Wolfgang Amadeus Mozart

Dargestellt von Fritz Hennenberg

Inhaltsverzeichnis

Bild

Widmung

Wie ein Wunderkind erzogen wird

Erfahrungen in Italien und danach

Eine Schaffensbilanz

Ein Mensch mit seinem Widerspruch

Selbstfindung

«...daß ich so zu sagen in der Musique stecke...»

Auf und ab in Wien

Anmerkungen

Zeittafel

Zeugnisse

Werkregister

Bibliographie

Namenregister

Quellennachweis der Abbildungen

 

Wolfgang Amadeus Mozart. Ölgemälde von Barbara Krafft, 1819

 

Meiner Tochter Friederike

 

Brief von Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater, 8. November 1777

Wie ein Wunderkind erzogen wird 

Am 27. Januar 1756 kam um acht Uhr abends in Salzburg Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart als Sohn des Leopold Mozart und seiner Frau Anna Maria geb. Pertl auf die Welt. Die ersten beiden Vornamen würdigen den Namenstag eines Kirchenheiligen, dem der Geburtstag geweiht war; der letzte, Theophilus, wurde in das Synonym Gottlieb und schließlich Amadeus überführt. Mozart selbst benutzte nicht diese latinisierte Form; in Italien nannte er sich Wolfgango Amadeo und seit den endsiebziger Jahren Wolfgang Amadé.

 

Der Vater, 1719 zu Augsburg als Sohn eines Buchbindermeisters geboren, besuchte, für den geistlichen Stand bestimmt, die Jesuitenschule, schlug schließlich aber eine weltliche Karriere ein und ließ sich an der Salzburger Universität immatrikulieren, wo er es bis zum Bakkalaureus der Philosophie brachte. Indes wurde er wegen Bummelei von der Universität verwiesen.

Es scheint, dass ihn das Interesse an Musik die Wissenschaft vernachlässigen ließ. Leopold Mozart hatte sich bei den Jesuiten gründliche musikalische Kenntnisse angeeignet und als Sängerknabe sogar erste Routine erworben; er war für den Musikerberuf gut vorbereitet. 1740 trat er ins Gefolge des salzburgischen Domherrn und Konsistorialpräsidenten Graf Thurn-Valsassina und Taxis ein, musste hier aber – wie in kleineren Hofhaltungen für Musiker üblich – auch als Kammerdiener aufwarten. 1743 wechselte er in die fürsterzbischöflich-salzburgische Hofkapelle über. Als vierter Violinist beginnend, avancierte er zum Geigenlehrer der Sängerknaben, zum Hofkomponisten, zum zweiten Violinisten und schließlich zum Vizekapellmeister. Es hat ihn sehr gewurmt, dass er über diese Position nicht hinauskam und sieben verschiedene Hofkapellmeister erlebte, ohne je selbst diesen höchsten musikalischen Rang zu bekleiden.

Dabei war er namentlich als Pädagoge eine weit über Salzburg hinaus bekannte Kapazität. Seine Violinschule, 1756 erschienen, fortan in vielen Auflagen und Ausgaben nachgedruckt, 1766 ins Holländische, 1770 ins Französische übersetzt, gilt als Standardwerk ihrer Zeit; wie die anderen großen Schulwerke des 18. Jahrhunderts verbindet sie den technischen Lehrgang mit Überlegungen über Ausdruck und Ästhetik und beschreibt nicht nur zeitübliche Praktiken des Geigenspiels, sondern überhaupt die Musikauffassung. Von dem Ansehen, das sich Leopold Mozart erwarb, zeugen Einladungen, Lorenz Christoph Mizlers «Sozietät der musikalischen Wissenschaften» (die auf zwanzig Mitglieder beschränkt war) beizutreten und in Friedrich Wilhelm Marpurgs Berliner «Musikalische Gesellschaft» einbezogen zu werden.

Neben allen anderen Tätigkeiten war Leopold Mozart ein fleißiger Compositeur. Sein Schaffenskatalog verzeichnet Klavierwerke, Kammermusik, Konzerte, Sinfonien, Divertimenti, Kirchenmusik, Lieder, auch «theatralische Sachen». Er wollte damit durchaus auf der Höhe der Zeit stehen, andererseits aber auch Wirkung machen. Gewiss sollte er nicht auf die effektvollen Tonmalereien in seinen Kompositionen abgestempelt werden; doch spiegelt sich in der Neigung nicht nur sein Geschmack, sondern auch seine Weltanschauung wider: Er ist Utilitarist, zu einem guten Teil Opportunist, und zielt auf Erfolg und Popularität ab. In dem Stück «Die Bauernhochzeit» sind «Leyer», «Dudsack oder Pollnischerpock», «Hackbrettl oder Cymbal» vorgeschrieben.1 Dorfmusik im «klassischen» Orchester – aber nicht genug damit: «Bey dem Marche mag auch nach dem Jauchzen jedesmal ein Pistollen Schuss geschehen, wie es bey den Hochzeiten gebräuchlich ist. und wer recht auf den Fingern pfeifen kann, mag auch unter dem Jauchzen darein pfeifen.»2

Leopold Mozart. Ölgemälde, vermutlich von Pietro Antonio Lorenzoni, um 1765

Den Dienst in der Salzburger Hofkapelle, der ihn nie in die führende Rolle brachte, empfand er als Bürde. Seine Unzufriedenheit ließ ihn zu einem wenig umgänglichen Bediensteten werden. Mit seinem Brotherrn stand er, je länger, je mehr, in einem gespannten Verhältnis. Er hatte in der Kapelle kaum Vertraute und suchte auch keine. Einige Salzburger Freunde aber wussten ihn wohl zu schätzen. Unter ihnen Pater Dominicus Hagenauer, der nach seinem Tod am 28. Mai 1787 in sein Tagebuch schrieb: «Der heut verstorbene Vater war ein Mann von vielen Witz und Klugheit, und er würde auch ausser der Musick dem Staat gute Dienste zu leisten vermögend gewesen seyn. Seiner Zeit war er der regelmessigste Violinist, von welchem seine zweymal aufgelegte Violinschule Zeugniss gibt. Er war in Augsburg gebohren, brachte seine Lebenstäge meistens in hiesigen Hofdiensten zu, hatte aber das Unglück hier immer verfolget zu werden, und war lang nicht so beliebt, wie in andern grössten Ortens Europens. Erreichte ein Alter von 68 Jahren.»3

«Versuch einer gründlichen Violinschule» von Leopold Mozart. Titelseite. Augsburg 1756

Mozarts Geburtshaus in der Getreidegasse in Salzburg (hinten links). Öl auf Papier, anonym, Anfang des 19. Jahrhunderts

Sein Sohn Wolfgang Amadeus zeigte zeitig musikalische Neigung und Begabung. Er war drei Jahre alt, als er Gefallen daran fand, sich wohlklingende Terzen am Klavier zusammenzusuchen. Den Vierjährigen traktierte der Vater schon mit strengem Musikunterricht. Er benutzt hierfür ein für seine Tochter Nannerl angelegtes Übungsbuch. Stolz ist bei verschiedenen Stücken vermerkt, wann der Sohn sie gemeistert hat. Die Tochter berichtet später: «Es kostete so wohl seinem Vatter als diesen Kinde so wenig Mühe, daß es in einer Stunde ein Stück, und in einer halben Stunde ein Menuet so leicht lernte, daß es solches dann ohne Fehler, mit der volkomsten Nettigkeit, und auf das genaueste auf dem tact spielte.»4

Es dauerte nicht lange, und Mozart empfand Musik nicht nur nach, sondern erfand sie selbst. Das Notenbuch für Nannerl, seine Klavierschule, enthält auch seine ersten Kompositionen. Am Anfang steht ein zehntaktiges Andante C-Dur (KV 1 a), das zu Beginn des Jahres 1761 entstand – Mozart war knapp fünf Jahre alt! Der Vater schrieb auf, was der Sohn improvisierte. Die erste Piece zeigt das Tasten und Suchen: Der Meister fiel nicht vom Himmel. Was der Vater im Dezember notierte – Allegro F-Dur (KV 1 c) und Menuett F-Dur (KV 1 d) –, beweist erhebliche Fortschritte.

Der Ausdrucksdrang übertraf die Fähigkeit, das innerlich Gehörte zu fixieren, bei weitem. Johann Andreas Schachtner, schriftstellernder Salzburger Hoftrompeter und Freund der Familie Mozart, berichtet, wie ein Klavierkonzert entstand: «Der Papa nahm ihms weg, und zeigte mir ein Geschmire von Noten, die meistentheils über ausgewischte dintendolken geschrieben waren /:NB. der kleine Wolfgangerl tauchte die Feder, aus Unverstand, allemal bis auf den Grund des Dintenfasses ein, daher musste ihm, so bald er damit aufs Papier kam, ein dintendolken entfallen, aber er war gleich entschlossen, fuhr mit der flachen Hand drüberhin, und wischte es auseinander, und schrieb wieder drauf fort:/ wir lachten anfänglich über dieses scheinbare galimathias, aber der Papa fieng hernach seine Betrachtungen über die Hauptsache, über die Noten, über die Composition an, er hieng lange Zeit steif mit seiner Betrachtung an dem Blate, endlich fielen zwei Thränen, Thränen der Bewunderung und Freude aus seinen Augen. Sehen sie, H:. Schachtner, sagte er, wie alles richtig und regelmässig gesetzt ist, nur ists nicht zu brauchen, weil es so ausserordentlich schwer ist, daß es kein Mensch zu spielen im Stande ware. der Wolfgangerl fiel ein: drum ists ein Concert, man muß so lang exercieren, bis man es treffen kann, sehen Sie, so muß es gehn. er spielte, konnte aber auch just so viel herauswirgen, daß wir kennen konnten, wo er aus wollte. Er hatte damals den Begrief, das, Concert spielen und Mirakel wirken einerley seyn müsse.»5

Sobald er mit der Musik sich abzugeben anfieng, waren alle seine Sinne für alle übrigen Geschäfte, soviel als todt, und selbst die Kindereyen, und Tändelspiele mussten, wenn sie für ihn interessant seyn sollten, von der Musik begleitet werden.

Johann Andreas Schachtner, 1792

Vater Mozart erreichte es mit Beharrlichkeit, dass das Wunder geschah. Wolfgang Amadeus und das Nannerl, die um viereinhalb Jahre ältere Schwester, hatten tagtäglich ein gewaltiges Übepensum zu bewältigen. Der Plan war auf virtuose Leistungen gerichtet, die, da in zarter Jugend erzielt, als Sensation wirken und das Interesse der Öffentlichkeit auf sich ziehen mussten. Vater Mozart wollte aus der Begabung seiner Kinder Kapital schlagen – nicht nur zu seinem, vor allem zu ihrem Nutzen. Er gedachte die musikalischen Dressuren vorführen und sie sich gut bezahlen zu lassen. Bestrebt, Einsprüche von vornherein zu entkräften, begründete er die Schaustellungen freilich anders, nämlich religiös; er wolle «der Welt ein Wunder verkündigen, welches Gott in Salzburg hat lassen gebohren werden. Ich bin diese Handlung dem allmächtigen Gott schuldig, sonst wäre ich die undanckbarste Creatur: und wenn ich iemals schuldig bin die Welt dieses wundershalben zu überzeugen, so ist es eben ietzt, da man alles, was nur ein Wunder heist lächerlich machet und alle Wunder widerspricht.»6

Mozart als Knabe. Ölgemälde von Pietro Antonio Lorenzoni (?), Anfang 1763

Maria Anna («Nannerl») Mozart als Kind. Ölgemälde von Pietro Antonio Lorenzoni (?), Anfang 1763

Der Missionar sucht zunächst die Orte auf, die am nächsten liegen und beste Einnahmen versprechen: München und Wien. In München lässt er im Januar 1762 seine Kinder vor dem bayrischen Kurfürsten Maximilian III. Joseph auftreten. In Wien kann er im Herbst eine Audienz am Hofe erwirken. Wie er stolz vermerkt, darf das «Wolferl» der Kaiserin auf den Schoß springen und umhalst und küsst sie. Als den Kindern zugedachte Präsente werden zwei kostbare höfische Galakleider in Empfang genommen. Der kleine Virtuos nimmt sich die Dreistigkeit heraus, beim Vorspiel dem Kaiser, der neben ihm steht, aufzutragen, den Hofkomponisten Georg Christoph Wagenseil zu holen: der soll herkommen der verstehts7. Mozart spielt eines von Wagenseils Klavierkonzerten und lässt ihn die Noten wenden.

Die Wiener Aristokratie zeigt reges Interesse: Kaum ein Tag vergeht ohne eine Einladung, oft sind es zwei und drei, und Anforderungen liegen die Menge vor, sogar eine Woche im Voraus, weil man weiß, dass die Nachfrage groß ist. Neben klingender Münze gibt es hochgestimmte Lobsprüche – auch in Form eines Huldigungsgedichtes «auf den Kleinen Sechsjährigen Clavieristen aus Salzburg»8.

Kaum sind die Mozarts nach Salzburg zurückgekehrt, beginnen sie neue, weitgesteckte Pläne zu schmieden. Der Ruhm der Kinder soll sich durch ganz Europa verbreiten. Man will die Zeit nutzen, solange sie günstig ist – solange die Kindlichkeit der Virtuosen Zulauf verspricht. Am 9. Juli 1763 begibt sich die Familie mit einem Diener und im eigenen Reisewagen auf eine Tournee, die fast dreieinhalb Jahre dauert.

Die erste Hauptstation ist München. Konzerte beim Kurfürsten, Teilnahme an der öffentlichen Galatafel, Gespräche mit ihm; Soireen bei Herzog Clemens von Bayern. Weiter nach Augsburg: drei öffentliche Konzerte. In Ludwigsburg Besuch des württembergischen Hofkapellmeisters Niccolò Jommelli (den Leopold als welschen Intriganten verdächtigt). Akademien in Schwetzingen, der Sommerresidenz des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz («das Orchester ist ohne widerspruch das beste in Teutschland»9). Mehrere Konzerte in Frankfurt – Goethe erinnert sich später «des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen noch ganz deutlich»10. Konzerte in Mainz, Koblenz, Aachen. Weiterreise nach Brüssel und von dort nach Paris. Ankunft am 18. November 1763. Einflussreicher, treuer Pariser Protektor: Melchior Grimm, Propagandist der Aufklärung und streitbarer Italomane. Am Neujahrstag 1764 Audienz beim Königspaar in Versailles. Soireen bei der Pariser Aristokratie, öffentliche Konzerte. Druck des Opus 1, der Sonaten für Klavier und Violine (KV 6/​7), gewidmet der Prinzessin Victoire. Am 10. April 1764 Aufbruch nach England. Audienzen beim englischen König Georg III. Bekanntschaft und Freundschaft mit Johann Christian Bach; gemeinsames Musizieren (er «nahm den Sohn zwischen die Füsse, jener spielte etwelche tact, dann fuhr der andre fort, und so spielten sie eine ganze Sonaten»11).

Leopold Mozart mit seinem Sohn und dem «Nannerl». Aquarell von Louis Carrogis de Carmontelle, Paris, im November 1763

Mozart komponiert seine ersten Sinfonien (davon erhalten: KV 16 und 19). Gesangsunterricht bei dem Kastraten Giovanni Manzuoli. Zum ersten Mal beweist er sich mit einer italienischen Arie nach einem Text von Metastasio (KV 19c). Prüfung durch den britischen Gelehrten Daines Barrington. Öffentliche Konzerte, mit nachlassendem Erfolg – Anlockung durch musikalische Kostproben beim Vorverkauf. Einladung in die Niederlande. Abreise aus England am 1. September 1765. Über Lille, Gent, Antwerpen und Rotterdam nach Den Haag. Vorspiel bei Hofe. Installationsfeierlichkeiten für den Prinzen Wilhelm V. von Oranien. Öffentliche Konzerte in Den Haag und Amsterdam. Danach abermals zwei Monate Aufenthalt in Paris; anschließend Aufbruch in die Schweiz (der Plan, Italien aufzusuchen, wird zwar erwogen, aber aufgeschoben). In Lausanne Begegnung mit dem Arzt Samuel Auguste Tissot, der über die Kinder in einer Zeitschrift referiert. Allerorten Konzerte, Empfänge, Einladungen. Zwölftägiger Aufenthalt in Donaueschingen, mit fast täglichen Aufwartungen bei Hofe. In München erneut Audienz heim Kurfürsten, mit einer Prüfung: «Der Wolfgangl muste gleich neben dem Churfürsten ein Stück auf der Tafel componiren, davon ihm S:e Durchleucht den Anfang oder idea von ein paar Tacte vorsang, er muste es auch bey Höchstdenselben nach der Tafel im Cabinet Spielen.»12 Am 29. November 1766 die Rückkehr nach Salzburg.

Johann Christian Bach. Ölgemälde von Thomas Gainsborough, 1776

Man lasse ihm nur ein Stück vorlegen, so wird er es variieren und auch in einer anderen Tonart spielen. Man lasse ihm eine Arie vorlegen, so wird er sie singen und zugleich sich dabei begleiten, ohne daß er die Arie je zuvor gesehen hätte. Man lasse ihm ein Stück ohne Baß vorlegen, er wird es mühelos zum Ende spielen, aber den Baß und die Mittelstimme einfügen.

«Oprechte Saturdagse Haerlemse Courant» vom 16. Februar 1765

Leopold Mozart hat die einzelnen Etappen dieser Tour de Force selbst getreulich beschrieben, teils in Reisenotizen, teils in Briefen, die an den Freund, Hauswirt und Kreditgeber Johann Lorenz Hagenauer gerichtet sind. Obwohl er ständig über geizige Gastgeber, schmale Erträge, gierige Wirte und teure Lebenshaltung klagt und die Reise zwanzigtausend Gulden gekostet haben soll, scheint er doch finanziell nicht schlecht abgeschnitten zu haben; außerdem hatte er wertvolle Geschenke vereinnahmt. Anders steht es um die gesundheitliche Bilanz. Die Strapazen, die damals das Reisen mit sich brachte, erhöhten die körperliche Anfälligkeit. Alle Familienmitglieder, ausgenommen die Mutter, wurden von schweren, mehrwöchigen Krankheiten heimgesucht. Während des kurzen Salzburger Aufenthalts zwischen der Wiener Reise und der Westeuropa-Tournee litt der Sohn an Gelenkrheumatismus: Der hier gelegte Keim sollte ihm noch viel zu schaffen machen. In Paris musste er im Februar 1764 eine schwere Angina durchstehen. In London war der Vater für Wochen ans Krankenlager gefesselt. Dann ereilte es das Nannerl – Diagnose: Bauchtyphus. Sie wurde aufgegeben und erhielt die Letzte Ölung, konnte aber doch dem Tod entkommen. Nun griff die gleiche Krankheit auf Wolfgang über; der Vater schrieb, er sei «nicht nur absolute unkantbar», sondern habe «nichts als seine zarte Haut und kleine Gebeine mehr an sich».13 Und kurz vor der Heimkehr, in München, traten wieder jene tückischen Gelenkschmerzen auf.

Die vielen Konzerte mit ihren vielseitigen Programmen spannten Psyche und Physis aufs höchste an. Das Wunderkind wurde nicht nur als Pianist, sondern auch als Geiger, als Organist, Improvisator, Komponist, ja als musikalischer Zauberkünstler präsentiert.

Wenn man Schachtners Bericht glauben darf, so hat der junge Mozart Geige gespielt, ohne dass er eine systematische Unterweisung erhalten hätte: Er fand sich schnell selber hinein. Die Funktion des Orgelpedals will ihm der Vater im Schnellverfahren erklärt haben, als ein Achsenbruch in Wasserburg, kaum dass man die Europareise angetreten hatte, eine Zwangspause auferlegte: Das «Wolferl» habe «stante pede die Probe abgeleget, den schammel hinweg gerückt, und stehend preambulirt und das pedal dazu getreten, und zwar so, als wenn er schon viele Monate geübt hätte»14. Sein Gehör, aufs feinste ausgebildet, registrierte nicht nur minimale Schwankungen der Tonhöhen, sondern auch, im Sinne des «absoluten» Hörens, ihren exakten Stellenwert – was Vater Mozart als besondere Attraktion anpreist: «er wird in der Entfernung alle Töne, die man einzeln oder in Accorden auf dem Clavier, oder auf allen nur erdencklichen Instrumenten, Glocken, Gläsern und Uhren etc. anzugeben im Stande ist, genauest benennen»15. Das ist dann schon kein Konzert mehr, sondern eine Experimentalschau, und die Grenze zum Varieté wird vollends überschritten bei Programmnummern mit Darbietungen auf einer mit einem Tuch verdeckten Klaviatur. Von nicht weniger großer Anziehungskraft, aber seriöser, dürften die regelmäßig angekündigten Improvisationen gewesen sein – Ohrenzeugen berichten da wahre Wunderdinge.

Auch bei internen Examina seiner Musikalität schnitt Mozart glanzvoll ab. Wir folgen den Zeugnissen von Melchior Grimm und Daines Barrington: Mozart war ein perfekter Partiturspieler. Die Orchesterstimmen prima vista für Klavier umsetzend, sang er zugleich die Singstimme und stellte dabei seinen Vater, der bei Duetten sekundierte, an Sicherheit in den Schatten. Barrington ließ ihn einen Liebesgesang (auf das einzige Wort «affetto») und einen Wutgesang (auf «perfido») improvisieren. Das alles waren Leistungen eines Kindes, das noch mitten im geistigen wie physischen Entwicklungsprozess stand: Die Finger konnten kaum eine Sexte greifen!

Auf den Reisen entstanden zahlreiche Kompositionen – Dokumente künstlerischer wie seelischer Erfahrungen. Freilich griff – namentlich wenn es um eine Drucklegung ging – der Vater und Lehrer noch korrigierend ein und glättete. Dennoch zeigen schon diese ersten größeren Werke charakteristische Mozart’sche Eigenheiten, etwa die Aufgeschlossenheit gegenüber stilistischen Einflüssen – und die Fähigkeit zu schöpferischer Assimilation.

Titelblatt des ersten gedruckten Werks, gewidmet Louise Marie-Thérèse de Bourbon, 1764

Mozart wandte sich zunächst der Violinsonate zu. Genauer gesagt: der Sonate für Klavier mit begleitender Violine; denn das Bedeutungsverhältnis im Zusammenwirken der Instrumente war damals umgekehrt als später – das Klavier gab die konstitutiven thematischen Konturen, die Violine füllte nur aus, ergänzte, ornamentierte. Als «Klavier» verstand man damals das Cembalo (Clavecin), und sein dünner Ton ließ diese Satztechnik geraten scheinen; bezeichnenderweise ging die Emanzipation des Geigenparts mit dem Vordringen des Hammerklaviers Hand in Hand. Überdies boten die Klaviersonaten mit begleitender Violine ihres leichten Schwierigkeitsgrades wegen dem Amateur ein dankbares Feld. Die Sammlungen wurden gerne gekauft, und manche Verleger richteten sogar eigenmächtig Klaviersonaten so ein.

Vier Sonaten entstanden in Paris (Teile daraus schon in Salzburg und Brüssel), sechs in London (auch erweitert zum Klaviertrio mit bassverstärkender Violoncellostimme), sechs in Den Haag; alle wurden, mit Widmungen an hoch gestellte Aristokratinnen, gedruckt. In Paris erhielt Mozart wesentliche Anregungen durch Johann Schobert, einen Wegbereiter des Sturm und Drang, in London durch Johann Christian Bach, den am italienischen Stil orientierten Bach-Sohn, in Den Haag durch Werke Joseph Haydns.

Die Festung Hohensalzburg, um 1730

Als Familie Mozart Ende November 1766 nach Salzburg zurückgekehrt war, hieß es vor allem, bei den Kindern Lücken in der Allgemeinbildung zu schließen. Der Vater beschäftigte sich damit ganz allein und ließ seine Kinder nie eine Schule besuchen. Sein Sohn war ein gelehriger Schüler, nicht nur auf musikalischem Gebiet. Das Nannerl bezeugt: «Als Kind schon hatte er Begierde alles zu lernen, was er nur sahe in zeichnen, rechnen zeigte er vielle geschicklichkeit […].»16 Wenn Mozart später im Französischen, Italienischen, Englischen und Lateinischen gut beschlagen war, so hat die Grundlagen hierfür der Vater gelegt. Besonders zog es ihn zur Mathematik hin. Schachtner berichtet die folgende Anekdote: «Was man ihm immer zu lernen gab, dem hieng er so ganz an, daß er alles Uebrige, auch so gar die Musik, auf die Seite setzte, z. B. als er Rechnen lernte, war Tisch, Sessel, Wände, ia sogar der Fußboden voll Ziffer mit der Kreide, überschrieben.»17

Musikalische Lücken wurden vor allem im polyphonen Satz spürbar. Hier schuf Vater Mozart Abhilfe, indem er den «Gradus ad Parnassum» von Johann Joseph Fux, das kontrapunktische Standardwerk seiner Zeit, studieren ließ. Mozarts eigene kontrapunktische Übungen sind in einem Arbeitsheft überliefert. In Form eines systematischen Lehrgangs angelegt, zeigt das Heft anschaulich das Zusammenwirken von Lehrer und Schüler: Jener teilt Muster mit, stellt Aufgaben, korrigiert, dieser macht sich die Regeln zu Eigen und sucht die Aufgaben sorgfältig zu lösen.

Die Triumphe, die das Wunderkind Mozart auf den Reisen errungen hatte, hatten auch in Salzburg ein Echo gefunden. Nun, da Mozart wieder in der Heimat war, gedachte man seine Talente zu nutzen. Der Landesherr, Sigismund Christoph Graf Schrattenbach, und die Universität erteilten Kompositionsaufträge. Einer davon – vermutlich die Grabmusik (KV 42) – musste in Klausur erledigt werden: Es sollte geprüft werden, ob tatsächlich alles mit rechten Dingen zuging.

Die in der ersten Hälfte des Jahres 1767 in Salzburg entstandenen Arbeiten berühren Grenzgebiete der Dramatik. Das geistliche Spiel Die Schuldigkeit des ersten Gebotes Apollo et Hyazinthus  Grabmusik gen

Sigismund Christoph Graf Schrattenbach, Erzbischof von Salzburg. Gemälde von Franz Xaver König, 1765

Michael Haydn. Anonymes Ölgemälde aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

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 La finta semplice

 

Bastien und Bastienne  r19

Der Aufenthalt in Salzburg dauerte nur ein knappes Jahr. Und wiederum wird Mozart gefordert und gefördert. Die Oper La finta semplice, deren Aufführung in Wien an Intrigen gescheitert war, hat hier ihre Premiere. Die Universität bestellt für die Jahresabschlussfeiern Finalmusiken. Für die Primiz des Hagenauer-Sohnes Cajetan Rupert, Mozarts Jugendfreund, der ins Kloster gegangen war, entsteht die Pater-Dominicus-Messe (KV 66). Am 14. November 1769 wird Mozart, dreizehn Jahre alt, als unbesoldeter dritter Konzertmeister in die Hofkapelle aufgenommen. Erzbischof Sigismund Christoph Graf Schrattenbach zeigt sich erneut generös und gewährt für die geplante Italienreise nicht nur Urlaub, sondern auch eine finanzielle Beihilfe.