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Klaus Wanninger

Schwaben-Gier

Vom Autor bisher erschienene Bücher bei KBV:

»Schwaben-Rache«

»Schwaben-Messe«

»Schwaben-Wut«

»Schwaben-Hass«

»Schwaben-Angst«

»Schwaben-Zorn«

»Schwaben-Wahn«

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und dem schwäbischen Kater Mogli in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte fünfundzwanzig Bücher. Seine erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst nun schon acht Romane mit einer Gesamtauflage von über einer Viertelmillion Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Gier

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1. Auflage 2005

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

Ich danke
Heimo Schulreich
für die detaillierte Einführung in schwäbische Kultur und
Geschichte, die er mir auf unzähligen gemeinsamen Wegen
zuteil werden ließ.

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig. Leider beruhen die Hintergründe jedoch auf Tatsachen.

1. Kapitel

Endlich tauchte der Mann aus dem Nebel. Langsam nur, unendlich langsam, wie in Zeitlupe. Zuerst die Füße, dann die Waden, Sekunden später die Knie. Um die Oberschenkel waberte noch die undurchsichtige Nässe, zögernd nur lösten sie sich aus den grauen Schwaden. Die Hüften, der Leib, die Brust folgten, schließlich, mehrere Ewigkeiten später, der Hals, das Gesicht, die Stirn.

Seit fast einer halben Stunde hatten sie auf diesen Moment gewartet, hatten ihn herbeigesehnt, erfleht, erbeten. Frierend, zitternd vor Kälte, mit immer klammeren, zuletzt kaum mehr beweglichen Fingern. Die Körper weit weg vom Wasser an die Wand gedrückt, ganz in den Schatten der Böschung tauchend, um vom anderen Ufer in den wenigen aufklarenden Minuten nicht gesehen zu werden, hatten sie gespannt in den grau verschleierten Himmel gestarrt.

Es war vollkommen windstill an diesem frühen Morgen, kein Ast, der sich bewegte, kein Halm, der sich zur Seite bog, nicht einmal auf der Oberfläche des Flusses gab es Ansätze sanfter Wellen. Die dichten Nebelbänke rings um das breite Bett des Neckars hüllten alles und jeden in ihren schützenden Mantel, dämpften auch alle Geräusche, die selbst zu dieser frühmorgendlichen Stunde das Zentrum der Stadt durchpulsten. Drang dennoch ein überraschender Laut zu ihnen hin, fuhren sie erschrocken zusammen, starrten nach allen Seiten, versuchten, dessen Ursache zu ermitteln.

Jetzt aber war der Mann zu erkennen. Sie spürten die Aufregung, wussten sich nahe am Ziel. Wie eine gewaltige Welle rauschte das Adrenalin durch ihre Körper. Endlich war es soweit. Lange genug hatten sie sich darauf vorbereitet, hatten Ideen geprüft, Pläne geschmiedet, Strategien entwickelt, hin und her überlegt. Es handelte sich um ein riskantes Unterfangen, dessen waren sie sich von Anfang an bewusst. Skrupel konnten sie sich in diesem Zusammenhang nicht leisten.

Nein, immer Kurs halten – so wie sie es geplant hatten. Sich jetzt so kurz vor der endgültigen Tat noch Gedanken über ein Verlieren zu machen, wäre dämlich. Unverzeihbar dämlich. Gewissensbisse und Emotionen hatten jetzt keinen Platz mehr. Der Plan war genau ausgearbeitet, ihr Vorgehen bis ins letzte Detail überlegt. Endlich hatten sie eine Lösung für ihr Problem gefunden. Eine geniale Lösung. Den anderen würde keine Chance bleiben, nicht der Hauch einer Chance, dessen waren sie sich sicher. Sie konnten nichts mehr ausrichten gegen ihre akribisch geplanten Vorbereitungen. Sie würden die Gelegenheit, die sich ihnen jetzt endlich bot, beim Schopf packen und für klare Verhältnisse sorgen. Glasklare Verhältnisse.

Dann konnte es also losgehen. Endlich. Die Zeit war reif.

Er nahm das Gewehr hoch, entsicherte es, hielt den Lauf in die Höhe. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Zielfernrohr den Kopf des Mannes fixierte. Ein Nebelschleier raubte ihm für einen Augenblick die Sicht. Er starrte nach oben, fluchte leise. Plötzlich hatte er die schmale Stirn wieder vor Augen. Er überprüfte seine Haltung ein letztes Mal, konzentrierte sich auf sein Ziel. Dann war es soweit. Er krümmte den Finger, hörte das Auto, das unmittelbar über ihnen bremste. Zwei, drei Meter entfernt. Erschrocken hielt er inne, lauschte. Die Tür wurde geöffnet, Schritte kamen auf ihn zu. Entsetzt starrte er nach oben.

2. Kapitel

Wenige Minuten vor sechs läutete das Telefon. Steffen Braig schreckte aus dem Schlaf, drehte sich stöhnend zur Seite. Er hörte das gleichmäßige Atmen seiner Freundin, tastete nach dem Apparat. Seine Finger griffen ins Leere; er richtete sich auf, bekam den Hörer mühsam zu fassen. Leise vor sich hin schimpfend hielt er ihn ans Ohr. Obwohl er jetzt seit fast fünfzehn Jahren als Kommissar für das Stuttgarter Landeskriminalamt tätig war, hatte er sich immer noch nicht an die jede Rücksicht auf ein geregeltes Privatleben missachtenden dienstlichen Zugriffe gewöhnt. Die Stimme des Kollegen ließ ihn endgültig aus seinem Halbschlaf erwachen.

»Stöhr, guten Morgen. Entschuldigen Sie meine frühe Störung, aber ich muss Sie leider...«

»Ja ja. Was ist passiert?« Er spürte schon bei den ersten Worten des Mannes einen Anflug von Ärger über dessen umständliche Formulierungen, verlangte eine konkrete Auskunft.

»Wir haben eine unbekannte Leiche.«

»Wo?«

»In Heilbronn. Beim Götzenturm.«

Er wunderte sich über die ungewohnt knappe und präzise Antwort, ließ sich den Fundort genauer erklären. »Götzenturm? Wo steht der?«

»Am Rand der Innenstadt direkt am Neckar. Nicht weit vom Bahnhof. Höchstens fünfhundert Meter. Die Kollegen holen Sie ab, wenn Sie ihnen die Ankunft Ihres Zuges mitteilen.«

»Die Spurensicherung weiß Bescheid?«

»Herr Rössle und Herr Rauleder sind verständigt, ja.«

»Haben wir genauere Informationen über die Leiche?«

Stöhr zögerte. »Tut mir Leid. Es war nur ein kurzes Fax. Identität unbekannt. Gegen fünf Uhr dreißig heute Morgen entdeckt.«

»Von wem?«

»Von zwei jungen Männern, die am Neckar joggten. Mehr steht nicht hier.«

»Danke. Ich kümmere mich darum.« Braig legte den Hörer zurück. Eine unbekannte Leiche. Keine genaueren Informationen, nichts über den Zustand ihres Körpers. Was würde ihn erwarten? Ein alter, von einer Bande jugendlicher Drogensüchtiger ausgeraubter Mann? Ein junges, von einem eifersüchtigen Verehrer im Affekt übel zugerichtetes Mädchen? Eine unbescholtene, treu sorgende Familienmutter, die aus irgendeinem Grund noch spät in der Nacht unterwegs und dabei ihrem Mörder in die Hände gefallen war?

Er seufzte leise, riss sich aus seinen halbgaren Spekulationen, schälte sich vollends aus dem Bett. Was immer ihn erwartete, der Tag hatte keinen guten Anfang genommen. Gleichgültig, was in Heilbronn geschehen war. Braig hätte sich ein freundlicheres guten Morgen gewünscht. Er sah, wie sich Ann-Katrin zur Seite drehte, schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür.

»Du musst weg?«, flüsterte sie im Halbschlaf.

»Nach Heilbronn«, antwortete er, »schlaf weiter, ich melde mich.« Er ärgerte sich, dass sie wach geworden war, hoffte, sie würde schnell wieder einschlafen. Sie hatte einen freien Tag, benötigte ihn dringend nach den Strapazen des Wochenendes.

Er suchte seine Kleidungsstücke zusammen, duschte, zog sich an. Robuste Thermojeans, ein dunkelblaues Baumwollhemd, dazu einen samtroten Pullover, um gegen die feuchte Märzkälte gewappnet zu sein. Er aß zwei Brote mit Käse und trank eine Tasse Kaffee. Als er die dicke Jacke übergezogen hatte und vorsichtig einen Blick ins Schlafzimmer warf, sah er, dass Ann-Katrin wieder eingeschlafen war. Er steckte sein Handy in die Tasche, spurtete aus dem Haus, nahm die nächste S-Bahn zum Hauptbahnhof, wechselte dort in den Zug nach Heilbronn.

Nebel versperrte die Sicht beidseits der Schienen, die Lichtkegel der Straßenlampen waren nur schemenhaft auszumachen. Braig gab die Nummer der Heilbronner Kollegen in sein Handy ein, teilte den Termin seiner Ankunft mit. Die Stimme war nur schwer zu verstehen, es knackte und rauschte, als befände sich sein Gesprächspartner am anderen Ende der Welt. Er wusste nicht, ob der Mann seine Mitteilung richtig verstanden hatte, wiederholte die Ankunftszeit mehrmals, um ganz sicherzugehen. Der Kollege äußerte irgendwelche vollkommen unverständlichen Worte, war dann endgültig aus der Leitung verschwunden. Braig steckte das Handy weg, starrte nach draußen, sah die Menschenansammlungen auf den Bahnsteigen der Gegenrichtung. Die Hauptmasse des Verkehrs spielte sich zu dieser frühen Stunde stadteinwärts ab. Er dachte an die nervenaufreibenden Tage in Tübingen zurück, überlegte, wie er Ann-Katrin helfen könne, alles seelisch zu verarbeiten, ohne dass sie allzu lange an ihren Folgen leiden musste. Dass die Zeit in der Universitätsstadt bei ihr nicht ohne Folgen bleiben würde, hatte er in der Nacht mehrfach bemerkt: Drei- oder viermal war er aus dem Schlaf geschreckt, weil sie lauthals stöhnte. Er hatte sich zur Seite gedreht, vorsichtig ihre Stirn und ihre Wangen berührt, damit sie sich beruhigte, war dann nur halbwegs wieder ins Reich der Träume abgetaucht.

Mehrere Monate war es her, seit Ann-Katrins Mutter an einem jener fast unerträglich heißen Frühlingstage des vergangenen Jahres einen Herzstillstand erlitten hatte, der sie trotz aller Bemühungen der Arzte in einen Zustand weithin unbeteiligten Dahindämmerns gestürzt hatte. Stunden, ja halbe Tage hatten sie gemeinsam mit Ann-Katrins Schwester Theresa am Bett der Mutter verbracht, auf jede noch so bescheidene Reaktion wartend, die endlich die Rückkunft der geistig Entschlummerten anzukündigen schien, vergeblich, denn außer einem ruckartigen Hin- und Herwerfen des Kopfes, sobald sie eine vertraute Stimme hörte, hatte sie keine Zeichen einer Verbesserung ihrer Situation erkennen lassen.

»So sehr ich es uns allen wünsche, dass Ihre Mutter wieder zu uns findet«, hatte Dr. Johannes Kammerer, der behandelnde Arzt im Stuttgarter Katharinenhospital nach etwa drei Monaten bangen Wartens erklärt, »ich fürchte, die Gehirnregionen, die für den Zugang zum bewussten Leben und Kommunizieren verantwortlich zeichnen, wurden durch den minutenlangen Mangel an frischer Blutzufuhr so stark geschädigt, dass sie nie mehr volle Funktionen übernehmen können. Natürlich dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich zumindest Teile dieser Gehirnpartien doch noch regenerieren, aber dass dies wirklich geschieht, scheint mehr und mehr ein Warten auf ein Wunder.«

Das Wunder war nicht eingetroffen, Irene Räubers auf die physischen Funktionen reduzierter Körper nicht mehr zu bewusstem Leben erwacht. Tag um Tag lag sie fast unmerklich atmend in einem eigens für diesen Zustand konstruierten, aus mehreren Teilen zusammengesetzten Bett, dessen einzelne Partien sich von einem Rechner gesteuert in genau bemessenen Abständen abwechselnd hoben und senkten.

»Es handelt sich um eine spezielle Konstruktion, die dem Wundliegen ihrer Haut vorbeugt«, hatte Dr. Kammerer erklärt, »durch die ständigen Veränderungen werden jeweils andere Partien ihres Körpers belastet.«

»Mehr können Sie nicht für sie tun?« Die unverhohlene Bitternis in Theresa Räubers Frage war nicht zu überhören gewesen.

Der Arzt hatte nach einem Moment hilflosen Schweigens den Kopf geschüttelt. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Wir haben es jetzt wochenlang mit blutverdünnenden Medikamenten und Infusionen versucht. Natürlich werden sie ihr weiter verabreicht. Aber sonst...«

»Dann kann ich meine Mutter genau so gut zu mir nach Hause nehmen.«

Er hatte Theresa Räuber überrascht gemustert, war dann nicht weiter auf ihre Bemerkung eingegangen. Erst drei, vier Tage später hatte er auf den Vorschlag reagiert.

»Sie haben ernsthaft darüber nachgedacht, Ihre Mutter zu sich zu holen?«

»Gibt es medizinische Einwände dagegen?«

»Sofern Sie einen Facharzt damit beauftragen, sie regelmäßig zu untersuchen, nein. Im Gegenteil: Das Wichtigste, das Ihre Mutter benötigt, ist persönliche Zuwendung. Und die können Sie ihr zuhause sicher weitaus intensiver vermitteln als hier bei uns.«

Ann-Katrin und Braig hatten Theresas Vorhaben verblüfft zur Kenntnis genommen. »Du willst Mama bei dir aufnehmen? In eurer WG?«

»Marion und Ragna sind einverstanden. Sie wollen sich, soweit es ihre Zeit zulässt, sogar um sie kümmern. Wir stellen das Bett in mein Zimmer. Ich habe es ausgemessen, es gibt keine Probleme mit dem Platz.«

Theresa Räuber wohnte seit Beginn ihres Theologie-Studiums mit zwei Kommilitoninnen zusammen in einem älteren Haus in der Nähe des Tübinger Westbahnhofs.

»Die Krankenkasse hat keine Einwände. Im Gegenteil: Die freuen sich darüber, weil sie eine Menge Geld sparen. Sie finanzieren eine Krankenschwester, die zweimal am Tag vorbeischaut und Mama füttert und wäscht, dazu ambulante ärztliche Versorgung in regelmäßigen Abständen. Sie sorgen für denselben Typ von Bett wie im Krankenhaus.«

Zwei Wochen später war Irene Räuber nach Tübingen transportiert worden. Theresa hatte ihr Zimmer umgeräumt, einen Schrank mit dem Einverständnis ihrer Mitbewohnerinnen in den Flur gestellt, um Platz für das breite Bett zu schaffen. Das seltsame Gurgeln der die verschiedenen Luftpolster aufblasenden und entlüftenden Pumpen erfüllte seither Tag und Nacht den Raum.

»Kannst du dabei schlafen?« Braig hatte unverhohlene Bewunderung für Theresa Räubers Verhalten erkennen lassen.

»Die ersten Nächte kam ich kaum dazu. Aber jetzt habe ich mich an die Geräusche gewöhnt.«

Sie hatten die vor sich hindämmernde Frau seither alle paar Tage besucht, Stunden an ihrem Bett verbracht. So sehr die Begegnungen mit der kranken Mutter zur Routine wurden, die Zeit danach offenbarte fast jedes Mal aufs Neue, wie sehr sie Ann-Katrins Psyche belasteten: Depressive Anfälle, Schlafstörungen, ein Hautausschlag im Gesicht waren stets die Folge. Braig hatte der Bitte Theresa Räubers, die Mutter an ihrer Stelle drei Tage und Nächte zu behüten, weil sie im Rahmen ihres Studiums eine Exkursion nach Bielefeld-Bethel realisieren wollte und ihre Mitbewohnerinnen ebenfalls unabkömmlich wären, deshalb nur zögernd nachgegeben. Vom Freitagmittag bis zum späten Montagabend hatten sie in Theresas Zimmer campiert, sich die meiste Zeit auf die Kranke konzentriert. Mit viel Mühe und mehreren Anläufen war es ihm gelungen, Ann-Katrin am Nachmittag des Sonntags zu einem Kinobesuch mit anschließendem Essen zu überreden, doch ihre angespannte Körperhaltung während dieser Stunden zeigte deutlich, wie es in ihrem Inneren aussah. Erst spät am Montagabend waren sie nach Stuttgart zurückgekehrt.

Er hörte die laute Ermahnung des Zugführers, das in Kürze erreichte Heilbronn als Endbahnhof zu verstehen, schrak aus seinen Gedanken. Wie es auch immer weitergehen mochte, Braig hoffte inständig, seiner Freundin würde es bald gelingen, sich von der seelischen Belastung der vergangenen Tage zu erholen.

Er verließ den Zug, drängte sich durch die Menschenmenge, die auf dem Bahnsteig wartete, lief zur Unterführung. Der uniformierte Beamte war schon von Weitem zu sehen. Braig freute sich, dass er ihn trotz der schlechten Verbindung verstanden hatte, lief auf ihn zu, stellte sich vor.

»Das Jahr fängt nicht gut an«, erklärte der Kollege. Er war groß, zeigte blonde, streng gescheitelte Haare, als er seine Mütze absetzte, wies sich als Hauptwachtmeister Harsch vom örtlichen Polizeirevier aus.

Braig überlegte, was er damit andeuten wollte, wartete auf die Erklärung.

»Gerade mal zwölf Tage im März und schon haben wir den zweiten Toten.«

»Den zweiten? Wann gab es den ersten?«, fragte Braig.

»Vorgestern. Ein zehn Jahre alter Junge. Beim Überqueren der Südstraße von einem PKW erfasst. Er war sofort tot.«

»Und heute Nacht?«

»Eine weibliche Leiche. Unterhalb vom Götzenturm.«

»Eine Frau? Wie alt?«

»Keine Ahnung. Ihre Identität wurde noch nicht ermittelt, soweit ich weiß.«

Er führte Braig zum Dienstwagen, der wenige Meter vom Bahnhof entfernt geparkt war.

»Der Fundort der Leiche wurde abgesperrt?«

»Und ob! Wir haben alle Hände voll zu tun. Die Leute gaffen von allen Seiten.«

Braig stieg in den Wagen, wartete, dass der Kollege das Fahrzeug startete. »Die Stelle, wo die Frau gefunden wurde, ist gut einzusehen?«

Harsch ließ ein kurzes, sarkastisches Lachen hören, fuhr los. »Allerdings. Sie liegt direkt am Neckar. An den Treppen, die zum Ufer hinunterführen. Die Schaulustigen stehen auf der Brücke und am anderen Ufer. Zum Glück war es heute Morgen sehr dunstig.«

Braig konnte nicht viel von der Umgebung erkennen, weil immer noch einzelne Nebelschwaden in der Luft hingen, merkte nur, dass der Mann das Auto auf der gegenüber liegenden Seite des Bahnhofs in eine stille Seitenstraße einfädelte, dann kurz nach rechts abbog und langsam einen kleinen Park umrundete.

»Der Kaiser-Friedrich-Platz«, erklärte Harsch, fuhr noch wenige Meter weiter, stellte das Fahrzeug dann am Straßenrand ab. »Über die Brücke gehen wir zu Fuß; Sie werden gleich sehen, weshalb.«

Braig schälte sich aus dem Wagen, sah die Menschenmenge vor sich. Männer, Frauen und Kinder neben- und hintereinander aufgereiht, alle in den Dunst starrend. Er sah, wie sich der uniformierte Kollege einen Weg mitten durch die Menge hindurch bahnte, schloss sich ihm an. Bäume und Büsche mit ersten Frühlingsblüten tauchten aus dem Nebel auf, blieben links und rechts hinter ihnen zurück. Braig kämpfte sich langsam vorwärts, stellte plötzlich fest, dass er mitten auf einer schmalen Brücke stand. Für einen Moment war die Nebelwand zerrissen, das breite, geradlinig verlaufende Bett des Neckars öffnete sich vor seinem Blick. Er blieb stehen, musterte die idyllisch anmutende Szenerie, den auf beiden Seiten von blühenden Bäumen eingefassten Fluss, die sanfte Strömung des Wassers mit einem am Ufer vertäuten, ruhig dümpelnden Passagierschiff, den hoch in den Himmel strebenden viereckigen Turm, unübersehbar ein Relikt der mittelalterlichen Stadtmauer. Er starrte in die Höhe, sah eine Skulptur an der nördlichen Spitze des Turms in atemberaubender Entfernung vom Boden weit in die Luft hinausragen: Ein lebensgroßer Mann auf einer langen Stange über dem Abgrund balancierend.

Braig befand sich in einer traumhaft schönen Umgebung, spürte die Ellbogen an seiner Seite. Er schaute sich um, hörte eine weibliche Stimme, die um Entschuldigung bat, fand sich erneut von einer Nebelfahne verschlungen. Der idyllische Anblick war verschwunden. Wenige Meter weiter stand er plötzlich vor einem rotweißen Kunststoffband, das von mehreren uniformierten Beamten bewacht wurde. Ein Polizeiauto und ein dunkelgrauer Kombi parkten dahinter, von gleißend hellen Strahlern in grelles Licht getaucht. Braig stieg über das Band hinweg, erkannte Harsch, der auf ihn zu schoss.

»Sie müssen entschuldigen, ich habe Sie aus den Augen verloren.«

»Kein Wunder bei den vielen Leuten.«

Er schob sich an den beiden Fahrzeugen vorbei, hatte mit einem Mal wieder eine einzigartig anmutige Szenerie vor sich: Rechts der wuchtige Turm, in der Mitte die von blühenden Bäumen eingefassten Tische und Bänke eines Lokals samt dem dazu gehörigen Gebäude, links das von Bäumen gesäumte Bett des Neckars. Nebelfetzen stiegen vom Flussbett hoch, waberten über die Promenade, verdeckten das Eingangsportal der Gaststätte. Braig glaubte nicht richtig zu sehen, als ein Windstoß das feuchte Grau auseinander riss und er für einen kurzen Moment einen Blick auf den Namen des Lokals erhaschte: Hans im Glück. Er rieb sich seine Augen, starrte noch einmal nach vorne. Wirklich Hans im Glück?

»Die Leiche liegt dort vorne. Direkt an der Treppe.«

Die Stimme des uniformierten Beamten holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Er trat an die Uferbefestigung, erreichte die Treppe, die gleich neben der Brücke zum Fluss hinunterführte. Die Luft war frisch, der Nebel schob sich unangenehm unter die Kleidung. Braig hüllte sich in seine Jacke, drückte sich an dem hier geparkten Kombi vorbei, sah den toten Körper auf dem Boden liegen. Das Licht war so grell, dass es in den Augen schmerzte. Er kniff sie zusammen, überlegte, wie oft er dem, was jetzt auf ihn wartete, in den letzten Jahren schon ausgesetzt gewesen war. Zwei-, drei-, vierhundertmal? Er wusste es nicht, wurde von vertrauten Stimmen in die Gegenwart zurückgeholt.

»Hier, das ist der Abdruck.«

Braig sah Lars Rauleder am Rand des Platzes knien. Er zeigte auf einen dunklen Fleck auf dem Boden, machte Helmut Rössle Platz, der die Partie aufmerksam musterte. Die Spurensicherer waren vollkommen in ihre Arbeit vertieft, hatten seine Ankunft nicht wahrgenommen.

»Was für ein Abdruck?«, fragte er laut.

Die beiden Männer sahen auf, warfen ihm einen kurzen Gruß zu. »Die Tote«, erklärte Rauleder, »sie wurde mit einem Auto hierher transportiert und am oberen Ende der Treppe abgelegt. Der Fahrer raste mit hohem Tempo wieder los. Hier sind die Reifenspuren. Vielleicht können wir was damit anfangen.«

»Mit hohem Tempo? Woher willst du das wissen?«

»Weil ihn die Kerle, die uf die Leiche gstoße sind, wahrscheinlich überrascht hent«, knurrte Helmut Rössle.

»Den Täter?«

Rauleder streckte seine Arme von sich, legte die Stirn in Falten. »Wenn wir das wüssten! Du musst mit ihnen reden, vielleicht hilft es weiter.«

Braig hatte Schwierigkeiten, die Zusammenhänge zu verstehen, verzichtete vorerst aber auf weitere Fragen, weil er die Blicke zweier ihm unbekannter Leute auf sich gerichtet sah. Eine etwa vierzigjährige, mit einem dicken, roten Anorak bekleidete Frau und ein kaum älterer, uniformierter Beamter standen unmittelbar vor der Leiche.

Er stellte sich vor und erfuhr, dass es sich um die Ärztin, Frau Dr. Ulmer und den Kollegen Bauer vom örtlichen Revier handelte. »Sie haben die Tote bereits untersucht?«, fragte Braig.

Dr. Ulmer nickte. »Sie war längst tot, als sie hier abgelegt wurde, das lässt sich ohne Zweifel sagen. Sieben, acht Stunden, schätze ich. Es gibt keinerlei Blutspuren. Aber es muss ein schrecklicher Tod gewesen sein. Unfassbar, was der Täter ihr alles angetan hat. Das habe ich in all meinen Jahren als Ärztin noch nie gesehen.« Sie klang verschnupft, zog mehrfach die Nase hoch, bevor sie weitersprach, drehte sich schließlich zur Seite, um in ein Taschentuch zu schnäuzen.

Braig sah, dass sie am ganzen Leib zitterte. »Warum tun Sie sich das an?«, fragte er. »Sie gehören ins Bett.«

Die Ärztin winkte mit der rechten Hand ab, wies auf die Leiche. »Dagegen sind meine Beschwerden harmlos.«

Er wunderte sich über die Absurdität des Vergleichs, wandte sich der toten Frau zu. Der Anblick traf ihn ins Mark. So viele Ermordete er schon gesehen hatte, diesen Anblick würde er nicht so schnell aus seinem Gedächtnis löschen können. Die Frau war vor ihrem Tod übel zugerichtet worden. Hämatome auf Stirn und Wangen, Hautabschürfungen am Kinn und auf der Nase und über alldem verzerrte Gesichtszüge voller Pein und Qual. Ein Alter zu schätzen, war fast unmöglich, irgendwo zwischen dreißig und sechzig, er wagte es nicht zu beurteilen. Sie war mit einer leichten hellen Bluse bekleidet, viel zu dünn für diese niedrigen Temperaturen, aber Probleme dieser Art waren für sie endgültig passé.

»Ihr Körper sieht genauso aus wie ihr Gesicht.«

Die Worte der Ärztin rissen Braig aus seinen Überlegungen. Seine fragende Miene zeigte, dass er ihren Sinn noch nicht erfasst hatte. »Sie meinen...«

Dr. Ulmer schnäuzte sich wieder, bückte sich dann nieder. »Wir können sie umdrehen, Ihre Kollegen haben alles fotografiert.« Sie drehte die Tote auf die Seite, schob die Bluse und das Shirt darunter hoch.

Braig warf nur einen kurzen Blick auf den Rücken der Frau, hatte augenblicklich genug. »Mein Gott, wer war da am Werk?«

»Das frage ich mich auch«, pflichtete ihm die Ärztin bei.

Der Rücken war genau wie das Gesicht übersät von Hämatomen, aufgeplatzten Wunden, blutverkrusteten Hautpartien, dazu seltsam verformt, als sei die Frau zwischen zwei Mühlsteine geraten.

»Woran ist sie gestorben?«, fragte Braig. »Wagen Sie einen Befund?«

Die Ärztin reagierte erst nach einigen Sekunden, ein frisches Taschentuch vor ihre Nase gepresst. »Sie meinen, weil die Auswahl so groß ist...«

Braig nickte, tastete die Haut der Leiche vorsichtig ab. Sie war kalt.

»Drehen Sie sie um, dann können Sie es erkennen.« Dr. Ulmer griff der Toten unter die Schulter, wandte den Körper auf den Rücken.

Braig schrak zusammen. Der Bauch der Frau war völlig deformiert, die Hüfte abnormal verzogen, auf der Linken deutlich verrenkt.

»Sie wurde mehrfach überfahren. Das war wohl das endgültige Ende«, erklärte die Ärztin.

»Mehrfach? Von verschiedenen Fahrzeugen?«

»Ich weiß es nicht. Das ist Ihre Sache, das herauszufinden.«

Braig nickte, seufzte laut auf. »Dann wurde die Frau also mit unzähligen Schlägen auf den Leib und ins Gesicht malträtiert, anschließend mehrfach überrollt, vielleicht auf einer stark befahrenen Straße und schließlich – Stunden später erst, wenn ich das richtig verstehe – hier abgelegt.« Er schaute fragend zu der Ärztin, sah ihr vorsichtiges Kopfnicken.

»So könnte ich mir das vorstellen, ja. Aber natürlich muss ich Sie darum bitten, die Analysen der Gerichtsmedizin abzuwarten. Sie wissen, mein Urteil ist nur vorläufiger Natur.«

»Das ist mir klar.« Braig betrachtete den zerschundenen Körper der Toten, war noch nicht am Ende seiner Überlegungen. »Sie ist seit mehreren Stunden tot, richtig?«

Dr. Ulmer nickte.

»Gegen Mitternacht?«

»Eher noch ein paar Stunden früher.«

»Vergewaltigt?«

»Sie ist dermaßen von Hämatomen und Wunden übersät, auch im Schambereich, dass ich Ihnen darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Warten Sie den Befund der Kollegen ab.«

»Womit wurden ihr die Verletzungen zugefügt? Mit der Hand?«

Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Eher nein. Sie sind dermaßen ausgeprägt, dass ich auf härtere Gegenstände schließen würde. Holz, Werkzeuge, irgendwelche massiven Stücke, die sich gut zum Schlagen eignen.«

»Und anschließend mehrfach überfahren, um von den schrecklichen Verletzungen abzulenken?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ein außer Kontrolle geratener Liebhaber, keine Ahnung.«

»Aber warum hat er sie dann nicht einfach auf der Straße liegen lassen, sondern hierher transportiert?« Braig sah ihre ratlose Miene, spürte die feuchte Kälte in seine Kleidung kriechen. Er zog seinen Schal zurecht, hüllte sich fester in seine Jacke. »Wissen wir etwas über ihre Identität?«

»Nur das hier.« Dr. Ulmer machte sich an der Bluse und der Hose der Verstorbenen zu schaffen, brachte zwei schmale, keine fünf Zentimeter langen Stoffanhängsel zum Vorschein. »Ich habe sie vorhin entdeckt.«

Er beugte sich nieder, las auf beiden Teilen denselben aufgedruckten Namen. Marianne Kindler. »Eine Modemarke?«

»Mir ist sie unbekannt.«

»Sie glauben, die Frau ließ ihren Namen in ihre Kleidung einsticken?«

»Wieso nicht? Ich kenne Leute mit ganz anderen Marotten. Vielleicht war sie im Krankenhaus oder zur Kur. Dann empfiehlt es sich doch, gekennzeichnete Kleider zu tragen, damit sie nicht verwechselt werden können.«

Braig fand das Argument stichhaltig, nickte. »Sonst haben wir keine Hinweise auf ihre Identität?«

Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Ich habe schon mit Ihren Kollegen darüber diskutiert. Sie haben nichts gefunden.« Sie wies auf Rauleder und Rössle, die immer noch mit dem Abdruck auf dem Asphalt beschäftigt waren.

»Dann muss ich es mit Marianne Kindler versuchen.« Braig gab die Nummer des LKA in sein Handy ein, hatte die Stimme Stöhrs in der Leitung. Ungewohnt leise, gerade noch zu verstehen.

Er buchstabierte den vermeintlichen Namen der Toten, bat den Kollegen, ihn zu überprüfen.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Er spitzte die Ohren, versuchte, sich auf die Stimme seines Gesprächspartners zu konzentrieren.

»Eine Marianne Kindler haben wir zweimal. In Korb in der Rosenstraße, Geburtsjahr 1958...«

»1958«, überlegte Braig, »das könnte hinkommen. Kann ich bitte die Telefonnummer haben?« Er wartete auf die Angaben Stöhrs, notierte sich die Ziffern. »Wo lebt die zweite Frau dieses Namens?«

»In Oettingen im Klaus-Röder-Weg. Sie wurde 1960 geboren. Hier ist die Telefonnummer.«

Braig hatte angesichts der Kälte Schwierigkeiten, seine Hände zu bewegen, benötigte mehrere Anläufe, bis er auch die zweite Ziffernfolge deutlich lesbar auf seinem Notizblock festgehalten hatte. Er bedankte sich bei dem Kollegen, steckte sein Mobiltelefon zurück.

»Es gibt zwei Frauen dieses Namens in der Nähe?«, fragte Rauleder von der Straße her.

»Noch dazu im passenden Alter. Hoffentlich kann ich telefonisch abklären, um welche der beiden Frauen es sich handelt. Falls sich der Aufdruck auf der Wäsche wirklich auf die Tote hier bezieht.«

Er sah, dass die Ärztin ihren Koffer packte, mühsam mit der Rechten ihre Utensilien zusammensuchend, die Linke mit einem Papiertaschentuch vor die Nase gepresst, bedankte sich für ihre Auskunft.

Dr. Ulmer verzichtete darauf, ihm die Hand zu geben, winkte ihm zu. »Nicht, dass ich Sie noch anstecke...«

Er wartete, bis sie im Nebel verschwunden war, wandte sich an den uniformierten Kollegen. »Wo finde ich die Männer, die die Leiche entdeckt haben?«

Bauer zeigte auf das Gelände hinter dem Götzenturm. »Die sitzen bei einem Kollegen im Wagen.«

Braig trat aus dem grellen Licht, passierte die Tische und Stühle des Lokals, kam am Turm vorbei. Er sah die beiden Tafeln, die im Mauerwerk befestigt waren, überflog den Text. Götzenturm. Südwestecke der alten Stadtbefestigung von 1392. Name nach Götz von Berlichingen, der aber nie hier gefangen saß. Etwa zwei Meter weiter prangte ein weiteres Schild: Hubertus von Goltz: »Über dem Abgrund« (1985).

Er starrte in die Höhe, sah die Skulptur weit in die Luft hinaus ragen, begriff, wie zutreffend ihre Bezeichnung war.

»Darf ich wissen, was Sie hier suchen?«

Braig schrak zusammen, sah einen uniformierten Beamten vor sich stehen. Er zog seine Karte vor, wies sich aus.

»Sie müssen entschuldigen, aber hier sind dermaßen viele Neugierige. Wir haben alles abgesperrt.« Der Kollege machte einen erschöpften Eindruck. Er hatte in den vergangenen Stunden offensichtlich kaum Ruhe gefunden.

»Ich suche die Männer, die die Leiche gefunden haben. Ich möchte sie befragen.«

Der Beamte nickte mit dem Kopf. »Kommen Sie. Es ist nicht weit. Wir haben sie gebeten, auf Sie zu warten.«

Sie stiegen über das Absperrband, das vom Turm zur Gaststätte gespannt war, bogen in die Götzenturmstraße ein, in der ein kleiner Polizeibus parkte. Der Mann klopfte an die Scheibe, öffnete die Schiebetür. »Darf ich vorstellen, ein Kollege vom LKA.«

Zwei junge Männer in Jeans und dicken Jacken schauten ihn aus müden Augen an. »Sind Sie endlich der Kommissar, auf den wir warten müssen?«, polterte der Ältere. Er hatte einen muskulösen Körperbau, schien Mitte zwanzig, hatte kurze rote Haare.

Braig stieg in den Bus, schloss die Tür. »Ich will sie nicht lange aufhalten«, antwortete er, die gereizte Stimmung der Männer vor Augen, »aber Sie haben die Leiche der Frau vorne an der Treppe gefunden, wenn ich richtig informiert bin, ja?«

»Aber das haben wir doch mehrfach erzählt!«, schimpfte der Rothaarige. »Wie oft sollen wir es noch wiederholen? Wir müssen zur Arbeit, glauben Sie, wir werden fürs Rumgammeln bezahlt?«

Braig hatte keine Lust, sich so abkanzeln zu lassen. So berechtigt der Ärger des Mannes sein mochte, auch er hatte seine berufliche Pflicht zu erfüllen. »Da draußen auf der Straße liegt eine tote Frau«, sagte er. »Sie wurde ermordet. Mit unzähligen brutalen Schlägen. Ihr Gesicht und ihr Körper sind völlig entstellt. Ich will wissen, wer das getan hat. Dazu benötige ich Ihre Hilfe. Vielleicht können Sie mir ein paar Minuten schenken, auch wenn Sie jetzt lieber woanders wären. Ich könnte mir auch eine angenehmere Beschäftigung vorstellen.« Er hatte den Ton seiner Stimme verschärft, sah die Reaktion der Männer, die abwehrend ihre Hände emporstreckten, sich dann einer nach dem anderen in ihrem Sitz zurückschoben.

»Ist ja schon gut«, erklärte der Rothaarige, »was wollen Sie wissen?«

Braig fragte nach den Namen, notierte sie samt Anschrift und Beruf. Roland Bergel und Norbert Reusch, beide aus Heilbronn, siebenundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt, Lagerarbeiter bei einer Spedition.

»Was haben Sie gesehen, als Sie heute Morgen hierher kamen? Erzählen Sie es mir bitte so genau wie möglich.«

Bergel, der bisher das Wort geführt hatte, wies auf seinen Kollegen. »Sag du es ihm, du hast mehr mitbekommen.«

Reusch nickte, wischte die Hände an seiner Hose ab. Er hatte eine untersetzte Gestalt, trug eine Brille mit auffallend dicken Gläsern. »Wir sahen ein Auto. Genau dort, wo die Frau liegt. Jemand machte sich am Kofferraum zu schaffen.« Er wusste nicht weiter, sah Hilfe suchend zu Braig.

»Wann war das?«

»Kurz nach halb sechs heute Morgen.«

»Sie sahen auf Ihre Uhr?«

»Nein, das nicht.« Reusch schüttelte den Kopf, deutete auf seinen Kollegen. »Erst später, als wir vor der Frau standen und darüber nachdachten, ob sie noch lebt. Da holte Roland seine Uhr vor. Sie zeigte fünf Minuten nach halb sechs.«

»Was sahen Sie genau? Ich meine, was machte der Mann am Kofferraum des Wagens?«

»Ich weiß es nicht. Es war völlig dunkel, alles voller Nebel. Und es war verteufelt früh. Wir waren beide noch sehr müde, als wir die Treppe hoch kamen.«

Bergel nickte zur Bestätigung der Worte seines Kollegen mit dem Kopf.

»Die Treppe, an deren oberem Ende die Leiche abgelegt wurde?«

»Nein. Die andere Treppe. Ungefähr zehn Meter davon entfernt.«

Braig erinnerte sich an die Szenerie, konnte sich genau vorstellen, wovon der Mann sprach. »Trotzdem. Holte der Mann etwas aus dem Kofferraum? Die Leiche der Frau etwa?«

Reusch ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Ich weiß es nicht. Es sah aus ...« Er zögerte.

»Ja?«

»Er machte einen Schwenk vom Auto Richtung Treppe, bückte sich. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Das heißt, er kann die Leiche dabei abgelegt haben.«

Reusch zuckte nur mit der Schulter.

»Was meinen Sie?« Braig drehte sich zur Seite, richtete die Frage an den Kollegen des Mannes. »Kann es sein, dass der Mann die Leiche gerade auf die Straße warf, als Sie hier ankamen?«

»Mich dürfen Sie nicht fragen«, antwortete Bergel, »ich lief mehrere Meter hinter Norbert und war schon ziemlich fertig. Vom Laufen, meine ich.« Er fuhr sich durch seine roten Haare, hob bedauernd seine Hände. »Tut mir Leid. Ich sah erst genau zu dem Kerl hin, als Norbert laut schimpfte. Was ist denn mit dem los, oder so ähnlich. Aber da war von dem nichts mehr zu sehen. Nur noch der Umriss eines Autos, das mit irrsinnigem Tempo auf die Brücke raste und im Nebel verschwand.«

»Der Mann sprang in seinen Wagen, als Sie sich ihm näherten?«

Reusch nickte. »Er muss uns gehört haben. Genau in dem Moment, als er sich zur Treppe hin beugte. Plötzlich drehte er sich um und starrte zu uns her. Dann rannte er auch schon zu seinem Auto und jagte davon.«

»Und der Kofferraum?«

»Der stand offen. Deswegen schimpfte ich doch so. Was ist mit dem los, habe ich wohl gesagt, wieso schließt der nicht seinen Kofferraum?«

»Wie sah er aus?«

»Der Kerl?« Reusch schaute ratlos zu Braig. »Um Gottes Willen, das dürfen Sie nicht fragen, ich sah nur seine Umrisse. Wie ein Gespenst im Nebel, mehr nicht.«

»Groß, klein, dick, dünn, jung, alt?« Braig betrachtete seine Gesprächspartner, einen nach dem anderen. »Irgendwie müssen Sie ihn doch beschreiben können!«

»Ich nahm nur die Umrisse wahr, sage ich Ihnen, sonst nichts. Ich weiß nicht, wie der Kerl aussah.«

»Aber es handelte sich um einen Mann. Oder könnte es auch eine Frau gewesen sein?«

Reusch starrte Braig mit großen Augen an. »Eine Frau?«

Der Kommissar gab keine Antwort, ließ ihn überlegen.

»Ich weiß es nicht.« Der Mann setzte seine Brille ab, hob ratlos seine Hände. Die Brille baumelte in seiner Rechten hin und her. »Wirklich. Ich weiß es nicht.«

Braig atmete tief durch, fuhr sich überlegend durch die Haare. »Okay, lassen wir das. Es war dunkel und neblig und sehr früh am Tag. Niemand kann Ihnen einen Vorwurf machen, dass Sie die Person nicht beschreiben können. Wir wissen ja nicht einmal, ob es sich wirklich um den Mörder der Frau handelt.«

»Aber warum soll er sonst mit offenem Kofferraum davon gerast sein – wie ein Verrückter?«

»Vielleicht war er nur zufällig hier vorbeigekommen und hatte die Frau auf dem Gehweg entdeckt. Um nicht in Verdacht zu geraten, raste er davon, als er Sie kommen hörte.«

»Ohne Licht? Wieso hatte er die Beleuchtung seines Autos abgeschaltet?«

»Er hatte kein Licht?«

»Natürlich nicht«, sagte Reusch, »das Fahrzeug stand vollkommen dunkel, ohne jede Beleuchtung da.« Er setzte seine Brille wieder auf, rückte sie zurecht.

»Und er fuhr ohne Licht davon? In diesem Nebel?«

»Na, sage ich doch!«, erklärte der Mann mit unüberhörbarem Triumph in der Stimme. »Ohne Licht. Und mit offenem Kofferraum!«

Braig massierte seine rechte Schläfe, hinter der er ein heftiges Pochen spürte. So wie Reusch den Vorgang beschrieben hatte, deutete in der Tat vieles darauf hin, dass es sich um die Person handelte, die die Frau wenn nicht getötet, so doch zumindest hier auf dem Gehweg abgelegt hatte. Wer anders als der Mörder aber sollte dies getan haben? »Das Auto«, sagte er, »konnten Sie erkennen, um welches Modell es sich handelte?«

Die Reaktion der Männer erfolgte fast synchron. Beide hoben ihre Hände, starrten Braig mit angestrengter Miene an. »Wir versuchen es den ganzen Morgen schon«, antwortete Bergel, »aber...« Er verstummte, streckte ratlos seine Hände von sich weg.

»Ein großer Wagen?«, versuchte Braig zu helfen, »oder eher ein kleiner? Ein weit verbreitetes Modell oder ein selteneres?«

»Es hat keinen Sinn«, erwiderte der Mann, »es geht wirklich nicht, es war zu dunkel. Zu dunkel und zu neblig. Und zu früh. Wir waren beide noch nicht richtig wach. Tut mir Leid, aber so ist es nun mal.«

»Dann können Sie auch zur Farbe des Autos nichts sagen? Oder zu seinem Kennzeichen?«

Reusch schaute Braig durch seine dicke, die Größe seiner Augen abnormal verzerrende Brille an. »Dunkel«, sagte er, »ein dunkles Auto. Aber das heißt nicht viel. Heute Morgen war alles dunkel. Die Straße und die Häuser. Und das Auto auch.« Er schüttelte bedauernd den Kopf.

Braig spürte, dass das Gespräch keine nennenswerten Erkenntnisse mehr brachte, wollte nur noch einen Punkt zur Sprache bringen, der ihm immer stärker auf den Nägeln brannte. »Es war neblig und noch ziemlich dunkel heute Morgen«, sagte er, »keine angenehmen Bedingungen also. Können Sie mir sagen, warum Sie dann so früh unterwegs waren?«

»Wir?« Bergels Stimme drohte sich zu überschlagen. »Verdächtigen Sie jetzt etwa uns?«

»Wessen sollte ich Sie verdächtigen?«

»Die Leiche hier abgelegt zu haben, was denn sonst?« Die Aufregung war beiden Männern ins Gesicht geschrieben.

»Und? Haben Sie es getan?«, fragte Braig.

Bergel sprang in die Höhe, stieß mit dem Kopf an die Decke des Wagens. »Sind Sie verrückt? Glauben Sie, wir hätten dann die Polizei gerufen?« Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel, starrte Braig wütend an. »Ist das der Dank, dass wir so lange auf Sie gewartet haben?«

Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, weshalb Sie sich so aufregen. Ich habe keinerlei Verdacht geäußert. Obwohl wir das schon erlebt haben, dass Täter als vermeintliche Zeugen auftreten. Aber bei Ihnen wundert mich nur, dass Sie so früh unterwegs waren. Zum Joggen?«

Bergel beruhigte sich wieder, nahm erneut Platz. »Natürlich. Was denn sonst?«

»Also, mich bekämen Sie freiwillig nicht so früh aus den Federn.«

»Wir machen das auch nicht oft«, gab der Mann zu, »aber unsere Kondition...« Er zögerte, überlegte, wie er fortfahren solle, setzte dann erneut an: »Wir spielen Fußball. Beide. Na ja, in letzter Zeit waren wir einfach nicht mehr so fit und deshalb beschlossen wir, von jetzt an morgens ... Fitnesstraining, verstehen Sie?«

Braig kam die Antwort etwas zu stockend, irgendwie auch krampfhaft bemüht. Er glaubte zwar nicht, dass die Männer etwas mit dem Tod der Frau zu tun hatten, konnte sich trotzdem nicht vorstellen, dass sie freiwillig so früh unterwegs gewesen waren, nur um sich fit zu halten. Er musste den Kollegen auftragen, Bergel und Reusch zu überprüfen. »Fitnesstraining«, wiederholte er, »Sie laufen am Neckar entlang?«

Bergel nickte, dankbar, dass Braig ihm Glauben schenkte. »Wir wohnen in der Roßkampffstraße, in der Nähe vom Bahnhof.« Er zeigte in die Richtung des Neckars. »Von dort joggen wir hierher zur Götzenturmbrücke, dann drüben am Wasser entlang bis zur Ebertbrücke und auf dieser Seite wieder zurück. Da haben wir fast die ganze Zeit frische Luft.«

»Und als Sie heute Morgen die Treppe hochliefen, stand der Mann mit dem Auto vor Ihnen.«

»Genau!«, bestätigte Bergel mit kräftiger Stimme, »ganz genau!«

Braig betrachtete ihn nachdenklich, atmete tief durch. Die Antwort kam ihm zu schnell, zu laut, zu plakativ.

Weswegen waren die beiden so früh unterwegs?

»Aber dann raste der Kerl auch schon los«, mischte sich Reusch ins Gespräch, »über die Brücke.«

»Dann müssen wir ja froh sein, dass Sie schon so früh unterwegs waren und uns sofort benachrichtigten.«

Braig sah das eifrige Nicken der Männer, spürte, dass es nichts mehr brachte, sich jetzt noch länger mit ihnen zu beschäftigen. Sein Misstrauen ihnen gegenüber war nicht beseitigt, im Gegenteil; sie in Zusammenhang mit dem Tod der Frau zu bringen, schien ihm jedoch nicht angebracht. Wenn ein Gespräch mit ihnen überhaupt noch einen Sinn haben sollte, musste er sich und ihnen Zeit zum Nachdenken einräumen, eine Frist von mehreren Stunden oder gar Tagen, in denen sie gemeinsam überlegen konnten, ob es nicht doch irgendeinen Anhaltspunkt gab, der auf ein bestimmtes Automodell oder das Aussehen des Mannes hinwies – ein winziges, in Anbetracht seiner gegenwärtigen Ermittlungslage dennoch absolut wichtiges Indiz, das in seinen Auswirkungen nicht zu unterschätzen war. Außerdem musste er Erkundigungen über die beiden einziehen, schon um sich darüber sicher zu sein, wieweit er ihren Aussagen überhaupt vertrauen konnte. Er bedankte sich für das Gespräch, bat sie, ihn zu benachrichtigen, falls ihnen noch etwas einfiele, reichte ihnen seine Karte, verließ den Bus.

Die Sache sah nicht gut aus, war er sich bewusst, als er zum Fundort der Leiche zurücklief, angesichts des anfangs so viel versprechenden Zufalls des Zusammentreffens der beiden angeblichen Sportler mit dem vermeintlichen Täter eine enttäuschende Ausbeute, was die Informationen über die Identität des Mannes anbetraf. Er musste sich auf das persönliche Umfeld der getöteten Frau konzentrieren; Verletzungen in einem solchen Ausmaß, wie sie sie hatte erleiden müssen, resultierten fast immer aus Konflikten persönlicher Beziehungen heraus, soviel war ihm aus seiner langjährigen beruflichen Erfahrung klar. Nur Menschen, die sich eine Zeit lang in einem besonders ausgeprägten Maß einander zugetan fühlten, waren dazu imstande, ins Extrem gegenteiliger Emotionen zu verfallen und diese dann – vom Verstand vollkommen isoliert – an die Oberfläche kommen zu lassen – mit all den schrecklichen Auswirkungen, die dieses Wüten hervorrufen konnte. War die tote Frau einer solchen Gewaltorgie ihres Ehemannes, Freundes oder eines ehemaligen Geliebten zum Opfer gefallen?

Er hatte die Stühle und Tische der Gaststätte erreicht, sah die Menschenmenge vor sich, die ringsum an den Absperrungen wartete. Mehrere Männer standen vor Kälte mit den Füßen aufstampfend beieinander, in lautstarke Diskussionen vertieft, den Asphalt vor sich im Visier. Die Szene ödete ihn an. Braig blieb stehen, gab die erste der beiden Nummern, die auf Marianne Kindler lauteten, ins Handy ein. Er musste nicht lange warten, hatte unter kräftigem Rauschen und Knacken eine jugendlich klingende Frauenstimme am Ohr. »Hier ist Steffen Braig«, meldete er sich, »bin ich mit Marianne Kindler verbunden?«

»Die bin ich, genau«, antwortete die Frau, »was wollen Sie von mir?«

Er atmete erleichtert auf, blies die kalte Luft von sich, die sofort zu einer flüchtigen Nebelwolke kondensierte.

»Was wollen Sie?«, wiederholte die Frau.

»Ihnen einen schönen Tag wünschen«, stammelte Braig, »und weiterhin alles Gute.« Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte, hatte keine Lust, sich in langen Erklärungen zu ergehen, gab die zweite Nummer ein. Diesmal dauerte es länger, bis sich jemand meldete.

»Ja, Kindler hier.« Die Stimme des Mannes drohte im Geschrei der neugierigen Gaffer unterzugehen. Nur mit Mühe konnte er ihn verstehen.

»Kann ich bitte Marianne Kindler sprechen?«

»Mei Weib? Die isch net do.«

»Wissen Sie, wo ich sie erreichen kann?«

»Des dät i selbscht gern wisse. Um was gohts?«

Braig spürte, dass er nicht mehr lange um den heißen Brei herumreden konnte. »Mein Name ist Braig, ich bin vom Landeskriminalamt.«

»Polizei?«

»Genau. Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?«

»Wieso? Isch was passiert?«

»Beantworten Sie bitte meine Frage.«

»Wann i se zom letzte Mal...« Der Mann zögerte, überlegte. »Geschtern Mittag.«

»Wo war das?«

»Hier, bei os in Oettinge.«

»Sie war also heute Nacht nicht zuhause?«

»Noi. Ond i ka Ihne au net sage, wo se gwä isch. I denk, uf Werbeveranschtaltunge in verschiedene Gaschthäuser.«

»Was für Werbeveranstaltungen?«