image

4.

Wirtschafts-
Manifest

Börsenbuchverlag

Jean-Claude
Trichet

Europas Wege
aus der größten
Krise seit dem
Zweiten Weltkrieg

Jean-Claude Trichet im Gespräch mit Andreas G. Scholz

© Copyright 2013:

Gestaltung und Satz: Johanna Wack, Holger Schiffelholz

ISBN 978-3-86470-162-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

image

Inhalt

1. Vorwort

2. Jean-Claude Trichet im Gespräch mit Andreas G. Scholz

1.

Vorwort

Jean-Claude Trichet traf ich zum ersten Mal zu einem Interview im November des Jahres 2003. Es war in Bangkok. Trichet war als Nachfolger von Wim Duisenberg erst wenige Tage an der Spitze der EZB im Amt. Der neue Präsident der Europäischen Zentralbank war damals zugleich in seiner Funktion als Vorsitzender der G10-Notenbankchefs in Thailand. Die wichtigsten Notenbanker der Welt zeigten sich beeindruckt von der Wachstumsdynamik in den asiatischen Schwellenländern und sahen gleichzeitig zunehmende Anzeichen einer wirtschaftlichen Belebung auch auf globaler Ebene. Wie immer bei solchen Treffen wurde natürlich auch über potenzielle Risiken gesprochen. Zwar sollte der Höhepunkt der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise noch einige Jahre in der Zukunft liegen, doch wurden schon Ende 2003 die kräftig steigenden Preise an einigen Immobilienmärkten diskutiert. Eine Woche vor dem Treffen in Bangkok hatten gerade erst die Notenbanken von Großbritannien und Australien ihre Leitzinsen erhöht – unter anderem auch in Reaktion auf die Entwicklung an ihren Immobilienmärkten. Das ist lange her und die nachfolgenden Entwicklungen sind bekannt.

Ich begleitete Trichet nicht nur auf dem anschließenden gemeinsamen Rückflug von Bangkok nach Frankfurt, sondern war fortan während seiner achtjährigen Amtszeit als Präsident der EZB immer möglichst nahe an ihm dran. Wir sollten noch einige Interviews führen, wobei sich der Tenor änderte. Stand anfangs noch die Zuversicht und der Aufschwung im Fokus, sollten später immer häufiger warnende Worte hinzukommen. Und dann – mitten in der Finanzkrise – stand die beinahe tägliche Krisenbekämpfung im Euro-Tower in Frankfurt im Vordergrund.

Im Jahre 2008 kürte ich zusammen mit meinen Kollegen aus der Jury der „Group 20 + 1“ Trichet zum „European Banker of the Year 2007“. Bei der schlechten Entwicklung vieler Geschäftsbanken wollten wir bewusst einen Notenbanker mit Format ehren. In unserer Jury-Begründung lobten wir die „mutige und transparente Politik“, die Trichet seit seinem Amtsantritt im Jahr 2003 verfolgt hatte. Unter Trichets Führung, so unsere Ansicht, hatte die Kommunikation mit den Playern an den Finanzmärkten, aber auch mit der Öffentlichkeit generell an Klarheit und Transparenz gewonnen. Unserer Auffassung nach wies Trichet früher als viele andere auf das Ausmaß der Subprime-Krise und die daraus resultierenden möglichen Gefahren hin. Noch im Januar 2007 in Davos auf dem Weltwirtschaftsforum sagte er mir: „Wir müssen aufpassen. Die Märkte sind viel zu selbstzufrieden.“

Trichet sollte recht behalten. Während die US-Notenbank Fed lange zögerte, machte sich der oberste Euro-Währungshüter für eine beherzte und gut koordinierte Vorgehensweise der wichtigsten Notenbanken der Welt stark. Es ging darum, der Vertrauenskrise angemessen Paroli zu bieten. Gleichzeitig blieb die EZB in jener Phase der immer näher heranrückenden Krise aber auch ihrem stabilitätspolitischen Mandat stets verpflichtet. Trichets Amtszeit endete im Oktober 2011 und damit mitten in der Krise im Euroraum – einer Krise, die immer wieder ihre Erscheinungsform veränderte. Aus einer Immobilienkrise wurde eine Banken- und Finanzkrise und aus der heraus schließlich eine Staatsschuldenkrise, die immer noch nicht bewältigt ist. Eine Krise, bei der die klassische, mit dem Mandat zu vereinbarende Geldpolitik immer stärker an ihre Grenzen stößt. Ja, eine Krise mit einem Ausmaß, wie wir es – auch global betrachtet – seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben.

Eineinhalb Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank wollte ich von Trichet wissen, wie er nun die Lage einschätzt und welche Wege er aus Europas größter Krise seit dem Zweiten Weltkrieg sieht. Wir trafen uns in Paris.

Andreas G. Scholz,

Frankfurt, im Juni 2013

Andreas G. Scholz ist seit 2010 Vorstand der DAF Deutsches Anleger Fernsehen AG und dort zugleich auch als Chefreporter tätig. Er berichtet von vielen großen internationalen Wirtschaftskonferenzen, wie z. B. dem WEF World Economic Forum in Davos. Zuvor war Scholz Büroleiter von BloombergTV in Frankfurt am Main. Seine journalistische Laufbahn begann er in der ARD, beim InfoRadio in Berlin.

2.

Jean-Claude Trichet im Gespräch mit Andreas G. Scholz

Herr Trichet, wir sind hier in Paris an Ihrer alten Wirkungsstätte in der Banque de France. Bis Ende Oktober 2011 waren Sie in Frankfurt am Main Präsident der Europäischen Zentralbank. Sie haben das Amt inmitten der Staatsschuldenkrise an Ihren Nachfolger Mario Draghi übergeben, in einer wirklich dramatischen Zeit. Lassen Sie uns über Europa, den Euro und über die Herausforderungen sprechen, vor denen wir weiterhin stehen. Als wir uns zuletzt im Sommer 2012 trafen, ging die Furcht um, dass die Eurozone und der Euro auseinanderbrechen könnten. Seither hat sich die Stimmung verbessert und die Lage stabilisiert. Das Schlimmste scheint vorüber zu sein. Wie würden Sie die derzeitige Gesamtsituation in Europa beschreiben?

Ich denke, wir sind mitten in einem ganz wichtigen Prozess, wo wir durchaus Fortschritte erleben. Dieser Prozess der Verbesserung ist mittelfristiger Natur und die Beurteilung der jeweiligen Situation in Europa durch Beobachter von außen hat sich dementsprechend nach und nach verändert. Meiner Ansicht nach ist dies durchaus eine sehr gute Sache. Und wir machen ja auch wirklich Fortschritte. Ich sehe für diese Verbesserung der Situation vier Hauptgründe.

Erstens ist es für Beobachter von außen jetzt besser sichtbar und wird von ihnen auch mehr anerkannt als in der Vergangenheit, dass die Anpassungsprozesse vorangehen. Die Leistungsbilanzdefizite der fünf Länder, die von den Finanzmärkten unter Druck gesetzt wurden, sind stark zurückgegangen. Die Anpassung ist also Realität. Die Zahlen für diese fünf Länder, die fast 40 Prozent des BIPs der Eurozone stellen, sehen folgendermaßen aus: Im Jahr 2008 belief sich ihr konsolidiertes Leistungsbilanzdefizit auf acht Prozent ihres BIPs. In den letzten zwölf Monaten betrug es nur noch gut ein Prozent. Sie sehen also, dass ihr Zahlungsbilanzdefizit beträchtlich zurückgegangen ist. Das ist überaus wichtig.

Zweitens muss man auch berücksichtigen, dass einige Länder – darunter Deutschland und Frankreich – klar signalisiert haben, dass sie an der Erhaltung der Eurozone festhalten und dass sie Wert darauf legen, dass alle Länder in der Eurozone verbleiben – vorausgesetzt natürlich, dass diese Länder auch alles Nötige dafür tun und sich mit den erforderlichen Anpassungen und Strukturreformen befassen. Das war eine sehr wichtige Sache, denn ein Teil der Beobachter und Investoren dachte eine Weile – irrtümlicherweise –, die Erhaltung einer intakten Eurozone sei nicht die Strategie einiger europäischer Länder, vor allem nicht die Deutschlands.

Drittens ist klar, dass die Eurozone inzwischen viel besser regiert wird, insbesondere dank der beträchtlichen Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, der Schaffung des Europäischen Fiskalpaktes, der Einrichtung des „Makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahrens“ (MIP = Macroeconomic Imbalances Procedure) und der gerade im Entstehen begriffenen Bankenunion. Auch dieser dritte Grund für die Verbesserung der Situation in Europa ist äußerst wichtig, denn er ebnet eindeutig den Weg zu der so notwendigen künftigen besseren Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Viertens und letztens hat die Europäische Zentralbank selbst angedeutet, sie habe die nötigen Möglichkeiten, um dazu beizutragen, dass die Geldpolitik wieder besser auf alle Volkswirtschaften der Eurozone übertragen wird, insbesondere auf diejenigen, deren Märkte ungewöhnlichen Störungen ausgesetzt sind – vorausgesetzt die Anpassungen dort kommen voran und die entsprechenden Bedingungen werden auch erfüllt. Damit will die Zentralbank nicht etwa die Zinsspreads zwischen den Staatsanleihen der verschiedenen Länder der Eurozone beseitigen, sondern nur den Teil der Spreads, die dem katastrophalen „Tail Risk“1 zuzuschreiben sind, dass manche Länder unter dem Spekulationsdruck des Marktes aus der Eurozone ausgeschlossen werden könnten. Sie würde also dieses „Tail Risk“ beseitigen, das wie gesagt nicht mehr gerechtfertigt ist, sobald die fraglichen Länder die erforderlichen Reformbemühungen auch umsetzen.

Und das alles zusammengenommen hat dazu geführt, dass eine Anzahl von Euroländern eine Menge an Anpassungen vornehmen musste, was nebenbei gesagt auch andere moderne Wirtschaftsnationen tun müssen: Auch Japan, die Vereinigten Staaten und Großbritannien stehen nämlich vor bedeutenden fiskalpolitischen Herausforderungen. Alle diese Länder benötigen ein Umfeld, in dem die notwendigen Strukturanpassungen weiter voranschreiten können. Es ist gerade so, dass im Grunde genommen alle Industrienationen jetzt auf die quasi harte Tour lernen müssen, dass das jedem einleuchtende Prinzip, wonach niemand unendlich lange mehr Geld ausgeben kann, als er einnimmt, für alle Volkswirtschaften der Welt gilt. Ich sehe durchaus, dass dieses Prinzip immer mehr angewendet wird, auch wenn dies Zeit braucht und für diejenigen Volkswirtschaften, die sich zuvor leider der allgemeinen Verschwendungssucht hingegeben haben, zweifellos ein schwieriger und schmerzhafter Prozess ist.