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Über dieses Buch:

Sie kann ihn nicht hören, aber seine finsteren Taten haben sich in ihre Netzhaut gebrannt … Die renommierte Wissenschaftlerin Dr. Lídia Pastor soll der Öffentlichkeit ihr neustes Forschungsprojekt präsentieren: ein Aufsehen erregendes Medikament, das für ewige Jugend sorgen soll und dessen Formel hochbegehrt ist. Kurz vor der Konferenz wird sie unter rätselhaften Umständen ermordet. Privatermittlerin Pia und ihre Freundinnen nehmen die Ermittlungen auf: Die Einzige, die Licht in die Sache bringen könnte, ist die dreizehnjährige Júlia, die Zeugin bei der Tat war. Doch das gehörlose Straßenkind ist völlig hilflos, auf der Flucht vor der Polizei – und der Täter hat sie bereits im Visier! Wird es den Frauen der Detektei Llimona 5 gelingen, das junge Mädchen vor dem Mörder zu finden?

Über die Autorin:

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, wurde u. a. mit dem Edgar-Wallace-Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen und als Drehbuchautorin (»Tatort«, »Ein Fall für Zwei«) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München.

Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona«, »Lautlos morden in Barcelona« und »Die Schatten von Barcelona« sowie die Reihe »Krimi-Klassiker«, die folgende Bände umfasst: »Tod in St. Pauli«, »Bis morgen, Mörder«, »Wer barfuß über Scherben geht«, »Finderlohn«, »Küsschen für den Totengräber«, »Die netten Mörder von Schwabing«, »Ein bisschen Föhn und du bist tot«, »Du lebst auf Zeit am Zuckerhut«, »Der Tod hat hitzefrei«, » … trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, »Das Mädchen mit dem Engelsgesicht«, »Vielliebchen«, »Handgreiflich«, »Schlagschatten«, »Über die Klippen«, »Bei geschlossenen Vorhängen«, »Strandgrab« und »Friss, Vogel, oder stirb«.

Die Webseiten der Autorin: www.irenerodrian.de und www.llimona5.com

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/irene.rodrian

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Februar 2021

Dieses Buch erschien bereits unter dem Titel »Eisiges Schweigen« 2006 bei Heyne und 2013 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2006 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/J.D.S., Madrugada Verde

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95520-091-6

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Irene Rodrian

Lautlos morden in Barcelona

Kriminalroman

dotbooks.

FÜR MANUEL VÁZQUEZ MONTALBÁN

Teil I
HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN

Kapitel 1

Es wurde früh dunkel im November.

Vom Hafen her fegte ein eisiger Wind die welken Blätter der Platanen durch die Ramblas. Die ersten Stände wurden zusammengepackt. Bunte Vögel kreischten in ihren Käfigen aus Angst vor den freien Stadttauben, die sie immer aggressiver attackierten. Menschentrauben stauten sich an den Zebrastreifen. Laute Rufe, Lachen. Ein Kind schrie, ein Hund jaulte auf. Aus einer Bar dröhnte ohrenbetäubender Rock, aus einer anderen heulte ein Tango. Die Autos schoben sich Stoßstange an Stoßstange vorbei. Wütendes Hupen. Eine grelle Polizeisirene verschaffte sich Platz.

Das Mädchen hörte nichts.

Júlia war dreizehn, fast vierzehn.

Sie sah jünger aus. Klein und dünn. Mit grünen Augen in einem herzförmigen Gesicht. Das dichtbraune Haar hatte sie unter eine weiße Wollmütze gequetscht. Sie trug hohe Stiefel aus weichem Leder, einen kurzen Lederrock, eine knappe Lammfelljacke über einem T-Shirt mit dem Gesicht vom Zunge zeigenden Einstein und einen kleinen Rucksack.

Sie konnte nicht hören.

Sie sah die Menschen, die Autos, die Lichter. Sie sah eine Lücke zwischen den Autos und rannte dazwischen, um die Fahrbahn zu überqueren.

Im letzten Sekundenbruchteil nahm sie das blaue Lichtsignal auf dem Dach des vorpreschenden Polizeiautos wahr und sprang mit einem langen Satz nach vorn. Sie spürte noch die Wärme des nahen Motors in den Kniekehlen, roch heißen Diesel und sah im Sekundenbruchteil wie festgebrannt das Gesicht des Polizisten am Steuer. Vor Schreck geweitete Augen unter der dunkelblauen Mütze und ein halb offener Mund. Júlia lachte und war schon im Gewühl auf der anderen Straßenseite verschwunden.

Sie fror. Diesen dämlichen Rock hatte sie nur geklaut, weil er schon so vergessen in der Kabine herumhing und weil er auch noch passte. Sie lief schneller, bog in die Ferran ein und dann in die Avinyó. Sie blieb stehen. Gleich hinter der Placa Verónica blinkte grün, rot und weiß das Neonkreuz einer Apotheke. Hinter den Schaufensterscheiben goldgelbes Licht über einer Wand aus schimmernd altem Holz. Schmale Schubladen mit Goldknöpfen wie in einem altmodischen Spielzeugladen. Júlia drückte die Tür auf und war in windgeschützter Wärme.

Die Apothekerin im weißen Mäntelchen war allein, müde und gelangweilt. Perfekt. Außer Julia war nur noch ein Kunde da, ein Mann. Júlia blieb gleich neben der Tür stehen und musterte das erstaunlich reiche Angebot an Zahnbürsten. Beobachtete die Apothekerin und den Mann im Spiegelbild der Schaufensterscheibe.

Er war groß, ging aber irgendwie gebückt, er hatte einen Wettermantel mit hochgestelltem Kragen an und einen Hut auf. Na schön, es war kalt, aber sie waren doch immer noch in Barcelona am Mittelmeer und nicht in Sibirien.

Der Mann wusste, was er wollte. Eine graue Pappschachtel mit kleinen Glaspipetten und vier in Plastik eingeschweißte rote Gummihütchen. Die Apothekerin war ihm zu langsam. Sie wiederholte alles, was er sagte. Ungeduldig ballte er die linke Hand zur Faust, in der rechten hielt er eine braune Zigarette. Ihm war wohl wirklich kalt, er behielt sogar hier drin die Handschuhe an. Dann war er fertig und trommelte ungeduldig mit dem Fuß auf den abgetretenen Steinboden, weil die Apothekerin die Preise für die Glasdinger erst im Katalog nachschlagen mußte. Júlia wartete noch, bis er zur Tür raus war und ging dann hinüber zur Theke.

Sie lächelte und legte ihr Rezept auf das polierte Mahagoni. Der Arzt, bei dem sie den Block geklaut hatte, war Orthopäde und hatte seine Praxis in einer ganz anderen Ecke von Barcelona, in L’Hospitalet, da war kaum eine Verbindung möglich.

Die Apothekerin hatte einen dicken gelben Eiterpickel auf der Nase. Sie schrieb in irgendeiner Liste herum, schaute Júlias Rezept gar nicht richtig an, wandte sich nur kurz ab und zog eine der vielen schmalen Schubladen auf.

Und legte eine neue Packung Yaba vor Júlia hin.

Die Nacht war gerettet. Und die ganze Woche auch. Júlia zahlte und ging hinaus. Gleich an der nächsten Ecke hinter der Escudellers blinkte schon wieder ein grünes Kreuz über einer Apotheke. Sie lag eingeklemmt zwischen zwei Bürgerhäusern und war wohl in letzter Zeit renoviert worden. Im vorderen Raum gab es nur offene Regale mit allen möglichen Flaschen, Tuben und bunten Werbeständern. Dahinter kam ein offener Gang mit deckenhohen Schieberegalen in hygienisch einwandfreiem Plastikweiß.

Die Apothekerin war jung und dürr, hatte strähniges Haar und trug eine Brille mit Flaschenbodengläsern. Sie sprach mit jemandem, den Júlia von der Straße aus nicht sehen konnte. Júlia stieß die Glastür auf und sah, dass es der Mann von vorhin war.

Er hielt eine Schachtel mit Latexhandschuhen hoch und wollte wohl wissen, ob es die in seiner Größe auch gab, oder auch in einer kleineren Packung. Júlia wandte sich hastig ab und versuchte sich hinter einem Werbeposter bei Puder, Windeln und Babynahrung unsichtbar zu machen.

Rein theoretisch war die Sache mit den Rezepten narrensicher. Júlia ging nie zweimal zum selben Arzt, sie gab immer einen falschen Namen an, sie legte die Rezepte nie im gleichen barrio vor, und sie benutzte nie mehr als zwei oder drei, höchstens mal vier. Den Rest gab sie weiter.

Trotzdem. Es gab immer ein Risiko. Und es war völlig überflüssig, dass dieser komische Hutling sich an sie erinnerte, nur weil er sie kurz hintereinander in zwei Apotheken traf. Was machte er hier überhaupt? Hatte er nur etwas vergessen? Drogen kaufte er ja offensichtlich nicht. Er wirkte nicht wie ein normaler Apothekenkunde. Ein Bulle? Er zahlte und ging, und Júlia wagte es nicht, aufzusehen, bevor er draußen war. Erst dann kam sie hinter dem rosa Babyposter hervor und legte ihr Rezept für die Thaipillen vor.

Die Apothekerin schien in Gedanken immer noch bei dem Mann zu sein, schaute zur Tür und sagte irgendetwas Verächtliches in catalán. Sie hatte kratertiefe Pockennarben am Kinn und einen rasierklingenschmalen Mund. Sie nahm das Rezept hoch und verschwand in dem Regalgang. Zog eine Schiebewand nach der anderen auf und fand das Yaba nicht. Júlia erkannte am Vibrieren ihrer Schultern, dass sie etwas sagte, aber sie konnte ihr Gesicht nicht sehen. Júlia zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Endlich. Die Apothekerin hob das Päckchen triumphierend hoch.

Júlia war froh, endlich wieder draußen zu sein. Der kalte Wind vom Meer roch nach Salz und weiter Welt. Sie hatte genug Yaba für den ganzen Monat, und es gab keinen Grund, jetzt noch mehr zu besorgen. Sie lief zum Hafen hinunter, aber am Übergang zur Simó Oller war schon wieder eine Apotheke. Grün-weiß-rotes Blinken.

Júlia blieb stehen. Sie zögerte. Ein wuchtiges Eckhaus. Die Apotheke war viel größer und aufwendiger als die beiden vorher. Ein großer Raum, dahinter weitere Räume. Schimmerndes Mahagoni bis hoch unter die stuckverzierte Decke. Golden blitzende Knöpfe und Griffe. Ein Apotheker diesmal. Ein alter Mann mit einem letzten weißen Haarkranz über einem runden Schädel und randloser Brille.

Júlia sah sich um. Sie war allein, niemand, der sie beobachtete. Sie gab sich einen Ruck. Noch ein letztes Rezept, und dann Schluss für heute und runter zum Hafen.

Sie öffnete die breite Glastür, ein goldenes Glöckchen bewegte sich über ihrem Kopf, sie ging hinein und merkte erst viel zu spät, dass hier außer dem Apotheker auch noch zwei Frauen arbeiteten. Dass schon eine andere Kundin in der Apotheke war, hochschwanger offenbar. Sie stand hinter einem breiten Drehständer mit homöopathischen Mitteln in Gläschen und blätterte in dem aushängenden Heft.

Und wieder der Mann mit dem Hut. Im Moment noch in ein Gespräch mit einer der Apothekerinnen vertieft.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte die andere und lächelte.

Júlia lächelte auch und wollte sich zurückziehen. So schnell wie nur möglich. Nur raus hier. Plötzlich stand die schwangere Frau hinter ihr, Júlia versuchte, ihr auszuweichen und stieß gegen die homöopathischen Gläschen. Die erste Reihe purzelte zu Boden Das schien einen Höllenlärm zu machen, denn alle schauten her.

Auch der Mann mit dem Hut.

Kapitel 2

Das pompöse Hauptportal des Gran Hotel Big Sur mit seinen polierten Topfpalmen, den vergoldeten Türen, dem rotem Teppich und dem schwarz-gold livrierten Portier ging auf den Passeig de Gràcia hinaus, aber in der düsteren Seitenstraße gab es einen Nebeneingang. Der Mann wartete hinter der Einfahrt zu einer Tiefgarage, bis das Taxi auf der anderen Seite seine Fahrgäste ausgeladen hatte und weiterfuhr.

Hier gab es keinen Pförtner. Der Mann kam unbeachtet in die Lobby, drückte seine Zigarette in einem der großen Aschenbecher aus und wartete hinter einer der gewaltigen Marmorsäulen. Riesige Designerteppiche in leuchtenden Farben bis nach vorne zur Rezeption. Gewaltige Töpfe mit blühenden Orchideen. Vielstöckige Lüster mit hunderten funkelnder Kristalle, die nur bei genauem Hinsehen als geschliffene Glasscherben zu erkennen waren. Sideboards, Wandschränke und Vitrinen in ungewöhnlichen Formen, Mehrarmige Stehlampen aus verschiedenen Materialien bei den ausladenden Sitzgruppen aus bunt gefärbtem Büffelleder. Die halbrunde Bar nahm die Jugendstilornamente der Außenfassade wieder auf. Der junge Bartender und zwei Gäste, erstarrt wie auf einem Bild von Dennis Hopper, der Barpianist sah aus wie Count Basie und spielte auch so. Die letzten Tagungsgäste trafen ein.

Er hatte den Mord nicht geplant. Sonst hätte er sich sorgfältiger vorbereiten können. Möglicherweise sogar einen Tag früher eingecheckt, um das Hotel in allen Einzelheiten zu studieren. Andererseits war es ganz gut, dass er nicht mehr Zeit zum Nachdenken und Planen hatte. Es erhöhte das Risiko, den Reiz, die Spannung.

Die beiden goldglänzenden Fahrstuhltüren lagen auf der einen Seite der breiten Freitreppe, die Personal- und Feuertreppe auf der anderen. Ein Kellner mit langer weißer Schürze rollte den Teewagen zu einer der Sitzgruppen.

Sie waren zu viert. Drei Männer und sie. Lídia. Frau Doktor Lídia Pastor. Sie lachte über eine Bemerkung und nahm sich zwei Baisers vom Gebäckturm. Lídia liebte Baisers, vor allem, die etwas gröberen roccas mit ganzen Haselnüssen drin.

Keiner sah zu ihm her, keiner bemerkte ihn. Er schob sich zur schmalen Personaltreppe hin und lief in den vierten Stock hoch. Halb sieben, später Nachmittag, eine ideale Zeit. Da hatte das Personal normalerweise nichts mehr hier oben zu suchen. Und auch die meisten Gäste waren unterwegs. Und falls ihn doch jemand sehen sollte, dann war er der Mann mit dem Hut, kein Gast jedenfalls.

Der königsblaue Flauschboden verschluckte das Geräusch seiner Schritte, aber es war niemand da, der ihn hätte hören können. Vor dem Zimmer 412 sah er sich noch einmal um. Lauschte auf Schritte. Erst dann drückte er die Passpartoutkarte in den Schlitz und schob sich in das Zimmer.

Vom Schnitt her glich es seinem eigenen, nur seitenverkehrt. Auch keine anderen Farben, keine kühnen oder verrückten Designereinfälle, einfach nur ein ganz normales Hotelzimmer der oberen Klasse. Hinter der Tür der Vorraum, links der geräumige Wandschrank, rechts die Tür zum Bad. Dann kam das eigentliche Zimmer, mit dem Alkoven für das Doppelbett rechts, der bequemen Sitzecke mit Tisch, Sesseln und Leselampe davor, einem Sideboard mit Barschrank, Blumenvasen und Obstkorb. Und an der Wand neben den Terrassentüren der Schreibtisch.

Ihr Koffer lag offen auf dem Bänkchen vor dem Schrank, eine Reisetasche stand daneben. An einem Bügel hing ein blauer Hosenanzug. Auf dem Bett lagen zwei Tops und ein kleiner unordentlicher Haufen Unterwäsche. Winzige Strings und BHs mit Spitzenrand, in rot und in weiß.

Auf dem Schreibtisch stand ihr Laptop, ein silberner Vaio, die rote BenQ Minimaus obendrauf. Daneben lag die blaue Tagungsmappe und ihre eigenen Unterlagen in einem kleinen, ordentlichen Haufen, daneben ein etwas schiefer Turm CDs. Automatisch wollte er sie geradeschieben, hatte aber zu wenig Gefühl mit den Handschuhen und schubste den Turm ganz um. Baute ihn vorsichtig wieder auf, genauso wie er vorher gewesen war.

Die Terrassentüren waren geschlossen, die Klimaanlage war abgeschaltet. Der Mann öffnete vorsichtig eine Tür, ohne hinauszugehen. Üppige Gladiolen in Terracottaschalen, ein zusammengeklappter Sonnenschirm und Rattanmöbel mit weißen Leinenpolstern spielten eine wärmere Jahreszeit vor. Unten, auf dem breiten Boulevard bewegten sich die Platanen, aber hier oben war der Wind noch nicht zu spüren.

Der Mann setzte sich an den Schreibtisch und leerte vorsichtig die Tüten aus den verschiedenen Apotheken. Er hatte etwas Mühe, die Packung mit den Latexhandschuhen zu öffnen, dann erst zog er seine Lederhandschuhe aus und streifte sich die dünnen Plastikfinger über.

Sorgfältig legte er alles, was er brauchte vor sich hin. Atmete langsam aus und ein, bis er sich völlig entspannt und ruhig fühlte. Das tödliche Gas herzustellen, war einfach. Das Problem war die Zeit. Wenn es ihm nicht gelang, die Zutaten in wenigen Sekundenbruchteilen zu vermischen und sicher zu verschließen, war er tot. Sofort. Da konnte ihn auch die offene Tür nicht mehr retten.

Er hatte die Möglichkeiten schon oft durchgespielt. Er könnte sich eine Atemmaske aus Aktivkohle bauen, er könnte die Zutaten in getrennten Pipetten vorbereiten, um sie dann erst durch ein Klebeband zu verbinden. Aber die Handschuhe beeinträchtigten seine Fingerfertigkeit, und zudem bot ihm keine dieser Lösungen wirkliche Sicherheit.

Er hatte die Handgriffe exakt geprobt. Er beherrschte sie blind. Und zur Not konnte er die Luft anhalten, gut drei Minuten, wenn’s wirklich drauf ankam.

Der Mann nahm eine Visitenkarte des Hotels aus der Mappe und faltete sie in der Mitte. Er öffnete die Fläschchen mit den Chemikalien und stellte sie bereit. Dann befestigte er die winzigen Saughütchen aus Gummi an zwei der kleinen Glaspipetten. Sorgsam bröselte er die Citronensäure in die geknickte Karte.

Er nahm das schwarze Feuerzeug mit dem goldenen Logo des Hotels in die rechte Hand und die dritte Glaspipette in die linke. Zögerte kurz. Er hätte eine Kerze nehmen sollen. Was, wenn das Feuerzeug nicht funktionierte? Er schnippte die Flamme an, sie kam sofort. Er hielt das spitze Ende des Röhrchens darüber. Das Glas schmolz wie Wachs, die Pipette war an einem Ende verschlossen.

Er nahm die zweite, saugte vorsichtig drei Tröpfchen aus dem blauen Fläschchen und tropfte sie in die erste Pipette, dann nahm er die dritte und fügte etwas Isopropanol dazu.

Jetzt hielt er die Luft an. Schüttelte die Citronensäure als Reaktionsbeschleuniger dazu und schnippte das Feuerzeug wieder an, direkt unter der ersten Pipette. Verschmolz blitzartig das hintere Ende.

Er holte Luft. Lächelte. Seit vielen Jahren hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt. In der Hand hielt er ein winziges, zerbrechliches Glasröhrchen, keine zwei Millimeter breit, keine zwei Zentimeter lang. Gefüllt mit seiner ganz privaten Art von Sarin, einem der schnellsten Gifte der Welt.

Der Mann räumte alle Zutaten wieder in die Apothekertüten zurück, schob sie in die Manteltasche und schloss die Terrassentür. Er setzte sich an den Schreibtisch und öffnete den Laptop. Er schob seinen Daumennagel unter die Kappe der großen Entertaste und hebelte sie hoch. Der kleine Hohlraum darunter bot genug Platz für das winzige und extrem fragile Glasröhrchen. Äußerst vorsichtig schob er die Kappe wieder an ihren Platz. Blieb einen Moment sitzen. Bewegte spielerisch die Finger über der Tastatur. Ließ den Zeigefinger kurz über der Entertaste schweben. Die Taste, die man am häufigsten benutzte.

Für Lídia würde es nur noch ein einziges Mal geben. Eine Berührung mit minimalem Druck reichte aus, um das tödliche Gas freizusetzen.

Er legte die Hände auf den Deckel und schloss den Laptop wieder.

Als er das Zimmer verließ, sah er sich noch einmal sorgfältig um. Nichts war verändert. Er hatte keine Spur zurück gelassen.

Kapitel 3

»412 bitte«, Lídia lächelte, aber Javi war enttäuscht. Er kannte ihre Zimmernummer doch. Er bewunderte sie, er flirtete mit ihr, er liebte ihr rotes Haar. Javi sah gut aus in seiner maßgeschneiderten Uniform. Das wusste er. Das bekam er täglich zu spüren. Er war nicht mehr irgendeiner der kleinen Bellboys. Lídia hatte sich sogar seinen Namen gemerkt. Sie nahm ihre Post. Lächeln. Eine nichtssagende Geste, und sie wandte sich ab. Javi sah ihr nach. Na schön, sie war eine Ecke älter als er, aber das turnte ihn eher an. Sie war nicht wie die anderen. Und sie hatte eine Bombenfigur, schlank aber üppig an den richtigen Stellen. Und sie war allein da.

Lídia wartete auf den Fahrstuhl und hatte Javi schon vergessen. Von der Bar her kam mitreißend Count Basies Version von ›Baby Lawrence‹. Sie dachte an das Gespräch mit den Kollegen eben, und an ihren Vortrag heute Abend. Da war noch ein Punkt, den sie ändern mußte. Sie war müde. Sie hätte nicht so viele von diesen verdammt leckeren roccas essen sollen. Vielleicht hatte sie noch Zeit für eine kleine siesta.

Der Lift kam, und sie stieg ein. Der Wandspiegel war leicht bernsteinfarben getönt und schmeichelte normalerweise. Aber auch er konnte die Ringe unter ihren Augen nicht wegretuschieren. Sie hatte in den letzten Wochen definitiv zuviel gearbeitet und zu wenig geschlafen. Im vierten Stock glitten die Türen auf, und Lídia ging hinaus auf den weichen Läufer. Jetzt war es fast geschafft. Morgen würde sie zum allerersten Mal in der Öffentlichkeit über Tretino-A sprechen. Vor den Kollegen aus aller Welt. Vor der Fachpresse. Vor den Großen der Pharmaindustrie. Vor Rubén Morales, ihrem früheren Professor. Und vor Marcel.

412. Sie schob die Karte in den Schlitz, öffnete die Tür und ging hinein. Ein fremder Duft. Leicht, aromatisch. Tabak? Das Zimmer war so, wie sie es vor einer Stunde verlassen hatte. Ihr halb ausgepackter Koffer, die Klamotten auf dem Bett, ihr Laptop. Vermutlich rauchte das Zimmermädchen. Lídia setzte sich an den Tisch, klappte den Laptop auf und fuhr ihn hoch.

Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie wußte jetzt, was sie tun mußte. Im zweiten Teil ihres Vortrags ging sie ja viel zu stark auf die Einzelheiten ein. Nicht alle bei dem Kongress waren Chemiker. Viele Ärzte, und vor allem die Journalisten waren schnell gelangweilt. Sie kramte in dem kleinen Stapel mit den CDs. Komisch, die blau markierte CD hatte sie doch als letzte aus dem Computer genommen. Und direkt links daneben gelegt. Und jetzt war sie irgendwie nach unten gerutscht. Sie öffnete das Fach und legte die CD ein. Sie hasste es, wenn das Hotelpersonal etwas an ihrem Arbeitsplatz veränderte.

Lídia stand auf und ging ins Bad. Auf der Klopapierrolle waren nur noch wenige Blatt, und eine neue Rolle gab es nicht. Auch sonst hatte das rauchende Zimmermädchen offenbar nicht wirklich sauber gemacht. Lídia wusch sich die Hände.

In dem gnadenlosen Badezimmerlicht sah man nicht nur die dunklen Ringe unter ihren Augen, auch die feinen Falten neben dem Mund und am Hals. Und den leichten Farbunterschied am Haaransatz. Naja, nichts, was ein bißchen Schlaf und ein gutes Make-up nicht ausgleichen konnten. Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse.

Auf dem Weg zurück zum Tisch streifte sie die Schuhe ab und holte sich ein Mineralwasser aus der Minibar. Leichtes Klopfen an der Tür. Lídia wollte jetzt nicht gestört werden, nichtmal von lieben Kollegen oder sogar Marcel.

Sie riß die Tür ziemlich ungehalten auf. Ein Blitzlicht blendete sie für einen Augenblick. »Nur eine Frage, senora. Haben Sie schon einen Namen für Ihre neue Erfindung? Was ist es? Eine Lotion? Eine Creme? Stimmt es, dass es die Haut um Jahrzehnte verjüngen kann?« Eine sehr junge Frau mit makellosem Teint hielt ihr ein kleines Diktiergerät vor die Nase. Hinter ihr stand ein ebenso junger Mann mit einem altmodisch großen Fotoapparat.

Es kam Lídia wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich kapierte, dass das Journalisten waren. Noch ein Blitz. Sie knallte die Tür zu, bevor die junge Frau ihren Fuß dazwischenschieben konnte und verriegelte sie von innen. Nicht zu fassen. Woher wußten die das? Die kamen nicht von einer Fachzeitschrift, das war eher das Niveau der Regenbogenpresse. Was kam da nur auf sie zu.

Lídia nahm sich ein Glas von dem kleinen Tablett und goss sich Mineralwasser ein. Nahm einen Schluck. Noch einen. Irgendwie war das alles ganz prickelnd. Diese Aufmerksamkeit. Dieses große Interesse. Und Tretino-A war ein Durchbruch, keine Frage. Eine absolute Neuheit.

Garry DeVille hatte zuerst ja nur eine Andeutung gemacht. Und Lídia glaubte, sich verhört zu haben. Aber er hatte wirklich von diesen Dimensionen gesprochen. Millionen. Unvorstellbare Summen.

Sie würde sich heute Abend noch einmal die Haare waschen. Dazu der mitternachtsblaue Anzug aus weich fallender Viskose, der ihr so gut stand. Ja, und diese völlig irren neuen Schuhe dazu. Sie mußte ja nicht mehr weit laufen, heute Abend blieben sie im Hotel.

Sie setzte sich wieder an den Laptop und klickte sich mit der Maus auf die Seite drei ihres Vortrags. Hier. Die Behandlung mit Alpha-hydroxy-Säuren … dieser ganze Absatz mußte hier raus, darum ging es ja überhaupt nicht. Stattdessen eine leicht verständliche Zusammenfassung der schwachen beziehungsweise schädlichen Wirkung von Fruchtsäuren, Trichloressigsäure und ähnlichen Stoffen. Sie mußte sich völlig auf die Vitamin-A-Säure konzentrieren. Sie markierte eine halbe Seite und ging auf Ausschneiden. Lídia lehnte sich zurück und überlegte. Vor den Fenstern hatte der Wind zugenommen. Der zusammengebundene Sonnenschirm versuchte, sich zu befreien, und die Oleanderbüsche rieben sich an der Balkonbrüstung. Ihr fiel ein, wie sie vor über zwei Jahren mit der Forschungsarbeit begonnen hatte. Das war noch bevor sie auf die Idee gekommen war, Tretinoin so intensiv für ein Anti- Aging-Mittel einzusetzen. Damals hatte sie noch ganz harmlos an einer neuen Gesichtscreme gearbeitet. Dann hatte es in Deutschland einen ziemlich heftigen Skandal gegeben. Eine bekannte Schauspielerin hatte eine Schönheitscreme auf den Markt gebracht, und sich zum Gespött der Medien gemacht, weil die Creme statt Jugend und Schönheit nur Hautreizungen und Entzündungen hervorrief. Was hatten sie gelacht. Lídia und ihre Chemiestudenten. Paco mit seiner blühenden Akne und der dunkelhäutige Ali mit seinen Pockennarben.

Sie hatten sich Lídias neue Paste sofort selbst ins Gesicht geschmiert. Obwohl die damals aus nicht viel mehr als Schweinefett und Vitamin A-Säure bestand. Aus Spaß. Aber das Ergebnis hatte sie alle verblüfft. Die Akne beruhigte sich, die Pockennarben schienen sich zu glätten. Nur Lídias Falten blieben, wie sie waren. Die ersten Tage, Wochen. Dann, sehr langsam, verschwanden auch sie.

Das wäre doch eine lustige Story als Einstieg in den etwas trockenen Chemieteil. Lídia hatte lange nichts mehr von den beiden gehört. Soweit sie wusste, hatte Paco die Apotheke seiner Eltern in Toledo übernommen, und Ali war in ein pharmazeutisches Forschungsprogramm an der Uni Madrid aufgenommen worden.

Vor gut zwei Jahren arbeitete ich … nein, viel zu trocken. Der Wind ließ die Rattanliegen über den Terrassenboden schubbern. Eigentlich ist der Skandal um einen deutschen Filmstar schuld an meiner Entdeckung … genau, so konnte das gehen. YES!

Absatz, neue Zeile.

Lídia drückte die Enter-Taste.

Kapitel 4

Es wurde schnell dunkel. Das wolkenzerfetzte Grau des Himmels war nur noch eine Schattierung heller als die flachen Dächer mit ihren schieferfarbenen Aufbauten. Die meisten Pflanzen in den roten Tonschalen hatte Pia schon heruntergeschnitten, nur ein paar letzte Oleanderblüten hatten sich bisher erfolgreich gegen die Herbststürme behauptet.

Der Kater sprang auf die Steinbrüstung und rollte sich zu einer gelben Pelzkugel zusammen. Der Wind plusterte sein dichtes Winterfell auf und ließ ihn fast doppelt so groß aussehen. Er saß mit dem Rücken zum Wind, damit er die Tür zur Küche im Auge behalten konnte.

Pia schloß den Bericht ihres letzten Falles ab. Eine alte, reiche Frau, die glaubte, ihr Mann wolle sie ermorden. Alle hielten sie für verrückt. Das war das Ziel des Mannes, der trickreich alles Mögliche unternahm, um sie in den Suizid zu treiben. Pia und die anderen Detektivinnen von Llimona 5 hatten den wahren Sachverhalt aufgeklärt. Der Mann wurde mit einer Bannmeile belegt. Und die Frau saß jetzt einsam und allein in ihrer Villa und weinte sich die Augen nach ihm aus.

Das war einer von diesen Fällen, die zwar gutes Geld in die Firma brachten, aber einen extrem schalen Geschmack hinterließen. Das waren Momente, in denen Pia sich nach der guten alten und ehrlichen Polizeiarbeit zurücksehnte.

Bevor sie ihre Vergangenheit in der Laetana noch weiter idealisieren konnte, speicherte sie den Bericht auf CD und schloß den Laptop. Es war still in der großen Wohnung. Pia ging vom Büroteil hinüber in den vorderen Wohnteil. Zwischen den Schlafzimmern hatte sie ein paar Fotorahmen aufgehängt. Der schäbige und verrottete Dachboden, den sie vor ein paar Jahren gekauft hatte. Sie konnte es manchmal noch heute nicht glauben, wenn sie durch den hellen Flur lief, entweder in die Büroräume hinten, oder nach vorn in ihre Wohnung.

Nur mit der Stille kam sie nicht so zurecht. Diese Wohnung war zu groß für Ruhe. Pia liebte es, wenn Stimmen durcheinander brüllten, und aus jedem Zimmer Musik dröhnte. Aber heute waren sie alle unterwegs. Dagmar traf sich mit Fusté, dem großen Anwalt und ihrem Seniorpartner, um über die rechtlichen Möglichkeiten zu sprechen, ihre Wohnung zu behalten. Die Vermieterin hatte ihr im Testament ein Wohnrecht vermacht. Der Neffe focht das Testament an. Er lebte nicht mehr, aber weder die Suche nach weiteren Erben noch das Verfahren waren abgeschlossen.

Janet recherchierte für Dagmar. Dagmars geschiedener Mann hielt die gemeinsamen Kinder immer noch auf Mallorca versteckt. Aber Janet war dabei, einen trickreichen Plan zu entwickeln, wie sie die Kinder unter Umgehung aller juristischen Unmöglichkeiten doch noch zurückbekommen könnten.

Barbara traf sich mit Felip, ihrem Musikerfreund. Angeblich zu einem klärenden Gespräch. Sie liebten sich, aber sie konnte mit seiner ewigen Eifersucht und Kontrollsucht nicht länger leben. So wie Pia die beiden kannte, würden sie nicht viel Zeit mit Reden verschwenden.

Pia grinste, als sie Fritz the Cat auf der Betonbrüstung sitzen sah. Dick aufgeplustert tat er so, als würde er nicht bemerken, dass Pia die Tür aufmachte.

»Na, komm schon rein. Sonst wird’s hier auch kalt.«

Fritz bewegte sich nicht. Seine grünen Augen waren schmale Schlitze. Pia ging hinter die Küchentheke und zog die Kühlschranktür auf. Das Geräusch genügte, seine Katerwürde bröckeln zu lassen. Er mühte sich nichtmal mit einer kleinen Putzshow ab, er flitzte direkt herein.

Pia kraulte ihn und gab ihm die Reste von gebratenen Hühnerflügelchen auf einer Zeitung. Fritz konnte gleichzeitig schnurren und essen.

Anna. Anna hatte versprochen, anzurufen, wenn sie etwas erfuhr. Sie zog um die Häuser. Wartete. Sie hatte eine Speichelprobe im Labor abgegeben. Für den Gentest, den ihr Vater in seinem Testament eingefordert hatte. Weil er seine Vaterschaft bei ihr anzweifelte. Annas Brüdern ging es um das Geld. Aber ihr ging es nur um den Vater, den sie nie gehabt hatte.

Pia wäre gern bei ihr gewesen, aber Anna hatte sogar Dagmars Hilfe abgelehnt. Sie war achtzehn, sie war erwachsen. Und sie wollte das allein durchstehen.

Pia überlegte, was sie essen konnte, und suchte eine CD von John Lee Hooker heraus, als das Telefon läutete. Ihre Mutter.

»Pia, mein Kind, wie geht es dir?«

»Gut. Warum?«

»Bist du wieder an einem deiner schrecklichen blutigen Fälle dran?«

»Nein, nicht im Moment.«

»Kennst du das Gran Hotel Big Sur?« Dieser plötzliche Themawechsel irritierte Pia. Sehr vorsichtig antwortete sie.

»Ja. Warum?«

»Da findet doch dieser Kongress statt.«

»Da findet ganz sicher kein Kongress statt. Das ist ein Hotel.«

»Dieser Lin … ich kann mir den Namen nicht merken. Es geht um Anti-Aging.«

»Kann schon sein, ich glaube, im Moment findet unter anderem der Linus-Pauling-Kongreß statt, oben auf dem Montjuich, auf der Fira de Barcelona.«

»Aber die Teilnehmer wohnen im Big Sur! Die wichtigsten jedenfalls. Das haben sie im Fernsehen gebracht. Und da ist eine Frau dabei, die hat eine neue Formel gefunden. Mit der man sich um Jahrzehnte verjüngen kann!«

»Madre mia, du glaubst doch nicht etwa an diesen Schwachsinn!« Pia hatte Mühe, höflich zu bleiben. Ihre Mutter schien unbeeindruckt.

»Pilar, das sind wissenschaftlich erwiesene Wirkungen. Es geht um eine gewaltige Erfindung! Die Zeitungen schreiben darüber, das Fernsehen berichtet. Lídia Pastor heißt die Frau. Sie hat einen Doktor. Als Chemikerin.«

»Ich bin beeindruckt. Und soll ich jetzt da hingehen, und mir ein Probetübchen besorgen?«

»Könntest du das denn tun?« Das kam ohne jede Ironie. Voller Erwartung. Eigentlich hätte Pia sich geschmeichelt fühlen können, dass ihre Mutter, vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben, ihr etwas zutraute. Sie um etwas bat. Pia holte tief Luft.

»Na gut, ich versuche es, okay?« log sie und beendete das Gespräch mit dem bekannten Druck in der Magengegend. Wie nach jedem Gespräch mit ihrer Mutter. Wieso konnte sie ihr nicht wenigstens einmal ehrlich die Meinung sagen. Pia nahm sich eine Flasche 99er gran reserva und setzte den Korkenzieher an, als es an der vorderen Wohnungstür läutete.

Anna, dachte sie. Aber es war Luis. Luis Llobet, der gute alte Freund. Kaum wieder zu erkennen. Der bekannte Kopf mit dem extrem gelichteten Haupthaar, das friedlich runde Gesicht mit den intelligenten, wachen Augen und dem sinnenfreudigen Mund. Aber der rundliche Körper steckte nicht wie sonst in einer sand- oder cremefarbenen Freizeitkombination mit hohem Plastikanteil, sondern in einen schwarzen Abendanzug. Schneeweißes Hemd. Rot-golden gepunktete Fliege.

»Pia, mein Schatz«, sagte er. »Zieh dein kleines Schwarzes an und folge mir!«

»Soll das ein Scherz sein?!« Pia hielt mit einem Fuß Fritz zurück und zog mit einer Hand Luis herein. »Aber erklär mir bitte auch die Pointe!«

Luis ging in die Küche, nahm sich den Rotwein und setzte den Korkenzieher an. Pia stellte automatisch zwei Gläser auf die Theke. Das war kaum zu glauben. Sie kannte Luis seit vielen Jahren, aber sie hatte ihn noch nie im dunklen Anzug gesehen. »Hast du den aus dem Kostümverleih?«

»Das ist mein Hochzeitsanzug.«

»Luis! Du bist verheiratet?!« Abgründe taten sich auf. Pia kannte Luis nur als regelmäßigen Besucher des Raval und der dortigen Damen. Er grinste und schnupperte am Korken.

»Nein. Aber man kann doch nie wissen. Willst du mich heiraten? Bitte! Den schwarzen Anzug habe ich schon.«

»Ja, sofort, ich liebe dich.« Pia lachte und stieß mit Luis an. »Und um was geht es jetzt? Eine Beerdigung?«

»Kongress. International. Linus Pauling. Ärzte und Chemiker aus aller Welt.« Er probierte den Wein und schmatzte. Pia stellte Kräcker auf die Theke.

»Meinst du das ernst? Du bist bei diesem Anti-Aging-Kongress dabei?«

»Pia, meine Süße. Einige der wichtigsten Teilnehmer wohnen im Big Sur. Und dort kocht mein alter Schulfreund Basili Álvarez, und er macht die besten Tapas und Buffets der westlichen Hemisphäre. Also habe ich mich zu dieser Tagung eingeladen. Entschuldige, ich bin schließlich Pathologe. Und hier geht es unter anderem um Botulinustoxin, allgemein bekannt als Botox. Das Zeug, das sich im Moment alle diese reichen Damen ins Gesicht und sonstwohin spritzen lassen. Damit es ihnen die Mimik, die Falten und die Schweißdrüsen weglähmt. Und was ist dieses Botox?«

Pia sah ihn erwartungsvoll an. »Du wirst es mir gleich sagen.«

Luis strahlte. »Leichengift. Nichts anderes als eine Form von ganz normalem Leichengift. Und dafür bin ich ja nun der absolute Fachmann. Richtig?«

Pia starrte ihn an und wußte nicht, was sie sagen sollte. Dachte an ihre Mutter und an das Probetübchen. Mußte lachen. »Okay, okay, ich zieh mich nur schnell um.«

Luis goß sich Wein nach.

Pia hatte nicht viel Auswahl an Kleidung für festliche Gelegenheiten in ihrem Schrank. Sie nahm automatisch den Nadelstreifenanzug und das weiße Top. Das war ja absurd. Sie auf einem Anti-Aging-Kongress. Schönheit und ewige Jugend. Mit Luis. Zur festlichen Eröffnung. Wenn ihre Mutter sie jetzt sehen könnte, wäre sie möglicherweise zufrieden. Nein, sie würde einen Hosenanzug zu so einem Anlaß nie gutheißen.

Pia füllte den Napf für Fritz auf und schrieb eine Nachricht für Anna und die anderen. Als sie den geschützten Innenhof verließen, packte sie der feuchtkalte Wind, der die enge Straße hochpfiff. Sie liefen zur Placa del Regomir vor und nahmen das erste Taxi, das vorbeikam.

Pia kannte das Hotel vom Vorbeifahren, war aber noch nie drin gewesen. Als das Taxi hielt, kam der Portier in seiner schwarzgoldenen Prunkuniform und riß ihr die Tür auf. Er hatte die dunkle Haut eines Afrikaners und sah aus wie einer dieser Kinopotentaten. »Danke«, sagte Pia und grinste. Er verzog keine Miene, neigte nur kurz den Kopf.

»Hombre!« Pia wartete auf Luis, der das Taxi zahlte. »Sag mal, Luis, bin ich in ein Zeitloch gefallen?«

»Holá Kofi«, begrüßte Luis den Portier, der verneigte sich leicht.

»Don medico Luis.«

Sie gingen durch das gläserne Portal, und für einen Moment glaubte Pia, der Portier habe ein Auge zugekniffen.

»Wo, zum Teufel sind wir hier?« fragte sie. Kronleuchter, weiche Teppiche, Marmorsäulen und bequeme Sitzecken, Luxus pur. Luis hatte es eilig. Er rannte fast durch die riesige Halle und blieb nur kurz an der Rezeption stehen.

»Javi, wie gehts. Sind sie schon alle da?«

»Holá Luis. Ja, drüben im Festsaal.« Der hübsche Junge in schwarzgoldener Uniform beugte sich über seinen Rezeptionstresen. »Soviel ich gehört habe, fangen sie gleich an. Jede Menge Journalisten, das Fernsehen ist da und sogar ein Minister! Sie warten nur noch auf die heutige Hauptperson, die schöne Lídia Pastor.«

Luis eilte weiter, an den Fahrstühlen und einer Treppe vorbei in einen langen Gang, direkt zur Küche. Auf dem Weg gab er Pia eine Kurzinfo. »Der Chef vom Big Sur ist der stinkreiche Erbe der Hotelkette Hostal del Sur. Márius Meléndez. Er singt. Er wollte zur Oper. Aber er mußte das Gran Hotel übernehmen. Jetzt macht er eben aus dem ganzen Hotel eine Opernbühne. Kofi vorhin heißt wirklich Kofi, kommt aus Ghana, studiert Philosophie und überlegt, ob er nicht lieber gleich zum Kabarett gehen sollte. Hier sind wir schon.« Luis schob eine schwere Eisentür auf, noch ein Vorraum, und dann waren sie in einer gewaltigen Küche.

Dampfschwaden, Stimmengewirr, jede Menge weiß gekleidete Leute, die wild durcheinander rannten. Und eine

aufregende Mischung köstlichster Gerüche. Einer der Köche war in schwarz. Das klassische Kochoutfit mit Tuch am Gürtel und einer doppelten Knopfreihe. Nur eben in schwarz. Die Knöpfe waren golden, das Tuch currygelb. Er war groß und dick, sein Haar dicht und dunkel und zu einem militärisch kurzen Meckischnitt gestutzt. Er hatte eine kleine Kasserole in einer Hand, einen Löffel in der andern. »Luis, alter Gauner. Hier, probier mal.«

Luis nahm den Löffel, schmeckte, nickte. »Estragon-Senf. Genau richtig, keine Zutat dominiert die andere. Genial.«

»Schön, dich zu sehen«, er nahm einen frischen Löffel und hielt ihn Pia hin. »Was meinen Sie?«

Pia probierte. Spürte einen feinen Estragongeschmack. »Was ist da noch dabei? Eine Spur Zimt?«

Der dicke Koch strahlte sie aus kobaltblauen Augen an. »Ich habe es noch nie erlebt, daß Luis eine Frau in meine Küche mitgebracht hat. Er muß Sie wirklich lieben. Ich bin Basili Álvarez.«

»Das ist Pia Cortes-Casares. Und ich liebe sie tatsächlich. Aber sie will mich nicht heiraten. Obwohl ich den schwarzen Anzug schon anhabe.«

Basili lachte, dann fiel ihm etwas ein. »Das ist doch nicht die Pia von der Policía. Die Detektivin. Und du bist doch hoffentlich nicht als Gerichtsmediziner hier. Hombre, Luis, du hast doch nicht etwa vor, mir heute mein wunderbares Buffet zu verderben!«

»Ganz im Gegenteil. Ich will es genießen! Erzähl schon, was gibt es?«

»Vom Feinsten. Du wirst begeistert sein! Da oben steht schon ein kaltes Buffet der allerobersten Klasse, aber wir werden auch noch frische und warme Speisen servieren. Es ist ja noch früh am Abend, aber ich denke, das dauert sicher …«, Basili unterbrach sich, als er einen der Jungköche durch die Schwingtür hereinkommen sah. Er winkte ihn zu sich. »Und? Wie sieht’s aus? Haben die schon mit den Reden begonnen? Uns verdirbt doch alles da oben! Das Eis schmilzt, die Soßen dicken ein …« Der junge Mann hob die Schultern.

»Dauert wohl noch. Sie warten auf irgendeine Frau Doktor. Sie scheint sehr wichtig zu sein.«

Kapitel 5

So nah am Hafen war es viel kälter als oben zwischen den Häusern. Der Wind knallte ungebremst vom Meer herein, feucht und beißend. Júlia fror erbärmlich in dem bescheuert kurzen Rock. An der Ecke bei der U-Bahnstation, bei der sie sonst immer einige der Jungs traf, stand nichtmal mehr der blinde Losverkäufer. Die Schrägwand über der Treppe war inzwischen fast völlig bedeckt. Angefangen hatten die Graffitikids mit den üblichen bunten Kritzeleien. Aber dann war Severí aufgetaucht und hatte die schlechten comics gecrosst, das heißt mit richtigen Bildern übermalt, große pieces und burner. Im Gegensatz zu vielen anderen, war seine Signatur war nur ein winzigkleines tag, ein verschlungenes sí. Es war ihr schon in den verschiedensten barrios aufgefallen. Er hatte sie beeindruckt, noch bevor sie ihn traf. Seine Bilder waren überbordend, gewaltig aber doch rund. Er sprayte keine bekannten charakter. Er erfand sie, formte sie, erschuf eine ganz eigene Welt in ganz eigenen Farbkominationen. Als sie sein auffälliges tag zum ersten Mal an der U-Bahnwand bei der Kolumbusstatue entdeckt hatte, begann sie, ihm aufzulauern. Er kam in den frühen Morgenstunden, wenn hier wirklich kaum noch jemand unterwegs war. Er war sechzehn, nicht viel größer als sie aber breitschultrig und muskulös. Er trug immer weite Skaterhosen, ein Kapuzenshirt und eine Weste mit vielen Taschen. Dunkles Kurzhaar und schwarze Augen. Er war unglaublich schnell. Als er sie das erste Mal bemerkte, verschwand er, noch bevor sie etwas sagen konnte. Beim zweiten Mal ging er auf sie los. Júlia blieb einfach stehen. Sie starrten sich ein paar Sekunden lang an. Dann sprayte er weiter und ließ sie zusehen. Er sprach nicht. Seinen Namen erfuhr sie erst, als Roger dazu kam.

Roger war fünfzehn, größer als sie beide und mager wie ein Skelett. Er hatte strähnig blondes Haar und eine schmale Brille mit Hornrand. Seine Farbdosen hatte er in einem Rucksack, und sein tag war ein eckiges rEg. Júlia hatte es noch nie vorher gesehen, aber Severí begegnete Roger mit Respekt, als der sich neben ihn stellte und seine burner