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Menschen im Rathaus

von
Prof. Dr. Gunnar Schwarting
Geschäftsführer des Städtetags Rheinland-Pfalz

Kommunal- und Schul-Verlag · Wiesbaden

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Rathaus

Erdgeschoss links

Erdgeschoss rechts

1. Stock Mitte und Rechts

1. Stock links

2. Stock rechts

2. Stock links

3. Stock rechts

3. Stock links

4. Stock rechts

4. Stock links

Mit dem Fahrstuhl zurück

Vorwort

Ein Rathaus ist ein Mikrokosmos. In ihm arbeiten viele Menschen, die lediglich der Arbeitgeber eint, die aber ansonsten vollkommen verschieden sind. Das gängige Vorurteil, „die im Rathaus” seien eine besondere Sorte Mensch, ist ebenso unsinnig wie die Annahme, es gebe „den Beamten”. Niemand, der hier beschrieben wird, existiert wirklich; und doch: Die meisten Eigenheiten – seien sie nun positiv oder auch weniger angenehm – hat der Autor selbst erlebt und gesehen. Er hat sie nur kräftig durcheinander geschüttelt und durch eigene Erfindungen ergänzt, um neue Persönlichkeiten entstehen zu lassen. Selbstverständlich sind nicht alle Beschäftigten dieser Verwaltung in dem kleinen Buch vereint – das würde viel zu umfangreich und möglicherweise irgendwann auch langweilig werden. Aber der kleine Ausschnitt aus einem großen Kreis mag einen Eindruck davon geben, wie es in einem wirklichen Rathaus sein kann.

Dass die Menschen nicht nur im Dienst sind, sondern darüber hinaus auch ein Privatleben besitzen, ist zwar eine Banalität, wird im Alltag eines Rathauses aber oft vergessen. Doch nur wer den ganzen Menschen kennt, kann ihn auch beurteilen. Dass dennoch nicht alles offenbar wird, sondern sich in geheimen Winkeln der Persönlichkeit versteckt, ist ebenso selbstverständlich. Nur wenige tragen ihr ganzes Herz auf der Zunge. Aber das Verborgene zu beschreiben, erhöht den Reiz, den die Figuren ausüben.

Auch das Rathaus ist eine Fiktion, aber Teile wird man in dem einen oder anderen real existierenden Verwaltungsgebäude aus jener Zeit, in der es errichtet wurde, erkennen können. Dass es nicht in Nord- oder Süddeutschland liegt, wird durch den Verweis auf den Karneval deutlich. Das ist aber schon die einzige konkrete Spur, die sich verfolgen lässt. Würde man stattdessen von Fasching oder Fasnet sprechen, ließe sich das Haus mühelos in andere Regionen Deutschlands transportieren.

Der Autor hofft, dass der Leser den Figuren, die ihm beim Schreiben mit all ihren Stärken und Schwächen ans Herz gewachsen sind, ebenfalls Sympathie entgegenbringt. Vielleicht entdeckt er ja auch Wesenszüge seiner selbst oder von Kolleginnen und Kollegen …

Mainz im Winter 2011/12

Das Rathaus

Nein, schön kann man es wirklich nicht nennen, das städtische Rathaus. Als vierstöckiger länglicher Kubus ragt es direkt neben dem Marktplatz empor, in seiner Entstehungsphase irgendwann Mitte der 1970er Jahre euphemistisch als moderner Funktionsbau bezeichnet. Das leicht abgetönte Weiß seiner Fassade ist für die umgebenden Bauten aus gelbem oder rotem Klinker viel zu hell, so dass das Gebäude abgesehen von seiner Größe, der kein anderes Haus in der Nähe auch nur halbwegs entspricht, auch farblich unangenehm hervorsticht. Das alte Rathaus, noch in den letzten Jahren des Kaiserreichs errichtet, scheint angesichts des mächtigen Nachbarn zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen, hätte es nicht die Freitreppe, die von Hochzeitspaaren so gern für das obligate Foto genutzt wird.

Kaum jemand erinnert sich mehr daran, was eigentlich vor dem Bau an dieser Stelle gewesen war. Manche erwähnen einen staubigen Parkplatz, auf dem früher auch Feldhandball gespielt worden sei (eine Sportart, die heute kaum noch jemand kennt); andere meinen, es hätte aber auch einige kleine Häuschen gegeben, wie es sie am Rande des Stadtkerns immer noch gibt. Arbeiter der nahen Fabrik hatten in diesen Häusern gewohnt, doch es gab in ihnen weder Toiletten noch eine moderne Heizung. So waren die letzten Bewohner durchaus nicht empört, als man ihnen anbot, in neue, modern ausgestattete Wohnungen nur zehn Minuten fußläufig entfernt zu ziehen. Der ein oder andere allerdings, der schon in der wievielten Generation in der kleinen Kate gelebt hatte, mochte den Heimatboden nur schweren Herzens verlassen.

So aber war das neue Rathaus entstanden, das der Bürgerschaft zeigen sollte, dass der Ort sich von einem Dorf in eine kleine Stadt verwandelt hatte. In einem Teil des Erdgeschosses wurde ein Supermarkt untergebracht, auch das ein Zeichen, dass es mit dieser Stadt aufwärts ging. Der damalige Bürgermeister lobte denn auch, wie den Archiven der Zeitungen der Stadt (damals gab es sogar noch zwei, die eine eher christ-, die andere eher sozialdemokratisch) zu entnehmen ist, „die stolze Größe dieses Hauses, das den ungebrochenen Aufbauwillen unserer Väter und die großen Zukunftspläne unserer Kinder in so unnachahmlicher Weise in sich birgt.”

Doch schon damals war die Bürgerschaft durchaus geteilter Meinung und bald wurde das Rathaus spöttisch auch „Der Schuhkarton” genannt, dies nicht ganz ohne Berechtigung, denn als einziges architektonisches Merkmal besaß das Gebäude einen kleinen Dachvorsprung, der vielleicht einen halben Meter nach unten gezogen war und damit tatsächlich einem Kartondeckel ähnelte. Lediglich die Tatsache, dass nach der Jahrtausendwende auf dem Dach eine Solaranlage installiert worden war, hätte den Begriff „Schuhkarton” unpassend werden lassen; doch der Volksmund korrigierte sich nicht mehr. Inzwischen hatten sich auch die Kommunalpolitiker die Sprachweise zu eigen gemacht, allerdings erst, als der damalige Bürgermeister nicht mehr im Amt war. Vor wenigen Jahren war er gestorben und man hatte ihm zu Ehren den Platz vor dem neuen Rathaus nach ihm benannt. Es blieb jedoch noch genug Fläche übrig, um den Zufahrtsweg, der auch in die Tiefgarage führte, zur „Straße der Deutschen Einheit” zu machen. Lieber hätte man ihn zwar zu einer Allee erhoben, aber die Kürze des Weges, den nur zwei Bäume säumten, hätte dies wahrlich nicht gerechtfertigt.

War das neue Rathaus selbst kein Kunstwerk, so fand sich doch eines vor seinem Eingang. Denn wie zu jedem öffentlichen Neubau war auch hier „Kunst am Bau” vonnöten. Zehn Künstler waren aufgefordert worden, einen Vorschlag einzureichen; sechs beteiligten sich an diesem Wettbewerb. Eine Jury mit dem Bürgermeister als Vorsitzenden hatte aus den Wettbewerbsbeiträgen einen auszuwählen. Auch wenn das Beratungsergebnis offiziell geheim blieb, so war doch allen bekannt, dass es heftige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Jury gegeben hatte. Denn ein Mitglied hatte später in der Zeitung sehr heftig gegen die populistische Kunst gewettert, die der zeitgenössischen Kunst so wenig entspreche wie ein „Dackel einem Kalb”.

Zwar war der Vergleich etwas ungewöhnlich, doch der Künstler, dessen Werk in der Jury die Mehrheit fand, fühlte sich durch den „Dackel” herabgewürdigt. Nicht dass er etwas gegen Hunde im Allgemeinen oder Dackel im Besonderen einzuwenden habe, trug er vor. Doch allein die kurzen Beine eines Dackels seien so symbolträchtig, dass kein Zweifel bestehe, dass der Kritiker seine Kunst als minderwertig bezeichnen wolle. Dieser wiederum betonte, nichts habe ihm ferner gelegen als eine Verunglimpfung des Künstlers. Er habe lediglich die sehr auf des Volkes Reaktion gemünzte Entscheidung der Jury geißeln wollen. Aber, so fügte er hinzu, vielleicht sei dieses Kunstwerk einer Stadt gemäß, die gerade erst dem Dorf entwachsen sei.

Das nun brachte den Bürgermeister auf den Plan, der empört verkündete, das Jury-Mitglied, das die Stadt so „niedermache”, wie er sich ausdrückte, werde keinen Auftrag in dieser Stadt mehr erhalten. Da der Betreffende Architekt war, hätte dies eine böse Beeinträchtigung seiner Verdienstmöglichkeiten nach sich ziehen können, zumal der Bürgermeister im Überschwang seines Zorns auch private Bauherren in die Boykottfront mit einbezog. Als aber wenige Jahre später das größte Unternehmen am Ort just diesen Architekten mit der Planung des neuen Verwaltungsgebäudes beauftragte, war der Bann gebrochen. Ja, der Bürgermeister – noch immer jener aus der Bauzeit des Rathauses – lobte bei der feierlichen Einweihung als offizieller Vertreter der Stadt den kühnen Schwung der Architektur, was dem Architekten ein gepresstes „Heuchler” entlockte. Auch als sie am späteren Buffet fast hintereinander an den Lachsteller gingen, würdigte der Architekt seinen Widersacher keines Blickes.

Was aber war denn nun der Stein des Anstoßes? Das ausgewählte Kunstwerk, eine Bronzeskulptur in Lebensgröße, stellte eine Szene aus dem 19. Jahrhundert dar, als die Stadt noch weitgehend ländlich geprägt war. Zwei Bäuerinnen standen, offensichtlich miteinander ins Gespräch vertieft. Eine hatte einen großen Korb mit Rüben, dem für die Gegend typischen Gemüse, vor sich stehen; die andere zog eine recht störrische Ziege hinter sich her. Es war eine nette Skulptur, die in der Bevölkerung sogleich viel Zuspruch fand. Der Künstler hatte bewusst auf einen Titel verzichtet – und die Menschen gaben dem Werk keinen Spottnamen; wer sich an dieser Stelle verabreden wollte, sagte denn auch meist „wir treffen uns an der Ziege”, denn eine andere Ziege in der Stadt gab es nicht.

Während die Erwachsenen nicht unfreundlich, aber auch nicht gerade aufmerksam an der Skulptur vorbeigingen, liebten die Kinder die Ziege. Gerade die Kleinen und Kleinsten wollten unbedingt auf der Ziege reiten, und es wurden wohl Tausende von Fotos gemacht, auf denen ein Kind auf der Ziege sitzend zu sehen ist. Ja, oft kam es vor, dass Eltern, die auf dem Amt etwas zu erledigen hatten, ihre Kinder vor der Tür „an der Ziege” warten ließen und den Älteren einschärften, auf die Jüngeren gut achtzugeben. Da die Stelle von der Informationstheke im Eingangsbereich des Rathauses auch gut einzusehen und kein Autoverkehr zu befürchten war, mussten sich die Eltern – wenn ihr Besuch im Rathaus nicht gar zu lange dauerte – auch keine Sorgen machen Die intensive Nutzung durch die Kinder führte bald dazu, dass der Rücken der Ziege immer glänzender gerieben wurde. Im Abendlicht, wenn die Sonnenstrahlen die Skulptur noch einmal erreichten, konnte fast der Eindruck entstehen, der Rücken sei aus purem Gold.

Als das neue Rathaus fertig war, freuten sich die städtischen Bediensteten; denn sie hatten zuvor weit verstreut, zum Teil in sehr alten Gebäuden gesessen. Missmutig waren nur jene, die die unvermeidlichen Gänge zwischen den Verwaltungsgebäuden gerne nutzten, um mit Bekannten auf der Straße ein wenig zu schwatzen oder ein paar kleine Einkäufe zu erledigen. Der Büroleiter hatte der Belegschaft helle und großzügigere Büros versprochen. Das erste Versprechen konnte eingehalten werden, da das neue Rathaus viele und große Fenster hatte. Mit dem zweiten Versprechen war es jedoch schwieriger, denn schon beim Einzug zeigte sich, dass nicht für jeden ein eigenes Zimmer vorhanden sein würde. Bürgermeister und Rat hatten – da in der Bevölkerung, von der einen (christdemokratisch orientierten) Zeitung stark unterstützt, die hohen Kosten für das Rathaus mehr als kritisch diskutiert wurden – das Gebäude etwas verkleinert, so dass auf einige Büros verzichtet werden musste.

Das wäre möglicherweise noch zu verschmerzen gewesen; nur wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten sich ein Zimmer teilen müssen. Doch zu allem Überdruss hatte der Landtag eine Aufgabe, die bisher von einer staatlichen Behörde durchgeführt worden war, nun auf die Kommunen übertragen, so dass ein ganzes neues Amt untergebracht werden musste. Einen Anbau glaubte der Bürgermeister der Bevölkerung gegenüber nicht mehr vertreten zu können. Und die Anmietung von Räumlichkeiten in der Nähe hätte ja den Vorteil der Konzentration der gesamten Belegschaft in einem Haus wieder teilweise zunichte gemacht. Also hieß es zunächst einmal: Zusammenrücken!

Bei den jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern führte das zu einer verständlichen Enttäuschung, hatten sie doch auf einen schönen Arbeitsplatz gehofft. Doch die alten „Verwaltungshasen” trösteten sie: Die jetzt gefundene Lösung werde nicht lange Bestand haben. Wenn einmal Gras über die Kostendiskussion gewachsen sei, dann werde auch ein weiterer Verwaltungsbau entstehen. Damit behielten sie völlig Recht, denn nur acht Jahre später wurde in der Nähe das Rathaus II errichtet, ohne dass es zu nennenswerter Kritik in der Öffentlichkeit gekommen wäre. Außerdem hatte es der Bürgermeister geschickt verstanden, als Standort eine Baulücke auszuwählen, die seit einiger Zeit als „Schandfleck” im Stadtkern empfunden wurde. Dort fanden die technischen Ämter ihren Platz, die nun ihr vor dem Einzug in das gemeinsame Rathaus sorgsam gepflegtes Eigenleben wieder aufnehmen konnten. Dass in den Folgejahren weitere Abteilungen neue Räumlichkeiten bezogen, bestätigte nur die langjährige Erfahrung der „Verwaltungshasen”.