my_cover_image

image

Armin Himmelrath

Hausaufgaben – Nein Danke!

Warum wir uns so bald wie möglich

von den Hausaufgaben verabschieden sollten

ISBN Print: 978-3-03822-017-6

ISBN E-Book: 978-3-03822-020-6

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten
© 2015 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Vorwort

32 Jahre Schulunterricht und damit auch 32 Jahre Hausaufgaben – auf diesen Erfahrungswert komme ich bis heute, was die Schulkarrieren meiner Kinder angeht. Jahre, in denen sie widerwillig und motzend am Küchentisch saßen und mich mit ihrer Lustlosigkeit zur Verzweiflung brachten. Jahre, in denen sie sich in ihre Zimmer zurückzogen, angeblich zum Erledigen der Hausaufgaben, um dann am nächsten Morgen doch noch ganz erschrocken festzustellen: „Oh, für Mathe hatte ich ja auch noch etwas auf!“ In denen sie gelegentlich bei Diskussionen die Frage stellten: „Warum können wir nicht viel weiter außerhalb der Stadt wohnen? Dann hätte ich Zeit, meine Aufgaben im Bus zu erledigen.“ In denen die Lehrer schriftlich und bei Sprechtagen mit mahnend gerunzelter Stirn darauf hinwiesen, dass die Sorgfalt beim Erledigen der Hausaufgaben doch etwas zu wünschen übrig lasse. Und in denen meine Kinder nicht selten, vor allem in jüngeren Jahren, regelrechte Telefonkonferenzen mit ihren Klassenkameraden veranstalteten, um herauszufinden, wie denn eine bestimmte Aufgabe eigentlich gemeint sei. Nein, viele Anlässe, sich über Hausaufgaben zu freuen, gab es aus meiner Perspektive als Vater nicht. Irgendwie waren sie halt zu erledigen, das entsprach schließlich auch meiner eigenen, schon länger zurückliegenden Schulerfahrung: Hausaufgaben müssen sein, gehören einfach zum Unterricht dazu und machen keinen Spaß.

Aber muss das wirklich so sein? Müssen sie wirklich als didaktisches Dogma Teil des Schullebens sein, unverrückbar und unhinterfragbar? Irgendwann setzte sich dieser Zweifel fest und je mehr ich zum Thema Hausaufgaben las und recherchierte, desto deutlicher wurde eine absurde Situation: Ja, die Hausaufgaben gehören zur Schule dazu – und nein, überzeugende Beweise dafür, dass sie etwas bringen, gibt es so gut wie gar nicht. All die schönen Floskeln vom eigenständigen Lernen und Arbeiten, von der Vertiefung des zuvor Gehörten, vom Festigen des Unterrichtsstoffs sind genau das: Floskeln, mit denen die Wirkungslosigkeit eines pädagogisch unsinnigen Instruments zugekleistert wird.

Es ist Zeit, die Hausaufgaben ganz grundsätzlich in Frage zu stellen. In Zeiten der Ganztagsschule besteht endlich die Chance, diesen Unsinn zu beenden – ein Schritt, der eigentlich schon vor Jahrzehnten hätte passieren sollen. Und um endlich zu eigenständigen Lernformen zu finden, von denen die Kinder, die Lehrer und die Eltern gleichermaßen profitieren.

Köln, im Oktober 2015

Armin Himmelrath

HAUSAUFGABEN – DER KAUM HINTERFRAGTE STANDARD

Vier Monate keine Hausaufgaben – die Wittmann-Studie aus den 1960er Jahren

Die Hausaufgaben-Debatte der 1980er Jahre

Das Hausaufgabenproblem ist uralt – ein historischer Rückblick

Aktuelle Versuche zur Abschaffung der Hausaufgaben in der Schweiz

Mehr Probleme als Lösungen – Originaltöne von Lehrerinnen und Lehrern im Internetforum

Gründe für die Hausaufgabenerteilung – Befunde aus der Schulforschung

Hausaufgaben als pädagogisches Problem Erfahrungen der Lehrer-Arbeitsgemeinschaft in Dingolfing

Hausaufgaben aus Sicht der Eltern

Hausaufgaben – Fragen und Antworten im Ratgeber eines Schulministeriums

Hausaufgaben vor Gericht

SINNVOLL ODER SELEKTION? HAUSAUFGABEN IM FOKUS DER WISSENSCHAFT

Stimmen aus der Wissenschaft – das Leid von Schülern und Eltern wird untermauert

Hausaufgaben in Ganztagsschulen

Hausaufgaben gehören als Schulaufgaben zurück an die Schule

Hausaufgaben als Selektionsinstrument – „Geld schießt Tore“

Fördern Hausaufgaben selbstständiges Lernen?

Hausaufgaben sind unwirksam und zudem Familienkonfliktherd

Hausaufgaben als fragwürdiges selbstreguliertes Lernen

Die Frustrationsschleife: Was am Vormittag in der Schule nicht verstanden wurde, gelingt am Nachmittag erst recht nicht

Zusammenfassend: Weder das Wissen noch die Selbstwirksamkeit wird erhöht

HAUSAUFGABEN – WER PROFITIERT? VON PÄDAGOGEN, PHILOSOPHEN UND POLITIKERN

Polemische Diskussionen

Hausaufgaben als Teil des ökonomistischen Bildungssystems

Der milliardenschwere Nachhilfemarkt im deutschsprachigen Raum

Ärmere Schüler erhalten schlechtere Noten

Pädagogische Schattenwirtschaft

AUS HAUSAUFGABEN SCHULAUFGABEN MACHEN – ES GEHT AUCH ANDERS

Abschaffung von Hausaufgaben – Entwicklung echter Schulaufgaben

Entkoppelung der Lernformen vom schulischen Unterricht und Lebensweltorientierung

Ausbau des Ganztagsunterrichts

Widerstand gegen die Abschaffung der Hausaufgaben in der Ganztagsschule in Frankreich

Fahrplan zu einer Schule ohne Hausaufgaben

Schlusswort

BIOGRAFIE

AUSGEWÄHLTE UND KOMMENTIERTE LITERATURHINWEISE

„Die Schulen haben von ihrem Einfluss und ihrer Anerkennung sehr verloren und an Misliebigkeit beim Publicum sehr zugenommen, seit sie so viel Gewicht auf häusliche Aufgaben gegeben und so ihr Lehrgeschäft ganz und gar ins elterliche Haus gelegt haben.“

Karl Gottfried Scheibert (1803-1898), Direktor der Stettiner Friedrich-Wilhelms-Schule

image

Vier Monate keine Hausaufgaben – die Wittmann-Studie aus den 1960er Jahren

Der Versuch war revolutionär, die tiefe Skepsis zu erwarten. Vier Monate lang ließ der Mülheimer Erziehungswissenschaftler Bernhard Wittmann Schüler aus dritten und sechsten Klassen in Duisburg in zwei Fächern keine Hausaufgaben machen. Die eine Hälfte bekam das Hausaufgabenverbot in Mathematik, die andere im Fach Deutsch bei Aufgaben zur Rechtschreibung. Kein Wunder, dass sich während des Versuchs immer mal wieder besorgte Eltern bei den Klassenlehrern meldeten: Ob es denn wirklich sein könne, dass die Kinder schon seit Wochen keine Matheaufgaben mehr bekommen hätten?

Wittmann wollte mit seinem Versuch und den sich anschließenden Leistungstests überprüfen, wie viele Fortschritte Hausaufgaben beim Lernen tatsächlich bringen. Und er kam, nach Auswertung der Testaufgaben, zu einem eindeutigen Resultat: „Hausaufgaben besitzen keinen materialen Bildungswert“, stellte der Pädagoge fest, „Hausaufgaben bewirken keinen Zuwachs an Kenntnissen und Fertigkeiten bei den Schülern.”

Bernhard Wittmann konnte belegen, dass nach dem viermonatigen Versuch die Drittklässler ohne Rechtschreibaufgaben im Rechtschreiben nicht schlechter waren als die Schüler, die Deutschaufgaben erhalten hatte. Auch im Fach Mathematik gab es keine Leistungsunterschiede zwischen Klassen mit und ohne Rechenaufgaben.

Die Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse ohne Matheaufgaben zeigten sogar durchgängig bessere Leistungen als die Schüler, die Hausaufgaben im Rechnen hatten erledigen müssen; bei den Hausaufgaben zur Rechtschreibung jedoch waren zwei von drei Schulklassen mit Hausaufgaben besser als die Klassen ohne Hausaufgaben.

Dabei handelt es sich bei der Duisburger Schulstudie mitnichten um eine aktuelle Untersuchung. Bernhard Wittmann hatte seine Versuche zur Leistungssteigerung durch Hausaufgaben bereits 1958 durchgeführt und ein paar Jahre später als Buch veröffentlicht1, 1965 berichtete der „Spiegel“ unter dem Titel „Spielerische Entleerung“2 darüber. Aus heutiger Sicht, mit dem Abstand von mittlerweile 50 Jahren, klingen die seinerzeit vorgebrachten Argumente zum Sinn und Unsinn von Hausaufgaben beklemmend aktuell: Von Förderung und Stärkung der Schüler reden die Befürworter und preisen die Hausaufgaben gar als probates Mittel gegen Lehrermangel und zu viel Stoff im Curriculum; vor nervlicher und zeitlicher Überbeanspruchung der Schülerinnen und Schüler warnen dagegen die Hausaufgaben-Skeptiker, verweisen auf überforderte Eltern und kommen aus juristischer Sicht gar zu dem Schluss, dass Hausaufgaben den Tatbestand des Hausfriedensbruchs erfüllen, weil sie außerhalb der Schule stattfinden und nicht unter den gesetzlichen Schulzwang fallen. Knapp fünf Jahrzehnte später – zur Bildungsmesse „didacta“ im Jahr 2013 – wird Elternvertreter Hans-Peter Vogeler vom Bundeselternrat feststellen: „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch. Überlegen Sie mal, wie viel Streit in eine Familie kommt durch Hausaufgaben, und wie das Zusammenleben beschädigt wird – dann wissen Sie, warum ich es pointiert Hausfriedensbruch nenne.“ Vogeler kommt allerdings zu einer insgesamt differenzierten Bewertung: „Wenn Hausaufgaben in einem Kontext sind, wenn sie eingebettet sind in Zusammenhänge und damit auch umgegangen wird und die Kinder auch erkennen, welchen Sinn es machen kann und wozu sie dienen können, dann kann man darüber reden.“

Doch zurück in die 1960er Jahre und zu Bernhard Wittmanns Studie mit Ruhrgebietsschülern. Zu der Untersuchung gehörten damals nämlich nicht nur die Leistungstests in Deutsch und Mathematik nach vier Monaten ohne Hausaufgaben, sondern auch eine Umfrage unter Eltern, Lehrern und Schülern zum Thema. Dabei bewerteten 96 Prozent der insgesamt 1567 befragten Schülerinnen und Schüler Hausaufgaben als „nötig“ und „nützlich“. Der Pädagoge allerdings hielt das für keine ehrliche Aussage: „Vater oder Mutter, aber auch die Lehrperson oder größere Geschwister sagen, Hausaufgaben seien notwendig“, so Wittmann, und dadurch würden die Kinder massiv beeinflusst, denn sie übernähmen „fast ausschließlich die Einstellung und Motivierung der Umgebung“. Doch den klaren wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz sollte es noch lange – sehr lange – dauern, bis die Debatte über den Sinn und Unsinn von Hausaufgaben wieder aufgenommen wurde.

Die Hausaufgaben-Debatte der 1980er Jahre

image

1982, also 22 Jahre später, war es erneut der „Spiegel“, der das Hausaufgabenthema aufgriff – in Form einer Titelgeschichte („Schularbeiten – Alptraum der Familie“) und unter der plakativen Überschrift „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch“3. Da war die Rede von Schülern, die mehr Stunden pro Woche beschäftigt waren als ihre Vollzeit arbeitenden Eltern; von strengen und leistungsorientierten Vätern und Müttern, die ihren Nachwuchs zu Hause noch durch zusätzliche Übungsstunden triezten, damit sie nur ja gute Schulleistungen erreichten; von der vermeintlichen alten Weisheit, dass nur Übung den Meister mache. Und schon damals, vor über 30 Jahren, stellten die Autoren fest: „Wissenschaftler haben erhebliche Zweifel an der gängigen Hausaufgaben-Praxis.“ Die Frage muss erlaubt sein: Warum um alles in der Welt hören wir dann heute immer noch dieselben, schon lange widerlegten Argumente? Warum sind die Hausaufgaben nicht längst flächendeckend abgeschafft, besser noch, schulgesetzlich verboten worden?

Argumente hätte es schon Anfang der 1980er Jahre genug gegeben – und zwar nicht nur auf der Ebene individueller Anekdoten von Schülerinnen und Schülern, die täglich an Nachmittagen und Abenden unter der Last von mehrstündigen schulischen Arbeitsaufträgen stöhnten, sondern auch von wissenschaftlicher und schulpraktischer Seite. So hatte die Arbeitsstelle für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund schon damals herausgefunden, dass ein Fünftel aller Schüler täglich mehr als zwei Stunden für die Erledigung der Hausaufgaben benötigte; dass fast die Hälfte der Schüler zwischen einer und zwei Stunden täglich zu Hause über den Schulbüchern saß; dass sogar knapp 40 Prozent der Grundschüler mindestens eine Stunde lang Hausaufgaben machen mussten.

1980 hatte hatte ein Kölner Erziehungswissenschaftler in einer anderen Studie verglichen, wie sich ein unterschiedliches Hausaufgabenpensum bei Schülerinnen und Schülern in deren schulischen Leistungen niederschlug − nämlich so gut wie gar nicht. Und einige der Schüler mit vielen Aufgaben schnitten sogar schlechter ab, mutmaßlich wegen Arbeitsüberlastung. „Im Grunde unzumutbar“ sei diese Arbeitsbelastung, schimpfte der Hildesheimer Psychologieprofessor Dieter Lüttge damals. Doch allen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz konnten sich die Hausaufgabenkritiker mit ihren Einschätzungen nicht durchsetzen – unter anderem auch wegen der Eltern, die ja selbst in aller Regel mit Hausaufgaben als selbstverständlichem Teil des Schullebens aufgewachsen sind und bis heute zusammen mit den Lehrern zur stärksten Lobbygruppe gegen die Veränderung der Hausaufgabenpraxis gehören. Eigentlich erstaunlich, denn die heutigen Eltern gehörten in den frühen 80er Jahren mit einiger Wahrscheinlichkeit genau zu der Generation von Schülerinnen und Schülern, die im „Spiegel“-Artikel über die hohe Arbeitsbelastung klagten.

Heutige Mütter und Väter übernehmen damit Positionen, die schon ihre Eltern bezogen haben. So berichtet der Artikel über eine Umfrage unter Eltern einer Gesamtschule im rheinland-pfälzischen Kastellan, bei der 71 Prozent der Erziehungsberechtigten davon überzeugt waren, dass „die Fülle des Stoffes nicht zu bewältigen“ sei, wenn die Kinder keine Hausaufgaben zu erledigen hätten. Und bei einer Untersuchung des Pädagogen Thomas Hardt aus Münster4, für die er 1978 knapp 1000 Eltern von Kindern aus den Klassen sechs und neun befragt hat, zeigen sich sogar mehr als 95 Prozent der Mütter und Väter davon überzeugt, dass Hausaufgaben nützlich sind. Ein knappes Drittel der Eltern hält sie sogar für „unbedingt notwendig“. Dass Hausaufgaben dazu dienen, den Schulstoff zu vertiefen und sich einzuprägen und dass sie darüber hinaus das selbstständige Arbeiten trainieren, ist für die allermeisten der Befragten völlig klar. „Und neun von zehn Eltern halten Hausaufgaben auch für geeignet, dem Kind Ordnung und Arbeitsdisziplin beizubringen“, heißt es in dem aufschlussreichen Artikel.

Weitgehend ausgeblendet wurde offensichtlich schon damals, was für eine enorme Zumutung Hausaufgaben für die Familien bedeuten – dass sie, damals wie heute, Stress und Spannungen auslösen, Konflikte heraufbeschwören und ganz nebenbei den Eltern die Verantwortung für das Gelingen der kindlichen Schullaufbahn in einem Maß aufbürden, wie das aus schulpädagogischer Sicht zwar seit Jahrhunderten praktiziert wird, erziehungswissenschaftlich aber kaum seriös zu begründen ist. Dass Eltern die Hausaufgaben wahlweise überwachen oder miterledigen, sich für die schulische Heimarbeit verantwortlich fühlen und als unangenehme Antreiber ihrer Kinder auftreten, ist kein neues Phänomen und war auch vor fünf Jahrzehnten bereits gang und gäbe. Wo heute die Rede von überehrgeizigen Helikopter-Eltern ist, spottete 1982 der Hamburger Erziehungswissenschaftler Wolfgang Schulz über „Diplommütter“, die die Förderung ihrer Kinder als „Management“ verstünden – ein Begriff, der zumindest damals so gar nicht zur Vorstellung von Kindheit passte. Und ein Beamter des Düsseldorfer Kultusministeriums formulierte während der Recherche der „Spiegel“-Reporter jenen schon erwähnten Schlüsselsatz, der bis heute Gültigkeit hat: „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch.“ Der hessische Ministerpräsident Holger Hörner nannte die Eltern wegen deren selbstverständlicher Eingebundenheit in die Hausaufgabenerledigung „Hilfslehrer der Nation“, für den Tübinger Pädagogikprofessor Walther Eifreund waren sie gar die „Sklaven unserer Schulen“. Der Erziehungswissenschaftler wählt scharfe Worte: „Sie sind es, die sich von einem steinzeitlichen Ausbildungssystem terrorisieren lassen, sich aber trotzdem arrangieren, weil sie ja ihre Kinder – koste es, was es wolle – irgendwann durch die Schule bringen müssen.“ Eltern als Getriebene eines Bildungssystems, die sich dem Druck auf ihre Kinder nicht entgegenstellen, sondern ihn noch verstärken – das klingt nicht unbedingt nur nach Anfang der 1980er Jahre.

Vielleicht aber ist so zu erklären, dass viele Eltern diese Erwartungshaltung der Schule einfach adaptierten und sich zu willfährigen Handlangern der Lehrerinnen und Lehrer machten: Sie entwickelten selbst den Ehrgeiz, dass ihre lieben Kleinen besonders gut und erfolgreich sein sollten. Und befürworteten und unterstützten dann die Hausaufgaben, diesen flächendeckenden und massiven Zeitdiebstahl an der Freizeit der Kinder. So bewerteten 56 Prozent der befragten Eltern in der Studie von Thomas Hardt die Tatsache, dass ein Kind pro Tag weniger als eine Stunde Hausaufgaben erledigen muss, als Indiz dafür, dass dieses Kind von der Schule nicht ausreichend gefordert wird.

Schließlich wird Eltern seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten, eingetrichtert, dass das häusliche Pauken am Nachmittag, in den Abendstunden und am Wochenende irgendwie der Reifung und Bildung der Kinder dient und dass die Hausaufgaben eine wichtige erzieherische Wirkung haben. Nur – welche das sein soll und ob sie tatsächlich eintritt, diesen Nachweis haben die Anhänger der Hausaufgaben nie geführt. Es reichte ihnen stets, mit schwammigen Formulierungen die Festigung des Erlernten zu beschwören und darauf zu verweisen, dass es schließlich schon immer so gemacht worden sei und dass die eigene Hausaufgabenzeit ja wohl niemandem geschadet habe. Eine Aussage, die bezweifelt werden darf – die aber in ihrer unspezifischen Belanglosigkeit fast wie ein Totschlagargument wirkt (und so ja auch wirken soll).

Versuche der Aufklärung hat es immer wieder gegeben. So etwa durch den Lehrer Nilmar Schwemmer, der 1980 das Buch „Was Hausaufgaben anrichten“ herausbrachte, in dem er mit zahlreichen Beispielen und Erfahrungen aus seiner Arbeit die Folgen von Hausaufgaben schildert5. Intensiv setzt er sich mit „der Fragwürdigkeit eines durch Jahrhunderte verewigten Tabus in der Hausaufgabenschule unserer Zeit“ auseinander, befragte fast 500 Schülerinnen und Schüler und wertete die Bestimmungen der Bundesländer in der damaligen BRD aus. Schwemmers Fazit war eindeutig: Hausaufgaben sind „eine latente Gefahr für den Aufbau positiver, den Lern- und Erziehungsprozess begünstigender Beziehungen“, zusätzlich stellen sie „eine Beeinträchtigung der physischen Gesundheit der Schüler [dar], weil sie deren Rekreationsphase erheblich verkürzen und den notwendigen Bewegungsausgleich zur Sitzbeanspruchung während des Unterrichts einschränken“. Außerdem seien die Aufgaben „eine ständige Gefährdung der moralischen Entwicklung der Schüler, weil sie negative Verhaltensreaktionen wie das Lügen und Betrügen provozieren können“ – dann nämlich, wenn es darum geht, ob die Schüler die Aufgaben denn alle alleine geschafft haben. Doch auch ohne diese negativen Auswirkungen bei den Kindern und in deren Familien fehle die didaktische Grundlage für Hausaufgaben, argumentiert Schwemmer: Das Gießkannenprinzip der Hausaufgaben, bei dem alle den gleichen Arbeitsauftrag erhalten, könne schon wegen des individuellen Lerntempos und der unterschiedlichen Konzentrationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nicht funktionieren. Die Aufgaben seien deshalb ein von Lehrerinnen und Lehrern oft völlig falsch eingeschätztes, weil „äußerst schwierig zu handhabendes methodisches Instrument“. Mit anderen Worten: Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst besser die Finger davon!

Schwemmer bestätigte damit Untersuchungen früherer Jahrzehnte, die den Sinn von Hausaufgaben schon in Zweifel gezogen hatten. Dazu gehören beispielsweise Studien, mit denen der pädagogische Experimentalpsychologe Ernst Meumann Ende des 19. Jahrhunderts begann. Meumann hatte bereits als Lehrer gearbeitet, bevor er 1891 promovierte und sich danach als Schüler von Wilhelm Wundt in Leipzig habilitierte. 1896 wurde er als Professor an die Universität Zürich berufen, wo er das Psychologische Laboratorium aufbaute und immer wieder Leistungsexperimente, unter anderem mit Schülern, durchführte. Die Vorlesungsverzeichnisse der Universität belegen, wie stark Meumann an experimentell erhobenen Daten interessiert war: Im Wintersemester 1898 bot er einen „Praktischen Kursus in der experimentellen Psychologie“ an, im Sommersemester 1900 ein „experimentell-psychologisches Praktikum im psychol. Laboratorium“. In dieser Zeit entstand auch eine Studie, die Ernst Meumann 1904 veröffentlichte. In dieser Publikation stellt er fest, dass die Leistungen von Schülern, wenn sie sie zu Hause und im Rahmen der Hausaufgaben erbrachten, „nach der materialen und formalen Seite im Durchschnitt beträchtlich minderwertiger“ waren als die Lösungen, die die Kinder in der Schule während des Unterrichts erarbeitet hatten. Meumann führte das auf zwei wesentliche Gründe zurück: Einerseits sei in der häuslichen Umgebung die Selbstmotivation viel schwerer zu erreichen, andererseits gebe es einen natürlichen „Gesellschaftstrieb“ des Kindes, das Aufmunterung durch den Lehrer brauche, nicht aber „Dreinreden“ und Ablenkung durch Geschwister oder Eltern. Bei den Hausaufgaben vergaßen die Kinder „öfter als in der Klasse das Großschreiben der Anfangswörter der direkten Rede“ und ließen „doppelt soviel Buchstaben und nahezu doppelt soviel Wörter aus wie in der Klasse“. Deshalb, so Ernst Meumann, sei es „prinzipiell verwerflich, dass man der Hausarbeit auch nur die Befestigung der in der Schule erworbenen Kenntnisse überlassen will“.

Das Hausaufgabenproblem ist uralt – ein historischer Rückblick

Dabei ist die Debatte über die Hausaufgaben sogar noch viel älter und die Hausaufgabe als pädagogisches Instrument mitnichten eine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts: Schon in Schulordnungen aus dem 15. Jahrhundert werden die häuslichen Arbeitspflichten der Schülerinnen und Schüler erwähnt und geregelt. Sie dienten schon damals dazu, die Kinder, so der Anspruch, das selbstständige Arbeiten einüben und den in der Schule behandelten Stoff eigenständig nacharbeiten und vertiefen zu lassen. Allein das zusätzliche Quantum an Lernzeit, so die dahinterstehende Idee, werde die Lernergebnisse schon verbessern und die Kinder disziplinieren – Dogmen, die jahrhundertelang nicht mehr hinterfragt wurde. Als dann 1592 im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken weltweit erstmals flächendeckend die Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingeführt wurde, gehörten auch die Hausaufgaben zum Standard − und wurden fortan als nicht mehr angezweifeltes pädagogisches Instrumentarium in nahezu allen späteren Schulgesetzen übernommen.

Ein Beispiel von vielen: Der „Entwurf einer neuen Schulordnung für die gelehrten Anstalten Württembergs, verfaßt und mit höherer Genehmigung dem Druck übergeben von der hierzu beauftragten Commission von Schulmännern“6. Zehn solcher „Schulmänner“, vom „Präzeptor zu Brackenheim“ über den „Rector des Lyceums in Tübingen“ bis zum „Professor am Gymnasium zu Rottweil“, hatten das 210-Seiten-Werk 1847 in Stuttgart geschrieben und ein Jahr später veröffentlicht; die „höhere Genehmigung“ kam vom „Königl. Ministerium des Innern und des Kirchen- und Schulwesens“. Stolz vermeldeten die Autoren im Vorwort des Buches ihr Arbeitstempo: „Die Commission trat im April 1847 zusammen und vollbrachte das ihr aufgetragene Geschäft in 24 Tagen und 22 Sitzungen“. Ein ganz ähnliches Pensum wollte sie wohl auch den Schülerinnen und Schülern in Württemberg zumuten. So sollten die Erstklässler 20 wöchentliche Unterrichtsstunden erhalten, danach steigerte sich die Stundenzahl bis zur 7. und 8. Klasse auf 34 Schulstunden pro Woche. Damit aber war es längst nicht getan: „Die dem Singen, Zeichnen und Turnen gewidmete Zeit ist unter diesen Unterrichtsstunden nicht begriffen.“

Ganz selbstverständlich gingen die Verfasser dabei vom Konzept einer Ganztagsschule aus, nur die Nachmittage am Mittwoch und Samstag waren unterrichtsfrei. Dazu kamen obendrein noch die Hausaufgaben – im Schulordnungsentwurf als „Privatarbeit“ bezeichnet und genau nach Schuljahren und Alter der Kinder aufgeschlüsselt:

image

„Die Privatarbeit beträgt …“

1. Schuljahr (6–7 Jahre)

„am vollen Schultag“

0 Stunden

 

„am Mittwoch“

0 Stunden

 

„über den Sonnabend und Sonntag“

0 Stunden

2.–4. Schuljahr (7–10 Jahre)

„am vollen Schultag“

1 Stunde

2. Schuljahr

„am Mittwoch“

1 Stunde

2. Schuljahr

„über den Sonnabend und Sonntag“

1 Stunde

3.–4. Schuljahr (8–10 Jahre)

„am Mittwoch“

1,5 Stunden

3.–4. Schuljahr

„über den Sonnabend und Sonntag“

2-3 Stunden

5.–6. Schuljahr (10–12 Jahre)

„am vollen Schultag“

1,5 Stunden

 

„am Mittwoch“

2 Stunden

 

„über den Sonnabend und Sonntag“

3-4 Stunden

 

„am Mittwoch“

2,5 Stunden

 

„über den Sonnabend und Sonntag“

4-5 Stunden