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Nr. 2645

 

Die Stadt ohne Geheimnisse

 

Ein Terraner erreicht Anboleis – und erlebt Glanz und Untergang des mentronischen Zeitalters

 

Wim Vandemaan

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Seit dem dramatischen Verschwinden des Solsystems mit all seinen Bewohnern hat sich die Situation in der Milchstraße grundsätzlich verändert.

Die Region um das verschwundene Sonnensystem wurde zum Sektor Null erklärt und von Raumschiffen des Galaktikums abgeriegelt. Fieberhaft versuchen die Verantwortlichen der galaktischen Völker herauszufinden, was geschehen ist. Dass derzeit auch Perry Rhodan mitsamt der BASIS auf bislang unbekannte Weise »entführt« worden ist, verkompliziert die Sachlage zusätzlich. Um die LFT nicht kopflos zu lassen, wurde eine neue provisorische Führung gewählt, die ihren Sitz auf dem Planeten Maharani hat.

Während Perry Rhodan und Alaska Saedelaere gegen die aus langem Schlaf erwachende Superintelligenz QIN SHI kämpfen müssen, befindet sich das Solsystem abgeschottet vom Rest des bekannten Universums in einer Anomalie und muss sich gegenüber drei fremden Völkern behaupten: Die Spenta hüllen Sol ein, die Fagesy besetzen Terra, und die Sayporaner entführen Kinder auf ihre Heimatwelt Gadomenäa, um sie zu »formatieren«. Der Journalist Shamsur Routh setzt sich auf die Spur der Kinder, und dabei kommt er nach Anboleis, DIE STADT OHNE GEHEIMNISSE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Shamsur Routh – Der Journalist erreicht die Stadt ohne Geheimnisse.

Anicee Ybarri – Die junge Frau begreift sich nicht länger als Terranerin.

Zachary Cranstoun – Ein Wissenschaftler arbeitet jenseits des Todes.

Busech Bucphol – Ein Thanatotekt wird zum Geburtshelfer einer neuen Technologie.

Anboleis vor Augen

 

Die Stadt ragte vor ihm auf wie ein Gebilde aus Edelsteinen. Ihre Gebäude bestanden restlos aus einem transparenten Material. Sie erhoben sich, so weit das Auge reichte, in den rot getönten Himmel über Gadomenäa. Viele von ihnen durchstießen das dünne Gewölk, das in zehn oder zwölf Kilometern Höhe allmählich über der Stadt dahintrieb.

Die Reiselandschaft Vae-Bazent, der er vor wenigen Minuten den Rücken gekehrt hatte, und seine Erlebnisse dort – in der fliegenden Wüste, bei den Coccularen, seine Tage und die Nacht mit der Spiegelin –, sie alle verloren an Raum in seinem Bewusstsein wie ein abklingender Schmerz.

Ich bin da, dachte er, nur diesen Satz. Wie banal das klang. Dabei war es eine ganz unwahrscheinliche Anwesenheit: Er, der Mensch von der Erde, Shamsur Routh, ein Journalist, hatte Anboleis erreicht; gegen jede Wahrscheinlichkeit, ohne technischen Rückhalt, ohne jede militärische Unterstützung war er vorgedrungen zu einer zentralen Stätte sayporanischer Kultur.

Er hatte sich von nichts abhalten lassen, schon gar nicht von den Coccularen.

Nachdem er einige Minuten gewartet hatte, geschaut, auch gelauscht, ob aus der Stadt nicht etwas zu ihm herübertönte, ein ferner, vielleicht verheißungsvoller Klang, nachdem er die Stille in sich aufgenommen hatte, setzte er sich in Bewegung.

Er ging vorwärts. Hinter seinem Rücken erhob sich ein Rauschen. Es klang, als hätte sich alles, was auf dieser Welt Flügel hatte, zusammengetan und schwirrend in die Lüfte erhoben. Fort von dem drohenden Winter und der künftigen Not, dringend fort.

Routh drehte sich nicht um. Er konnte sich vorstellen, was geschah. Die reisende Landschaft würde bald an Höhe gewinnen und gleich darauf Fahrt aufnehmen. Sie würde ihren ziellosen Weg fortsetzen; sie brauchte keine Steuerung, hätte gut mit den großen Luftströmungen treiben können.

Es interessierte Routh nicht mehr. Nur an das Grab der Spiegelin würde er lange denken, und vielleicht gehörte das Grab zu den wenigen alles überdauernden Erinnerungen, die einen Menschen prägten, zu den Fragmenten der Zeit, die aus der Vergangenheit herausgebrochen waren, um unaufhörlich gegenwärtig zu sein.

Routh warf einen Blick auf die kupferfarbene, leicht gewölbte Scheibe an seinem linken Handgelenk. Mit einem Fingertipp aktivierte er die Zeitanzeige. Auf Terra schrieb man den 14. Oktober 1469 NGZ – als wäre ausgerechnet die Zeit etwas, an dem man sich festhalten könnte.

Routh näherte sich einem sehr niedrigen, kaum kniehohen Wall, der sich zu beiden Seiten bis zum Horizont ausbreitete. Er konnte mit einem Schritt hinübersetzen. Jenseits des Walls lag eine deutlich gestaltete Landschaft, ein Park. Die Wege breit, geschwungen, wie mit einem überdimensionalen Pinsel auf das Land gemalt. Der Boden war mit einer Art dunkler Streu ausgelegt und federte leicht.

Routh wählte einen Weg, der ihn tiefer in die Stadt zu führen versprach. Die riesenhaften Glasbausteine der Stadt warfen keinerlei konturierten Schatten. Das Gras der Wiesen schimmerte in einem dunklen roten Ton wie Klatschmohn. Routh bückte sich und strich über die Halme. Sie fühlten sich kühl an und spröde, fein gesponnene, durchsichtige Kristallfäden, die mit einem kaum hörbaren Klirren unter seinen Fingerkuppen brachen. Sogar das Gras ist aus Glas, dachte er verblüfft.

Die weit verstreut stehenden Bäume wirkten blass und knöchern, die Kronen trugen keine Blätter, sondern wirkten wie in eine rotgoldene, tausendfach eingefaltete Folie gewickelt. Sie pulsierten langsam.

Ihn fröstelte. Nicht nur der Morgenkühle wegen. Er zog den Thermomantel enger um den Leib und schloss seine Magnetleisten.

Banteira, die große rote Sonne des Weltenkranzsystems, stand ohne klaren Umriss am Himmel über Gadomenäa.

Das Rauschen hinter ihm wurde intensiver. Er drehte sich nicht um. Er wusste, dass es Vae-Bazent war, die fliegende Landschaft, die ihn nach Anboleis getragen hatte und nun weiterzog.

Die Heimat und letzte Zuflucht der Vae-Vaj. Das Land, auf dem 1113 Taomae gestorben war, die Spiegelin.

Seine Geliebte, die, er wusste nicht, aus welchem Grund, die Gestalt seiner ehemaligen Frau angenommen hatte, der Mutter Anicees.

Er tastete in den Kragen seines Thermomantels und überprüfte kurz, ob er noch das Schemenkleid der Spiegelin trug. Ich brauche den Symbionten nicht mehr, hatte sie gesagt. Dann war sie gestorben. Routh hatte in ihr insektoides Gesicht gesehen, schön wie ein Türkis. Das Gewebe des Schemenkleids fühlte sich weich und warm an, als wäre es aus Haut gemacht. Es hing ihm wie ein Schal um den Hals und über die Brust. Die Enden hatte er über der Brust verknotet. Das Tuch hatte der Spiegelin zur Vervollständigung ihrer Mimikry gedient. Ihr Körper hatte die Erscheinungsform wandeln können; das Schemenkleid besorgte die äußerliche Anpassung.

Routh wusste nicht, ob das Kleid ihm von irgendeinem Nutzen sein würde. Er hoffte es.

Leider hatten seine Hoffnungen nie viel Eindruck auf den Gang der Dinge gemacht.

Erst als das Rauschen hinter ihm leiser geworden war und sich fast ins Unhörbare verloren hatte, überlegte er, ob er sich noch einmal zu der Onuudoy umwenden sollte.

Wozu?

Die Spiegelin ruhte in ihrem metallenen Sarkophag, blind, wie nur der Tod blind machen konnte. Routh hatte sie dort bestattet.

An die Coccularen, die die Wüste Vae-Bazents bewohnten, wollte er keinen Gedanken mehr verschwenden.

»Puc aktiv!«, sagte er. Vor seinem inneren Auge tauchte der Mann im Smoking auf, das ewige Cocktailglas in der Hand. Die Gestalt saß auf einem Barhocker; ein Ellenbogen lag auf dem Tresen. Die Szene schwebte in der Luft, als hätte sie nur zufällig Anker geworfen in der Wirklichkeit.

»Lösch die fliegende Landschaft aus meinem Gedächtnis«, forderte er die Projektion auf. »Lösch auch die Erinnerung an die Spiegelin.«

Die künstliche Psyche des Implantmemos wurde im Wesentlichen von einem Extrakt aus seiner eigenen Hirnsubstanz erzeugt. Doch das bedeutete nicht, dass Puc seinen Bitten mit lauer Botmäßigkeit entsprach.

Das werde ich nicht tun, sagte das Implantmemo denn auch. Deine mnemotische Struktur ist labil genug. Ein weiterer Löschprozess könnte sie ihre Integrität kosten.

»Blabla«, machte Routh. »Sieh dir das an.« Er war stehen geblieben und stemmte die Hände in die Hüften. »Anboleis. Jetzt ist klar, warum sie die Stadt ohne Geheimnisse heißt.«

So?, fragte Puc, glättete das Revers seines Anzugs und nippte vom Glas.

»Siehst du das nicht? Es ist eine Stadt ganz aus Glas.«

Warum auch nicht, sagte Puc.

So war es. Der Daakmoy, der sich am Ausgang des Parks erhob, einer der Geschlechtertürme der Sayporaner, gehörte mit seinen knapp fünfhundert Metern zu den niedrigeren Exemplaren. Manche seiner Nachbargebäude ragten zwanzigmal so hoch auf. Einige von ihnen waren als Pyramiden gestaltet, andere als Zylinder mit rundem oder elliptischem Grundriss. Manche teilten sich in der Mitte in zwei Hälften, in drei oder vier Segmente. Andere kragten von Stockwerk zu Stockwerk weiter aus, balancierten ausladende Balkone in der Luft.

Alles wirkte schwere- und mühelos gebaut, anmutig und elegant. Keine architektonische Idee dominierte, jedes Bauwerk ließ jedes andere gelten, alles schwebte in einer vollendeten, dabei unaufdringlichen Balance.

Brücken, mal breit und straßenartig, mal filigran und in kühnen Bögen geschwungen, verbanden die Türme miteinander.

Und tatsächlich alles – jede Fassade, jede Zwischenwand, Böden wie Decken, die Grundfläche der Balkone und die Brücken – war aus transparentem Material gefertigt, das andeutungsweise eingefärbt war in Rot und Blau, in Grün und Gold, ununterscheidbar, ob es aus sich selbst leuchtete oder das Licht Banteiras brach.

Eine Stadt wie ein Hort aus Edelsteinen, aus Saphiren und Jaspis, Beryll, Topas und Amethyst.

Die Stadt der Rattenfänger, dachte Routh. Das Gefängnis Anicees. Er versuchte, den Hass gegen die Entführer seiner Tochter wachzurufen und ihn auf ihre Stadt zu übertragen. Anboleis aber stand da, klar und in unverhülltem Glanz.

Er konnte nicht anders, als sie zu bewundern.

 

*

 

Er hatte am Saum der Parklandschaft kurz gerastet und aus seinem Tornister getrunken. Gedankenverloren schob er den linken Mantelärmel bis zum Ellbogen hoch und rieb über die beiden kaum mehr sichtbaren Einstiche. Die Entzündung war ganz zurückgegangen; die Stellen juckten. Gutes Zeichen. Er kratzte ein wenig.

Das Handgelenk, das auf der fliegenden Landschaft von einem Stein getroffen worden war, zeigte sich fast schmerzfrei und wieder gut beweglich. Er betrachtete das Implantmemo am Armgelenk, das einer alten Uhr ähnelte. »Puc aktiv!«, sagte er. »Wir müssen uns beraten.«

Die Biopositronik war alles andere als ein militärisches Gerät, aber sie verfügte über einen ungeheuren Datenschatz.

Und sie war lernfähig.

Puc erschien und wendete das Cocktailglas vor seinen Augen.

Das Ziel ist klar, sagte er. Wir finden Anicee und bringen sie nach Hause.

Ebenso klar wie undurchführbar, erkannte Routh. Für einen Moment erfasste ihn Übelkeit, als ihm deutlich wurde, wie sehr er auf verlorenem Posten stand: ein einzelner Mann gegen eine ganze Zivilisation. Ausgerüstet womit? Mit einem Implantmemo, einem Werkzeug, das ihm allmählich den Geist zerrüttete. Mit dem Schemenkleid der Spiegelin, von dem er nicht wusste, wie es funktionierte. Einem Tornister, der knapp zwanzig Liter Trinkwasser enthielt, nebst einer Wiederaufbereitungsanlage.

In der Brusttasche des sandfarbenen Overalls trug er den Reizfluter. Sein Ziehvater Chourtaird hatte ihm die schmale, aber schwere Handfeuerwaffe überlassen. Die Nadeln, die der Fluter verschoss, lösten in den Getroffenen Schmerzreize und Wahnvorstellungen aus.

Eine typisch sayporanische Waffe, überlegte Routh. Mit ihrem niederschwelligen, geradezu unscheinbaren Offensivarsenal war ihnen gelungen, woran kosmische Supermächte wie die Terminale Kolonne gescheitert waren: Sie hatten die Verteidigungswälle der Terraner nicht gesprengt, sondern unterlaufen, infiltriert, von innen außer Kraft gesetzt. Eine eigenartige, asymmetrische Kriegführung.

Ein Implantmemo aus pataralonischer Fertigung. Ein Reizfluter der Sayporaner. Das Schemenkleid der Vae-Vaj – ich bin eine multikulturelle Einmannarmee, dachte Routh und lachte bitter auf. Großartig. Welche Streitmacht dieses Universums wollte es da mit ihm aufnehmen?

»Wir werden Anicee suchen. Wir werden sie finden«, sagte er. »Natürlich. Und dann? Wie schaffen wir sie zurück nach Terra?«

Wir manipulieren eines der Transitparkette. Nötigenfalls requirieren wir ein sayporanisches Raumschiff.

»Das wären Aufgaben für Raumlandetruppen«, sagte Routh. Ihm war klar, dass mit einer solchen Hilfe vorerst nicht zu rechnen sein würde. Ein Raumschiff kapern? »Besitzen die Sayporaner überhaupt Raumschiffe?«

Nicht notwendig, gab Puc zu. Sie könnten an Bord anderer Schiffe nach Terra gekommen sein. Sie könnten Bauteile eines Transitparketts nach Terra geschmuggelt haben, getarnt als Ersatzteile, als Handelsgut. Bauteile, die sie später autonom zusammengesetzt und betriebsfertig gemacht haben.

Routh winkte ab. »Fruchtlose Diskussion.«

Er wanderte langsam durch den Park. Etwas ließ ihn zögern, tiefer in das eigentliche Stadtgelände einzudringen, vorzustoßen zum Zentrum. Wenn Anboleis überhaupt etwas wie eine Mitte hatte. Möglicherweise standen die gläsernen Titanen ja jeder für sich.

Noch war ihm niemand begegnet, kein Sayporaner, kein Terraner, weder Zofe noch Junker. Hin und wieder glitt eine der Pasinen lautlos über ihn hin, die Routh an ins Riesenhafte vergrößerte Origami-Figuren erinnerten. Sayporaner und die Menschenkinder falteten sie aus ultraleichten Metallfolien. Sie drehten ihre Kreise, gerieten in einen Aufwind und flogen außer Sicht.

Gadomenäa war eine gepflegte, sanfte Welt. Auch voller Wunder, wenn er an die fliegenden Landschaften dachte. Aber der Planet wirkte zugleich wie eine Welt, von der sich das Leben lange schon abgewendet hatte. Alt, greise.

Das Gefühl absoluter Verlassenheit wurde so übermächtig, dass Routh stehen blieb, die Augen mit der Hand beschirmte und auf die Geschlechtertürme blickte, Ausschau hielt nach Menschen. Oder Sayporanern.

Vielleicht war es zu früh am Morgen. Er brauchte beinahe eine Minute, bis er hoch oben in einem der näheren Daakmoy eine Bewegung entdeckte: eine winzige humanoide Silhouette, die langsam durch einen gläsernen Saal glitt. Vielleicht nur ein Schatten. Oder Wunschdenken.

Routh überlegte, ob er Puc damit beauftragen sollte abzuschätzen, wie viele Quadratkilometer Wohnfläche die Stadt Anboleis bot. Er unterließ es. Das Ergebnis fiele in jedem Fall einschüchternd aus: Einige der Daakmoy-Giganten wiesen mit ihren zweitausend und mehr Geschossen bei einer lichten Höhe von etwa fünf Metern eine Fläche von eineinhalb Milliarden Quadratmetern auf. Die hoch gebaute Stadt war ein ganzer Kontinent. Er würde Jahre suchen können, ohne eine Spur von Anicee zu finden. Verborgen im Licht.

Dabei – er lächelte – war es immer Anicee gewesen, die Versteckspielen gehasst hatte. Wenn sie sich von ihm zu diesem Spiel hatte überreden lassen, suchte sie mit Bedacht schlechte Verstecke und ließ sich rasch finden. Sie war in ihren ersten Jahren ein ängstliches Kind gewesen, allem Schrecken offen. Wenn er ihr Märchen erzählt hatte – etwa das von dem Teufel, dem der Müllersbursche drei goldene Haare aus dem Bart zupfen musste –, hatte sie sich, sobald der Held Teufels Küche betrat und der Hausherr der Hölle heimkehrte, unter seinen Arm geflüchtet und, wie Routh gerührt bemerkt hatte, ein, zwei Tränen vergossen in ihrer Furcht.

Routh hatte deswegen den Teufel und seine verräterischen Träume rasch abgehandelt, um den Müllersburschen so schnell wie möglich aus der Küche zu retten. Wie der Baum mit den goldenen Äpfeln geheilt wurde, wie es kam, dass im Brunnen der Wein wieder floss, wie der ewige Fährmann endlich den Stab übergeben konnte an den missgelaunten, menschenfeindlichen König – das hatte Anicee immer beruhigt, und meist war sie am Ende des Märchens mit einem leisen, erleichterten Seufzen eingeschlafen.

In ihrer Angst war Anicee Routh immer besonders nah gerückt, näher als ihrer Mutter, die ihr aus dieser grauenvoll pädagogisch wertvollen Literatur vorlas, in der es nichts zu schaudern gab, nur unsäglich viel zu lernen.

Irgendwann hatte Anicee ihre Angst verloren, wie Kinder ein Spielzeug verloren gaben, an dem ihnen nichts mehr lag. Routh hatte sich noch eine Weile lang dabei ertappt, wie er, kurz bevor er einschlief, die Träume des Teufels zitierte.

An den Park schloss eine spiegelglatte Veranda an. Dahinter ragten die gläsernen Pforten eines Geschlechterturms auf, hinter denen eine weite Empfangshalle sichtbar war, jenseits derer und durch deren transparente Wand das nächste Gebäude mit seinem Foyer zu sehen war, durch dessen Wand – und immer so weiter.

Auf der Veranda standen einige Sitz- oder Liegemöglichkeiten. Alles wirkte unglaublich rein. Kein Staub auf den Sitzflächen, keine Verunreinigung auf dem Boden, keine Pfützen, keine Blüten, kein Laub.

Kein Tier.

Gab es keine Kleinlebewesen, Insekten, Würmer, Spinnen oder artverwandtes Leben? Nichts, was das Territorium der Veranda erkundete?

Oder hielten unsichtbare Kräfte diese Tiere von der Veranda fern?

Routh schlenderte betont gelassen über die Veranda und trat näher an die Pforte. Irgendwo musste er anfangen. Er überlegte, was er wohl würde tun müssen, um hineinzugelangen.

Er besaß keinen Schlüssel, keine Legitimation.

Da glitten die hohen gläsernen Flügeltüren vor ihm zur Seite.

Routh trat ein.

 

*

 

Schon von der Veranda aus hatte er gesehen, dass sich niemand im Foyer aufhielt. Er schaute nach oben in die schwindelerregende Höhe des Daakmoy. Über ihm musste es mehrere hundert Geschosse geben. Sie lagen alle offen vor seinen Augen. Das Glas war zugleich eingefärbt und völlig ungetrübt. Mit Mühe konnte er einige Gegenstände dem nächsthöheren Stockwerk zuordnen, einige dem darauf folgenden. Alles Weitere schien sich ineinanderzuschieben, vermischte sich, entzog sich jeder Lokalisierung.

Routh schüttelte unwillig den Kopf. Der Anblick war sinnverwirrender als alles, was er bisher gesehen hatte. Anboleis löste sich dank seiner vollkommenen Sichtbarkeit ins Imaginäre auf.

Er hatte Mühe, sich auf einzelne Phänomene zu konzentrieren, sie im lichtdurchfluteten Ganzen zu isolieren.

Von der transparenten Decke hingen an ultradünnen Fäden gläserne Kugeln – oder waren sie eher birnenförmig, das breitere Ende dem Boden näher? In den Kugeln befand sich leichter glitzernder Staub, ein kristalliner Hauch, der langsam wie in einer Strömung kreiste.

Routh entdeckte die durchsichtige Röhre eines Aufzugs. Die ihrerseits transparente Kabine stand bereit. Die Tür glitt auf, lautlos, und da auch sie aus schierem Glas war, hätte Routh die Einladung fast übersehen. Mit zwei raschen Schritten trat er ein.

Selbstverständlich war die Bedientafel der Liftkabine mit den Hunderten winziger Sensorflächen durchscheinend. Rouths Fingerkuppen glitten über die Tasten und wählten eine, von der er meinte, sie müsste eine der mittleren Etagen bedeuten. Ohne spürbaren Ruck setzte sich die Kabine in Bewegung.

Die Auffahrt löste einen heftigen Schwindelanfall aus. Routh lehnte sich gegen die Kabinenwand, ging dann in die Hocke und verbarg den Kopf zwischen den Knien. Die Kabine hielt an. Er stand auf und trat hinaus.

Er hatte sich verschätzt. Der Aufzug hatte ihn nicht bis zur Mitte des Gebäudes, sondern beinahe bis in das oberste Stockwerk gebracht. Nun lag der ganze Daakmoy unter ihm, ein gläsernes, erstarrtes Meer. Routh stand still, doch ein Gefühl völliger Haltlosigkeit überkam ihn. Die Sorge vor dem nächsten Schritt bannte ihn an Ort und Stelle. Mühsam und unter heftigem Atmen setzte er Fuß vor Fuß.

Wo willst du hin?, fragte Puc.

Er schloss die Augen. »Ich weiß es nicht.«

Lass dich nicht irritieren, riet Puc. Bleib ruhig. Du bist nicht in Gefahr. Du wirst nicht angegriffen.

»Ja«, gab Routh zu. Er verhielt sich geradezu kindisch. Der Boden war solide, die Wände auch, andernfalls wären die riesenhaften Wohntürme längst unter dem eigenen Gewicht kollabiert. Aber er verzagte, als ob er auf einem Drahtseil über einen Abgrund gehen müsste.

Man könnte die Stadt sogar schön finden, merkte Puc an.

»Oh ja«, lachte Routh. »Die Stadt ist ein Touristenmagnet erster Klasse.«

Puc hob zustimmend sein Glas. Du sagst es, großer Bruder.

Routh entschloss sich, sein Raumgefühl zu trainieren. Er rannte los, spurtete durch das Geschoss. Er hielt an, tat bedächtig Schritt für Schritt. Der Boden trug ihn, selbstverständlich.

Nach einiger Zeit gelangte Routh zur Außenwand der Etage. Er lehnte die Stirn an das transparente Material. Es war weniger kalt als Glas. Routh meinte zu spüren, wie es einen Hauch nachgab, wenn er die Stirn dagegen drückte. Was für ein Baustoff war das?

vermutete Puc.