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Band 55

 

Planet der Stürme

 

von Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Mai 2037: Das große Arkon-Imperium, mit dem die Menschheit seit einem Jahr in Kontakt steht, umfasst Tausende von Planeten. Es ist Perry Rhodans Ziel, bis zum Zentrum dieses Sternenreiches vorzustoßen – es liegt im Kugelsternhaufen Thantur-Lok, der Zigtausende von Lichtjahren von der Milchstraße entfernt ist.

Rhodan hat eine klare Mission: Er muss verhindern, dass der auf Rache sinnende Regent des Imperiums anordnet, die Erde zu vernichten. Nachdem die Entführung des Regenten gescheitert ist, planen Rhodan und der Arkonide Atlan einen Umsturz im Imperium.

Auch andere Arkoniden arbeiten daran, den Regenten zu entmachten. Agenten gehen auf einer entlegenen Welt in den Einsatz. Sie finden Hinweise – doch dann landen arkonidische Söldnertruppen, und eine Jagd auf Leben und Tod beginnt ...

Gesprächsauszug aus der Protokollaufnahme der Untersuchungskommission Zalit–FI3 »Operation Kristallsturm«

 

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Siran da Jandur, ist es richtig, dass Sie Offiziersanwärter der Flotte sind?«

Zeuge Siran da Jandur: »Das ist korrekt. Ich bin Thos'athor des Großen Imperiums.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Stimmt es, dass Sie, gemeinsam mit siebzehn weiteren Anwärtern, mit Ihrem Zug auf der Kolonie Zalit in der Operation Kristallsturm eingesetzt waren, um einen Aufstand niederzuschlagen?«

Zeuge Siran da Jandur: »Das stimmt.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Kommen wir zum Gegenstand der Befragung. Wie schätzen Sie das Vorgehen Ihres Kameraden Herak da Masgar in Bezug auf den Häuserkampf in Tagnor und die damit verbundene Tötung zweier Zaliterinnen ein?«

Zeuge Siran da Jandur: »Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie von mir hören wollen. Könnten Sie das bitte präzisieren?«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Denken Sie, dass da Masgar in Ausübung seiner Pflicht als Soldat handelte?«

Zeuge Siran da Jandur: »Ja, das denke ich. Beide Zaliterinnen waren bewaffnet. Eine der beiden war eine Scharfschützin, die aus dem Hinterhalt nachweislich drei Soldaten eines anderen Zugs verletzt und zwei weitere erschossen hat.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Sind Ihnen Hintergründe bekannt, die darauf schließen lassen, dass da Masgar mit den Frauen oder einer davon in Verbindung stand?«

Zeuge Siran da Jandur: »Nein.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Weshalb, glauben Sie, hat da Masgar die Stadt nach dem Vorfall fluchtartig verlassen? Erscheint Ihnen sein Verhalten angemessen?«

Zeuge Siran da Jandur: »Ich nehme an, da Masgar war verstört, weil er zwei Individuen erschossen hat. Es waren seine ersten Tötungen. Von daher halte ich die Reaktion psychologisch für verständlich.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Da Masgar hat sich im Anschluss des Vorfalls für einige Zeiteinheiten unerlaubt von seinem Zug entfernt. Denken Sie nicht, ein Soldat sollte über mehr Loyalität und Selbstbeherrschung verfügen?«

Zeuge Siran da Jandur: »Haben Sie sich schon mal von oben bis unten vollgekotzt, weil Sie Eingeweide im Gesicht kleben hatten?«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Ich verstehe Ihre emotionale Beteiligung, Thos'athor, weise Sie jedoch trotz Ihres jungen Alters darauf hin, für die weitere Befragung Ihre Ausdrucksweise zu mäßigen.«

Zeuge Siran da Jandur: »Verzeihung.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Denken Sie, dass da Masgar persönliche Motive geleitet haben? Rache, Eifersucht, Verschleierung etwaiger illegaler Machenschaften?«

Zeuge Siran da Jandur: »Da Masgar wurde während eines Gefechts angegriffen und hat sich verteidigt.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Erinnern Sie sich an irgendwelche Auffälligkeiten im Vorfeld oder im Anschluss des Gefechts, die Sie diesbezüglich unsicher machen? Irgendetwas, das da Masgar während oder nach dem Vorfall getan oder geäußert hat?«

Zeuge Siran da Jandur: (Der Zeuge zögert merklich) »Nein. Nichts.«

Vorsitzender Kalldon da Larkanzir: »Ich bedanke mich für die Zusammenarbeit, Thos'athor. Sie können gehen.«

1.

Welt der Stürme

 

Ageare beugte sich vor. Sie zog mit den Fingern das Holo über dem Tisch größer. Die Darstellung zeigte den Destinationsplaneten und die in sattem Grün eingespielte Entfernung von einer halben Lichtsekunde. »Das ist es also. Unser Ziel.«

Tineriaan drehte den Oberkörper zu ihr und lehnte sich Ageare entgegen. Ageare zwang sich, normal weiterzuatmen. Immer wenn Tineriaan sich auf sie zubewegte, hatte sie das Gefühl, von einem Gleiter überrollt zu werden. Der schwarzhäutige Naat maß an die drei Meter. Der große, haarlose Kugelkopf mit den drei feurigen Augen saß schwer wie ein Stahlklumpen auf dem Körper. Sicher hatte allein dieser Schädel genug Gewicht, um eine Ara wie sie zu erdrücken.

Der Muskelring, der Tineriaans Lippen bildete, lag diagonal, was Ageare gleichermaßen faszinierte wie abstieß. Ihr erschien die Anordnung des Wulstes inmitten des nasenlosen, borkigen Gesichts falsch, wie etwas, das repariert gehörte.

Ihr schauderte, da sie unwillkürlich an die Fleischzähne denken musste, die der Naat in den tiefer gelegenen Kauringen ausfahren konnte. Als Kind hatte sie Angst vor einem Ara fressenden Monster aus den Legenden Fedireas gehabt, das einem Naat ähnelte.

»Thersunt«, sagte Tineriaan. »Endlich.«

Ageare war dankbar, dass er ihre Gedanken unterbrach. Sie war längst erwachsen, und ein Naat im Nachbarsitz sollte für sie so normal sein wie ein Jahrestreffen mit der Geshur.

Gemeinsam bewunderten sie die Planetendarstellung, die in Echtzeit von den Außenoptiken übertragen wurde: ein grau-violetter Ball, bedeckt von Wolkenspiralen, die sich in bizarren Mustern um den Globus wanden. Er wirkte wie ein verschleierter Augapfel mit zahlreichen weißgrauen Pupillen. Über den Meeren schwebten weite Wirbel.

Der Anblick war gleichzeitig erhaben und Furcht einflößend. Ageare hatte eine Ahnung von den Gewalten, in die sie sich hineinbegeben würden. »Schön, oder? Dabei ist das ein Sturm von einer Stärke, wie ich nie einen erlebt habe.«

»Es sind drei«, sagte Tineriaan. »Achte auf die Zentren.«

»Wissensfresser.«

Tineriaan verzog den Mundwulst zur schaurigen Nachahmung eines Grinsens.

Während die ANKH-TARIKH innerhalb des Systems im weißgoldenen Licht Gondolars abbremste, erkannte Ageare im Zoom mehr und mehr Details. Das Holo veränderte sich zu einer Wolkenwand, die an einer Stelle orangerot leuchtete. Ageare berührte die Stelle mit dem Zeigefinger, dass ein heller Lichtpunkt auf der Kuppe tanzte.

»Der Leitlaser am Raumhafen«, sagte Tineriaan. Der Naat bewegte die Säulenbeine. »Orangerot ist gut. Ich will endlich wieder Platz haben.« Zwar standen Tineriaan in diesem Bereich der Mehandorwalze zwei Sitzplätze zur Verfügung, doch der Raum für seine Beine reichte kaum aus, sie zu strecken. Die knapp vierhundert Meter lange Walze bot trotz des voluminösen Transitionstriebwerks genug Platz, sich darin zu verlaufen, und schaffte es dennoch nicht, einem Naat den nötigen Komfort zu bieten.

»Auf Sonnenschein brauchen wir wohl kaum zu hoffen«, scherzte Ageare. Sie berührte den golden gefärbten Hautwulst an ihrem Hals, der wie eine eng anliegende Kette aussah.

»Meinst du, wir schaffen es?«, wechselte Tineriaan das Thema. Es war Ageare klar, dass er damit nicht ihren vorgeschobenen Auftrag meinte, sondern die eigentliche Mission, von der alles abhing.

»Wenn du daran zweifelst, hat da Gonozal den Falschen für den Job gewählt.«

Tineriaan senkte den Kopf und blickte mit allen drei Augen zur Seite. Das helle Rot der Iriden wirkte gedämpft.

Ageare bedauerte den harten Kommentar. Tineriaan hatte etwas an sich, was in ihr Widerstand provozierte. Vielleicht, weil sie sich gegen ihn körperlich unbedeutend fühlte. Mit Kraft würde sie ihm niemals beikommen, und ein winziger Teil von ihr genoss es, wenn sie mental die Stärkere sein durfte.

»Na los, raus aus dem Swoonsitz! Bis zum Landeanflug vertreten wir uns die Beine in der Lounge.« Egal wie angenehm die Formschaumsitzfläche war: Wenn sie mehrere Tontas gesessen hatte, tat Ageare alles weh.

Sie hätten sich für die einwöchige Reise von Ter'nafon über Desdirnos nach Thersunt in einen Schlaf versetzen lassen können, doch Ageare wollte nicht im Tiefschlaf liegen. Obwohl es hieß, dass der Körper in dieser Zeit hervorragend regenerierte, hatte sie Bedenken, einen wichtigen Teil von ihrem Leben zu verpassen. Außerdem hatten sie beide die Zeit nutzen können, um sich optimal vorzubereiten.

Tineriaan zögerte. »Du kannst ruhig allein gehen.«

»Komm schon! Lass sie einfach reden. Du hast das Goldpaket gebucht.«

Die Hilflosigkeit, die der riesige Naat ausstrahlte, hatte etwas Komisches an sich. Gleichzeitig machte sie Ageare traurig. »Du musst für deine Rechte einstehen, Großer«, sagte sie eine Spur zu schroff. Melancholie war kein Gefühl, das sie gern nach außen zeigte.

Tineriaan stieß einen Laut aus, der irgendwo aus einem seiner drei Mägen kommen musste. »Ich falle eben überall auf.«

»Selbstmitleid kannst du dir schenken. Los, los, ich will meinen araischen K'amana.« Sie wedelte mit beiden Händen, was Tineriaan tatsächlich zum Aufstehen bewegte.

Was die Vorurteile an Bord betraf, hatte Tineriaan vor allem deshalb einen schweren Stand, weil der Mehandorraumer überwiegend von Arkoniden belegt war. Im Gegensatz zu den aufgeschlosseneren Mehandor ließen sie Tineriaan deutlich spüren, dass er für sie eine Unmöglichkeit darstellte. Ein Naat, der sich frei im Imperium bewegte, ohne Soldat und damit Kanonenfutter der Flotte zu sein, passte nicht in ihr Weltbild.

Ageare dagegen hatte als Ara ein solides Ansehen bei den Arkoniden, sogar bei denen auf diesem Flug. Immerhin steuerten sie keine Medo- oder Luxuswelt an, sondern einen Planeten mit Marginalstatus. Thersunt gehörte formal zum Imperium, doch der Staat verzichtete auf die Durchsetzung seiner Herrschaft, da sich Thersunt aufgrund der Stürme nur bedingt zur Besiedlung eignete.

Solche Welten zogen vor allem zwielichtige Gestalten an oder Außenseiter, die ihr Glück in Debara Hamtar, der Galaxis suchten, viele Lichtjahre fort vom Kugelsternhaufen Thantur-Lok, in dem sich die Heimatwelt des Imperiums befand. Auch einige Firmen sowie Firmengründer waren an Marginalwelten interessiert, da sie sich dort ausleben konnten, ohne dass es den Kern des Imperiums berührte.

Sie gingen in die Lounge, zu der einzigen Tischgruppe, die einen Stuhl in Tineriaans Proportionen vorwies. Ageare orderte über das Auswahlmenü im Tischholo ihren K'amana, doch die Mehandor stellten sich quer, ihn zu servieren.

»Wir erreichen in Kürze die Atmosphäre«, sagte ein zierlicher, rothaariger Kellner mit ernstem Gesicht und blauer Livree. Er hatte einen kleinen Höcker über der Nase, wie ihn Ageare noch nie an einem Mehandor gesehen hatte. »Aufgrund der aktuellen Wetterlage sind wir gezwungen, einen Umweg zu nehmen. Ich muss Sie bitten, die Haltefelder zu aktivieren, falls Sie in der Lounge bleiben wollen.«

Er sah Tineriaan bei diesen Worten an wie ein Explosivgeschoss, das jederzeit hochgehen würde. Fürchtete er, der Naat würde durch den Raum fliegen und andere, besser angesehene Passagiere erschlagen?

»Ich habe das Goldpaket gebucht«, beharrte Ageare. »Und so ein kleiner Flug durch ein Sturmgebiet wird uns schon nicht umbringen.«

Der Kellner senkte den Kopf. »Ich sehe nach, was ich tun kann.« Er verließ die Lounge.

Ein weit entferntes Schaben und Ratschen erklang. Ageare hob den Kopf. Über die mehrfach verstärkte, von Energiefeldern geschützte Fensterfront schob sich eine metallene Platte.

»Sie versiegeln den Rumpf?«

»Das ist psychologischer Natur«, erklärte Tineriaan. »Es kam schon zu Panikanfällen von Passagieren, während Schiffe Thersunt angesteuert haben. Nicht jeder kommt damit zurecht, wenn beim Landeanflug ein Stück Wohnkuppel oder ein zappelndes Landtier vorbeifliegt.«

»Hast du die letzten fünf Tage nichts Besseres zu tun gehabt, als zu recherchieren?«

»Ich bin gern vorbereitet.«

Ein melodischer Ton unterbrach ihr Gespräch. Die helle Stimme einer Frau erklang. »Hier spricht Kommandantin Iranhar. Die ANKH-TARIKH wird in Kürze in die Atmosphäre des Planeten Thersunt eintreten, und wir erwarten wie vorhergesagt Turbulenzen. Bitte sichern Sie sich durch Haltefelder. Wenn Sie gegen einen kleinen Aufpreis für den Anflug in eine ruhigere Stimmung versetzt werden möchten, nehmen Sie Kontakt zu einem unserer Servicemitarbeiter oder Avatare auf. Ein kurzer Erholungsschlaf in den Tiefschlafkojen ist jederzeit möglich.«

Ageare blinzelte. Vielleicht hätte sie ebenfalls ein paar Recherchen betreiben sollen. »Wie lang werden wir denn durch den Sturm fliegen?«

»Etwa drei Tontas.«

Sie lehnte sich zurück und schaltete das Haltefeld ein. Ein wohliges Kribbeln der Vorfreude stieg in ihr auf. »Klingt nach Spaß.«

2.

Im Zentrum der Gewalten

 

Wind peitschte durch die Senkgräser, die hoch wie Wohnkuppeln links und rechts der Fahrbahn als dichter Teppich in die Höhe ragten. Er pfiff in launischen Böen gegen die Pflanzenblätter, presste sie nach unten, dass die blassgelben Flecken auf dem Blauviolett zu tanzen schienen, und ließ sie unvermittelt wieder los. Eigentlich sollte man erwarten, dass die Gräser daraufhin in die Höhe schnellten, doch stattdessen richteten sie sich langsam auf wie Niedergerungene, die nur mit Mühe wieder auf die Beine kamen.

Durchbrochen wurde der dichte Flaum von meterhohen Pilzgewächsen mit perlmuttfarbenen Schirmen, die auf fragilen Stämmen schaukelten. Blassgelbes Licht ergoss sich über die Landschaft. Es focht einen vergeblichen Kampf gegen die dichte Decke aus weit gedehnten, schnell dahinziehenden Wolkenfeldern.

Über allem schwebten die Xirdor, wiegten sich mit ihren bettlakenähnlichen Körpern in den Luftströmungen wie in sich versunkene Akrobaten auf unsichtbaren Seilen. Ein Schwarm von über fünfzig Tieren ritt die Winde in unerreichbarer Höhe.

Epherem da Kirtol schaltete die Frontsprüher ein, um gegen die Thersus vorzugehen, die in Knäueln auf der Straße lagen und sie mit ihren zuckenden Leibern blockierten. Die krötenartigen Amphibien hielten eine wahre Paarungsorgie ab. Mehrere Hundert Tiere hatten sich mit ihren Stützkrallen ineinander verhakt. Ihr schrilles Quaken durchdrang die Panzerung des Geländewagens. Wenn die Viecher nicht endlich Platz machten, würde Epherem an jedem der sechs Räder Dutzende von ihnen kleben haben.

»Husch, husch in eure Höhlen!«, sagte Epherem und erfasste einen abgestorbenen Senkgrashalm mit den Scheinwerfern, von dem ein mannshoher, verfaulter Stummel zurückgeblieben war.

In seinen kreisrunden Krater zogen sich die Thersus bei Gefahr zurück, doch das mit abstoßenden Duftstoffen versetzte Wasser stellte für sie augenblicklich keine dar. Der Geschmackssinn ihrer Haut war durch die Erregung blockiert. Die Thersus paarten sich unverdrossen weiter, ignorierten Epherems Frontsprüher.

An einem anderen Tag hätte Epherem die Akustikwarnung aktiviert und sich darüber aufgeregt. Doch nicht an diesem. In der Reflektorzone sah er den hinteren Teil des Wageninneren. Zwischen einer kleinen Küchenzeile und dem ausfahrbaren Bett lagen die gestapelten Xirdorhäute auf dem Boden; knapp hundert an der Zahl, jede einzelne ein kleines Vermögen wert.

Der Ausflug in die Pfründe hatte sich gelohnt. Sein Geheimnis war unentdeckt geblieben.

Epherem bremste ab und hielt, ehe die Reifen die ersten Thersus zerquetschten. Er überfuhr die Wahrzeichen Thersunts ungern. Die Thersus waren besser als jedes Frühwarnsystem und hatten ihn und seine Farm vor Schäden durch schwere Stürme bewahrt. Außerdem war er zu gut gelaunt für ein Massaker unter den liebestollen Tieren. Spätestens in einer halben Tonta würde die Thersukolonie weitergezogen und die Straße wieder frei sein.

Mit automatischen Bewegungen nahm er auf dem Holodisplay die nötigen Schaltungen vor. Der Wagen senkte sich. Aus dem Gestell fuhren zwölf Stabilisierungshaken, die sich wie Harpunenpfeile in den Untergrund bohrten.

Er öffnete die Tür. Sofort schlugen ihm die charakteristischen Geräusche des Senkgraswalds entgegen: ein Zischen und Knacken, Wassergurgeln und Glucksen, Pfeifen und Krächzen, gemischt mit dem unverdrossenen Gequake der Thersus, begleitet von schwerem Blaumoosduft.

Epherem stapfte gegen den Wind einen Pfad entlang, hin zu einer Anhöhe, die zu seinen liebsten Zielen für Zwischenstopps gehörte. Vor ihm öffnete sich das Land. Fünfhundert Höhenmeter tiefer schimmerte in der Ferne das türkisblaue Meer – das Schlundmeer, wie sie es vor gut hundert Jahren getauft hatten. Ein Sturm zog über die hohe See, rotierte über schäumenden Wellen, dass Epherem meinte, das Klatschen des Wassers gegen den Kieselstrand hören zu können. Drei Wirbel jagten über die spritzende Gischt dahin, Tunnelröhren gleich, die das Wasser mit dem Himmel verbanden.

Hinter ihm mischte sich der freudige Ruf eines Zweikopfvogels in das aufgeregte Quaken der Thersus. Epherem drehte sich um und sah den blau gefiederten Laufvogel, wie er im Vorbeigehen mit einem seiner Köpfe eine Thersu aus einem Knäuel schnappte und davonstolzierte, während der andere, schlafende Kopf samt dem Hals schlaff herabbaumelte und beinahe den sandigen Boden berührte. Eines der vier Knopfaugen des wachen Kopfes blinzelte Epherem verschwörerisch zu.

An Epherems Unterarmschiene summte es. Ein eingehender Anruf. Epherem hob die Hand und aktivierte die Annahme. »Ja?«

Aus dem Akustikfeld kam die Stimme einer Frau. Obwohl Epherem sie aufgrund ihrer melodischen Klangfarbe mochte, bekam er jedes Mal einen trockenen Mund, wenn er sie hörte.

»Ich bin's, Hallit. Wie geht's dir, Eph?«

»Großartig. Ich komme gerade aus den Pfründen.« Er hob die linke Armschiene, erfasste mit der Optik das Meer samt dem tobenden Sturm und machte ein Holobild, das er ihr per Antippen sendete.

»Oh«, sagte sie. »Sieht schlimm aus. Ein Fantandor?«

»Bloß ein Krilldor, höchstens Windstärke acht nach der Intrimskala. Mann, bin ich froh, dass ich kein Schiffseigner geworden bin. Ist schon der dritte diese Woche.«

»Eph, ich hab wenig Zeit. Aber vielleicht können wir das Plaudern nachholen. Wie sieht es aus? Kommst du mich zum Befriedungsfest besuchen?«

Nicht dieser Satz.

Die Welt verdunkelte sich. Rasch aufziehende Sturmwolken löschten das blassgelbe Licht.

Epherems Unterarm sank ein Stück ab. Er starrte blicklos geradeaus. Wolken und Ozean verschwammen vor seinen Augen zu Türkisgrau.

»Epherem, alles in Ordnung bei dir?«, fragte die gespielt gleichgültige Stimme Hallits. Seine ehemalige Zugkameradin wusste genau, was Sache war.

Die Außenwelt veränderte sich, verstärkte den Schock, der Epherem lähmte. Er brauchte mehrere Sekunden, um die Wahrnehmung vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein fließen zu lassen. Langsam, wie unter großer Kraftanstrengung, drehte er sich zum Pfad um. Die Straße an dessen Ende war leer, als wären sämtliche paarungswilligen Thersus auf einen Schlag in einen Desintegratorstrahl geraten. Der Anblick war gespenstisch.

»Die Thersus sind weg. Kein Quäken mehr.«

Es folgte ein Moment der Stille. »Oh Mist, Eph, worauf wartest du? Lauf!«

Epherem unterbrach die Verbindung und rannte los.

Schon bei den ersten Schritten kam der Sturm in Fahrt. Der Wind drohte ihn von den Füßen zu fegen, schnitt ihm die Luft zum Atmen ab. Epherem hatte kaum ein Drittel des Weges zurück zu seinem Wagen geschafft, da reagierte der Wald. Das Senkgras sackte in die Tiefe, zog sich raschelnd und pfeifend in die Wurzelhöhlen zurück und gab dabei Unmengen an Wasserdampf ab. Auch die Pilzgewächse stießen Dunstwolken aus, schossen heißes Wasser aus den oberen Öffnungen und sackten mit weich werdenden Stielen in sich zusammen, bis sie wie Helme auf dem Boden lagen.

Von einem Moment zum anderen erhöhten sich Luftfeuchtigkeit und Temperatur, stieg die Wärme zu einer quälenden Hitze an, sodass Epherem der Schweiß aus den Poren lief, als wäre er selbst eine Pflanze des Senkgraswalds und müsste sein Wasser abgeben, um sich vor dem Sturm zu schützen.

Der fünfzehn Meter hohe Wald verschwand nahezu. Epherem war mit eins achtzig unvermittelt der höchste Körper, der im Gelände aufragte, umgeben von kniehohen Nebelschwaden, und noch immer trennten ihn an die fünfzig Schritte vom rettenden Fahrzeug. Schon spürte er, wie der Sturm ihn packte und anhob, ihn zur Seite schleuderte.

Epherem verlor den Halt, fiel auf die Hüfte und kam sofort wieder auf die Beine. Da die Pflanzen verschwunden waren, konnte er nun den Tornado in wenigen Kilometern Entfernung sehen – den riesigen Wirbeltrichter, der alles an sich riss, was nicht fest verwurzelt war, nur um es kurz darauf wieder auszuspeien.

Es war ein Fantandor. Er wand sich mit nahezu senkrechter Drehachse über das Land, erstreckte sich vom Boden bis hinauf zur blauschwarzen Wolkendecke und schickte seine Winde voraus.

Das Fauchen wurde zum Tosen. Der Fantandor hielt auf Epherem zu.

Steine und Stöcke jagten Epherem entgegen. Ein kleiner Felsbrocken streifte seine Rippen, dass es krachte. Epherem stürzte, kroch weiter, kämpfte sich Richtung Wagen und hatte ihn fast erreicht, als er erneut den Boden unter den Füßen verlor und wie ein Hochspringer abhob.

Er hieb auf die Armschiene, aktivierte den Magnetanker. Ein dünnes Stahlseil schoss aus dem Metallkasten neben dem integrierten Kommunikationsgerät und fand den nächsten Gegenpol am Fahrzeug, während der Wind Epherems Beine in die Höhe riss, dass er waagrecht in der Luft schwebte wie ein Xirdor, der den Sturm reiten wollte.

Epherem schrie. Die Automatik der Ankermaschine kam ihm zu Hilfe, zog das Seil Stück um Stück ein, bis er die Haltestange am Fahrzeugrahmen zu fassen bekam.

Einen Moment flaute der Wind ab.

Epherem spannte seine Muskeln, warf sich unter den Boden, legte sich flach auf die sandige Erde. Mit zitternden Fingern aktivierte er den Signalgeber an seiner rechten Armschiene. Ein sattes Klacken erklang. Die Schutzklappen fuhren mechanisch aus, schufen eine Höhle, in der Epherem heftig atmend die Augen schloss. Die verletzten Rippen versetzten ihm bei jedem Luftholen einen Stich.

Über seinem Unterschlupf tobte der Trichterwind. Steine prasselten gegen die Panzerung des Wagens wie Explosivgeschosse. Epherem blendete das Geräusch nach und nach aus. Seine Gedanken kreisten um den Kodesatz, den Hallit unwiderruflich ausgesprochen hatte: »Kommst du mich zum Befriedungsfest besuchen?«

Wie viele Jahre war es her, dass sie diese Frage auf Zalit zur Kennung vereinbart hatten? Vierzehn? Fünfzehn? Er hatte es vergessen. Hatte sie niemals mehr hören wollen, diese eine Frage, die das Leben, das er sich aufgebaut hatte, zerstörte.

3.

Orkanböen

 

Die drei Tontas gingen nach Ageares Geschmack viel zu schnell vorbei. Wenn sie dabei eines lernte, dann dass Sturm nicht gleich Sturm war.

Es gab solche mit Regen, mit Hagelkörnern, mit Schnee und welche, die ganz ohne Wasser auskamen. Tornados mit Trichtern und Wirbeln, die bis zur Wolkenuntergrenze reichten, Böen, die einen normalen arkonidischen Baum sofort entwurzelt hätten, Phänomene mit Blitzen und Donnern, Orkane, die mit über vierzig Längeneinheiten pro Sekunde über die Ebene preschten. Sandstürme, Staubstürme und die viel gefürchteten Steinwirbel, die sich an den weiten Kiesfeldern der Meeresufer bedienten.

Das Wechselspiel der Wärme und Wasser abgebenden Pflanzenwelt Thersunts mit der Atmosphäre und der unterschiedlichen Sonneneinstrahlung sorgte für immer neue Überraschungen. Die Luftmassen über dem Land erhitzten sich deutlich schneller als die über den Meeren.

In einer Region konnte das Wetter stabil sein, während es in der nächsten wie aus Wasseraggregaten goss.

Je nach Windstärke hatte die Mehandorwalze unterschiedliche Töne von sich gegeben. Auch das eine oder andere Luftloch, das die Bordtechnik nicht zur Gänze hatte ausgleichen können, hatten sie mitgenommen.

»Fester Boden«, sagte Tineriaan mit hörbarer Erleichterung, nachdem sie die ANKH-TARIKH verlassen hatten. »Bei der Schwarzkristallwüste, ein solcher Ritt lehrt, die kleinen Dinge im Leben zu schätzen.«

»Wirst du etwa zum Sternphilosophen?«

Sie gingen einen weiten Flur entlang, hin zur Sicherheitskontrolle. Obwohl der Raumhafen klein war, verloren sich die wenigen Ankömmlinge darin. Der gesamte Planet hatte an die zwei Millionen Einwohner, von denen die meisten in der technisch erschlossenen Hauptstadt lebten. Wie viele es genau waren, wusste niemand. Zwar gab es am Raumhafen Kontrollen, doch das Gelände besaß weder einen Zaun noch eine energetische Sperre. Wer es darauf anlegte, umging mit ein wenig Glück sämtliche Prüfungen. Erleichternd wirkte sich aus, dass sich die anarchisch anmutende Verwaltung wenig Mühe gab, die Anzahl der Ein- und Ausreisenden statistisch korrekt festzuhalten.

Schon von Weitem sah Ageare ihr vorab geliefertes Gepäck neben einer Sicherheitskabine in einer Gangbiegung liegen. Die drei schweren silbernen Behälter wirkten wie eine Zierde des tristen Bodens. Neben ihnen stand ein bogenförmiger Gepäckscanner, der sich wiederum keine fünf Schritte entfernt von einer Ausgangstür befand. Wenn jemand schnell war und fliehen wollte, erhielt er die Möglichkeit, einfach aus dem Zugang zu stürmen.

Der gesamte Gebäudekomplex hatte den Charme eines baulich schlecht durchdachten Khasurns, dessen Geschlecht während der Errichtung unverhofft verarmt war. Kahle graue Gänge, Unebenheiten in den Wänden, nur wenige Laufbänder, die tatsächlich funktionierten. Immerhin arbeitete die Klimaanlage und sorgte für eine angenehme Kühle, während draußen um die dreißig Grad herrschten.

»Viel Einheiten haben die nicht in den Raumhafen investiert.«

Tineriaan drängte sich an einem älteren Arkoniden in schlichter Kombination vorbei, der ihn feindselig anstarrte. »Warum auch? Das Imperium gibt nichts dazu. Es stellt lediglich einen Teil des Sicherheitspersonals. Ohne DesdoarMoan gäbe es überhaupt keinen derart großen Gebäudekomplex.«

»DesdoarMoan?«

»Der thersuntische Großkonzern, der sein Geld mit den abgestreiften Xirdorhäuten macht. Sie stellen Antidepressiva her.«

»Ach der.« Tineriaans Tonfall ärgerte Ageare. In seiner Stimme schwang ein leichter Vorwurf mit, dabei war ihr Teampartner dafür zuständig, ihr genau diese Informationen zu liefern. Sie hatte schließlich andere Qualitäten, mit denen der Naat nicht aufwarten konnte.

Als sie die Kabine an der Gangbiegung erreichten, standen zwei Wachmänner von einer Schaumformbank neben der Tür auf. Sie grinsten Ageare entgegen. Ihre Haltung war eher ein Lümmeln denn ein gerader Stand. Trügen sie nicht ihre silberschwarzen Uniformen, man hätte sie für Touristen halten können, die eben aus einer Spelunke traten.

Der Größere der beiden überragte Ageare um zwei Kopflängen. Er hatte einen athletischen Körperbau. Am auffallendsten an ihm war der breite, selbst beim Grinsen verkniffen wirkende Mund. Auf einem Namensschild an der Brust las Ageare den Schriftzug: Sektan da Istinur.

Sein Kollege, Estorian da Kantis, war nur unwesentlich kleiner und ein Frachtcontainer von einem Mann. Die Breite seiner Schultern war direkt unheimlich. Vielleicht kam er von einer Welt mit höherer Schwerkraft. In seinen Augenbrauen glitzerten festgeklebte Kristallsplitter.

Im Gegensatz zu seinem Kollegen da Istinur wirkte da Kantis wie ein Kerl, der mit einem breiten Grinsen auf den Lippen geboren worden war. Er strahlte die überlegene Freude eines Arkoniden aus, für den die unmittelbare Umgebung einen Spielplatz darstellte, auf dem er sich nach Belieben vergnügen durfte.

»Du hast hübsche Augen, Ara!«, sagte da Kantis. »Wie flüssiges Gold. Wenn du dir eine Perücke besorgst, lad ich dich zum Mitternachtsmahl ein.«

Ageare spürte, wie ihr Gesicht vor Ärger warm wurde. »Einmal Sicherheitskontrolle. Wenn's geht, lautlos.«

Da Kantis lachte mit aufgesetzter Gutmütigkeit. »Die Kabine ist außer Betrieb.«

Er zog ein Multifunktionsgerät aus der Tasche seiner Uniformjacke, das wie ein kurzer Stab aussah, und scannte Ageare mit betont langsamen Bewegungen.

»Was genau ist das?«, fragte da Istinur und wies auf die beiden größeren Gepäckbehälter.

»Das ist unsere Ausrüstung.«

Da Kantis steckte den Scanner weg, öffnete einen der Tornister und zog das hauchdünne Netz über Ageares Fluganzug hervor. »Und was hast du damit vor, Ara? Unsere Meere sind zum Fischen bloß bedingt geeignet.«

Ageare hob das Kinn. »Wir haben den Auftrag, einen Xirdor zu fangen.«

Da Kantis rieb das Netz zwischen den Fingern. Obwohl Tineriaan vor ihm wie ein Berg aufragte, sprach er einzig mit Ageare und ignorierte den Naat, als wäre er gar nicht vorhanden. »Und dann? Weißt du nicht, dass die Xirdor sterben, wenn man sie in Gefangenschaft hält? Mehr als drei Tage hat's keiner durchgehalten. Die Viecher verenden. Deswegen ist es ja verboten, sie lebend zu fangen.«

»Lassen Sie das unser Problem sein. Wir haben eine Genehmigung.«

Da Kantis schob das Netz zurück, zog die drei Paralysestrahler aus der Seitentasche und überprüfte sie ebenso wie die zugehörigen Dokumente auf Ageares Multifunktionsgerät. »Welcher Verrückte erteilt einen solchen Auftrag?«

»Charron da Gonozal«, sagte Tineriaan.

Ageare sah ihn zornig an. Warum überließ er das Reden nicht ihr? Bei seiner Treuherzigkeit würde er noch ausplaudern, was ihr eigentliches Ziel war, ehe sie die Stadtgrenze hinter sich gebracht hatten. Wieso hatte Charron ihr ausgerechnet Tineriaan zugeteilt, wo es um einen derart brisanten Auftrag ging?

»Nie gehört«, sagte da Kantis, ohne Tineriaan anzusehen. Er wies auf eine Scanbox, die an der Seite der Sicherheitskabine angebracht war. »Die Multifunktionsgeräte da rein!« Er blinzelte Ageare zu. »Leg bitte die Kette ab, Goldauge!«

»Das ist keine Kette, das ist meine Haut.«

Da Kantis hob eine der mit Kristallsplittern verzierten Augenbrauen, dass die Steine im Licht funkelten. »Tatsächlich? Wozu ist das gut?«

»Für die Schilddrüse. Ein Hormonimplantat. Sie können es in meinen ID-Daten nachprüfen.«