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Ruth Kinet

Israel
Ein Länderporträt

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Ruth Kinet

Israel

Ein Länderporträt

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

3. Auflage als E-Book, März 2017

eISBN 978-3-86284-241-4

Inhalt

Vorwort

Leben im Kollektiv

Die Familie

Konformistisch: Heiraten und eins, zwei, drei Kinder

Avantgardistisch: Die »neue Familie« und der Primat der Fortpflanzung

Das »Wir«-Gefühl

Narrativ vom Kollektiv: Von Pessach bis zum Unabhängigkeitstag

Zionistische Initiation: Die Vermittlung von Geschichte und Tradition in Kindergarten und Schule

Von der Pflicht zu siegen: Die Armee

Die »Anderen«

Vom Staat privilegiert: Ultraorthodoxe

Im Schatten: Menschen mit Behinderungen

Ohne Rechte: Fremdarbeiter und Flüchtlinge

Die ultimativ »Anderen«: Arabische Israelis

Lebensentwürfe

Visionäre Kraft: Pioniere und Idealisten

Immerwährender Neuanfang: Einwanderer, Umsteiger und Selbsterfinder

Lebensrhythmus

Erster bis fünfter Tag: Tempo, Tachles und Telefon

Sechster Tag: Betriebsamkeit und Müßiggang

Schabbat: Ruhen und ruhen lassen

Schluss

Anhang

Glossar

Literatur

Basisdaten

Übersichtskarte Israel

Danke!

Über die Autorin

Vorwort

»Hier brauchst du Ellbogen«, belehrte mich meine Hebräischlehrerin Rachel im Tel Aviver Ulpan Gordon, der populärsten Sprachschule der Stadt, kurz nachdem ich in Israel angekommen war. Im Laufe meiner Jahre in Tel Aviv wurde mir bewusst, dass ich die Ellbogen nicht erst entwickeln musste, sondern dass sie zu meiner Grundausstattung gehörten. Ich entdeckte überrascht einen Körperteil, der schon seit meiner Geburt Teil meiner selbst war, über dessen Einsatzmöglichkeiten mich allerdings zuvor niemand aufgeklärt hatte. Jetzt kann ich sagen, dass ich mich nach dieser Entdeckung in gewisser Weise vollständiger fühle.

Denn eines lernte ich in Tel Aviv schnell: Israelis verstoßen mit größter Natürlichkeit gegen das in Europa gängige comme il faut. An diesem Nonkonformismus kann man Israelis an vielen Orten auf der Welt schnell erkennen. Mir scheint es mitunter, als kosteten Israelis ihre Unangepasstheit in vollen Zügen aus. Aber das ist möglicherweise eine Projektion meiner eigenen verkappten Sehnsucht nach Nonkonformismus. Meiner Sehnsucht danach, einfach mal ganz unverstellt unverschämt zu sein. Vermutlich genießen Israelis ihn gar nicht, diesen Aspekt ihres Nonkonformismus. Sie atmen tief ein und Chuzpe aus. Ganz ohne Anstrengung. Vollkommen natürlich. Den Zwang, den mitteleuropäischen Umgangsformen entsprechen zu müssen, den kennen sie nicht.

Die Chuzpe hinterlässt nach ersten oberflächlichen Begegnungen mit Israelis einen unauslöschlichen Eindruck. Meist ist es eine Mischung aus Schock und Staunen, die bleibt. Das hebräische Wort chuzpa kann am treffendsten mit Dreistigkeit übersetzt werden.

Israelis fühlen sich auch ganz und gar frei, anspruchsvoll zu sein. Zum Beispiel im Café, wenn sie der Bedienung ihre persönlichen Vorlieben anvertrauen: »Ich möchte einen Milchkaffee im Glas, bloß nicht in der Tasse. Der Kaffee muss kurz und stark sein mit einem bisschen Milchschaum obendrauf. Daneben will ich noch ein extra Glas mit warmer Milch. Ungeschäumt. Und einen langen Löffel dazu.«

Kundzutun, was man will und was nicht, wird nicht als Egoismus moralisch gebrandmarkt und als kapriziös verurteilt. Die Bestellung einer Tasse Kaffee darf deshalb gerne eine Minute in Anspruch nehmen. Tel Aviver Kellner irritiert das nicht. Die Obsessionen ihrer Gäste sind ihr Geschäft.

So schmeckt sie, die Freiheit, Israeli zu sein. Israelis sind frei vom Zwang zu einer Höflichkeit und Rücksichtnahme, die im raffiniert zivilisierten Westeuropa in der erstbesten Miniaturkrise, in der Warteschlange vor einem Münchner Lufthansa-Schalter beim Fluglotsen-Streik zum Beispiel, zerbröseln kann und plötzlich den Blick auf das in Wahrheit geltende Jeder-gegen-Jeden freilegt.

In Israel ist es umgekehrt: Im alltäglichen Spiel der Kräfte gilt das Recht des Stärkeren. Autos schneiden Fahrradfahrern und Kinderwagen beim Rechtsabbiegen mit größter Selbstverständlichkeit den Weg ab. Aber wenn einer von einem solchen Auto fast niedergemäht wird, sind von allen Seiten Hände da, die den Geschockten auffangen, ihm frisches Wasser reichen, Menschen, die beruhigende und tröstende Worte zusprechen, die fragen, ob sie einen Krankenwagen rufen oder den Verstörten nach Hause begleiten sollen.

Im Oktober 2012 traf ich den 36-jährigen Schriftsteller Nir Baram in Tel Aviv zu einem Interview für dieses Buch und fragte ihn zum Schluss unseres Gesprächs, welches Missverständnis ihm bei seinen Reisen ins Ausland am häufigsten begegnet sei und den Blick auf Israel am nachhaltigsten verstelle. Nach längerem Nachdenken sagte Nir Baram: »Alle denken immer, dass wir uns hier nur mit einem Thema beschäftigen: dem Konflikt mit den Palästinensern. Solange die Menschen nicht selbst in Israel waren, verstehen sie nicht, wie normal das Leben hier an der Oberfläche ist. Mein neues Buch Gute Leute spielt im Deutschland des Nationalsozialismus und im stalinistischen Russland. Ich werde oft gefragt: Warum hast du dieses Buch geschrieben und nicht ein Buch über Israel? Die Leute denken, Palästinenser und Juden leben hier in einer Wüste und jagen sich in einem fort gegenseitig. Sie denken, wir leben in einem permanenten Bürgerkrieg, wachen morgens auf und denken als Erstes an die Besatzung. Das ist so falsch. Vermutlich unterschätzen die Menschen, die nicht in Israel leben, den Grad an Verdrängung, den es hier gibt.«

In Tel Aviv fällt diese Verdrängung besonders leicht. Ich habe fünf Jahre im Zentrum von Tel Aviv gewohnt. Ich habe diese Jahre sehr und je länger ich dort war, desto mehr genossen. Dabei konnte ich den Israelis als Deutsche belgischer Herkunft vermutlich unbelasteter und freier begegnen als Deutsche deutscher Herkunft. Die unzähligen Alltagsbegegnungen mit Verkäufern beim Bäcker, im Bioladen und am Saftstand, die von dieser unverwechselbaren Vertrautheit lebten, die entsteht, wenn man sich jeden zweiten Morgen im immer gleichen Kontext sieht, vor allem aber die Intensität und Spontaneität des Zusammenlebens mit meinen Freunden, die alle in der Nähe wohnten, all dies hat mir nach einer Weile das Gefühl gegeben, in Israel zu Hause zu sein. Hier, an diesem Ort der vielschichtigen Identitäten, fühlte ich mich als belgische Deutsche und deutsche Belgierin wunderbar aufgehoben.

Zum Beispiel wusste Lior, der bei meinem Lieblingsbäcker die Brötchen verkauft, genau, was ich wollte, wenn ich einen Espresso macchiato zum Mitnehmen bestellte: den Kaffee kurz und ölig, den Milchschaum üppig. Oder Orli, die in der Saftbar Tamara unter den Ficus-Bäumen auf dem Mittelstreifen des Ben-Gurion-Boulevards frische Früchte und frisches Gemüse in Shakes und Säfte verwandelt. Als ich nach einem Monat Urlaub in Europa wieder vor ihr stand und meinen Lieblingsshake aus Açaí-Beeren bestellte, sagte sie zu meiner Überraschung: »Hey, Ruth, wo warst du so lange? Ich habe dich vermisst!« Und das, obwohl sie täglich geschätzt 500 Leute bedient.

Zwischen dem angenehmen Alltag in Tel Aviv und der Entwürdigung palästinensischer Kinder, Frauen und Männer an den Checkpoints, der Obszönität der Mauer oder der Gefangenschaft der Bewohner des Gaza-Streifens gab es keine Berührungspunkte.

Als offiziell beim Presseamt der israelischen Regierung akkreditierte ausländische Journalistin hatte ich immerhin die Möglichkeit, in den Gaza-Streifen zu fahren. Im Gegensatz zu meinen israelischen Freunden und Kollegen.

Einmal, es war mehr als ein Jahr nach dem Ende des Gaza-Kriegs im Januar 2009, brach ich morgens aus Tel Aviv auf, fuhr die etwa 60 Kilometer auf gut ausgebauten Straßen nach Süden, zum Grenzposten Erez. Ich parkte mein Auto, zeigte israelischen Soldaten an zwei aufeinanderfolgenden Kontrollposten meinen Pass und meine Akkreditierung, durchquerte zu Fuß einen etwa einen Kilometer langen Drahtkäfig, passierte die Hamas-Kontrolle und war »drüben«. Auf der anderen Seite war ein Großteil der Straßen ungeteert. Eselskarren zuckelten über unebene Sandpisten. Noch ein Jahr nach dem israelischen Bombardement vom Dezember 2008 und Januar 2009 fuhren im Gaza-Streifen viele Autos ohne Windschutzscheiben und Fenster, und das mitten im Winter. Eine Stunde Autofahrt und 15 Minuten fußläufig von meiner Wohnung im Zentrum von Tel Aviv entfernt lebten Menschen in Häuserruinen und waren auf Lebensmittellieferungen des UN-Flüchtlingshilfswerks für die Palästinenser (UNWRA) angewiesen.

Ich war in den Gaza-Streifen gekommen, um Material für eine Reportage über häusliche Gewalt gegen Frauen zu recherchieren. Von Ahmed Jounis, meinem dortigen Informanten und Übersetzer, der als praktizierender Internist intime Einblicke in die Lebensgeschichten von Menschen bekommt, hatte ich erfahren, dass viele Männer seit dem Krieg ihre Verzweiflung und Ohnmacht in gewalttätige Attacken gegen ihre Frauen übersetzten. In Deir-el-Balah, einem Vorort von Gaza-Stadt, traf ich zwölf schwarz verschleierte Frauen, die mir zuerst zögerlich, schließlich aber erstaunlich offen von entwürdigenden Misshandlungen durch ihre Ehemänner erzählten.

Auf dem Weg zurück nach Tel Aviv musste ich 19 israelische Sicherheitsschleusen und einen Nacktscanner durchlaufen, bevor ich wieder israelischen Boden betreten durfte. Ich passierte den Checkpoint kurz vor Schließung zwischen halb vier und vier Uhr nachmittags, stieg in mein Auto auf dem Parkplatz in Erez, und anderthalb Stunden später sang ich mit meinem Sohn hebräische Kinderlieder zur Gitarrenbegleitung von Merav in einem eleganten Veranstaltungszentrum für Kinder und Eltern am Tel Aviver Ben-Gurion-Boulevard.

Das ist die nur schwer fassbare Gleichzeitigkeit zweier Welten, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Das menschliche Bewusstsein kann diese beiden Welten nicht auf Dauer gleichzeitig gewärtigen. Das übersteigt das emotionale und mentale menschliche Vermögen. Die Verdrängung, von der Nir Baram sprach, ist eine Überlebenstechnik, ohne die das Leben in Israel zu den gegenwärtigen politischen Bedingungen nicht möglich wäre.

Gegenstand dieses Buches ist das Leben in Israel. Der Begriff Leben zieht sich daher wie ein roter Faden durch alle Kapitel. Im Mittelpunkt dieses Buches steht die Frage, was das Leben der Menschen in diesem Land ausmacht. Was bewegt sie? Was hält die Israelis zusammen? Was hoffen und was fürchten sie, worauf gründen sie ihre Hoffnungen und Ängste? Wie gestalten sie ihr Leben? Nach welchem Rhythmus leben sie?

Das Leben in Israel hat unzählige Facetten. Schlichte Schablonen, die aus der Ferne das Fremde so komfortabel zu ordnen scheinen wie die Begriffe säkular und ultra-orthodox, politisch links oder rechts, bleiben an der Oberfläche; ebenso die Festlegung Israels auf Beschreibungen wie »Land im permanenten Ausnahmezustand«, »Land am Rande des Nervenzusammenbruchs« oder »Land der Extreme«. Auf derlei Gemeinplätze werden Israel und das Lebensgefühl in Israel oft reduziert.

Israel ist das Land, das alle Deutschen bis zum Überdruss aus den Nachrichten kennen, das mit Schlagworten wie »Konflikt«, »Kassam-Raketen« und »Mauer« verbunden wird. Dabei bleibt im Dunkeln, wer die Israelis eigentlich sind.

Außerdem ist Israel eines der unpopulärsten Länder der Welt, wie eine jährliche Umfrage des BBC World Service in 27 Ländern immer wieder ergibt. Im Jahr 2013 rangierten nur Nordkorea, Pakistan und Iran noch hinter Israel.

Zugleich aber wächst die Zahl der Touristen, die Israel besuchen, beständig. Im Jahr 2013 waren es 3,54 Millionen Menschen, ein halbes Prozent mehr als im Vorjahr. Der Tourismus spülte 2013 insgesamt 8,3 Milliarden Euro in die Kassen des Landes. Der Fremdenverkehr ist ein wichtiger Motor des wirtschaftlichen Wachstums. Er generiert Tausende Jobs, vor allem in der Peripherie des Landes.

Dabei haben die Touristen, die den Felsendom, die Klagemauer und die Grabeskirche in Jerusalem, das Tote Meer und den See Genezareth besuchen, meistens keine Gelegenheit, Israelis kennenzulernen. Sie erleben vielleicht die Grobheit der israelischen Sicherheitskräfte am Flughafen oder sind verstört angesichts des lebensmüden Fahrstils ihres Tourbus-Fahrers. Vermutlich kann auch jeder Israel-Reisende nach seiner Rückkehr mindestens eine Geschichte von einem unverschämten Postkartenverkäufer oder Kellner zum Besten geben. Damit aber wären die Israelis unzureichend beschrieben.

Die Menschen, die hier leben, kommen aus allen Erdteilen und Schichten. Sie sind erschütternd selbstbezogen und pflegen zugleich eine hochentwickelte Kultur der Selbstironie.

»What’s the purpose of your visit?«, fragen die israelischen Grenzbeamten jeden Einreisenden bei der Passkontrolle am Flughafen Ben Gurion. »Was ist der Zweck Ihres Besuchs?« Eigentlich eine zu komplexe Frage, um sie mal eben im Stehen gegenüber einem unbekannten Soldaten im Glaskasten zu beantworten. Und überhaupt lässt sich der Zweck einer Reise ohnehin meist erst aus der Rückschau benennen. Was also kann man schon bei der Einreise ehrlicherweise darüber zu Protokoll geben?

Mit diesem Buch möchte ich Sie auf Ideen bringen, wie Sie diese erste Frage, die Ihnen auf israelischem Boden gestellt werden wird, für sich selbst beantworten könnten.

Ich möchte versuchen, etwas von dem weiterzugeben, was ich bei meiner Arbeit als Journalistin und in meinem Alltag als Frau, Mutter und Ausländerin von Israel und den Israelis verstanden habe.

Den Großteil meiner persönlichen Beobachtungen habe ich im säkularen Teil der israelischen Gesellschaft gemacht. Ich habe fünf Jahre im Stadtzentrum von Tel Aviv gelebt, von Ende 2007 bis Ende 2012. Die Erfahrungen, die ich dort gewonnen habe, prägen meinen Blick auf die israelische Gesellschaft.

Seit einer Weile wohne ich nun wieder in Berlin. Aber im Geiste und im Herzen lebe ich weiter in Israel. Morgens beginne ich den Tag mit dem israelischen Radiomoderator Razi Barkai, ich lese Yedioth Achronoth und Haaretz online, reise nach Israel so oft ich kann und berichte von dort für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland. Geschichten, von denen einige auch in diese neue Auflage eingeflossen sind. Wie die über den arabischen Israeli Muawia Kabha, der 15 Jahre lang als Rettungssanitäter gearbeitet hat. Nach Attentaten in Israel und der Westbank war er oft als einer der ersten am Ort des Anschlags. Heute arbeitet der charismatische Vater von zwei kleinen Kindern im Gesundheitsministerium in Jerusalem. Er ist ein loyaler Bürger seines Landes, verweigert den Hass und sucht die Begegnung.

Hinzugekommen ist auch die Geschichte über den Kibbuz Kishorit im Norden Israels, einer Gemeinschaft von Menschen mit »besonderen Bedürfnissen«. Oder die über einen Streifzug durch Bnei Brak, die israelische Haupstadt der streng religiösen Juden, in deren Straßen Eli Raful aufgewachsen ist, ein früherer Student der Elite-Yeshiva »Ponovezh«. Mit Elis Hilfe konnte ich mich den Gesichtern der Armut in der Welt der Charedim nähern. Mit Maoz Kahana, dem chassidischen Hochschullehrer für Geschichte des Judentums an der Universität Tel Aviv, durfte ich intensive Gespräche über die religiöse Praxis der Charedim und über die universelle Botschaft des jüdischen Neujahrsfestes »Rosh haShana« führen. Meir Azari von der Tel Aviver reformjüdischen Gemeinde Beit Daniel und Anat Hoffmann, die Aktivistin von »Women of the Wall«, haben mir von dem Ringen der konservativen und liberalen jüdischen Bewegungen um Gleichstellung mit dem orthodoxen Judentum erzählt. Ich sprach mit dem Schriftsteller Aharon Appelfeld über das Suchen eines 13jährigen überlebenden Einwanderers nach einer Sprache, in der er sich verwurzeln könnte. Das Deutsche seiner Mutter war nurmehr Erinnerung, das Rumänische aus seinem Geburtsort bei Czernowitz war während der sieben Jahre in den Wäldern, der sieben Jahre des Fliehens vor der Vernichtung, zu Bruchstücken zerfallen, ein bisschen Ukrainisch und ein wenig Russisch waren hinzugekommen und dann, mit 13, mit einem Mal Ivrit. »Ich vermochte nur zu stammeln«, flüsterte mir der von einer Krankheit schwache Schriftsteller auf seinem Sofa in Mevasseret Zion bei Jerusalem zu. Für ein Feature über die Begegnungen zwischen Israelis und Deutschen zwischen 1945 und 1965 sprach ich nicht nur mit Aharon Appelfeld, sondern auch mit dem seit über 40 Jahren in Jerusalem lebenden deutschen Judaisten und evangelischen Theologen Michael Krupp über seinen Weg nach Israel am Ende der 1950er Jahre, als es noch keine Billigflüge nach Tel Aviv gab und kaum ein Deutscher nach Israel zu reisen wagte. Krupp erzählte von einem frommen Fahrgast, der 1959 mit ihm im selben Minibus von Jerusalem nach Tel Aviv fuhr und ihn nach einiger Zeit als Deutschen erkannte. Der fromme Israeli bat daraufhin den Fahrer, sofort aussteigen zu dürfen. Er wolle lieber laufen. Michael Krupp sagte: »Nein, ich steige aus« und setzte seinen Weg nach Tel Aviv zu Fuß fort. Oder Amos Oz. Wenige Tage bevor er den Siegfried-Lenz-Preis in Hamburg bekam, rezitierte er für mich am Ende eines langen Gesprächs über sein neues Buch Judas und sein Verhältnis zu Deutschland und der deutschen Literatur das Gedicht »Sachqi, Sachqi« von Saul Tschernichowski. Das und noch einiges mehr steht inzwischen hinter dem Doppelpunkt, den ich ans Ende der ersten Auflage dieses Buches gesetzt hatte. Der da immer noch steht. Denn die Geschichte geht immer weiter.

Auch dieses Buch kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Es ist darin viel die Rede von »den Israelis«. Derlei Generalisierungen sind oft ungenau und problematisch, zugleich sind sie aber auch ein notwendiges Mittel der Beschreibung. Ich habe versucht, die israelische Gesellschaft als eine lebendige und vielfältige Gesellschaft zu beschreiben. Meine Darstellung ist selbstverständlich lückenhaft und subjektiv. Deshalb bitte ich Sie: Fahren Sie nach Israel und machen Sie sich selbst ein Bild. Machen Sie es sich nicht so bequem wie Jakob Augstein, der 2013 in einem Spiegel-Streitgespräch mit Dieter Graumann bekannte, er sei noch nie in Israel gewesen, weil er sich nicht mit der Politik der israelischen Regierung gemeinmachen wolle. Versuchen Sie nicht, Ihre Israel betreffenden politischen Überzeugungen vor einer Konfrontation mit der Realität zu bewahren.

Fahren Sie nach Israel! Fahren Sie mit offenen Augen und einem offenen Herzen. Wenn Sie dazu bereit sind, dann wird diese Reise ihren Blick auf viele Dinge verändern. Das kann ich Ihnen versprechen.

Berlin, im Februar 2017
Ruth Kinet

Leben im Kollektiv

Eine machzelet ist Teil der Grundausstattung jedes israelischen Haushalts. Eine machzelet ist eine Matte, manchmal aus Stroh, meist aus widerstandsfähigem Plastik, mindestens drei mal drei Meter groß, die Israelis immer im Kofferraum ihres Autos mit sich führen. Und wer kein Auto hat, lagert seine machzelet zu Hause. Denn auf der machzelet kann man sich jederzeit spontan niederlassen, auf Teer, Sand oder Staub, in einem lichten Pinienwäldchen oder an einem unbewirtschafteten Strand. Eine kleine machzelet bietet Platz für mindestens sieben bis zehn Leute. Sie ist ein Insignium des Volkes Israel im 21. Jahrhundert, sie ist das tribalistische Accessoire einer Stammesgemeinschaft mit nomadischer Vergangenheit. Verabredet man sich mit Israelis im Park, wird als Erstes die machzelet ausgebreitet, dann werden sämtliche mitgebrachten Tupperschüsseln darauf verteilt, und schon fühlen sich alle angekommen.

Bejachadness ist eine neue hebräische Wortschöpfung. Shaul Zaban, ein Freund und dynamischer Unternehmer, der immer gerade irgendeine neue erfolgversprechende Idee für ein Business entwickelt, verwendet dieses Wort gerne. Vielleicht hat er es sich ausgedacht. Wer weiß das schon. Ich kenne es jedenfalls von ihm. Das Wort bejachadness also kommt von bejachad, und das bedeutet auf Hebräisch »zusammen« oder »gemeinsam«. Es bezeichnet das Zusammengehörigkeitsgefühl der Israelis, das große »Wir«, das die ganze Heterogenität und Gegensätzlichkeit der Herkunft überspannt, die sich zwischen streng orthodoxen, nationalreligiösen, traditionellen und säkularen Juden, zwischen Mizrachim und Aschkenasim, den orientalischen Juden also und denen mittel- und osteuropäischer Herkunft auftut.

Es gibt etwas sehr Grundlegendes, das alle jüdischen Israelis über die Differenzen von Hautfarbe und Herkunft hinweg verbindet. Und dieser kleinste gemeinsame Nenner ist bedeutend: Es ist die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, Ha Am Hayehudi, die – verstärkt durch die ausgrenzende Erfahrung des »Othering«, die alle, die einmal von irgendwoher eingewandert sind, außerhalb der Grenzen Israels gemacht haben und alle, die gerne reisen, immer wieder machen – das israelische Kollektiv und die israelische Identität begründet.

Dieser kleinste gemeinsame Nenner, der, um ein ethnisches Klischee zu bedienen, den mizrachischen Taxifahrer und die aschkenasische Universitätsdozentin zum Kollektiv verschmelzen lässt, wird zum Beispiel am Schabbat oder an den Feiertagen, den Chagim, in der Ähnlichkeit ihrer Verhaltensweisen deutlich: Beide machen am Jom Schischi, am Freitag, vor Beginn des Schabbat, ihre letzten Besorgungen. Der Großeinkauf ist meist erledigt, es stehen nur noch Sidurim an, kleine Erledigungen. Blumen werden gekauft und eine Challa, ein Schabbatbrot. Es liegt eine freudige Erwartung in der Luft. Sie ist mit Händen zu greifen.

Und sobald die Sonne untergeht, pünktlich zum Beginn des Schabbat, kommen alle zusammen. Je nach Alter finden sie sich bei ihren Eltern ein oder versammeln ihre Kinder und Kindeskinder um ihren eigenen Esstisch.

Außerdem sind zum Schabbat-Essen auch oft Freunde oder Bekannte aus der Gemeinde eingeladen. Spätestens wenn man einmal während eines ausgiebigen und üppigen Schabbat-Essens vier oder fünf Stunden zusammen gesessen und viel Gelegenheit zum Gespräch gehabt hat, weiß man ganz gut übereinander Bescheid. Das festliche Essen am Freitagabend ist also nicht nur Ausdruck des Kollektivs, sondern auch ein Moment, in dem das Kollektiv gebildet und konsolidiert wird.

Der Zug zum Kollektiv ist im Judentum selbst verankert. Der Einzelne braucht das Kollektiv allein schon für die Lesung der Thora. Voraussetzung für eine Lesung von Texten aus der Thora in der Synagoge ist der Minjan, womit das Zusammenkommen von mindestens zehn Männern zum Gebet gemeint ist.

Neugeborene erhalten ihren Namen erst während eines kollektiven Rituals: Jeder neugeborene Junge wird am achten Tag nach seiner Geburt in das Kollektiv eingeführt: Mit einem großen Fest feiert die Familie die Beschneidung des Neugeborenen und lädt dazu die gesamte Großfamilie und viele Freunde ein. Erst bei der Beschneidungszeremonie erhält der Junge seinen Namen. Ein Mädchen erhält seinen Namen dagegen, wenn der Vater in der Synagoge zur Thora-Lesung aufgerufen wird. Dann spricht die Gemeinde ein Gebet für die Wöchnerin und den Säugling. Davon unabhängig muss die Wöchnerin, die einen Sohn geboren hat, spätestens 40 Tage nach der Entbindung und die, die eine Tochter geboren hat, spätestens 80 Tage danach für die überstandene Geburt in der Synagoge Dank sagen. Es versammelt sich ein Minjan von mindestens zehn Männern, in deren Anwesenheit die Wöchnerin den Gomel-Segen aus Psalm 107 spricht: »Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig. Halleluja!« Die Frauen, die mit der Wöchnerin auf der Frauengalerie sitzen, antworten ihr mit dem entsprechenden Segensspruch.

Aber auch jeder andere jüdische Ritus, der den Übergang von der einen zur anderen Lebensphase markiert, ist ohne das Kollektiv nicht denkbar: angefangen von der Brit Mila, der Beschneidung, über die Bar Mitzwa und die Bat Mitzwa, die Feier der religiösen Mündigkeit eines Jungen oder eines Mädchens, die Hochzeit unter der Chupa, dem festlichen Hochzeitsbaldachin, bis zur Schiva, der Trauerwoche, wo alle Menschen, die den Verstorbenen oder einen seiner Angehörigen kannten, sieben Tage lang eingeladen sind, in die Wohnung des oder der Verstorbenen zu kommen und Anteil zu nehmen.

Diese kollektivistischen Traditionen des Judentums bestimmen in Israel die Alltagskultur. Auf die Zeit des Chazal, der wegweisenden Religionsgelehrten aus der Zeit von 200 v. Chr. bis etwa 600 n. Chr., geht zum Beispiel das rabbinische Gebot Kol Israel Arevim Ze La Ze zurück. Es bedeutet nichts weniger, als dass im Volk Israel ein jeder für den anderen verantwortlich ist. Dieses Gebot ist bis heute tief im kollektiven Bewusstsein verankert.

Die Relevanz dieses Gebots erklärt sich aus der historischen Erfahrung der Juden in der Diaspora, wonach letztlich oft nur auf das soziale Netz und das Verantwortungsgefühl innerhalb der jüdischen Community Verlass ist.

Vielleicht ist es also als Überlebenstechnik zu verstehen, dass Israelis rund um die Uhr miteinander kommunizieren und pausenlos aufeinanderbezogen sind. Wenn sie sich voneinander verabschieden, rufen sie sich zu: »Nihije be kesher!« »Wir werden in Verbindung sein!« Oder: »Nedaber!« »Wir sprechen!« Sie gehen auseinander und versichern sich zugleich, dass der Gesprächsfaden zwischen ihnen nicht abreißen wird. Und das meinen sie ernst: Sie sind dauernd per Telefon, SMS, Facebook, Twitter, Skype, Video-Livestream oder einfach per E-Mail in Verbindung – mit ihren Liebsten, ihrer Familie, ihren Freunden und Kollegen, aber auch mit denen, die sie nicht leiden können, und mit jenen, denen sie misstrauen. Nicht zufällig sind das Instant Messaging ICQ, mit dem man über das Internet in Echtzeit Text-, Bild- und Filmnachrichten verschicken kann, und die Mobilbox, die Präsenz auch im Augenblick der Absenz ermöglicht, von Israelis erfunden worden.

Situationen, in denen das Mobiltelefon ausgeschaltet wird, gibt es in Israel nur wenige. Selbst beim Symphoniekonzert bleibt der Vibrationsalarm an. Nur wenn es gar nicht anders geht – während einer Krebsuntersuchung im Kernspintomografen oder beim Panzereinsatz im Gaza-Streifen zum Beispiel – trennen sich Israelis vorübergehend von ihrem Telefon. Allerdings nicht freiwillig, sondern weil es Praxisordnung und Militärgesetz so vorschreiben. Ausnahmen sind der Schabbat und hohe Feiertage wie der Jom Kippur, das Versöhnungsfest.

Manchmal kann das pausenlose In-Verbindung-Sein auch obsessive Züge annehmen. Zum Beispiel, wenn Eltern von ihrem Arbeitsplatz aus per Videokamera verfolgen, wie das Kindermädchen ihrem Baby zu Hause Lieder vorsingt. In jedem Raum der Wohnung sind Kameras installiert, und auf dem Bildschirm am Arbeitsplatz der Eltern überträgt ein kleines Fenster direkt Livebilder von Zuhause.

Vor kurzem wurden auch mir die Segnungen dieses Anspruchs an die Lückenlosigkeit von Kommunikation bewusst – als ich mich nämlich im Tel Aviver Assuta-Krankenhaus einer kleinen Operation unterziehen musste. Mein Mann erhielt im Abstand weniger Minuten SMS-Nachrichten auf sein Handy, die von einem Barcode-System generiert wurden, mit dem genauen Stand der Dinge: »Ruth ist in der Operationsvorbereitung«, »Ruth ist im Operationssaal angekommen«, »Ruth ist narkotisiert worden«, »Ruth ist im Aufwachraum« und schließlich »Ruth ist auf der Station Gimel, 5. Stock, Zimmer 8«. Als dann alles überstanden und ich wieder zu Hause war, rief mich Gad, mein Chirurg, persönlich an, um mich zu fragen, wie ich mich fühle.

Hierarchien sind flach in Israel. Die Menschen duzen sich und sprechen sich beim Vornamen an. Telefongespräche werden meist sofort mit dem eigentlichen Thema eröffnet, nicht etwa mit einer umständlichen Einleitung wie »Guten Tag, hier spricht …« Höflichkeit ist in Israel verschrien. Sie gilt als jeckisch. Und über die hölzernen, formverliebten Jeckes, die jüdischen Einwanderer aus Deutschland, und ihren Mangel an orientalischer Beweglichkeit wird bis heute viel gespottet. Ein klassischer Jeckes-Witz geht so: »Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?« Die Jeckes standen in dem Ruf, nicht aus zionistischer Verve, sondern aus Not nach Palästina eingewandert zu sein und krampfhaft an ihrer Pünktlichkeit, ihren Jacketts und guten Manieren festzuhalten.

Aber so wie es Witze über jeckische Stereotype gibt, gibt es auch Vorurteile über jede andere Einwanderer-Gruppe. Die Vielfalt und Heterogenität der Herkunft verschmilzt nur sehr, sehr langsam zu einem neuen Ganzen. Einstweilen sind Rassismus und soziale Segregation weit verbreitet.

Zum Beispiel an den Schulen. Freunde von mir haben dafür gekämpft, ihren Sohn schon nach wenigen Wochen in der ersten Klasse einer Grundschule im Tel Aviver Zentrum in eine andere Schule schicken zu dürfen. Der sechsjährige Jakir war von seinen aschkenasisch aussehenden hellhäutigeren Klassenkameraden von Kindergeburtstagen ausgeschlossen worden, weil er einen dunklen Teint hat und mizrachischer Herkunft zu sein scheint. Seine polnische Großmutter sieht man ihm nicht an, nur seine irakische. Als die Nord-Tel-Aviver Eltern auch noch erfuhren, dass Jakir Fußball spielt, waren sie sich sicher, dieser Junge mit seinem mizrachischen Aussehen und seinen plebejischen Hobbys könne nur ein schlechter Umgang für ihre Sprösslinge sein.

Doch trotz der vehementen sozialen, kulturellen, ideologischen und religiösen Unterschiede und Konflikte, die die israelische Gesellschaft in einem dauernden Zustand höchster Angespanntheit halten, lebt das israelische Kollektiv.

Als die Hamas den 23-jährigen israelischen Soldaten Gilad Shalit nach fünf Jahren und vier Monaten aus der Gefangenschaft im Gaza-Streifen entließ, habe ich erlebt, wie geschlossen das israelische Kollektiv sein kann: An jenem 18. Oktober 2011 war ich in der Stadt unterwegs. Ich fuhr am Morgen Taxi, führte ein Interview, nahm den Bus, machte Besorgungen in verschiedenen Geschäften, holte meinen Sohn aus dem Kindergarten ab, und überall in Tel Aviv liefen die Radios und Fernseher, die nur ein Thema kannten. Alle, die ich traf an diesem Tag, waren in Echtzeit informiert über den Stand der Auslieferung Gilad Shalits. Wo auch immer ich mich aufhielt sprachen alle über das, was genau in diesem Moment mit Gilad Shalit geschah. Es war, als seien alle Israelis an diesem Tag in ein und denselben Gesprächsfaden verwoben. Als Gilad endlich seinen Vater umarmen konnte, habe ich viele Menschen vor Freude weinen sehen. »Er ist unser aller Sohn«, hörte ich oft. Und als wäre Gilad tatsächlich der Sohn aller, hat ein großer Teil der israelischen Bevölkerung während der gesamten Zeit seiner Gefangenschaft die Erinnerung an ihn wachgehalten. Aktivisten eröffneten mit www.gilad.org eine Internetseite, über die sämtliche Solidaritätsaktionen koordiniert wurden. Zehntausende Israelis beteiligten sich über die Jahre an Demonstrationen, um die Regierung zu einem Kompromiss mit der Hamas zu bewegen. Am 28. August 2009, dem Abend von Gilads 23. Geburtstag, versammelten sich Tausende Israelis zu einer Nachtwache an der Klagemauer in Jerusalem. Aviva und Noam Shalit, Gilads Eltern, organisierten Ende Juni 2010 einen Pilgermarsch von ihrem Wohnort in West-Galiläa bis zur Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem, an dem sich 10 000 Israelis beteiligten. Fünfeinhalb Jahre lang wurden überall im Land Aufkleber und Fähnchen mit Gilads Konterfei verteilt. Sprayer sprühten eine blaue Schablone mit dem Gesicht Gilad Shalits an Hauswände und auf Fußgängerwege. Gilad Shalit war während der fünf Jahre und vier Monate seiner Gefangenschaft jeden Tag auf den Straßen und Plätzen, in den Zeitungen, Magazinen, Radio- und Fernsehsendungen präsent. Jeder einzelne Tag seiner Gefangenschaft wurde gezählt. 1941 waren es, als er freigelassen wurde.

Die Lebendigkeit des israelischen Kollektivs zeigt sich auch an hohen Feiertagen wie Pessach, dem Neujahrsfest Rosh Hashana oder am Jom Kippur. Am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, zum Beispiel steht der gesamte Verkehr im Land für 24 Stunden still. Die sonst geltenden Verkehrsregeln werden außer Kraft gesetzt: Am Jom Kippur ist es verboten, Auto zu fahren. Es fährt auch kein Bus, kein Zug, keine Straßenbahn. Sämtliche Flugzeuge bleiben am Boden. Fahrradfahrer und Inline-Skater nehmen die am meisten befahrenen Autobahnen des Landes in Besitz. Die religiösen und traditionell orientierten Juden, aber auch viele säkulare Juden fasten an diesem Tag. Sie essen nicht und trinken nicht. 24 Stunden lang. Sie gehen in die Synagoge und versuchen sich mit Gott und den Menschen auszusöhnen. Auch am Jom Haschoa, dem Holocaust-Gedenktag zum Beispiel, wird das Kollektiv erfahrbar, wenn um zehn Uhr morgens im ganzen Land die Gedenksirene für zwei Minuten das Leben anhält. Kassiererinnen im Supermarkt lassen sinken, was sie in der Hand halten, Lehrer halten in ihrem Unterricht inne, Autofahrer stoppen ihre Fahrzeuge mitten auf der Kreuzung, steigen aus und gedenken der Opfer der Schoa.

Für das kollektive Zusammensein in ihrem eigenen Land nehmen alle Juden, die in Israel leben, viel in Kauf. Sie halten die feindselige Umgebung ihrer libanesischen und syrischen Nachbarn im Norden und ihrer etwas weniger feindseligen Nachbarn Jordanien und Ägypten im Osten und Süden aus, die das kleine Land mit dem siebenarmigen Leuchter im Wappen bestenfalls widerwillig dulden, am liebsten aber wieder von der Landkarte wegfegen würden. Sie ordnen ihre persönlichen Interessen denen ihres Landes unter und sind bereit, in der Armee ihr Leben und – was meist noch schmerzhafter ist – das Leben ihrer Kinder zu geben. Denn hier, in Israel, sind sie keine religiöse Minderheit. Hier können sie unbehelligt als Juden leben, ob als atheistische, säkulare, traditionelle, nationalreligiöse oder streng religiöse. Dennoch ist das Leben der Israelis ein Kampf. Nicht nur in der Armee.

Die Preise sind hoch, die Einkommen niedrig. Regionalen Handel gibt es nicht, und was aus Übersee importiert wird, ist teuer, denn es muss per Flugzeug oder Schiff transportiert werden und den Zoll passieren. Aber auch was nicht importiert und in Israel selbst produziert wird ist teuer, denn israelische Produkte müssen den Vorgaben der jüdischen Speisegesetze, der Kaschrut, genügen. Die Einhaltung der Kaschrut-Standards und die damit verbundenen Prüfverfahren kosten viel Geld.

Auch das Leben im Kollektiv kann sehr anstrengend sein. Vor allem dann, wenn es kaum Orte gibt, an denen man mal allein und für sich sein kann. Israel ist ein Land, in dem es wenig Platz gibt. Überall ist etwas. Überall ist jemand. Überall ist schon einmal jemand gewesen. Überall ist schon einmal etwas gewesen. Daniel, der Protagonist der Kurzgeschichte »Journey«, die in der Anthologie Pipelines des Schriftstellers Etgar Keret erschien, versucht, sich zu verirren. Er will einen Ort finden, an dem noch niemand vor ihm war. Seine Suche führt ihn bis in die Regenwälder Südamerikas. Es gelingt ihm nicht. Die Sehnsucht nach einem unberührten, einsamen Ort ist ein israelischer Topos. Der Journalist Nir Hasson versuchte in den Fußspuren Daniels einen solchen Ort zu finden. Die Geschichte seiner Suche publizierte er am 4. Mai 2012 in der Tageszeitung Haaretz. Seine Motivation erklärte er so: »Ich möchte einfach das Gefühl loswerden zu ersticken. Ich möchte das Gefühl loswerden, von Antennen umgeben zu sein. Es gibt nichts Unwiderruflicheres als die Intervention der Menschen in der Landschaft. Eine geteerte Straße verschwindet nicht einfach wieder. Ein Hochspannungsmast auch nicht.« Nir Hasson klettert auf Berge, durchkämmt die Lachisch-Region im Südwesten von Jerusalem, die Gilboa-Region an der Grenze zum Jesreel-Tal, Obergaliläa, den Golan und den Negev und – findet ihn nicht, den unberührten Ort, den er sucht. Israel ist ein kleines Land, und fast überall, die Wüste ausgenommen, ist es voll und eng.

Dort, wo die Flächen knapp und Wohnraum atemberaubend teuer sind, wo die Häuser sich eng aneinanderschmiegen und es auch im späten Oktober nachts noch schwül ist, im Zentrum von Tel Aviv zum Beispiel, dort lebt das Kollektiv auf ganz bemerkenswerte Weise: Bis vor wenigen Monaten noch sah ich immer morgens, wenn ich das Küchenfenster öffnete und meinen Tee aufsetzte, wie auch Fania den neuen Tag begann. Ich sah, wie sie die Milch aus dem Kühlschrank nahm und sich einen Kaffee aufsetzte. Ich vermute, dass sie mich auch sah. Dass sie wahrnahm, wie ich das Radio anschaltete, um die ersten Nachrichten des Tages zu hören.

Fania lebte im Haus nebenan, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock. Sie war über 70 Jahre alt und allein. Zwischen meinem Spülbecken und ihrem Kühlschrank lagen kaum mehr als zehn Meter Luftlinie. Aber in diesem intimen Moment der morgendlichen Rituale sahen wir uns nie direkt ins Gesicht, grüßten uns nicht.

Dann, um viertel vor sieben, zerriss ein ohrenbetäubender Klingelton die frühmorgendliche Ruhe. Fania brauchte immer eine Weile, um aus der Küche ins Wohnzimmer zu laufen, wo das Telefon stand. Ich atmete auf, wenn ich sie endlich »Ken?« rufen hörte. »Ja?« Jeden Morgen aufs Neue nahm Fania diesen ersten Anruf des Tages mit gespannter Neugier entgegen. So als wüsste sie nicht, dass – wie auch an jedem anderen der 364 übrigen Morgen im Jahr – ihre Tochter aus Netanja sich nach ihrem Befinden erkundigen wollte. Es entwickelte sich ein kurzes, noch bettschweres Gespräch über das Wetter und darüber, ob Fania ihre Tabletten schon genommen hatte. Einmal in der Woche empfing Fania drei Freundinnen zum Bridge. Sie setzten sich dann auf den Balkon, tranken Kaffee und sprachen Ladino, die traditionelle Sprache der sephardischen Juden. Manchmal saß ich auch gerade auf dem Balkon und trank Kaffee. Ich winkte dann hinüber, und Fania fragte: »Wie geht es dir, meine Süße?« Ihre Freundinnen winkten zurück und riefen »Shalom! Wie geht es dir?«, und wir klagten gemeinsam über die feuchte Hitze.

Im vergangenen Winter dann begann es Fania schlecht und immer schlechter zu gehen. Sie ging kaum noch vor die Tür, eine philippinische Betreuerin zog in ihre Wohnung ein, und ab und zu sah ich, wie ein Arzt sie untersuchte. Irgendwann begann sie zu stöhnen vor Schmerzen. Tag und Nacht, im Minutentakt. Das war eine schwere Zeit. Nicht nur für Fania. Auch für uns und ihre anderen Nachbarn. Wenige Monate später dann, um Pessach herum, ist sie gestorben. Ihre Kinder treffen sich noch manchmal in der Wohnung, sortieren Fanias Habseligkeiten und beraten, was nun mit ihrer Wohnung geschehen soll.

All dies weiß ich nicht etwa, weil es mir jemand erzählt hätte, sondern weil ich im dritten Stock des Nachbarhauses wohnte und es miterlebt habe.

Es gibt aber auch impertinente Ausdrucksformen der kollektiven Anteilnahme: Neulich nahm ich in unserem Supermarkt um die Ecke den Schafsjoghurt aus dem Regal, den ich seit Jahren zum Frühstück esse. Fünf Prozent Fett hat er und schmeckt köstlich. »Bist du verrückt?«, fragte mich plötzlich eine Stimme von hinten. Ich drehte mich um, und vor mir stand ein ungefähr gleichaltriger Mann mit Glatze und Jogginganzug. »Weißt du nicht, dass dieser Joghurt ganz schlecht ist für deine Cholesterol-Werte? Kauf den bloß nicht!« Völlig überrumpelt konnte ich diese Art der Zuwendung nur mit einem schwachen »Aha. Aber er schmeckt doch so gut!« parieren. Ich legte den Joghurt trotzdem in meinen Einkaufswagen. Aber erst nachdem sich mein Ernährungsberater zum Gehen gewandt hatte.

Besonders schön ist auch eine Geschichte, die meine Freundin Lysbeth neulich erlebt hat. Lysbeth ist Pariserin, lebt in Washington D. C. und managt ein amerikanisch-israelisches Kulturprojekt. Deshalb kommt sie ab und an für ein paar Wochen nach Tel Aviv. Sie mietet sich dann eine möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung. Lysbeth spricht nur wenig Hebräisch. Sie ist kurzsichtig und trägt Kontaktlinsen. Als sie vor kurzem für ein paar Monate in Tel Aviv war, entzündeten sich plötzlich ihre beiden Augen. Sie begannen zu brennen und zu tränen. Lysbeth fürchtete eine Ablösung der Netzhaut und fuhr mit letzter Sehkraft zur augenärztlichen Notaufnahme im Ichilov-Krankenhaus, dem größten Krankenhaus im Tel Aviver Stadtzentrum. Sie fuhr mit dem Taxi.

Wer glaubt, dass es Verwaltung und Ärzten in einer israelischen Notaufnahme um eine schnelle Versorgung der Patienten geht, der hat noch nie ein israelisches Großkrankenhaus von innen gesehen. Als Lysbeth sich bei der Sprechstundenhilfe anmeldet, drängen sich schon zwölf Patienten auf den Stühlen vor dem Behandlungszimmer des einzigen Augenarztes, der an diesem Tag in der Notaufnahme Dienst tut. Lysbeth setzt sich, schließt die Augen und versucht angestrengt an nichts zu denken. Nicht an ihre Netzhaut, nicht an die schlechte Luft, die hier im Wartezimmer steht, und nicht an die endlos lange Wartezeit, die vor ihr liegt. Als ihr stummgeschaltetes Telefon brummt und ihr mitteilt, dass sie eine SMS bekommen hat, öffnet sie die Augen, tastet nach ihrem Smartphone und versucht den Text zu entziffern. Sie muss passen. Durch den brennenden Schleier vor ihren Augen kann sie die Buchstaben nicht entziffern. Neben ihr sitzt eine ältere Frau und blättert in einer Zeitschrift. Lysbeth bittet sie, ihr die SMS vorzulesen, und reicht ihr das Telefon. Die Frau schaut auf das Display des Smartphones, schüttelt den Kopf und sagt: »Was ist denn das?« Ohne Lysbeth zu fragen, gibt sie das Telefon kurzerhand dem jungen Mann mit Basecap und Flip-Flops in die Hand, der neben ihr sitzt, und sagt: »Lies mal vor!« Nach einem kurzen Blick auf das Display schüttelt auch der den Kopf, zuckt mit den Schultern, und etwas düpiert fragt er: »Was soll das für eine Sprache sein?« Er reicht das Telefon an seinen Nachbarn weiter, einen etwa 80-jährigen Mann mit Brillengläsern so dick wie Colaflaschenböden. Das Telefon wandert von Hand zu Hand. Einer nach dem andern beugen sich die wartenden Patienten über das Display von Lysbeths Smartphone wie ein Team von Ägyptologen, denen eine Tonscherbe mit rätselhaften Keilschrift-Zeichen in die Hände gefallen ist. Schließlich ruft ein alter Herr triumphierend: »Ich hab’s! Das ist Französisch!« Seine Eltern waren Ende der 1950er Jahre zu Fuß mit ihm aus dem marrokanischen Fez nach Israel eingewandert. »Hier steht«, sagt er mit dem Tremolo des Überbringers einer wichtigen Botschaft, »Ma douce« und er verliest die gesamte SMS auf Französisch. Lysbeth schnappt nach Luft. Jetzt schreien die anderen Patienten laut durcheinander: »Was steht da?« und »Nu mach’ schon! Übersetz’ die SMS!« Lysbeth schlägt die Hände vors Gesicht und fügt sich ins Unabänderliche. Der alte Herr trägt die SMS im staatstragenden Ton eines Nachrichtensprechers von Reschet Bet laut und vernehmlich noch einmal auf Hebräisch vor: »Meine Süße. Habe gestern einen Wahnsinns-Typen kennengelernt. Er war unglaublich im Bett. Wir haben gerade gefrühstückt, und jetzt ist er gegangen. Ich bin völlig durcheinander. Was soll ich tun? Küsse, Sophie.« Kurze Stille. Alle schauen auf Lysbeth. Dann beginnen die zwölf wartenden Patienten lautstark durcheinanderzuschreien: »Erst mal abwarten«, sagen die einen. »Sie soll das Glück festhalten!«, finden die anderen. Eine Frau von ungefähr 65 Jahren springt von ihrem Stuhl auf, geht zu Lysbeth und redet auf sie ein: »Wie alt ist sie?« Lysbeth antwortet willenlos »39«. »Aha, 39«, sagt die Frau. »Und sie ist noch nicht verheiratet?« Lysbeth schüttelt den Kopf. Die Frau entwirft einen detaillierten Schlachtplan vom nächsten Treffen über die Vorstellung des Wahnsinns-Typen bei Sophies Eltern bis zur Hochzeit. Lysbeth ist baff. Als sie mir die Geschichte erzählt, sagt sie abschließend: »Das ist Israel.«

Ja, das ist Israel. Man ist nie lange allein. Nicht dann, wenn man es eigentlich wollen würde, aber auch nicht dann, wenn man es nicht will. Die Menschen mischen sich in alles ein. Vor allem in das, was sie nichts angeht. Denn sie denken eben, es ginge sie etwas an. Die anderen gehen sie etwas an. Es ist ein bisschen so, als würde man sich in einer großen Familie bewegen und jeder noch so entfernte Urgroßonkel habe ein Mitspracherecht bei der Frage, ob man jetzt im Café lieber ein Sandwich aus Dinkelbrot oder Weizenbrot bestellen sollte.

In den israelischen Großstädten ist der Geräuschpegel enorm hoch, der Stresspegel auch. Die Nerven liegen hier oft blank. Emotionen brausen schnell auf. Nichts ist hier gemäßigt, alles intensiv. Das Licht, die Farben. Der Mangel auch: Es mangelt an Regen, es mangelt an Parkplätzen, an Geduld und Umgangsformen.