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Nr. 10

 

Hüter der Gedanken

 

Er ist ein einfacher Hirtenjunge – seine Entdeckung wird alles verändern

 

Verena Themsen

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Im Sommer 1402 Neuer Galaktischer Zeitrechnung: Während die Lage in der Milchstraße eigentlich friedlich erscheint, entwickelt sich im Kugelsternhaufen Thantur-Lok – den die Terraner als M 13 bezeichnen – ein unerklärlicher Konflikt. »Dunkle Befehle« erschüttern das mächtige Kristallimperium der Arkoniden, sie lösen einen Amoklauf unter den Bewohnern aus. Raumschiffe attackieren sich gegenseitig, Planeten werden angegriffen. Wenn sich die Kämpfe ausweiten, ist der Friede in der gesamten Galaxis bedroht.

Perry Rhodan ist derweil zwischen den Sternen des Kugelsternhaufens auf der Flucht. In seiner Begleitung sind der Mausbiber Gucky sowie Sahira, eine geheimnisvolle junge Frau, über deren Herkunft der Terraner nach wie vor wenig weiß.

Mittlerweile ist er allerdings den Hintergründen der Geschehnisse auf der Spur. Er hat auf Iprasa ein uraltes Portal durchschritten, und dieses gewährt ihm einen Einblick in die Vergangenheit. Perry Rhodan trifft den HÜTER DER GEDANKEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Sidhar – Der Hirtenjunge deckt längst Vergessenes auf.

Sarro – Aus der Vergangenheit formt ein Forscher die Zukunft.

Zhanore – Eine Feuerfrau muss zwischen Tradition und Herz wählen.

Kulekatiim – Der Gijahthrako trifft seine Wahl.

Einweisung

Erste Reihe, Mitte!

 

Unterwegs ...

Das Wort hallt in Perry Rhodans Geist. Taumelnd wirbelt er durch ein von rötlichen Blitzen durchzogenes Grau, dessen eigentliche Natur sich seinem Begreifen entzieht. Geschieht das überhaupt mit ihm? Oder ist es nur die Art, wie sein Geist das Geschehen in Wahrnehmungen umsetzt, obwohl es gar nichts wahrzunehmen gibt? Was genau passiert eigentlich gerade?

Hab keine Angst, glaubt er das Raunen der drei synchronen Stimmen zu hören, die ihn im Portal begrüßt haben. Du wirst dein Ziel erreichen. Wir sind in einer Semi-Teleportation.

Semi-Teleportation oder Semi-Transition – das ist die paranormale Fortbewegungsart der Gijahthrakos. Bedeutet das, dass er zum Wandelstern unterwegs ist? Oder haben die Stimmen nach seiner Frage ein anderes Ziel für ihn bestimmt?

Die ARK-SUMMIA-Bewegung überzieht unsere Sterneninsel mit Krieg. Ich will wissen, was dahintersteckt.

Ihm ist die Antwort versprochen worden, zumindest darauf, wie es zur ARK SUMMIA kam, der Prüfung zur Befähigung, mit einem aktivierten Extrasinn zu leben. Wie weit zurück reichen die Wurzeln der Bewegung, die sich danach benennt? Bis zur Zeit der ersten Extrasinn-Aktivierungen? Oder dem Jahr, in dem Iprasa zur ersten Prüfungswelt wurde, etwa 180 Arkonjahre nach dem Ende der Archaischen Perioden? Die Visionen in der Kammer des Portals deuten auf Iprasa hin ...

Er braucht Antworten. Wird er sie auf dem Wandelstern finden? Oder ...

Ein intensiver Geruch streift seine Nase. Unwillkürlich rümpft er sie.

Dung!

Das Grau wird körnig, beginnt zu rieseln. Es sind Sandkörner, durchmischt mit feinen Eissplittern, die durch die Luft wirbeln und alles abschmirgeln, das sich ihm in den Weg stellt. Unwillkürlich möchte er seinen immateriellen Arm heben, um sich zu schützen. Doch er spürt nichts.

Zwei Umrisse schälen sich aus dem wirbelnden Chaos, kommen gegen den Sturm gelehnt auf ihn zu. Einer ist groß und behäbig, ein Tonnenkörper auf Säulenbeinen, ähnlich einem mittelgroßen Elefanten. Allerdings wölbt sich eine Art Stirnkamm über die zwei kleinen Augen, und diesem entspringen an den Enden zwei kurze, nach vorn gebogene Hörner.

Bis auf den langen Nasenrüssel ist die Haut dieses Tieres außerdem überall dicht behaart, und die Beine sind im Verhältnis länger, als sie beim ausgestorbenen terranischen Elefanten waren. Rhodan hat diese Art Tiere schon in den Visionen gesehen: ein Berkomnair, das wichtigste Nutztier auf Iprasa während der Archaischen Perioden.

Im Windschatten des Berkomnair bewegt sich eine kleine vermummte Gestalt. Sie wirkt humanoid, und wenn man menschliche Maßstäbe anlegt, muss es ein Kind von vielleicht fünf, sechs Jahren sein; vielleicht auch älter, setzt man Unterernährung voraus. Es trägt dicke Kleidung aus grobem Stoff, die mit Stricken am Körper befestigt ist, eine Tracht, wie Rhodan sie fast nur aus technologiearmen Kulturen kennt. Die Vermummung macht es unmöglich, aus dem Gesicht Hinweise auf das Alter zu bekommen oder auch nur festzustellen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.

Das Kind schlägt immer wieder eine lange, biegsame Stange gegen die Beine des Tieres und treibt es damit voran. Es läuft dabei stets dicht neben und manchmal sogar unter dem Riesen.

Hat es keine Angst, unter die riesigen Füße zu geraten? Offensichtlich nicht ... es bewegt sich, als wäre dieses gemeinsame Laufen das natürlichste von der Welt für die beiden.

Keinen Moment ist das Kind in Gefahr, und der aufgeschwollen wirkende Körper des Tieres schützt es gegen die schlimmsten Unbilden des Wetters. Das Tier scheint trächtig zu sein. Eine Berkomnairkuh also, die sich schleppend durch den Sturm kämpft.

Die Gestalten sind zum Greifen nah. Rhodan fühlt sich zu dem Kind hingezogen. Auf einmal hört er den bislang stummen Sturm und darüber einen hohen Singsang. Ihn streifen die Wärme, die das Tier ausstrahlt, und die Eiseskälte des Windes. Unhaltbar treibt er auf das Kind zu, wird schließlich eins mit ihm, schlüpft in seine Haut.

Er spürt rauen, sanddurchsetzten Stoff. Sturm, Hagel und Kälte beuteln seinen Körper und reißen an ihm. Er spürt den Hunger, den Durst und die ruhigen Gedanken und Gefühle des Kindes. Dies ist das ganz normale Leben.

... erhält er die Antworten unterwegs?

1. Akt

In welchem der Vorhang sich hebt

 

»Ruhig, Malimari, sei ganz ruhig«, sang Sidhar, während er durch den Sturm nach einem Unterschlupf spähte. »Kein Leid wird dir geschehen, denn dein Hüter ist bei dir ...«

Die Worte und Klänge des Hüterliedes perlten ganz von selbst über seine Lippen. Er war damit aufgewachsen, hatte es Tag und Nacht von vielen Hirten in vielen Formen gehört. Es war das einzige, von dem selbst Tolkut zugeben musste, dass er es gut konnte. Sidhars Stimme war hoch und trotzdem klar und kräftig. Selbst der Sturm konnte sie nicht gänzlich auslöschen.

»Bald, Malimari, bald, schon bald werden du und ich im Schutz der Mauern sein ...«

Eine Linie im körnigen Grau, undeutlich erst, dann klarer erkennbar in ihrer Regelmäßigkeit. Ein Mäuerchen. Sidhar jubelte.

»Wir haben es gefunden, Malimari!« Unwillkürlich lief er schneller. Die Berkkuh antwortete mit einem tiefen Ächzen.

Sofort fiel der Junge wieder in den vorherigen Trott zurück. Er dirigierte Malimari in eine weite Kurve, die sie am Mauerrest vorbei führte. Er hatte sich nicht getäuscht. Vor ihm lag das Ruinenfeld, das er vor drei Tagen während des Zugs vom Rücken der trächtigen Kuh aus gesehen hatte.

»Sei ganz ruhig, Malimari, keine Sorge, keine Angst. Wir werden dein Kleines reiben, ganz trocken und warm ...«

Sidhar machte sich Sorgen um das Kleine. Es war überfällig, aber der andauernde Sturm hatte Malimari zu sehr beunruhigt, als dass die Kuh es wie sonst in einer offenen Mulde hätte gebären können. Zum Glück hatte Sidhar sich an die Ruinen erinnert. Einige Gebäude hatten noch ziemlich stabil gewirkt. Hier konnten sie hoffentlich Schutz finden. Diese Nacht, vielleicht noch einen Tag, dann konnten sie zum Lager zurückkehren ...

»Schau hin, Malimari, da ist Schutz, Geborgenheit. Du siehst, Malimari, ich bin groß und sehr gescheit.« Sidhar juchzte. Ein Reim! Es gelang ihm alles immer besser.

Wenn er jetzt noch mit dem Träumen aufhören würde, konnte er vielleicht doch noch ein richtig guter Hirte werden, wie Tolkut und die anderen Männer in der Gemeinschaft es von ihm wollten. Er würde Zhanore, die ihn gefunden hatte, keine Schande mehr machen.

Eine Böe riss ihn fast von den Füßen, während er sich umsah. Sein Blick blieb an einem Gebilde hängen, das ihn an eine Allmendjurte erinnerte. Es war rund, mit einer hohen Kuppel, und so groß, dass mehrere Familien hätten darin leben können. Sidhar bedeutete Malimari, stehen zu bleiben, und kämpfte sich auf das Bauwerk zu. Er legte eine Hand an die Wand.

Sie fühlte sich warm an, wärmer als Stein, und sehr glatt, nicht so porös wie Ton. Sie musste aus einem fremdartigen Material sein, aus der alten Zeit.

Auf der Suche nach einer Klappe oder einer Öffnung folgte Sidhar der Wand. Nichts. Er fand nicht einmal einen dünnen Spalt, in dem er eine Stange hätte ansetzen können, um Malimari die Mauer aufstemmen zu lassen.

In einiger Entfernung standen noch zwei dieser Warmsteinjurten. Er zog den Stoff tief ins Gesicht, um sich gegen Sand und Eis zu schützen, während er sich von einer zur nächsten kämpfte. Aber auch dort fand er keinen Einlass.

Mutlos kehrte er zu Malimari zurück. Sie ließ den Kopf hängen und ihr Rüssel pendelte im Sturm. Ihr ganzer Leib zitterte. Sacht strich Sidhar über den Rumpf des Tieres.

»Es tut mir leid, Malimari«, sagte er. »Ich hatte gehofft, hier finden wir einen Unterschlupf, der dir ein wenig Schutz bietet. Aber wir kommen in diese komischen Jurten nicht rein.«

Malimari stupste ihn mit dem Rüssel an und schob ihn beiseite. Mit schweren Schritten schwankte sie in den Windschatten der nächsten Steinjurte und blieb schließlich stehen, die Stirn gegen die Wand gepresst, als suche sie dort Halt. Sidhar folgte ihr, hockte sich neben ihr Vorderbein und sah hoch.

»Bald, Malimari, wird der Sturm vorüber sein, und dann wandern wir, Malimari, wieder in das Land hinein ... hey!«

Er sprang auf, als habe ihn ein Tikwurm gestochen. Er starrte auf die Stelle, an der sich die Berkomnairkuh gegen die Wand lehnte. War da nicht ein feiner Riss zu sehen?

»Zurück, Malimari!«, rief er und hob die Treiberrute, um die Kuh durch stetiges Klopfen gegen ihre Knie ein paar Schritte nach hinten zu dirigieren. Mit spürbarem Widerwillen folgte sie. Er rannte wieder zur Wand und starrte hoch. Tatsächlich – egal was für ein Material es war, aus dem die Wand bestand, es war entweder nie so fest gewesen wie Stein, oder es hatte diese Festigkeit verloren.

»Ha, Malimari!«, rief Sidhar. »Ich weiß, wie wir es machen! Nur ein wenig noch, Malimari, nur ein wenig, und wir sind drin!«

Er trieb die Kuh einige weitere Schritte zurück, wieder heraus aus dem Windschatten, ohne auf ihr Ächzen und Stöhnen zu hören. Schließlich war er zufrieden, hängte die Rute an den Schulterhaken und sprang. Er griff den Rüssel der Kuh, hangelte sich daran hoch, fasste die Hörner und zog sich über die Krone in ihren Nacken. Geübt schwang er sich herum, klemmte die Beine in die Nackenfalten und starrte auf die Wand.

»Hiyyayayaaa!«, trillerte er und ließ die Rute kreisen, dass sie in der Sturmluft pfiff. »Hiya

Die Rute klatschte auf das Hinterteil der Dickhaut. Mit einem Satz sprang die Berk nach vorne, stöhnte und rannte auf die Wand zu. Sidhar drückte sich hinter der Krone an den Nacken des Tiers und krallte die Hände in die lange Wolle. Unwillkürlich schloss er die Augen, als Malimari die Wand erreichte.

Etwas krachte. Hart wurde Sidhar nach vorne geschleudert. Den Großteil der Wucht konnte er mit den Beinen in den Nackenfalten abbremsen, aber trotzdem schlug sein Schädel schwer gegen den hinteren Teil der Krone. Er spürte, dass etwas auf ihn herunterfiel. Dann wurde es dunkel um sie beide.

Unter ihm taumelte Malimari weiter. Es klapperte, schepperte, knirschte und knackte. Endlich blieb sie stehen und stieß ein Röhren aus, das von nahen Wänden widerhallte. Sidhar krallte sich weiter fest und wartete mit geschlossenen Augen.

Das Pfeifen des Sturmes klang gedämpft hinter ihm. Nichts zerrte an ihm. Langsam drang die Wärme der Berk durch seine Kleidung. Er öffnete die Augen.

Sie standen in einem Raum, der fast so groß war wie die ganze Jurte, in der Sidhar mit seinem Ziehvater Tolkut bei dessen Erwählerin und ihren Kindern lebte. Licht fiel nur durch das Loch in den Raum, das Malimari in die Wand gerissen hatte. Früher hatten dort anscheinend überall Schränke und Regale gestanden. Sidhar sah auch einen langen Tisch mit seltsamen Mulden oder Becken. Einiges davon war sicher schon zerfallen. Malimaris Eindringen hatte nahezu den kompletten Rest in Trümmer gelegt.

»Geschafft, Malimari! Du hast es geschafft«, sang Sidhar leise und kraulte die Basis ihrer Krone. Sie schnaubte wohlig. Ein Schauer durchlief ihren Körper, Vorbote der Wehen.

Sidhar wollte sich aufrichten und knallte mit dem Kopf gegen ein Hindernis. Erschrocken ließ er sich wieder auf Malimaris Nacken fallen. Er schielte nach oben. Nur wenige Handbreit über ihm hing die Decke des Raumes. Er schluckte.

»Die Sternengötter sind mit uns, Malimari«, murmelte er. »Bestimmt schenken sie dir auch ein starkes Kleines.«

 

*

 

Die Nacht kam schnell, aber Sidhar hatte bereits ein Feuer in Gang gebracht, das er mit einem Gemisch aus Stroh und unterwegs gesammeltem trockenem Berkomnairdung fütterte. Es verbreitete wohlige Wärme und einen heimeligen Duft.

Sidhar hatte sich auf das Kommende schon sein Leben lang vorbereitet. Jeder Junge erhielt in seinem Alter zum ersten Mal den Auftrag, einer Kuh allein beim Kalben zu helfen. Es war die erste der drei Prüfungen zur Mannheit, die ihm einen Reit-Horimad bescheren würde. Die zweite und dritte entschieden über den Weg eines Mannes, zum Beispiel, ob er ein Dagorkämpfer werden durfte. Aber Sidhar sah sich nicht als Krieger, selbst wenn ihn die besonderen Fähigkeiten der Dagoristas faszinierten.

Die Mädchen durchliefen auch drei Prüfungen. Bei ihnen zeigte sich, ob ein Mädchen zur Zhy-Fam taugte, zur Feuerfrau. Die hatten, wenn sie sich zusammenschlossen, noch erstaunlichere Geistesfähigkeiten als die Dagormänner und leiteten daher zu Recht ihre Clans. Nur sie konnten Schutz gegen die Kräfte des Planeten bieten und Brücken über das Magma bauen.

Während Sidhar Stricke zurechtlegte und ein Strohlager und Wasser für das Kleine vorbereitete, wanderten seine Gedanken zur Feuerfrau Zhanore. Sie hatte ihn während eines Jahres der Zurückgezogenheit gefunden, ganz allein in der Haweel-Tundra, am Rand des Tsobaldyr-Hains, in dem sie in dieser Zeit lebte. Irgendein Clan musste ihn ausgesetzt haben, oder Taas hatten ihn von irgendwo mitgenommen und dann dort zurückgelassen. Bei ihrer Rückkehr hatte Zhanore ihn Tolkut zur Erziehung übergeben.

Sidhar holte den Salböleimer aus dem Sattelsack, tunkte den Schwamm ein und begann, Malimaris Bauch einzureiben. Mit einem wohligen Quietschen ließ die Berk sich auf die Kniegelenke herunter, damit er besser jede Stelle ihrer Haut erreichen konnte.

»Bald, Malimari, wirst du eine Mutter sein«, sang er und lächelte. »Weißt du, was manche über mich und Zhanore sagen? Sie sagen, ich wäre in Wirklichkeit ihr Sohn. Sie sagen es nie laut, sondern immer nur, wenn sie glauben, dass ich es nicht höre, und auch keine Zhy-Fam. Aber ich habe scharfe Ohren!«

Er tätschelte ihren Rüssel und sog den Kräuterduft des Öls ein, der sich mit dem Geruch des glimmenden Dungs mischte. Heimweh nach der Jurte regte sich in ihm. Er schluckte und rieb etwas fester. Malimari stieß einen tief im Bauch vibrierenden Seufzer aus.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, redete Sidhar weiter vor sich hin. »Ich meine, Tolkut ist hart und schlägt schnell zu, aber er muss ja auch einen richtigen Clansmann aus mir machen. Das hat Zhanore ihm auferlegt. Und Jalina und ihre Kinder sind ganz nett. Zumindest meistens.«

Er lehnte sich gegen Malimaris Bauch, um höher reichen zu können. »Alle sagen sie immer mal wieder, weil eine Zhy-Fam mich gefunden hat, müsse ich was Besonderes sein, und darum darf ich manches mehr als die anderen. Aber trotzdem wäre mir lieber, wenn ich eine richtige Mutter und einen richtigen Vater hätte. Wie dein Kleines. Du wirst sicher eine gute Mutter für es sein.«

Malimari schob ihn mit dem Rüssel ein Stück weiter. Gehorsam rieb er die Hautpartie ein, die sie ihm präsentierte.

Eine schwangere Berk bekam oft trockene Haut, die unter der Spannung des wachsenden Kalbes leicht nachgab. Mit der Salbe schützte man solche Risse vor Entzündung und machte die Haut geschmeidiger, damit keine neuen entstanden. Sidhar holte den Trittschemel aus seinen Sachen, um besser an den Seiten hochzukommen. Den Rist und die oberen Hautpartien würde er von ihrem Rücken aus einreiben müssen.

Nachdem er fertig war, verstrich noch etwa eine Tonta, in der Malimari sich immer stärker unter den Wehen wand und schließlich kläglich brüllte. Sidhar tat alles, um ihr das Gebären zu erleichtern. Er hielt sie warm, sang beruhigend, massierte und salbte sie, und als die Vorderbeine des Kleinen zu sehen waren, legte er Riemen darum und schnallte sich in ein Geschirr, um mit all seiner Kraft zu helfen, es herauszuziehen.

Als das Kalb endlich in das vorbereitete Strohbett plumpste, ließ Sidhar sich erst einmal daneben fallen, bis er wieder zu Atem kam. Anschließend half er Malimari mit Stroh und Wasser, den Körper des Kalbs von Blut und Schleim zu befreien, prüfte sein Geschlecht – es war eine weitere Berk, was gut war, denn die Herde hatte schon genug Bullen – und tauchte den Rüssel der Kleinen in einen Wassereimer, damit sie ihn ausspülen konnte. Sie spritzte Sidhar gründlich nass und trompetete, als wolle sie ihn auslachen.

Dann machte das vorwitzige Ding seine ersten Gehversuche, stolperte aber schon bald gegen den Körper seiner Mutter und begnügte sich damit, nach den Zitzen zu tasten. Sidhar aß und trank ebenfalls und kuschelte sich schließlich neben der Kleinen an Malimaris Körper. Schnell schlief er ein.

 

*

 

Als Sidhar aufschreckte, glimmte das Dungfeuer nur noch. Durch das Loch in der Wand sah er Sterne und Frost glitzern. Der Sturm hatte sich gelegt. Draußen musste es bitterkalt sein.

Sidhar stand auf, um weiteren Dung nachzulegen. Er stocherte in der Glut und blies hinein, bis die Flammen aufflackerten und auf den neuen Brennstoff übergriffen. Als das Feuer hell brannte, sah er sich um.

Im flackernden Licht des ersterbenden Feuers bot sich ihm ein glitzerndes Trümmerfeld dar. Was Malimaris Eindringen nicht zerstört hatte, war entweder während ihrer Wehen zermalmt worden oder dem Erkundungsgang des Kleinen zum Opfer gefallen.

Wer mochte hier wohl einmal gelebt haben, und wie? War das überhaupt ein Wohnraum gewesen? Es wirkte nicht so.

Zu viele Fragen verwirren den Geist und lenken ihn vom Wesentlichen ab!

Das war es, was Tolkut immer sagte, bevor er ihm das Fragen wieder für eine Weile austrieb. Aber hier war niemand, der Sidhar die Fragen aus dem Geist schlug. Die Trümmer in diesem Raum würden ihm allerdings keine Antworten liefern.

Er stand auf, bastelte aus etwas Stoff und Öl eine Fackel und untersuchte den Raum gründlicher. Er hatte eine Form wie ein Achtelstück eines Käserades, von dem man die Spitze abgeschnitten hatte. An dem Wandstück, das zum Inneren des Gebäudes hin lag, entdeckte er eine rechteckige Fläche in der Größe eines Durchgangs, die sich von der restlichen Wand unterschied. Er tastete darüber, und als sie nicht nachgab, suchte er die Flächen daneben nach einem Hebel oder etwas Ähnlichem ab. Als ein Stück der Wand mit einem Klicken unter seiner Hand nachgab, sprang er erschrocken zurück.

Ein etwa drei Handbreit im Quadrat großes Wandstück klappte nach unten und gab den Blick auf ein metallenes Speichenrad frei. Sidhar musterte den rätselhaften Mechanismus. Er erinnerte ihn an die Räder an den Wasserspindeln mancher Lagerplätze. Konnte das vielleicht der gesuchte Öffnungsmechanismus sein?

Er legte die Fackel auf den Boden, griff in das Rad und versuchte, es zu bewegen. Schnell wurde ihm klar, dass er zu schwach war, um richtig Kraft darauf ausüben zu können. Außerdem saß das Rad zu tief in der Nische, als dass er sich mit seinem Gewicht hätte daran hängen können.

Er kehrte zu Malimari zurück, holte den Trittschemel und stellte ihn vor der Öffnung ab. Jetzt kam er besser daran und versuchte erneut, das Rad in Bewegung zu bringen. Und tatsächlich – was auch immer der Drehung des Rades Widerstand bot, gab langsam nach. Etwas knirschte, und er sah, dass die Tür ruckte. Doch als er umgreifen wollte, reichte seine Kraft nicht mehr aus. Das Rad schnappte in seine ursprüngliche Position zurück. Der Block rastete wieder ein.