my_cover_image

Albrecht Gralle

Schwarzer Samt

Eine Liebesgeschichte in Afrika

image

Inhalt

Schwarzer Samt: Eine Liebesgeschichte in Afrika

Historische Nachbemerkung

Dank

Verwendete Literatur

1

LUANDA, ANGOLA, APRIL 1833

Gewe war an diesem Tag zu früh wach geworden. Hatte jemand sie gerufen? Vielleicht war es die schwüle Hitze gewesen, die jetzt vor dem Anbruch der Regenzeit immer drückender wurde. Wie ein heißes, unsichtbares Gewicht legte sie sich nachts auf alles und beendete den Schlaf vorzeitig.

Nein, jetzt wusste Gewe es wieder. Es war nicht nur die Hitze gewesen, sondern die Wut, mit der sie eingeschlafen war, die ihren Körper umhüllt hatte wie ein kratzendes Tuch und ihr gestern fast die Tränen in die Augen getrieben hatte. Die Wut auf Zacharias und Olla. Zacharias, ihren Cousin, der sich plötzlich nicht mehr für sie interessierte, sondern nur noch für Olla. Irgendetwas war mit ihm passiert, seitdem seine Stimme krächzte wie bei einer kranken Krähe.

Pass auf! Dir werde ich es noch heimzahlen, du … du treuloser Kerl!

Gewe fuhr sich über die feuchte Stirn, rückte von dem warmen Körper ihrer Schwester Sara ab und sah in dem dämmrigen Licht, dass ihr Laken zerknüllt am Fußende lag. Gerade war die Sonne aufgegangen, ein dünner Streifen Licht fiel durch den Holzladen und malte einen ovalen Lichtfleck auf die krausen Haare von Gewes Bettnachbarin. Bald würde der Sonnenball seine volle Hitze entfalten und eine neue heiße Schicht über die nächtliche Schwüle legen.

Die Achtjährige rollte sich aus dem niedrigen Bett mit der Matratze aus Elefantengras und huschte barfuß zum Fenster. Leise entriegelte sie den schweren Holzladen und drückte ihn nach außen. Grauweißes Licht flutete herein. Vor Gewes Augen lag die bekannte Straße, die schon von Leuten, Eseln und Karren belebt war. Das Quietschen der schlecht geölten Räder schrammte an ihrem Gehör vorbei wie raues Treibholz.

Weiße Männer in schwarzen Anzügen mit hochgezogenen Augenbrauen schritten im Eiltempo zum Hafen, dunkelhäutige Frauen in bunten Kleidern, in deren Körben die Fische noch hilflos zappelten, kamen etwas langsamer, die Hüften schwingend, vom Hafen herauf. Ihre Köpfe, auf denen die Lasten ruhten, glitten in sanfter Ruhe dahin, als hätten sie mit dem übrigen Körper nichts zu tun.

Der Hafen! Gewe konnte von hier aus einen Teil der Schiffe sehen. Wie große, seltsame Wasservögel schaukelten sie sanft in der Dünung. Einmal mit so einem Schiff fahren! Es musste herrlich sein, wenn einem die kühle Gischt ins Gesicht flog, wenn die Wellenberge sich am Horizont verloren und neue Länder aus dem Dunst emporstiegen. Wenn man in so einem Schiffsbett lag, das langsam hin und her schaukelte, dann blieb einem doch gar nichts anderes übrig, als wunderbare Träume zu haben. Gewe kamen diese riesigen Schiffe wie ein Wunder vor. Wie konnte man so etwas überhaupt bauen? Das brachten nur die Weißen fertig.

Seltsam waren diese Europäer aus Portugal und England. Sie verrichteten ihre Notdurft in einem eigenen kleinen Haus, in dem es grauenhaft stinken musste. Trotz der Hitze zogen sie so viele Kleider an und verboten den Sonnenstrahlen, ihre Haut zu streicheln. Ihre Frauen knöpften die Blusen bis zum Hals zu, aber Gewe wusste, dass sie die lästigen Unterröcke und leinenen Kniehosen unter dem rauschenden Kleid manchmal wegließen. Eine Freundin, die in einem weißen Haushalt arbeitete, hatte es ihr zugeflüstert. Es war praktisch, wenn man schnell die Blase entleeren musste oder die Röcke für die Lust eines Mannes hob, bevor sie verebbte. Aber das Wort »Lust«, so schnell dahergesagt, war für Gewe noch ein Gebilde ohne Bedeutung. Ähnlich wie das Wort »Schneeball«. Sie ahnte nur, dass in der Dunkelheit seltsame Dinge zwischen Männern und Frauen passierten.

Gewe schnupperte in die Morgenluft, roch das Meer und den immerwährenden leichten Fischgestank, der sich mit etwas Modrigem, mit Urin und dem Qualm der Frühstücksfeuer verband. Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, wandte sie sich um. Ihre Schwester Sara, die neben ihr geschlafen hatte, war aufgewacht, blinzelte mit den Augen und räkelte sich im Bett. Sara war nur ein Jahr älter und hatte genau wie Gewe eine hohe Stirn und eine gerade, etwas breite Nase. Doch Gewes Hautton war eine Spur dunkler als Saras und sie war insgesamt viel dünner als ihre Schwester. Ein ewig bohrender Makel. Dünn und schlank zu sein galt als hässlich. Gewe fühlte sich in ihrem zartgliedrigen Körper manchmal wie eine dürre Holzpuppe. Sehnsüchtig wünschte sie sich, eine dicke Lage Speck auf ihren Hüften, Armen und Beinen zu haben. Wenn die Mädchen sich stritten, dann nannte die fülligere Schwester Gewe einen »Knochenfisch«. Oder sie sagte den furchtbaren Satz: »Dein Ehemann wird sich später blaue Flecken holen, wenn er dich umarmt!« Aber Gewe war nicht zimperlich und konterte mit der Bemerkung: »Du wirst noch in deinem Fett ersticken, du Schwabbelschwein!«

Heute, das hatte Gewe sich fest vorgenommen, wollte sie mit dem Schwabbelschwein und mit Zacharias fischen gehen. Er musste so oft wie möglich von Olla ferngehalten werden. »Heute werden wir fischen«, sagte Gewe laut zu Sara, die sich streckte wie eine junge Katze.

Aus der anderen Ecke des Zimmers hörten sie ein tiefes Gähnen. Olla, Gewes Cousine, ihre derzeitige Rivalin, wurde wach. Sie war schon dreizehn, hatte Anrecht auf ein eigenes Bett und war wie Sara gut gepolstert. Sie hatte sogar richtige Brüste, um die Gewe sie glühend beneidete.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie schläfrig auf Portugiesisch.

»Ich werde mit Sara fischen gehen!« Gewe zappelte vor Aufregung.

»Aber macht es gegen Abend, wenn die Fische näher ans Ufer kommen«, murmelte Olla. »Du weißt doch: Mittags und nachmittags schwimmen sie zu tief, weil sie das kühle Wasser suchen ...«

»Oder wir gehen jetzt gleich los!«

»Nicht mit mir!«, sagte Sara entschieden und fügte hinzu: »Außerdem dürfen wir nicht allein gehen.« Damit war für sie das Gespräch beendet. Sie trat mit ihren Füßen das Laken vollends vom Bett und wälzte sich auf die andere Seite.

Der Lärm draußen steigerte sich, als mehrere Holzkarren, beladen mit Metallstangen, die löchrige Erdstraße hinunterpolterten. Gewe entschloss sich, ihr langes Trägerkleid überzustreifen, das bis zu den Knöcheln reichte und ihren mageren Körper verhüllte. Sollten die Dicken ruhig weiterschlafen. Sie würde beim Aufwärmen des Frühstücks helfen. Vielleicht kann ich dabei eine Extraportion Hirsebrei bekommen?

Sie öffnete den Schrank, dessen Füße von Ameisen zerfressen waren, schob den prall gefüllten Salzbeutel, der die Stoffe vor der Feuchtigkeit schützte, zur Seite und griff nach ihrem Kleid.

Bevor sie nun endgültig das Zimmer verließ und den Fensterladen wieder schloss, konnte sie es nicht lassen, Olla in ihre fette Hüfte zu zwicken. Sie beneidete ihre große Cousine nicht nur wegen ihrer weiblichen Formen, sondern auch, weil sie zur Schule gehen durfte, obwohl sie ein Mädchen war. Aber da ihre Verwandten einen bescheidenen Beitrag für die Unterbringung zahlten, war Olla in die Familie aufgenommen worden. Ein bisschen wurmte es Gewe, dass Olla während der Schulzeit nicht arbeiten musste. Als gerechten Ausgleich hatte sie sich zwei Blätter aus Ollas Lesebuch herausgerissen und bewahrte sie unter der Matratze auf.

Auf dem Weg ins Küchenhaus fühlte Gewe beim Gehen nach ihren Haaren. Die krausen Locken hatte ihr Sara vor drei Tagen mit viel Öl und ein paar bunten Schleifen gebändigt und zu festen Zöpfen geflochten. Das würde mindestens sieben Tage halten.

Ihre Mutter Sophina, eine Frau, die mit Leichtigkeit zwei Wassereimer stemmen, mit ihrem Hintern wackeln und dabei ein Lied singen konnte, hatte schon in dem kleinen Küchenhaus, das zwei Schritte neben dem Wohnhaus lag, das Feuer angemacht und den Kessel mit der Hirse von gestern auf die Steine gesetzt. Mit ein wenig Wasser, einem Schuss Palmöl und einem Löffel rotem Pfeffer wurde die Morgensuppe gewürzt.

Tante Diva, die mit im Haushalt lebte, half Sophina mit dem schweren Topf. Divas linke Hand war besonders kräftig und groß. Die rechte war dagegen verstümmelt, weil sie sie vor einem halben Jahr zu lange ins Feuer gehalten hatte. Diva gehörte zu den Leuten, die seit einiger Zeit keine Schmerzen in ihrem Körper fühlten. Manchmal, wenn sie gut gelaunt war, stach sie sich zum Entzücken der Kinder Nadeln durch die Beine.

Aber die gute Laune kam nur selten bei ihr auf. Sie hatte ihren Mann verloren, der eines Tages verschwunden war, und haderte seitdem mit ihrem Schicksal. Wenn sie wenigstens Kinder gehabt hätte, dann hätte sie einen fehlenden Mann eher verschmerzen können. Und so warf sie ihren ganzen Erziehungseifer auf Gewe und schimpfte sie aus, weil sie so dürr war. Als ob das Mädchen etwas dafürkonnte.

Unter ihrem Kleid fühlte Gewe nach einem kleinen Messer, das sie immer bei sich trug. Es steckte in einer dick gepolsterten Tasche. Unauffällig zog sie es heraus, bückte sich und ritzte damit Tante Divas Wade.

»Oh, Tante Diva!«, rief Gewe plötzlich. »Du hast Blut am rechten Bein!«

Erschrocken fuhr die Tante mit der Hand an ihrem Bein entlang und sah Blut.

»Bleib stehen. Ich verbinde dich!« Gewe riss ein Bananenblatt entzwei, legte es auf den roten Fleck und umwickelte das Ganze mit den langen Gräsern, die neben dem Haus wuchsen. Diva murmelte unwirsch vor sich hin und sagte dann: »Ich weiß gar nicht, woher die Wunde kommt.«

»Vielleicht von einem scharfen Blatt?«, schlug Gewe vor.

»Hier gibt es keine scharfen Blätter.«

Wer zum Frühstück kam, machte das Kreuzzeichen, setzte sich in eine Ecke und aß. Gewes Familie war katholisch. Das gehörte zu den vielen Neuerungen, die durch die Weißen gekommen waren. Für Gewe war es selbstverständlich, sie kannte keine andere Religion. Einmal hatte sie davon gehört, dass es »selvagens« geben sollte, »Wilde«, die in den Wäldern auf der Hochebene oder der Savanne lebten, nackt herumliefen und an einen Schlangengott glaubten, der in einem Menschenschädel wohnte und nachts angebetet wurde.

Aber auf jeden Fall musste der Gott der Weißen der stärkere Gott sein, denn schließlich hatte er die Gläubigen mit Reichtum und Wunderdingen überhäuft. Ihre Schiffe, so groß wie die Kirche in Luanda, fuhren über das Meer bis in die kalten Länder, wo man zu Fuß über festes Wasser gehen konnte! Erst neulich hatte ihr Vater erzählt, es gäbe jetzt sogar schwarze, lang gestreckte Kutschen, die auf eisernen Wegen fuhren, ohne dass Pferde davor gespannt waren. Unfassbar! Und erst die Feuerpakete, die der Gouverneur an großen Feiertagen anzünden ließ, um den Himmel mit bunten Sternen zu beschießen!

Gewe holte die kleinen Tonschalen vom Regal und hielt sie ihrer Mutter hin, damit sie den warmen, dünnflüssigen Hirsebrei einfüllte. Zuerst bekam ihr Vater seine Portion. Er musste als Erster aus dem Haus. Und sie war glücklich, dass sie ihm die Schale reichen durfte. Er steckte in einem schwarzen Anzug und trug kostbare, geschlossene Lederschuhe. Seine dunklen Haare waren in der Mitte gescheitelt und die Locken streng gebürstet. Ein Bart verzierte sein Kinn. Einmal hatte sie ihn beobachtet, wie er die Haut an seinem linken Arm kräftig schrubbte und sie dann mit dem rechten Arm verglich.

Gewe liebte ihren Vater. Sie nannte ihn Pai. Er war nicht allzu streng zu ihr. Streng war manchmal ihre Mutter, aber nur, wenn der Vater zu spät nach Hause kam und zu laut lachte. Ihr Vater nahm sie gelegentlich auf den Arm und nannte sie »minha gatinha – mein Kätzchen«, weil sie so geschmeidig und zartgliedrig war. Er war der Einzige, der sie mit ihrer dünnen Figur gelten ließ. Ein wenig roch er immer nach Haaröl und der bittersüßen Colanuss, die er ab und zu kaute. Und wenn er mit Sophina in einer fremden Sprache redete, hätte sie seiner tiefen Stimme stundenlang lauschen können. Chokwe, die Sprache ihrer Eltern, hörte sich an, als würde man beim Sprechen singend über Bäche springen.

»Stell dir vor, was sie gestern in der Kanzlei geflüstert haben«, sagte Pai. Seine Frau blickte warnend zu ihrer Jüngsten hinüber. Er hatte den Blick gesehen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, sie kann das ruhig hören. Es sollten eigentlich alle hören.«

Gewe vergaß zu essen und hielt ihren Holzlöffel abwartend in der Luft. Normalerweise durften die Kinder nicht gleichzeitig mit den Erwachsenen essen, aber beim Frühstück sah man darüber hinweg.

»Die Sklaverei ist ja, dem Himmel sei Dank, endlich abgeschafft worden«, sagte Pai. »Das habe ich bis gestern noch geglaubt. Aber die weißen Teufel ...«

Gewes Mutter Sophina räusperte sich.

»Ach, es ist doch wahr. Sie benehmen sich manchmal wie weiße Teufel. Natürlich gibt es Ausnahmen. Jedenfalls, es gibt jetzt immer mehr weiße Sklavenmacher, die sich einen geradezu teuflischen Plan ausgedacht haben. Sie kommen mit ihren Schiffen, um angeblich Holz, Bananen und Kokosnüsse zu laden. Aber in den Kisten, mit denen sie aus den Wäldern zurückkommen, liegen Gefangene. Gut verschnürt, mit Knebeln im Mund. Es ist ...«

»Was ist ein Knebel?«, fragte Gewe.

»Siehst du, du machst ihr nur Angst«, sagte seine Frau. »Und außerdem ist das Unsinn. Wenn die Sklaverei verboten ist, können sie auch keine Sklaven auf dem Markt verkaufen ...«

»Es ist kein Unsinn, Sophina. Pass auf: Es gibt ein Gesetz in Kuba, einer Insel weit weg von hier, das besagt, wenn Kinder in der Sklaverei geboren werden, dürfen sie weiter als Sklaven behandelt und verkauft werden.«

»Was geht uns Kuba an?«

Gewes Vater aß einen großen Löffel Hirsebrei und spülte ihn mit einem Becher kalten Wassers hinunter.

»Was uns Kuba angeht? Sehr viel. Wenn ...«

»Was ist denn nun ein Knebel?«, fragte Gewe und erschrak. Die Frage war ihr herausgerutscht. Denn normalerweise durften Kinder nicht reden, wenn sich Erwachsene unterhielten. Vorhin schien es niemand bemerkt zu haben.

»Bist du wohl ruhig!«, fuhr Gewes Tante sie an, die gespannt zugehört hatte.

Aber Pai lächelte nachsichtig und sagte: »Ein Knebel ist ein Stück Stoff, den man einem Gefangenen in den Mund steckt, damit er nicht schreien kann. Also, die weißen Sklavenhalter, die alle der Teufel holen soll, sind auf die Idee gekommen, sich weiterhin Sklaven zu besorgen, allerdings heimlich. Sie bringen sie dann nach Kuba und machen sie dort zu Kubanern. Und so«, Gewes Vater klatschte in die Hände, »sind wie durch Zauberei plötzlich wieder neue Sklaven da, und der Markt blüht und gedeiht.«

Alle schwiegen, bis Gewes Mutter sagte: »Aber sie würden sich nicht trauen, hier in Luanda heimlich Sklaven zu machen, oder?«

Pai lachte: »Hier in Luanda? Nein, nein, das würden sie sich nicht trauen. Der Gouverneur würde es nicht erlauben. Hier sind wir sicher. Aber wenn wir unsere Verwandten besuchen wollten … Unterwegs zu den Plantagen ist schon mancher verschwunden.« Er wiegte den Kopf hin und her.

Sophina blickte zu ihrer Jüngsten hinüber und sagte: »Es ist Zeit für Olla und Sara aufzustehen!«

Gewe stellte die Schale auf einem hölzernen Fenstersims ab, nachdem sie vorher einen Nachschlag hineingetan hatte, und hüpfte in das Zimmer zurück.

Leise öffnete sie die Tür, spähte in den halbdunklen Raum und sah Ollas nackte, feuchte Schulter im hinteren Bett.

Sie schlich sich näher und überlegte, welche von den vielen Aufweckarten sie für Olla benutzen sollte: die heftige Sorte, die mit einem Sprung auf den Rücken der Schläferin begann und mit einem Hundegebell endete? Oder die sanfte Art, die mit zärtlichem Rückenkraulen anfing und sich zu leichten, harmlosen Schlägen auf die Schulterblätter steigerte? Oder die nasse Art mit dem feuchten Kopftuch?

Mit Olla war es eigenartig. Es gab Tage, da bewunderte sie ihre große Cousine und hätte sie am liebsten den ganzen Tag gestreichelt, um ihre Zärtlichkeit für sie loszuwerden. Und dann wieder hasste sie Olla aus tiefstem Herzen, wenn sie Gewe von oben herab behandelte oder spöttisch über ihren mageren Körper grinste oder mit Zacharias lachte.

Heute entschied sich Gewe für eine ganz neue Art, Olla zu wecken. Die rosigen Fußsohlen ihrer Cousine ragten zu verführerisch über die Matratze. Gewe umfasste blitzschnell die nackten Fesseln und rief: »Gefangen!«

Olla zuckte zusammen und riss die Augen auf. Schon lag Gewe neben ihr und sagte: »Aufstehn! Schule!«

»Du Biest«, knurrte die Überfallene und biss in Gewes Oberarm. Gewe kitzelte sie in der Taille, dass Olla schrie. Jetzt war Olla endgültig wach geworden und Sara auch. Sie setzten sich beide auf.

»Versprich mir, dass du morgen wieder mit dem Rückenkraulen beginnst, sonst beiß ich deinen Arm ab!«

»Versprochen«, nickte Gewe und stieg aus dem Bett, nicht ohne einen bewundernden Blick auf Ollas Brüste zu werfen, die mit jedem Morgen größer zu werden schienen.

Inzwischen hatte die Morgensonne schon ihre Kraft entfaltet und trieb die Leute, die zu Fuß unterwegs waren, auf die schattige Seite der Straße.

Der Tag nahm seinen Gang. Olla frühstückte und ging zur Schule. Sara und Gewe wurden zum Markt geschickt, um Gemüse, Dörrfische und Maniok einzukaufen. Um fünf Uhr verlor die Sonne langsam ihre Kraft, und Gewe bat Sara so lange, bis sie mit ihr zum Strand ging. Zacharias, der zwei Häuser weiter wohnte, kam als männliche Begleitung mit, denn die Mädchen hätten nicht allein gehen dürfen. Bevor sie aufbrachen, rannte Zacharias in Gewes Haus.

»Was will er denn?«, fragte Gewe gereizt.

»Vielleicht einen Köder?«

Aber Zacharias kam nicht mit einem Köder nach draußen, sondern zu Gewes Ärger mit Olla, die er überredet hatte. Gewe knirschte mit den Zähnen. Ihr Plan, Olla und Zacharias zu trennen, war misslungen. Plötzlich war ihr die Lust auf Fischen vergangen. Aber es wäre noch schrecklicher gewesen, Sara, Olla und Zacharias alleine gehen zu lassen. Schon auf dem Weg zum Strand fand Gewe es unerträglich, wie Zacharias Olla neckte. Ollas Lachen ist ekelhaft!

Die Hafengebäude von Luanda spiegelten sich in der glatten See. Ein paar Schiffe lagen vor Anker. Bis auf eines hatten alle ihre Segel eingeholt und schaukelten sacht auf den Wellen. Das Schiff mit den vollen Segeln musste erst vor Kurzem angekommen sein und hatte wohl die Segel noch nicht gestrichen. Wahrscheinlich würde es die Nacht abwarten, um die Ladung am nächsten Morgen zu löschen. Es zerrte an der Ankerkette wie ein hungriger Wachhund.

Gewe hockte sich neben die anderen an den Strand und starrte hinüber zu dem Segelschiff. Wieder ließ sie ihre Gedanken wandern. Es müsste schön sein, dort mitzufahren, dachte sie. Sie und Zacharias ganz allein, dann würde er Olla mit der Zeit vergessen. Sie würden neue Länder entdecken, Gewe würde dick und fett werden, sie würden heiraten und viele Kinder bekommen …

An Gewes rechter Seite hing ein feuchtes, verknotetes Tuch, das sie vom Gürtel löste. Ein paar Würmer ringelten sich darin und wurden jetzt auf den Angelhaken gespießt. Sara, die zum ersten Mal beim Angeln dabei war, schaute genau zu. Zacharias blinzelte zu Olla hinüber, die mit ihren Gedanken weit weg zu sein schien. Gewe stellte sich vor die leichte Brandung, schwang die Schnur mit kreisenden Bewegungen über ihren Kopf und ließ sie mit der rechten Hand los. Wie ein Pfeil flog das Ende der Schnur mit den Würmern über die funkelnden Wellen und landete im Wasser. Die dünne Fischerin hockte sich wieder hin und sagte zu Sara: »Jetzt müssen wir nur noch abwarten. Sobald sich die Schnur bewegt, ziehe ich ruckartig an, damit sich der Haken in das Fischmaul bohrt, und dann ...«

»Schaut mal«, sagte Olla und deutete nach vorn. »Da kommt ein Boot. Es gehört zu dem großen Schiff mit den offenen Segeln.«

Die Kinder blickten hinüber. Es war ein alltägliches Bild am Hafen. Dauernd kamen irgendwelche Boote von den Schiffen, die vor Anker lagen, um die Matrosen an Land zu bringen oder zurückzurudern. Aber anstatt geradeaus zum Strand zu fahren, steuerte das Ruderboot auf die Kinder zu.

»O nein!«, rief Gewe ärgerlich. »Sie werden mir die Fische vertreiben oder sich mit der Schnur verheddern.«

»Es kommt direkt auf uns zu«, sagte Olla und hielt ihre Hand über die Augen, weil die untergehende Abendsonne ihr ins Gesicht schien.

Zwei Männer konnte Gewe im Gegenlicht erkennen. Aber warum ruderten sie ausgerechnet zu ihnen? Als das Boot knirschend auf den Strand fuhr, waren die Kinder aufgestanden. Sie wussten nicht, was sie davon halten sollten.

»Los!«, sagte Zacharias, und seine Stimme hörte sich kratziger an als sonst. »Lasst uns nach Haus rennen.«

Gewe winkte ab. »Ach, ich bleibe bei meiner Angel. Erst mal abwarten, was sie wollen. Wegrennen können wir immer noch.«

Die Männer, die unschwer als Matrosen zu erkennen waren, lächelten die Kinder freundlich an und redeten auf Portugiesisch mit ihnen. »Na? Was macht ihr so?«

»Ich versuche zu fischen«, sagte Gewe, »aber euer Boot hat mir die Fische vertrieben.«

»Das macht nichts«, sagte der eine, dessen breites Gesicht von einem Bart umrahmt war. »Wart ihr schon einmal auf so einem großen Schiff?« Er zeigte zum Horizont.

Die Kinder schüttelten stumm den Kopf.

»Wir könnten euch das Schiff einmal zeigen«, sagte der andere Matrose, der bartlos war und hellbraune Haare trug. Er lächelte freundlich, wobei er interessiert Olla betrachtete, die ihren Blick senkte.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, meinte Olla und wandte sich um. »Kommt! Wir gehen nach Hause.«

»Klar, ihr könnt nach Hause gehen, aber was meint ihr wohl, was ihr versäumt! Es gibt auf dem Schiff süße Sesamkuchen mit Honig, einen ganzen Berg davon. Und habt ihr schon einmal saftige Aprikosen gesehen? Stellt euch vor, wenn ihr auf einen Mast klettert, könnt ihr sogar das Ende von Luanda sehen.«

»Nein, nein!« Olla schüttelte den Kopf. »Wir dürfen nicht allein mit Fremden mitkommen.«

Jetzt redete der andere Matrose und lächelte noch breiter. »Was soll euch schon passieren? Wir rudern euch hinüber, zeigen euch das Schiff und dann rudere ich euch wieder zurück. Das verspreche ich euch.«

»Wirklich?«, fragte Gewe misstrauisch, die sich an ihrer Angelschnur festhielt wie an einem Rettungsseil.

»Natürlich. Und selbst wenn ich’s nicht tu, dann könnt ihr immer noch selbst zurückschwimmen. Na los! Kommt schon!«

»Ich komm nicht mit.« Zacharias’ Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.

»Dann geh doch nach Hause«, sagte Gewe zu ihm, die eine Gelegenheit witterte, Zacharias eins auszuwischen.

»Nein! Ihr kommt gefälligst mit!« Zacharias hob seine Stimme, aber dadurch krächzte sie noch stärker.

Gewe passte es nicht, dass Zacharias so tat, als müssten ihm die Mädchen gehorchen. Was bildete er sich eigentlich ein, dieser krächzende Zwerg! Sie würde ihm schon beweisen, dass sie vor den Männern keine Angst hatte und dass sie mutiger war als Olla und Sara zusammen. Immerhin trug sie ihr kleines Messer. Und im Notfall würde sie zustechen.

»Pah! Du kannst uns gar nichts befehlen«, gab Gewe zurück.

»Dann sag ich es deinem Vater.«

»Sag’s ihm doch, sag’s ihm doch, sag’s ihm doch!«

Einer der Matrosen wollte nach Zacharias’ Arm greifen, um ihn am Weggehen zu hindern, aber der Junge wich aus, drehte sich um und lief davon. Im Übereifer seiner Flucht stolperte er, fiel hin, rappelte sich wieder auf und rannte voller Panik weiter. Es sah so komisch aus, dass die Matrosen und die Mädchen unwillkürlich lachen mussten. Der Matrose mit dem Bart lachte so seltsam glucksend, dass er die Mädchen mit seinem Lachen wieder ansteckte, als die erste Lachsalve vorbei war. Gewes Misstrauen flog mit dem Gegluckse davon. Leute, die so lustig lachen konnten, hatten bestimmt nichts Böses im Sinn, dachte sie. Es war, als hätte das gemeinsame Gelächter ein unsichtbares Band um sie alle gelegt. Zacharias erschien ihr jetzt wie ein Fremder, der nicht zu ihnen gehörte.

»Aber ihr müsst uns gleich wieder zurückbringen«, sagte Gewe mit fester Stimme.

»Natürlich. Wie heißt du denn?«

»Gewe.«

»Und die anderen?«

Gewe stellte ihre Begleiterinnen vor.

»Olla und Sara sind sehr schöne Namen«, sagte der Bartlose. »Steigt ein. Ich schiebe das Boot ins Wasser.«

Die Mädchen zögerten zwar noch etwas und Gewe musste erst ihre Angelschnur einholen, aber mit Lachen und gutem Zureden half der Mann ihnen ins Boot. Dabei kam es Gewe so vor, als würde er zufällig Ollas Brüste unter dem Kleid berühren. Der Bartlose schob den Kahn an und schwang sich über den Rand, als das Boot ganz im Wasser lag. Schnell griffen die Männer nach den Rudern und fuhren mit kräftigen Schlägen auf das Schiff zu, wobei sie unauffällig zurückblickten und ein fremdartiges Lied anstimmten. Olla verstaute ihre Schnur in dem Tuch am Gürtel, fühlte nach ihrem Messer und hielt sich dann mit beiden Händen am Bootsrand fest.

Für einen Augenblick dachte Gewe an das Gespräch beim Frühstück. Ob das vielleicht ein Sklavenschiff ist, das heimlich Menschen einfängt? Aber Pai hatte über diese Frage nur gelacht und gesagt, dass in Luanda keine Gefahr bestünde. Gewe beruhigte sich etwas, aber trotzdem blieb in ihr ein unbehagliches Gefühl zurück.

Ohne Kommando fiel eine Strickleiter an der Schiffswand herab, sobald sie die Breitseite erreichten. Als hätte man auf sie gewartet.

»Da hinauf«, befahl der mit dem Bart, und aus seiner Stimme war plötzlich alles Scherzhafte und Lustige verschwunden. Beklommen kletterten die Mädchen über die schwankende Leiter nach oben. Hilfreiche Hände packten zu und hoben sie auf das Deck.

Gewe spürte einen komischen Druck in ihrem Bauch, als sie einer Gruppe Männer gegenüberstand, die sie angrinsten. Gewe gefiel ihr Gesichtsausdruck nicht. Wenn wenigstens eine Frau dabeigestanden hätte! Ein älterer Mann mit weißer Uniform trat auf sie zu, verneigte sich höflich oder eher spöttisch und stellte sich als Kapitän vor.

»Kommt, Mädchen! Hier entlang«, sagte er freundlich und fasste Olla am Oberarm. »Zuerst zeige ich euch den wichtigsten Raum.«

In Gewes Kopf fing es schmerzhaft an zu pochen, als sie mit Sara hinter Olla herstolperte und nach der Hand ihrer Schwester griff. Plötzlich standen sie vor einer Tür. Der Kapitän machte sie auf und sagte: »Hier fühlen sich unsere Gäste besonders wohl.«

Die Mädchen betraten den Raum, der einladend aussah. Von der Decke hing eine Petroleumlaterne, die jedoch nicht brannte, und an einer Wand konnten sie eine Karte erkennen. Zwei Korbsessel mit einem niedrigen Tisch füllten die Ecke aus und vor dem Bullauge stand ein behäbiger Schreibtisch. Gerade als Gewe zu Olla sagte, dass sie lieber gleich jetzt zurückrudern oder schwimmen wollte, hörten sie, wie die Türe hinter ihnen rasch zugezogen wurde und wie ein Schlüssel sich im Schloss drehte. Erschrocken warfen sie sich gegen die Tür und drückten die Klinke herunter. Ohne Erfolg. Gleichzeitig hörten sie ein seltsames Geräusch. Als ob ein Tier brummte.

Ängstlich blickten sie in das angrenzende Zimmer. Da sahen sie eine gefesselte dunkelhäutige Frau auf dem Boden hocken, deren Mund mit einem Tuch zugebunden war. Olla ging zu ihr hin und nahm ihr den Knebel ab.

Sie atmete kräftig ein und aus, sah die Mädchen dann mit großen Augen an und sagte auf Portugiesisch: »Ihr seid gefangen. Das ist ein Sklavenschiff!«

Während Gewe den Knebel anstarrte, von dem sie erst heute Morgen etwas gehört hatte, drang ein rasselndes Geräusch durch die Holzwände: Der Anker wurde eingeholt.

2

GERLINGEN, IM KÖNIGREICH WÜRTTEMBERG, APRIL 1833

Ein süß stechender Duft von Flieder und frisch gedüngten Wiesen lag über Gerlingen. Der achtjährige Johannes, in knielangen kurzen Hosen, wollenen Strümpfen und dem abgetragenen Hemd seines großen Bruders, stand zögernd vor der Tür zum Ochsen, dem Gasthaus seines Großvaters Conrad. Dann drückte er langsam die Klinke nach unten.

Der Junge war früh dran. Trotzdem huschte er schnell über die Schwelle und stand nun in dem dunklen Treppenhaus. Er kannte sich aus, schließlich hatte er bei seinen Großeltern seine ersten Lebensjahre verbracht.

Vorsichtig schloss er die Tür. Zum Glück war sie geölt. Noch waren keine Stimmen zu hören, denn die Versammlung sollte erst in einer Stunde beginnen. Ein aromatischer Duft von frischem Brot lag in der Luft. Der Großvater war Bäcker. Darunter mischte sich der Geruch von gedünsteten Zwiebeln, wie man sie für einen guten »Roschtbraten« brauchte.

Johannes’ Großmutter Johanna, die Seele der Küche, hatte zweifellos wieder ihr ganzes Herz in die dicke Zwiebelschicht gelegt. Vor Jahren war es schon einmal vorgekommen, dass die Hornhaut ihrer linken Zeigefingerkuppe beim Zwiebelschälen den Weg in das Gericht gefunden hatte, mitgedünstet und von einem braven Schwaben unwissend aufgegessen worden war. Seitdem durfte das Wort »Fingerkuppe« in Johannas Gegenwart nicht ausgesprochen werden. Sonst forderte man den Zorn dieser wackeren Vollblutköchin heraus.

Johannes, immer noch vom Zwiebelduft der Meisterköchin umhüllt, stieg vorsichtig die ausgetretenen Holzstufen nach oben. Er kannte inzwischen die Stellen, die nicht knarrten. Sein Gesicht glühte und seine Nase lief. Ärgerlich wischte er mit dem Handrücken darüber. Unter seinem Hemd zeichnete sich eine eckige Form ab.

Er schien sich nicht so recht wohlzufühlen, während er den dunklen Flur entlangschlich. An der Tür zum Wohnzimmer blieb er stehen und lauschte. Dort drinnen bewahrte der Großvater seine Bücher auf, aber leider war er nicht bereit, seinen Schatz mit Kindern zu teilen. Er war der Meinung, zu viel Lesen sei für Kinder nicht gut. »Des isch schädlich für d’ Auga.«

Johannes’ Großvater war nicht der übliche Wirt mit großporiger roter Nase und Bierbauch, sondern ein schlanker und frommer Mann. Zwar führte er einen Gasthof, aber zugleich achtete er darauf, dass seine Gäste nicht zu viel tranken.

Man hätte meinen können, dass diese Vorgehensweise die Stammkunden abschreckte, aber das Gegenteil war der Fall. Im frommen Dreieck zwischen Gerlingen, Korntal und Stuttgart traf man sich nicht in erster Linie, um zu saufen und Weiberröcken hinterherzuschauen. Mindestens einmal in der Woche kamen die Leute zusammen, um mit Inbrunst und mit Tränen in den Augen vom lieben Heiland zu singen und so persönlich zu beten, dass es sich anhörte, als wohnte Gott in Tübingen und würde »Gottlieb Bäuerle« heißen. Kein Gast nahm es dem Ochsenwirt übel, wenn er einem frohen Zecher liebenswürdig den Krug wegstellte, weil der kurz davor war, die Grenze zur Trunkenheit zu überschreiten.

Nur Johanna, seine Frau, hatte dafür wenig Verständnis. Sie sagte dazu: »Wenn der Herrgott einen zum Trinker geschaffen hat, dann wird er ihn auch irgendwann zum Heiligen erschaffen können. Man soll ihm nicht ins Handwerk pfuschen.« Conrad, der eine andere theologische Position bezog, ließ Johannas fatalistische Einstellung, die ein wenig nach Calvin roch, nachsichtig stehen. Außerdem führte sie zu unbestreitbaren finanziellen Vorteilen.

Der Ochsenwirt hatte aber nicht nur das Talent, Trinker vor dem Trinken zu bewahren, sondern besaß noch etwas sehr Wertvolles, nämlich eine stattliche Bibliothek von dreißig Büchern, die er in einem Schrank hinter Glas aufbewahrte. Seit sein Enkelsohn Johannes lesen konnte, hatte sich dieser Schrank für ihn in eine Schatzkammer verwandelt. Lesen – was für eine erstaunliche Sache für einen Jungen, der bisher auf Bäume geklettert war, der beim Heuwenden auf der Wiese mitgeholfen hatte und sogar schon Kühe melken konnte.

Seit einem halben Jahr, nachdem die Wörter nicht mehr stockend aus dem Mund fielen, tat sich nach jedem gelesenen Wort ein Geheimnis für ihn auf. Worte wie »Meeresrauschen«, »Eiswüste« oder »Elefanten« wirkten wie Türen in eine neue Welt. Einmal hatte Johannes ein Buch über Afrika mit gemalten Bildern erwischt. Das hatte ihn so gepackt, dass er am liebsten einmal dorthin reisen wollte, wo es so heiß war, dass man nach dem Waschen im Fluss gleich wieder schwitzte.

Inzwischen hatte Johannes schon fünf Bücher heimlich aus dem Schrank seines Großvaters geholt. Er wusste, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde. Zu Hause hatte er die Bücher mit klopfendem Herzen durchgestöbert und sie später unauffällig wieder zurückgestellt. Wie gebannt fühlte er sich zu dem Bücherschrank hingezogen. Er konnte nichts dagegen tun.

Den Freunden erzählte er natürlich nichts von seiner neuen Lieblingsbeschäftigung. Sie schienen nicht gerne zu lernen und verstanden nicht, warum ihre Eltern das teure Schulgeld ausgaben oder das Schulbrennholz sammelten. Mit dem Lesen taten sie sich schwer, schoben das Lesebuch gähnend zur Seite, wenn sie mit ihrer Lektion fertig waren.

Als Johannes einmal begeistert von einer kleinen Geschichte erzählte, die er in einem Buch seiner Eltern gefunden hatte, sah er die verständnislosen Blicke seiner Freunde und bekam ihren Spott zu spüren. Richtige Jungen kämpften mit Holzschwertern und kamen blutig nach Hause oder halfen schon wie Erwachsene auf dem Hof.

Es gab nur ein Kind, mit dem er seinen Lesespaß teilen konn te. Das war Olga, das Mädchen vom Nachbarhaus. Sie war zwei Jahre jünger als er. Nicht alles, was er sagte, verstand sie, aber sie lachte ihn nie aus. Ja, sie bat ihn sogar, ihr etwas vorzulesen. Und das tat er. Es machte ihn groß und überlegen.

Johannes presste sein Ohr an die Tür zur guten Stube. Es schien still dahinter zu sein. Er schaute den Flur entlang, dessen Boden aus dunklen, knarrenden Dielen bestand. Immer noch war niemand zu sehen. Manchmal knackte es im Fußboden, ohne dass jemand darüberging. Als ob ein unsichtbarer Wächter durch das Gasthaus schlich, um nach dem Rechten zu sehen.

Langsam drückte der Junge die Klinke herunter, die Tür schwang auf und Johannes schlüpfte hinein. Er blieb stehen und lauschte. Seine Großeltern waren wohl in der Küche beschäftigt. Das Wohnzimmer war tatsächlich leer. Unbeweglich stand der Schrank da, und es schien ihm, als ob die Bücher darin ihn freundlich anstarrten. Dass die Bücher so still standen, war für den Jungen immer wieder überraschend. So viele Geschichten und Wörter, die sie in sich trugen! Da müssten sie sich doch regen und strecken, miteinander flüstern und vor Aufregung vor und zurück rucken. Aber nichts davon. Ruhig standen sie da. Nicht einmal ein Blatt raschelte.

Der Junge atmete erleichtert aus, als er merkte, dass er allein war. Rasch zog er das mitgebrachte Buch unter seinem Hemd hervor. Mit der Hand tastete er nach dem Schlüssel, der an einem Nagel an der Rückwand hing, und schloss vorsichtig auf. Flüsternd zählte er die Regalbretter ab und schob den Band ungefähr dorthin, wo er ihn vor einer Woche weggeholt hatte. Dann neigte er seinen Kopf und buchstabierte die Namen auf den Buchrücken.

War da nicht eben ein Geräusch? Rasch zog er aufs Geratewohl ein Buch heraus, zählte die Buchrücken ab, schloss die Glastür, hängte den Schlüssel an den Nagel und schob seinen Fund wieder unter das Hemd. Flink schlüpfte er aus dem Zimmer und blickte in den leeren Flur. Nichts. Er verschloss sorgfältig die Tür und ging in die Gaststube hinein.

In die hinterste Ecke verkroch er sich, direkt neben das Fenster. Durch die dicken grünlichen Butzenscheiben fiel jetzt, am frühen Abend, gerade noch ein wenig Helligkeit auf den speckigen Tisch, in dem schon manches Brotzeitmesser gesteckt hatte.

Johannes schlug sein neues Buch mit Herzklopfen auf. Was würde es diesmal sein? Es war kein neues Buch, das sah man schon. Aber das war ja gerade gut. Ein neues Buch, das wäre viel zu frisch gewesen. Es hätte sich angefühlt wie grüne, unreife Kirschen, die noch nichts von der prallen Süßigkeit wussten. Aber das hier, das hatte schon seinen eigenen Geruch. Johannes hob das Buch an die Nase und schnupperte: Es roch nach altem Papier und ein wenig nach Eisenspänen. Der Einband war an den Ecken vom häufigen Gebrauch leicht abgeschlagen.

Langsam las er den Titel: »Reden nach dem allgemeinen Wahrheitsgefühl von Friedrich Christoph Oetinger, Special-Superintendent in Herrenberg, Weinsberg, den 2. Jenner 1758.«

Es war ein Predigtband. Johannes entzifferte staunend und schleppend die Einleitung: »Lieber Leser, ich übergebe dir hiermit seriöse Wahrheiten. Ich mag wohl ein Idiot in der … Gala… Galanterie sein, aber kein Idiot in der Erkenntnis. Ich danke Gott, dass ich früh angefangen habe, aufrichtig gegen mich selbst zu sein ...«

Johannes verstand nicht alles, was er da las. Was bedeutete zum Beispiel »Galanterie«? Und warum war der Special-Superintendent ein »Idiot« in der Galanterie? Und was waren »seriöse Wahrheiten«? Aber den letzten Satz, den verstand der Junge mit der Triefnase und den blonden Haaren gut. »Aufrichtig gegen mich selbst«, wiederholte er. Es lag etwas Beunruhigendes in diesem Satz und zugleich etwas Tiefes und Gutes.

Er blätterte weiter nach hinten und stieß einen überraschenden Laut aus. Denn dort war ein Verzeichnis angehängt, in dem man in alphabetischer Reihenfolge Lebensläufe von berühmten Leuten finden konnte und Erklärungen zu unbekannten Worten. Das war genau das, was er immer gesucht hatte. Da tauchten Wörter auf, die einen fremden Klang hatten: »Cäsar, Plato« oder »Kannibalen«. Staunend las er: »Kannibalen heißen die Bewohner der karibischen Inseln, welche ihre Feinde zu fressen pflegen.«

Erschrocken blickte er von dem Buch auf. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Als er weiterblätterte, stieß er auf Namen wie »Karl der Große« und »Knipperdolling«. Weiter hinten stand sogar der Name »Ziegenbalg«. Wie konnte man nur »Ziegenbalg« heißen? Das klang fast wie in diesen grausamen Geschichten, die die Erwachsenen abends erzählten, wenn sie meinten, dass die Kinder schliefen. In einer dieser Geschichten, sie hieß Rumpelstilzchen, ging es auch um seltsame Namen. »Schnürbein« zum Beispiel, daran konnte sich Johannes noch erinnern. Und nun hieß einer »Ziegenbalg« … das klang auch interessant. Johannes las weiter, während das Licht immer schwächer wurde:

»Ziegenbalg war ein verdienstvoller Missionar, wurde am 24. Juni 1683 in Pullnitz geboren, drei Meilen von Dresden. Er erhielt seine erste Bildung zu Görlitz und Berlin und bezog 1703 die Universität Halle, wo er sich hauptsächlich auf das Studium der Heiligen Schrift verlegte. Als indessen der König von Dänemark Studenten verlangte, die als Heiden-Missionare nach Ostindien gehen sollten, wurde Ziegenbalg vorgeschlagen und im Oktober 1705 zu Kopenhagen zu diesem Amte ordiniert. Am 29. Oktober. begab er sich mit seinem Gefährten Heinr. Plütschow zu Schiff, verlor hier sogleich seine Schwermütigkeit, womit er von Jugend auf geplagt gewesen war, und langte am 9. Juli 1706 zu Tranquebar in Ostindien an. Hier legte er ...«

Ein Poltern ließ Johannes aufschrecken. Schnell klappte er das Buch zu und schob es unter die Bank.

»Ja, so ebbes! Dr Hannes isch scho komma!«, hörte er die tiefe, etwas brüchige Stimme des Großvaters.

»Grüß Gott«, erwiderte Johannes kurz.

Der Alte setzte sich zu seinem Enkel und blickte ihn durchdringend an, sodass Johannes unwillkürlich die Augen senkte. »Sag mal«, begann er, »du weißt nicht zufällig, wie es kommt, dass meine Bücher manchmal ihre Plätze tauschen? Mal verschwinden sie, dann tauchen sie plötzlich an einer anderen Stelle wieder auf?«

Johannes, dem das Blut ins Gesicht schoss, war dankbar dafür, dass die Petroleumlampen noch nicht brannten. Er schüttelte den Kopf und blickte haarscharf an seinem Großvater vorbei.

»Koi Ahnung.«

»Na ja, es hätte ja sein können. Vielleicht ist es so etwas wie Magie. Ich werde ein paar Gebete sprechen müssen.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Es freut mich übrigens, dass du unsere Versammlungen regelmäßig besuchst und sogar immer der Erste bist. Ich glaube zwar nicht, dass du alles verstehst, aber schaden wird es dir wohl nicht.«

Er erhob sich ächzend und zündete die Lampen an, die an Ketten von den Deckenbalken hingen und, sobald sie brannten, leise vor sich hinfauchten. Dann holte er das »Schwörbüchsle« vom Fensterbrett und stellte es auf den Tisch. Wenn ein Gast fluchte, musste er einen Kreuzer hineinwerfen, so streng waren die Sitten in diesem Gasthaus.

Die ersten Gäste kamen, grüßten und ließen sich hinter den Tischen nieder. Rechts die Männer, links die Frauen. Die meisten hatten eine Bibel und ein Gesangbuch dabei und legten sie wie große Eintrittskarten auf den Tisch. Man unterhielt sich halblaut und nickte dem Jungen wohlwollend zu.

Die Gaststube füllte sich immer mehr. Es waren auch ein paar jüngere Leute dabei: Mädchen in langen schwarzen Kleidern, die Haare in der Mitte exakt gescheitelt und zu einem kunstvollen Knoten gebunden. Ab und zu stahl sich eine widerspenstige Locke aus dem straffen Geflecht, die die Mädchen umständlich zurücksteckten, ohne sich dabei ihrer aufreizenden Wirkung bewusst zu sein. Die Männer setzten sich so, dass sie beim Aufschlagen des Gesangbuches mit einem kurzen, aber züchtigen Blick die Mädchen betrachten konnten. Dafür allein hatte sich für sie der Besuch gelohnt.

Einmal in der Woche trafen sich die Pietisten, die selbst erwählte Elite unter den Frommen, zu einer Erbauungsstunde beim Ochsenwirt. Man sang und betete, ohne einer festen Liturgie zu folgen, was von den »Normalgläubigen« im Ort argwöhnisch beobachtet wurde. Neben der Bibel wurde in diesen Stunden regelmäßig etwas aus dem Basler Missionsmagazin gelesen, in dem spannende Geschichten von Missionaren enthalten waren. Dieser Teil der Versammlung war für Johannes immer der wichtigste.

Nach der Begrüßung durch den Großvater sangen alle das erste Lied. Und es war seltsam. Johannes kam es vor, als ob heute Abend alle Lieder wie für ihn ausgesucht worden waren: »Mache dich, mein Geist, bereit, wache, fleh und bete, dass dich nicht die böse Zeit unverhofft betrete ...«

»Böse Zeit« – das blieb bei Johannes hängen. Genau so fühlte er sich heute … Aber da kam schon ein anderes Lied: »Es ist ein Born, draus heilges Blut für arme Sünder quillt ...« Was arme Sünder sind, das konnte Johannes noch verstehen, er kam sich ja selber wie einer vor. Aber was sollte dieser Satz: »Es ist ein Korn, draus helles Blut ...« bedeuten? Korn, das wusste er schon, war eine andere Bezeichnung für ein Schnäpsle. Aber warum floss daraus helles Blut? – »Aus tiefer Not schrei ich zu dir...« Das war wieder verständlich und passte. Ach ja, es war eine Not mit dem Bücherausleihen!

Johannes rutschte auf seinem Sitz hin und her. Als dann noch jemand laut betete, dass die Welt voller Lügen und Diebstahl sei, wäre der Junge am liebsten im Boden versunken – oder sogar hinausgestürmt in die Nacht wie der Verräter Judas nach dem letzten Abendmahl. Nur mühsam ertrug er das endlos lange Gebet eines Bauern, dessen Stimme so gleichmäßig klang wie das Murmeln eines Wiesenbaches. Und der eine oder andere Kopf sank dabei tiefer und tiefer in der anheimelnden Atmosphäre von Roschtbratenduft, Brotgeruch und Sündennot.

Beim Vorlesen aus dem Magazin horchte Johannes dann wieder auf. Der Großvater las mit seiner bedächtigen Stimme von einem Mann, der in Ostafrika mitten unter den Eingeborenen wohnte, ihre Sprache studierte und Teile der Bibel für sie übersetzte.

Das Schlusslied erklang und danach Füßescharren und Husten. In dem allgemeinen Durcheinander griff Johannes schnell unter die Bank und holte das Buch hervor. Unauffällig schob er es unter sein Hemd, knöpfte es zu und presste den Arm dagegen. Dann schlüpfte er zwischen den Erwachsenen hindurch und wollte schon nach Hause rennen. Aber in der Tür vertrat ihm sein Großvater den Weg.

»So schnell nach Hause, Johannes? Hast du dich verletzt? Dein Arm sieht so merkwürdig verbogen aus.«

Johannes’ Herz fing rasend schnell an zu pochen. Ohne dass er es eigentlich vorgehabt hatte, warf er sich seinem Großvater in die Arme und schluchzte: »Ich habe die Bücher doch nur ausgeliehen.«