwohl sie diesmal kein Zeichen der Wollust ist, sondern der Wut, lässt sie den Lemming – anders als sonst – nicht verstummen: Nicht er ist es, dem Klaras Zorn in diesen Minuten gilt.

«Scheiße!», stößt sie hervor, als der Lemming geendet hat. «Wer tut so etwas!»

Wie von selbst wandern die Augen des Lemming zur Zeitung hin, die neben Klara auf der Holzbank liegt. Suchen die Lettern der Schlagzeile. Wer tut so etwas!, erwartet er schon zu lesen, doch der Text lautet anders: Skandal! Nun schweigen die Erpresser!, so hat die Reine Wahrheit heute getitelt. Eine relativ schwache Leistung, wie der Lemming findet, aber bitte: geschenkt. Schließlich bezieht eine Vielzahl der Österreicher ihre Sonntagszeitung gratis 

«Was ist, Poldi? Willst du jetzt Zeitung lesen?»

«Nein, nein», winkt der Lemming ab, dem Klaras vorwurfsvoller Tonfall nicht entgangen ist. «Ich hab nur kurz geglaubt … Ich hab nur befürchtet, dass da etwas drinsteht … Blöd von mir, das wär sich ja schon zeitlich gar nicht ausgegangen.»

«Da wird auch morgen nichts drinstehen, wenn ich dich recht verstanden hab … Dass der Stropek nichts unternommen hat, gar nichts, nicht einmal eine Anzeige … Ich mein, ich versteh’s ja irgendwie. Aber trotzdem, man kann doch solche Leute nicht ungestraft …»

«Geht mir genauso», sagt der Lemming.

Eine Zeit lang herrscht Stille zwischen den beiden. Dann ergreift der Lemming wieder das Wort.

«Ich hab so ein Gefühl», sagt er. «Ein komisches Gefühl …»

«Wieso komisch?»

«Weil … Erstens die Sache mit den Türen. Kannst du dir erklären, warum sich so ein Arschloch die Mühe macht, den Besuchereingang aufzubrechen, wenn er dann doch durch die Hintertür kommt, um das Viecherl zu massakrieren?»

Klara wiegt den Kopf hin und her. «Ich weiß nicht», meint sie schließlich. «Vielleicht hat er sich nicht ausgekannt mit den Baulichkeiten. Hat zuerst die falsche Tür erwischt. Oder er ist erst im Schauraum auf die Idee gekommen …»

«Dann hätt er den Strick nicht mitgehabt …», winkt der Lemming ab. «Einen Revolver meinetwegen, den tragen manche Leut immer bei sich, aber ein Seil?»

«Cowboys höchstens …», murmelt Klara.

Der Lemming muss lächeln. Er mag es, wenn sich Klara in bedrückter Stimmung mit einem kleinen Scherz Erleichterung verschafft. Sie selbst mag es weniger, scheint sich immer ein wenig schuldig zu fühlen für diesen Mangel an Pietät. Trotzdem tut sie es immer wieder, glücklicherweise.

«Und zweitens?», nimmt Klara mit dem gebotenen Ernst den Faden wieder auf.

«Was zweitens?»

«Zweitens. Du hast erstens gesagt. Erstens die Sache mit den Türen. Also … Zweitens?»

«Natürlich!» Der Lemming greift sich an den Kopf. Dreht sich dann um und zieht das Portemonnaie aus seiner Leinenjacke, die er zuvor über die Sessellehne gehängt hat. «Der Zettel! Der magische Zettel des Golem!»

Lange studiert Klara das kleine Stück Papier, fährt mit den Fingern darüber, als wäre es eine Nachricht in Blindenschrift.

«1 - 8 - 1 - 4 - 1 - 8 - 4 - 5 - 1 - 7 - 4 - 2 - 1 - 4 - 0 - 3 - 2 - 0 - 0 - 1 - 1 - 3 - 2 - 7 …», murmelt sie schließlich. Und wie auf ein Zeichen gerät nun der Tisch in Bewegung, schaukelt, wie von Geisterhand geschüttelt, hin und her, dass die leeren Kaffeetassen klirren.

«Sitz, Castro! Platz!»

Castros Schnauze taucht unter der Tischkante auf. Um sich gleich darauf – mit einem jaulenden, vielleicht ein wenig verlegenen Gähnen – in den Schoß des Lemming zu legen.

«Jahreszahlen», sagt Klara jetzt und nickt energisch, wie um sich selbst zu bestätigen. «Achtzehnvierzehn, achtzehnfünfundvierzig, siebzehnzweiundvierzig und so weiter … Das sind Jahreszahlen, Poldi!»

«Zeig einmal her … Ja … Du könntest Recht haben. Aber …»

«Was aber?»

«Aber … was soll das? Vor allem in diesem Zusammenhang? Und davon einmal abgesehen: Was mich betrifft, bin ich ein völliges historisches Lulu … Siebzehnzweiundvierzig, vierzehnhundertdrei … Klingelt da etwas bei dir?»

Es klingelt bei Klara, noch ehe sie antworten kann. Das Telefon nämlich, das drinnen im Vorraum steht.

«Na geh …»

«Ich geh schon», lächelt der Lemming, hebt mit einer Geste des Bedauerns Castros dösenden Schädel von seinen Knien und steht auf.

«Poldi?»

«Ja?»

«Geh, sei so lieb und bring mir nachher die Salzgurken aus der Küche …»

Der Lemming tritt durch den hinteren Eingang ins Haus, erschauert kurz in der kühlen Luft zwischen den dicken alten Steinmauern. Hebt dann den Hörer ab.

«Bei Breitner?»

«Ja, äh … bin ich da richtig bei … Momenterl, sind Sie’s, Wallisch?»

«Grüß Sie, Herr Doktor …»

«Na so ein Glück, wo ich doch eh auf der Suche nach Ihnen war … Zu Hause hab ich Sie nicht erreicht, also hab ich mir gleich gedacht, dass Sie vielleicht bei der Frau Doktor, also bei der Frau Magister …»

Stropek verstummt. Fährt dann – ungewohnt zögerlich – fort: «Sie müssen entschuldigen, dass ich da mitten am Sonntag, in Ihrer Freizeit … und das nach so einer Nacht, also dass ich da störe …»

«Ist schon gut, Herr Doktor. Was verschafft mir denn die Ehre?»

Eine Zeit lang herrscht Stille in der Leitung. Dann aber tut er es wieder. Stropek nämlich: Er seufzt. Allerdings ist es diesmal kein Seufzen der ungeduldigen Art, sondern – im Gegenteil – eines, das selbst um Nachsicht heischt. Stropek scheint einen geistigen Anlauf zu brauchen, was auf die Höhe der Hürde schließen lässt, die er zu nehmen gedenkt.

«Nun …», beginnt er schließlich, «nun, es müsst wohl eher heißen, wer, Wallisch, wer verschafft Ihnen die Ehre … Aber ich will nicht lang drum herumreden. Sagt Ihnen der Name Hörtnagl etwas?»

«Es gab da einmal so einen Gewichtheber … Aber ich vermute, Sie spielen eher auf das finanzielle Schwergewicht an … Jochen Hörtnagl: Speditionen und Spekulationen. Immobilien, Banken und Bauwirtschaft, soviel ich weiß. Dann natürlich Fußball, Golfplätze und …»

«Tiergärten», fällt ihm Stropek ins Wort. «Ja, Wallisch, Tiergärten. Zumindest einer, nämlich Schönbrunn. Der Herr Kommerzialrat ist einer unserer wichtigsten Förderer. Ohne ihn wären wir heut nicht so schön, wie wir sind. Regenwaldhaus, sag ich nur. Dann die Flusspferdanlage natürlich. Und so weiter. Außerdem hat er alle möglichen Tierpatenschaften übernommen. Nilpferde eben. Eisbären, Robben und …»

«Lassen S’ mich raten, Herr Doktor … Pinguine?»

Stropek seufzt. «Ich seh schon, Wallisch, Ihnen kann man nichts vormachen. Aber bitte, bei Ihrer Vergangenheit, ich mein, bei Ihren Referenzen …»

Ein kurzes, verlegenes Räuspern. Stropek steht bis zu den Knöcheln im Fettnapf, und es ist ihm bewusst.

Dass der Lemming damals seinen Job im Zoo bekommen hat, ist beileibe keine Folge eines mustergültigen Lebenslaufs gewesen. Eher im Gegenteil: Nach seinem unehrenhaften Abgang von der Kriminalpolizei und einem kurzen, nicht viel reputableren Zwischenspiel in einem Wiener Detektivbüro stellt die Anstellung als Nachtwächter den absoluten Tiefpunkt seiner bisherigen Karriere dar. Und selbst der wäre ihm ohne Klaras Fürsprache verweigert worden. Die Liste seiner Referenzen und Empfehlungsschreiben endet im Jahr 1980, mit seinem Maturazeugnis 

«Nix für ungut, Wallisch, das war nicht bös gemeint. Ihre Erfahrung in allen Ehren, die ist ja schließlich auch der Grund dafür, dass …»

Der Lemming wartet. Der Lemming schweigt. Er wird nicht fürs Antizipieren bezahlt, so viel steht fest.

«Also dass … Hören Sie, ich will’s kurz machen: Der Kommerzialrat Hörtnagl hat mich heute früh angerufen, wegen etwas anderem, aber unwichtig. Jedenfalls ist auch die Sache mit … also die Sache von heut Nacht zur Sprache gekommen. Er wollt ganz genau wissen, was da passiert ist, der Hört-, also der Herr Kommerzialrat. Hut ab, sag ich nur, wirklich, Chapeau: Da kann man einmal sehen, wie weit man’s bringt im Leben, wenn man sich auch um Nebensächlichkeiten kümmert. Wissen S’, Wallisch, für Sie hat er sich nämlich auch sehr interessiert. Und weil Sie ja schließlich, also, weil Sie eine gewisse, sagen wir, investigative Vorbildung haben, hat er mir – na ja, eigentlich uns – ein Angebot gemacht …»

«Aha», sagt der Lemming, «aha.»

Er nimmt nun trotz allem Witterung auf, kann das Antizipieren nicht mehr vermeiden, und sei es noch so unbezahlt und unwillkommen. Dass man Hiobsbotschaften zu schlechten Nachrichten herabmildern kann, indem man sie vorausahnt, ist ein weit verbreiteter Aberglaube und ein grundlegender Irrtum: Verdruss stinkt genauso, wenn man ihn prognostiziert. Er stinkt nur länger.

«Hören Sie, Wallisch, ich weiß, dass Sie mit diesen Dingen eigentlich abgeschlossen haben. Dass Sie … Dass Sie lieber Ihre Ruhe haben, wenn man das so sagen kann. Vor den Menschen jedenfalls, ich meine, vor den meisten Menschen. Es bleibt Ihnen ja auch unbenommen, jeder wie er mag, nur in diesem Fall … Ich will Tacheles reden, Wallisch: Der Tiergarten kann sich’s nicht leisten, den Hörtnagl zu vergrämen oder gar als Sponsor zu verlieren. Und was Sie betrifft … Es soll auch Ihr Schaden nicht sein, verstehen Sie? Oder drück ich mich unklar aus?»

«Ja, also, nein … Ich glaube, ich weiß schon, wie Sie’s meinen. Nur … Was will er denn jetzt von mir, der Herr … Kommerzialrat?»

«Er will … Ganz unter uns, Wallisch, ich fürchte, er will das Unmögliche. Nämlich dass Sie etwas herausfinden über das Bubenstück im Polarium. Dass Sie … Na, ich mag da gar nicht groß vorgreifen; das soll er Ihnen lieber persönlich sagen. Morgen um halb zehn am Vormittag, da erwartet er Sie … Ah ja, die Adresse … Haben S’ was zu schreiben bei der Hand? Wallisch?»

«Ja, Herr Doktor.» Ein müdes Ja. Müde und hoffnungslos. Ein Ja wie aus den finsteren Kellern der heiligen Inquisition. «Irgendwelche Einwände, Wallisch?»

«Ja, Herr Doktor. Ich muss mich ausschlafen. Heut Nacht bin ich wieder im Dienst, und morgen auch …»

Das Spektrum der Stropek’schen Seufzer scheint unerschöpflich zu sein. In diesem Fall ist es die schiere Erleichterung, mit der er dem Lemming ins Ohr stöhnt.

«Schlafen S’ nur, Wallisch, schlafen S’ nur, solang Sie wollen. Das hab ich schon alles geklärt; Sie sind selbstverständlich dienstfrei gestellt bis auf weiteres. Ich weiß zwar noch nicht, wen ich in der G’schwinden als Ersatz auftreiben kann, aber es wird sich schon jemand finden. Nein, nein, keine Angst, natürlich nicht der Pokorny, der ist erst am Mittwoch wieder eingeteilt. Der soll sich nur ordentlich auskurieren, ist ja auch nicht mehr der Jüngste, nicht wahr, und außerdem … hat er sein Telefon abgeschaltet …»

Erwischt, Stropek. Erwischt, du alter Sklaventreiber 

«Aber um auf die leidige G’schicht zurückzukommen: Nur für den Fall, dass Sie die Leiche, also dass Sie den Vogel noch brauchen können, ich hab ihn hinüber ins Kühlhaus bringen lassen. Was weiß ich, wie man da vorzugehen pflegt, vielleicht wollen S’ ja nach Fingerabdrücken suchen oder so was …»

«Nein, Herr Doktor, nicht nötig. Ich fürchte, wir haben es da mit ganz besonders ausgebufften Profis zu tun, die hinterlassen keine Spuren …»

«Im Ernst?», stößt Stropek erschrocken hervor, ehe ihm der ironische Tonfall des Lemming bewusst wird. «Geh, Wallisch, lassen S’ mir die blöden Witze!», setzt er ärgerlich hinzu.

«Wie Sie wünschen, Herr Doktor …»

«Ah ja, und, Wallisch?»

«Ja, Herr Doktor …»

«Schauen S’ mir, dass Sie was gleichschauen morgen … Sie sind ja quasi unser … na ja, unser Repräsentant.»

 

«Hörtnagl?» Klara zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. «Der Hörtnagl?»

«Ja», meint der Lemming und lehnt sich zurück. «Spediteur, Magnat und Pate … Tierpate», setzt er auf Klaras fragenden Blick hinzu. «Obwohl er auch sonst … Na, was man so hört, stehen fast alle abgehalfterten österreichischen Politiker auf seiner Lohnliste. Von den amtierenden möcht ich’s gar nicht wissen …»

«Lobbying nennt man das wohl, heutzutage … Poldi?»

«Mhm …»

«Gib Acht auf dich … Mach keine Blödheiten …»

«Mhm …»

«Poldi?»

«Mhm …»

«Hast du mir die Salzgurken mitgebracht?»

«Scheiße, vergessen.»

«Macht nichts, bleib sitzen. Ich hol sie mir später …»

«Sicher?»

«Sicher …»

Voll und rund wie Klaras Lächeln strahlt die Sonne vom Himmel und tanzt, vom Laubwerk der Laube zerstreut, auf den halb geschlossenen Augen des Lemming. Er schüttelt sie ab und steht auf.

«Und jetzt?», fragt Klara.

«Bett …», meint der Lemming. «Bett … Nur eine halbe Stunde …»

«Wart noch, nur kurz … Na komm schon, ich zeig dir was …»

Von Büschen und Bäumen verborgen hängt in der hintersten Ecke des Gartens der große, blaue Kindertraum des Lemming. Mit Karabinern und Stricken gesichert, gespannt zwischen Walnuss- und Kirschbaum, eine Hängematte.

«Wahnsinn, Klara … Wahnsinn …»

«Na komm …» Klara nimmt den Lemming an der Hand, zieht ihn mit sich. «Da haben locker drei Leute drin Platz, vielleicht sogar vier … Nein, Castro, du bist nicht gemeint …»

So liegen sie bald im bauchigen Netz und schaukeln leise hin und her: ein pränatales Zwillingspaar, aneinander geschmiegt, ineinander verschlungen. Beschirmt von den schattigen Kronen der Bäume. Im Gras unter ihnen liegt Castro, der Entrechtete, Castro, der Paria. Sein vorwurfsvolles Brummen ist schon nach kurzer Zeit in sanftes, melodisches Schnarchen übergegangen.

«Dann hast du also frei heut Nacht?», flüstert Klara irgendwann.

Der Lemming bleibt die Antwort schuldig. Er liegt bereits in Morpheus’ Armen und stimmt seinen Bass, um Castro zu begleiten.