Impressum

Rudi Czerwenka

Schwerwiegendes, Gewichtiges, Unwichtiges, Ernst und Spaß, für jeden was

 

ISBN 978-3-95655-559-6 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2013 im BS-Verlag, Rostock.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Überleben auf der Straße

Ich hatte alles Schöne vergessen, verdrängt. Ich wusste nicht mehr, wie ein Vogel singt, meine Ohren waren taub für solch feine Töne. Wie sah eine Wiese aus, eine Blume, ein Wald? Über meiner Welt lag ein Schleier. Ich musste erst mal Ordnung schaffen in mir, mit mir. Bloß der Hunger war immer da. Meine Eingeweide waren leer. Sie fingen an zu rumoren, sobald ich etwas Essbares entdeckte. Ausgemergelt schlich ich durch die Straßen der mir fremden Stadt.

Die Menschen lebten noch. Sie waren unverändert, schien mir. Gut angezogen, mit Aktentasche oder Rucksack zogen sie zur Arbeit. Arbeit? Sie hatten ihr Ziel. Ich konnte mich nicht mit ihnen vergleichen. Mit den Straßen hatte ich mehr Gemeinsames. Sie waren schlecht, verwahrlost und schmutzig. Auch die Häuser trugen die Spuren des Krieges. Tote Mauern ragten in den stillen Himmel, Gestrüpp wuchs auf den Ruinen. Man konnte es schön nennen, grauenhaft schön, wenn nächtens der Mond seinen kalten Glanz durch Mauerhöhlen und Fensterluken warf. Hinter den Trümmern hauste der Tod.

Ich traf wiederholt auf die alte Frau, die täglich vor dem Schuttberg ihrer früheren Wohnung stand und mit dem Tode sprach. Trotz allem, wie warm waren diese Sommernächte des Jahres 1945!

Abends ziehe ich durch die stillen Straßen. Ich will den Hunger totlaufen. Aber er hängt an mir wie die anderen grausamen Erinnerungen der letzten Jahre. Das alles will ich überwinden. Aber es lässt sich nicht abschütteln. Die Stadt hat sich zu dieser Stunde längst zur Ruhe gelegt. Selten nur quietscht eine Straßenbahn. Im dürftigen Mondlicht tapse ich den Bürgersteig entlang und horche auf den Klang meiner Schritte. Sie sind mir gute Freunde geworden auf den vielen Märschen durch fremdes Land, gemeinsam mit Tornister und Karabiner. Jetzt aber ärgern mich diese Schritte, denn der linke Schuh gibt einen anderen Ton, als der rechte.

Ich versuche den Ausgleich, indem ich unterschiedlich stark auftrete. Ein Lastwagen kommt mir entgegen, die Lichter tanzen. Der Wagen hat Kartoffeln geladen, und Menschen, die darauf sitzen und die kostbaren Knollen bewachen. Wenn ich jetzt dort oben sitzen könnte, zwischen den Kartoffeln! Eine Turmuhr schlägt zehnmal. Langsam ziehe ich aus der Stadt hinaus, in die Vororte. Hier herrscht Ordnung. Friedlich abgekapselte Bürgerhäuser säumen den Weg.

Da drüben links ist mein Zuhause, hinter dem Bahndamm. An einem der Signaldrähte bleibe ich hängen. Es gibt einen singenden hohen Ton. Volle Deckung! Doch damit ist es ja vorbei, es ist Frieden. Das Gras fühlt sich kühl und feucht an. Ich breite meine Decke aus, ein Mitbringsel aus der Gefangenschaft. Inzwischen wimmelt sie von Flöhen. Der Brotbeutel ist mein Kopfkissen. Ich wickle mich ein und lausche in die Nacht.

Die Saalemücken summen. Ich blinzle zu den Sternen, finde den Großen Wagen, den Polarstern.

Langsam kommt der Schlaf. Da fällt mir ein, dass ich noch zwei Harzer Käse im Beutel habe. Ich hole mir einen davon heraus und esse. Knochentrocken ist das Zeug. Ich kriege die Zähne kaum auseinander, aber mein Magen kommt zur Ruhe.

Der helle Morgen weckt mich. Das Wasser der Saale ist kalt und verscheucht den letzten Rest der Müdigkeit. Am gegenüberliegenden Ufer schwimmt eine Ratte, hebt den Kopf dabei steil empor und verschwindet im Gestrüpp. Meinen nassen Handtuchlappen lege ich an versteckter Stelle zum Trocknen aus, bevor ich verschwinde.

Wieder gehe ich durch die Stadt, immer wieder auf der Suche nach irgendwas, immer durch die gleichen Straßen. Wer mir entgegenkommt, schaut mir ins Gesicht, die älteren Leute jedenfalls. Ich trage meine alte Uniform und das Käppi, meine einzigen Kleidungsstücke. Die Leute fragen manchmal: „Woher kommst du, Kamerad?“

„Kamerad“, sagen sie und berichten von ihren eigenen Sorgen, vom Mann oder Sohn oder Onkel oder Neffen, der, wenn er noch am Leben ist, vielleicht auch irgendwo in Gefangenschaft sitzt. Und sie fragen, ob noch welche entlassen würden, ob das Essen, wenn es welches gibt, bei den Amis wirklich so schlecht wäre. Ich antworte, wie ich gerade gelaunt bin, manchmal sage ich auch die Wahrheit. Dann fließen Tränen, und die Gesichter werden lang. Sie bedauern sich, aber nicht mich. Ich hasse diese Ammenseufzer und dieses Tantengejammer. Gebt mir lieber eine Brotmarke oder einen Groschen! Ich war auch einmal ein Mensch und trage nicht allein die Schuld, dass ich keiner mehr bin.

Ein kleines Gasthaus hat schon geöffnet. Ich sammle meine Pfennige zusammen und trinke zu meinem zweiten Käse ein Bier. Ich frage den Wirt, ob er nicht vielleicht eine Scheibe Brot oder eine Pellkartoffel für mich übrig hätte. Der schwammige Mann lacht. Er lacht! Das klingt wie MG-Feuer, schlimmer noch.

Die Straße, immer wieder. Ich bin schon zu lange in der Stadt und kenne schon zu viele Menschen hier. Den Blinden traf ich fast täglich, solange er unterwegs war. Mit dem Stock tastete er sich auf dem Bordstein entlang und wartete dann ab, bis jemand kam und ihn auf die andere Seite brachte. Einmal half ich ihm, nur aus Neugier. Als ich neben ihm stand, stellte ich erschüttert fest, dass er kaum älter war als ich. Ich war froh, dass ich ihn drüben loslassen konnte. Ich habe Tote gesehen, die waren eben tot. Ich habe Verletzte geborgen, deren Innerstes nach außen gekehrt war, aber sie lebten noch ein bisschen. Aber Blinde!

Oder das Mädchen mit der roten Wachstuchtasche. Ich hatte ihr mal fünf Pfennige geschenkt und dafür ein dankbares Lächeln erhalten. Sie ist der einzige Mensch, in dessen Augen ich kein Mitleid lese. Wie mag sie wohl aussehen, wenn sie erwachsen ist? Ich weiß nicht, woher sie kommt und wie sie heißt. Ich traue mich nicht, sie danach zu fragen, denn ich bin ein Nichts, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.

Ich muss fort. Ich hole mein Handtuch von der Bleiche und ziehe los. Mehrmals überholt mich eine Straßenbahn, aber ich halte mein bisschen Geld in der Hosentasche fest umklammert. Am Straßenrand finde ich eine Kippe, fast eine halbe Zigarette. Bis zum nächsten Dorf denke ich nur noch daran. In einem Gasthaus bitte ich um Feuer. Nach den ersten Zügen dreht sich alles, mir wird siedendheiß. Nur die Beine bewegen sich weiter wie in einem Traum.

Ein ausgetrockneter Straßengraben am Dorfende bietet Platz zum Verschnaufen. Der Fahrer eines Milchwagen nimmt mich auf. Der Kutscher freut sich über seinen stummen Fahrgast und redet pausenlos, vom Wetter, vom Krieg, von der Ernte.

Habe ich früher auch so viel erzählt? Inzwischen bin ich in einem anderen Leben, ein zweites Mal auf der Welt, einer anderen Welt.

Ich frage den Mann, wo ich vielleicht arbeiten, unterkommen könnte. Er kennt die Bauern in der Umgebung und will mich an entsprechender Stelle absetzen. Der Wagen rollt auf Gummirädern. Das ist schön, oben auf dem Bock zu sitzen und die Welt von oben zu betrachten. In letzter Zeit habe ich sie nur von unten gesehen.

Wir sind am Ziel. Nur wenige Bauernhöfe verteilen sich rings um ein Stück Wald. Der Kutscher weist auf die nahe Autobahnbrücke. Ich gehe los.

Das enge, schmale Gehöft vermittelt dennoch ein gewisses Gefühl von Freiheit. Auf der einen Seite Wohnhaus und Pferdestall, auf der anderen Kuhstall, Scheune und Schuppen. Ich stolpere durch den lichtlosen Hausflur, über von Fliegen umschwärmte Bottiche und Eimer. Der Geruch von gekochten Kartoffeln fliegt mir in die Nase. In der Küche arbeiten zwei Frauen, die Bäuerin und ihre Schwester.

Der Mann hat seinen Hof vor einem halben Jahrzehnt verlassen müssen, ihn und sein Eheweib seitdem kaum wiedergesehen und gilt nach den letzten Kämpfen um die deutsche Hauptstadt als vermisst. Aber die Frau hat sich Ersatz besorgt, in Person eines angeblich ledigen Landsers, der etwas von Landwirtschaft und anderem versteht, und durch ihre eigene ebenfalls schon erwachsene Schwester. „Wir können dich gut gebrauchen. Trage dein Zeug in die Kammer und komm dann zum Essen!“ Das alles klingt besser als gut.