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Der merkwürdige Mr Melvin Malone

Dieser Frühling war kein Zuckerschlecken. Und das lag nicht nur daran, dass Ottos Lehrer eine Prüfung nach der anderen schreiben ließen, um die Schüler der Sigmund-Schwefelkopf-Schule vor den Sommerferien noch einmal ordentlich zu quälen. Noch viel mehr nervte es, dass die blühenden Gräser, die warmen Temperaturen und der Sonnenschein jedem in Ottos Umgebung heftige Frühlingsgefühle zu verpassen schienen.

Ottos Kumpel, der Sensenmann Harold, war neuerdings unsterblich in seine Kollegin Gundula verliebt – auch wenn er das nur über seine Leiche zugegeben hätte. Und sogar Ottos Hausfledermaus Vincent war vom Liebesvirus befallen. Pausenlos schwärmte der kleine Kerl von Ms Singh, Ottos Kunstlehrerin. Es war zwecklos, ihm zu erklären, dass diese Liebe keine Zukunft hatte.

Seit Vincent sein Herz verloren hatte, war er nervtötender als je zuvor und leider zu nichts mehr zu gebrauchen. Dabei wäre Otto gerade jetzt, während dieses schwierigen Mathetests, froh über seine Unterstützung gewesen. Er hatte sich sogar absichtlich in die letzte Reihe gesetzt, wo ihm Vincent die richtigen Antworten gefahrlos mit einem kleinen Taschenrechner ausrechnen und dann aus der Tasche seines Sweaters hätte zuflüstern können. Doch anstatt zu helfen, hatte Vincent sich in das flauschige Futter von Ottos Pullover gekuschelt und träumte vor sich hin, während ihm hin und wieder ein erwartungsvoller Seufzer entwich. Kein Wunder, denn in der nächsten Stunde hatten sie Kunst.

»Hey, du Schnarchnase! Wie lautet die Quadratwurzel von hundertneunundsechzig?«, zischte Otto seiner Hausfledermaus zu, als er die einfachen Aufgaben gelöst hatte. Von Zahlen über hundert hatten sie im Unterricht nie die Wurzel gezogen, darum empfand Otto den Test heute als extrafies. »Vincent, mach schon. Kannst du mir helfen?«

Es dauerte einige Augenblicke, dann bewegte sich schließlich etwas in Ottos Sweater, gefolgt von einem lang gezogenen Gähnen. »Oh Mann, Otto, wäre es nicht besser gewesen, du hättest gestern Abend für Mathe gelernt, anstatt mit Harold in seiner alten Schrottkiste durch die Stadt zu gurken?«, meckerte Vincent aus der Tasche. »Deine Klassenkameradin mit den roten Haaren und der hässlichen rosa Brille scheint jedenfalls kein Problem mit den Fragen zu haben.«

»Also erstens ist Megan ein Taschenrechner auf zwei Beinen. Und zweitens war die Spritztour mit Harold schon letzte Woche. Ich musste ihm dabei helfen, einen schönen bunten Blumenstrauß für Gundulas Todestag auszusuchen. Kann es sein, dass die Liebesviren schon dein Gedächtnis angegriffen haben?«

»Liebes-was? Du tickst wohl nicht richtig, mein Freund!« Empört reckte Vincent seinen pelzigen Kopf aus der Tasche, doch Otto drückte ihn sanft wieder zurück, bevor irgendjemand in der Klasse etwas mitbekam.

»Jetzt tu doch nicht so, Vincent. Du bist schon seit dem Wochenende ganz aufgekratzt, weil du weißt, dass wir Mittwoch Kunst haben. Und jetzt hilf mir endlich, sonst … sonst setz ich dich in einer einsamen Höhle in Schottland aus. Inklusive Bären.«

Vincent knurrte verärgert. »Dann … dann erschrecke ich Tante Sharon, wenn sie morgens unter der Dusche steht.«

»Das wagst du nicht!«

»Wetten doch?«

»Schscht«, machte Ottos beste Freundin Emily, drehte sich zu ihm und schüttelte tadelnd den Kopf. Otto warf einen schnellen Blick zum Lehrerpult, wo Mr Pickles, der ständig verwirrte Mathelehrer, gerade seelenruhig in einer Zeitung blätterte. Zum Glück hatte er nichts gehört.

Dann eben ohne Hilfe. Otto beschloss, auf Vincent zu pfeifen, sich auf den Fragebogen auf seinem Tisch zu konzentrieren und zumindest einige der kniffligen Quadratwurzeln zu lösen. Er gab seinen Test schließlich als Letzter ab, als es schon zur nächsten Stunde mit Ms Singh läutete.

Doch Ms Singh erschien nicht. Es verging fast eine Viertelstunde und die Klasse wurde zunehmend unruhig. Stan und sein Sitznachbar Ben hatten aus Langeweile damit begonnen, mit einem Strohhalm Papierkügelchen durchs Klassenzimmer zu schießen. Otto duckte sich gerade noch rechtzeitig, als eins der Geschosse in seine Richtung flog.

»Was ist denn mit Ms Singh los?«, murmelte Emily und starrte auf die geöffnete Klassenzimmertür. Auf dem Flur war es ruhig, in den anderen Klassen schien der Unterricht weiterzugehen. »Nicht dass ich etwas gegen eine kleine Auszeit nach diesem nervigen Test hätte. Aber Ms Singh kommt normalerweise nie zu spät.«

»Ach du bröselige Bratwurst!« Vincents Müdigkeit schien wie weggeblasen und er zappelte unruhig in Ottos Pullover hin und her. »Was ist, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Habt ihr daran schon mal gedacht, ihr beiden Dumpfnasen? Oh nein! Bestimmt ist ihr etwas zugestoßen!« Er machte Anstalten, aus dem Pullover zu kriechen und Otto hatte Mühe, ihn festzuhalten. »Otto, meinst du nicht, ich sollte mal aus der Klasse flattern und nachsehen, wo sie steckt?«, japste Vincent, der jetzt ganz aufgeregt war. »Vielleicht ist sie … im Lehrerzimmer gestolpert und hat sich den Kopf am Kopierer gestoßen. Oder der Hausmeister hat sie auf dem Klo eingesperrt. Oder vielleicht wurde sie entführt! Und jetzt hält sie der Kidnapper irgendwo mutterseelenallein fest. Im Turnsaal, ganz hinten bei den miefenden Trikots. Oh, Otto, ich muss nach ihr sehen!«

»Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand, Vincent«, zischte Emily ihm zu. »Bestimmt ist Ms Singh einfach krank. Liegt daheim mit einer fiesen Grippe im Bett. Oder … autsch, Stan, jetzt hör doch mal auf damit! Deine angesabberten Papierkügelchen kannst du behalten.«

Stan grinste nur dumm und ballerte seine Munition weiter in alle Himmelsrichtungen.

»Emily hat recht, Vincent«, bekräftigte Otto, während sich Emily das Papier aus den Haaren pulte. »Das ist bestimmt kein Grund zur Sorge. Womöglich steht sie im Stau oder ihr Auto hat einen Platten …« In diesem Moment näherten sich im Flur eilige Schritte. »Na siehst du, Vincent, ich habe doch gesagt, dass Ms Singh –«

»Direktorin Dimpleby?«, rief Emily verdutzt, als plötzlich nicht Ms Singh, sondern die dicke Schulleiterin das Klassenzimmer betrat. Im Schlepptau hatte sie einen blassen schlaksigen Herrn mit altmodischem Hut und einen Jungen mit Sommersprossen und Brille. Eins von Stans Papierkügelchen traf den Hut des Herrn, woraufhin der ihn mit einem grimmigen Blick bedachte.

»Untersteh dich gefälligst, Stan!«, ermahnte ihn die Direktorin, zog ihm den Strohhalm aus der Hand und pfefferte ihn in den Mülleimer. »Wenn du deinen neuen Kunstlehrer noch einmal mit Papier bewirfst, dann –«

»Ach du schrumpeliges Freilandei! Ein neuer Kunstlehrer?«, krächzte plötzlich Vincents Stimme lautstark durch die Klasse. »Etwa die miesepetrige Bohnenstange da vorne? Aber … wir haben doch Ms Singh.«

Alle Blicke richteten sich auf Otto. Einige Kinder kicherten.

»Ach du schrumpeliges Freilandei?« Mit energischen Schritten eilte Direktorin Dimpleby durch die Reihen und baute ihren pummeligen Körper vor Ottos und Emilys Tisch auf. »Kam das etwa von dir, junger Mann?«

Otto spürte, wie seine Wangen heiß wurden. »Ich … äh …« Er räusperte sich. »Ich habe nichts gesagt, Mrs Dimpleby. Ich habe bloß gehustet.«

»Gehustet?« Sie schnaubte und starrte verärgert auf Otto herab. Wie immer roch ihr Atem ein wenig nach Fisch. »Junger Mann, du begleitest mich jetzt in mein Büro, wo ich deine Tante anrufen und ihr mitteilen werde, dass du dich gegenüber dem Lehrpersonal ausgesprochen respektlos –«

»Lassen Sie Otto hier, Mrs Dimpleby«, unterbrach sie plötzlich der schlaksige Typ mit dem Hut. Seine stechend blauen Augen musterten Otto, während er mit einem Regenschirm energisch auf den Parkettboden klopfte. »Wir werden noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen.«

Mrs Dimpleby presste die Lippen zusammen und musterte Otto mit einem argwöhnischen Blick. »Na, meinetwegen«, sagte sie schließlich und wandte sich wieder der Klasse zu. »Dann möchte ich euch an dieser Stelle euren neuen Kunstlehrer vorstellen.« Sie deutete auf den neuen Lehrer, der soeben für Otto Partei ergriffen hatte. »Das ist Mr Melvin Malone. Er wird Ms Singh für einige Zeit vertreten, da sie nach Indien gereist ist, um dort ihren Verlobten Swami Shanti Betilan zu ehelichen. Die beiden kehren erst in einigen Monaten nach England zurück.«

»Ms Singh ist … wird h…hei–«, stammelte Vincent, doch Otto versetzte ihm einen festen Stups. Die Fledermaus verstummte beleidigt und fuhr dann im Flüsterton fort: »Ist dieser Swami etwa auch eine Fledermaus, so wie ich?«

»Das wage ich zu bezweifeln«, zischte Otto zurück. »Und jetzt halt gefälligst die Klappe, Vince!«

»Und das führt uns auch schon zur nächsten Neuigkeit. Ihr bekommt ab heute nicht nur einen neuen Lehrer, sondern auch einen neuen Mitschüler. Albert ist vorige Woche mit seinen Eltern in die Stadt gezogen«, fuhr Mrs Dimpleby fort und schob nun den Jungen mit den Sommersprossen und der Brille nach vorne.

Während Mrs Dimpleby erzählte, dass Albert bis vor Kurzem auf eine renommierte Privatschule gegangen war, dort lauter exzellente Noten bekommen hatte und außerdem eine Vielzahl von ausgefallenen Hobbies besaß, beugte sich Otto zu Emily hinüber. »Sag mal, findest du Mr Malone nicht auch merkwürdig?«, flüsterte er. »Woher kennt dieser Typ denn meinen Namen? Mrs Dimpleby hat mich gar nicht Otto genannt, und doch –«

»Schscht.« Emily legte den Finger auf die Lippen und starrte ehrfurchtsvoll den neuen Schüler an, der sich gerade in der Klasse umblickte. »Hast du denn gar nicht zugehört, Otto? Albert hat den Jungforscherpreis des englischen Königshauses bekommen. Da habe ich mich auch beworben, aber ich habe es nicht mal in die Vorrunde geschafft. Nur die Besten der Besten dürfen daran teilnehmen.«

»Tja, schon beeindruckend«, antwortete Otto. »Aber dieser neue Lehrer –«

»Ja, ich!«, rief Emily plötzlich lautstark und sprang auf. »Mrs Dimpleby, ich kümmere mich gerne um Albert und zeige ihm unsere Schule. Und ich erkläre ihm natürlich auch gerne, was in nächster Zeit hier alles so ansteht. Zum Beispiel die Lesenacht morgen Abend in der Schule.« Offenbar hatte sie Otto noch nicht mal richtig zugehört.

»Das ist sehr freundlich von dir, Emily«, sagte Mrs Dimpleby wohlwollend und Albert lächelte unsicher. Vor der Klasse schien sich der Junge nicht besonders wohlzufühlen. Er trat nervös von einem Bein aufs andere, bevor er schließlich zu seinem Platz ging und seine Wasserfarben auspackte. Trotzdem bestaunte ihn Emily die ganze Zeit, als sei er das achte Weltwunder.

Otto schmollte. Warum ignorierte seine Freundin ihn einfach? Es mochte ja sein, dass dieser Albert hochintelligent war, doch die aufregendere Frage war ja wohl, warum der Kunstlehrer einfach so Ottos Namen kannte. Warum er sich so merkwürdig altmodisch ausdrückte. Und warum er mit seinem runden Hut, der eleganten Kleidung und dem Regenschirm so gar nicht aussah wie ein typischer Kunstlehrer – eher wie eine schaurige Figur aus einem längst vergangenen Jahrhundert.

Doch Emily schien sich daran nicht im Geringsten zu stören. Sie schien noch nicht mal stutzig zu werden, als Mr Malone die Klasse schließlich aufforderte, sich ein Motiv zu suchen und »irgendein hübsches Ölgemälde« zu malen. Hatte er denn noch nie davon gehört, dass man in der Schule längst nicht mehr mit Öl-, sondern mit Wasserfarben malte?

»Das ist doch nie und nimmer ein richtiger Kunstlehrer«, murmelte Otto, als er die Farben anrührte und anfing, ein Skelett in einer Kutte zu malen. »Ms Singh hat uns immer genaue Anweisungen gegeben, was wir malen sollen.« Er schnaubte. »Ich glaube, Mr Malone versteht von Kunst noch weniger als Mr Pickles. Und das mag was heißen.«

Emily schien noch immer abgelenkt. »Findest du es nicht einfach fabelhaft, dass Albert neu in unsere Klasse gekommen ist? Endlich mal jemand, der mir ebenbürtig ist. Jemand, mit dem ich mich über physikalische Gesetze, den Kosmos oder Astronomie austauschen kann!« Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung.

»Ebenbürtig?«, krächzte Vincent aus Ottos Pullover. Offenbar hatte er sich von seinem Schock, was Ms Singh betraf, ein wenig erholt. »Das soll wohl heißen, dass du dumm wie ein Kartoffelsack bist, Otto. Haha, und ich wette, dein Mathetest ging auch gehörig in die Binsen!«

Otto kniff verärgert die Lippen zusammen und verpasste seinem Skelett eine Sense, die leider ziemlich krumm geriet.

Jetzt drehte Emily sich zu ihm um. »Äh, so habe ich das nicht gemeint, Otto. Ich wollte bloß sagen … du interessierst dich doch viel mehr für Geschichte und Antiquitäten als für Physik.« Flüsternd fügte sie hinzu: »Kein Wunder, wenn man in einem alten Spukhaus wohnt, in dem es vor merkwürdigen Dingen nur so strotzt.« Sie zwinkerte ihm zu, dann stand sie auf, nahm ihren Becher und ging nach vorne, um sich frisches Wasser zum Auswaschen der Pinsel zu holen.

»Ein Spukhaus, so, so«, sagte in diesem Moment eine Stimme direkt neben ihm. Otto fuhr herum. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass Mr Malone an seine Seite getreten war. »Nun, mein Junge, auch ich besitze großes Interesse an Geschichte und Antiquitäten,« sagte der Lehrer und seine blauen Augen blitzten Otto interessiert an. »Ich wäre äußerst erfreut, dir und deiner Tante Sharon bei passender Gelegenheit einen Besuch im Radieschenweg abstatten zu dürfen, Otto.«

Fassungslos starrte Otto seinen Lehrer an. Nun kannte dieser schräge Vogel mit Hut und Regenschirm nicht nur Ottos Namen, sondern auch seine Adresse und den Namen seiner Tante! Und obendrein hatte er auch noch vor, Otto zu besuchen. Der Kerl war echt unheimlich!

»Ähm …«, stotterte Otto hilflos, »… ist das denn wirklich notwendig, Mr Malone?«

Mr Malone verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Aber gewiss. Als euer neuer Kunstlehrer muss ich doch eure Erziehungsberechtigten kennenlernen. Und der nächste Elternsprechtag ist erst im Juni.«

»Ach so.« Otto ließ seinen Blick durch die Klasse schweifen, wo die anderen Kinder dabei waren, vor sich hin zu malen. Ob Mr Malone tatsächlich allen einen Hausbesuch abstattete?

»Na fein. Dann kommen Sie doch einfach vorbei, wenn es Ihnen passt«, gab sich Otto schließlich geschlagen. Was sollte schon passieren? Falls Mr Malone sich komisch benahm, würde Otto einfach die Hausgeister bitten, ihn zu vertreiben.

»Hmmm … ein Sensenmann, sehr interessant …« Malone nahm das Bild, das Otto gemalt hatte, vom Tisch und begutachtete es mit hochgezogenen Augenbrauen. »Du hast offensichtlich eine blühende Fantasie. Was deine Tante wohl dazu –«

In diesem Moment kam Emily mit einem randvollen Wasserbecher zurück, stolperte über Ottos Schulranzen und verlor das Gleichgewicht. »Ups!«, rief sie noch, doch es war bereits zu spät. Wasser spritzte aus dem Becher über Mr Malones rechte Hand.

Malone fuhr herum. »Du … du … dämliches, ungeschicktes Frauenzimmer!« Er durchbohrte Emily mit einem bösen Blick, während er versuchte, die Wassertropfen abzuschütteln.

»Das … das tut mir wirklich furchtbar leid, Mr Malone«, stammelte Emily und wurde knallrot. »Ich hole Ihnen ein Papiertaschentuch, ja?«

»Nein! Geh zurück an deinen Platz«, herrschte der Lehrer sie wütend an. Verlegen stammelte sie weitere Entschuldigungen, doch Otto hörte gar nicht hin, denn seine Arme hatten sich mit Gänsehaut überzogen. Gebannt starrte er auf Mr Malones Hand. Dort, wo das Wasser hingespritzt war, hatte sie ihre Farbe verloren. Darunter war etwas zum Vorschein gekommen, das wie graue, fahle Haut aussah. Graue Haut, die Otto vor einigen Monaten schon mal gesehen hatte. Graue Haut, die ganz bestimmt nicht menschlich war.

Mensch oder Geist?

Eine nordpolare Pigmentstörung? Das ist der größte Stumpfsinn, den ich jemals gehört habe! Als ich vorhin im Computerraum danach gegoogelt habe, gab es noch nicht mal auf Wikipedia einen Eintrag zu dieser merkwürdigen Krankheit, Emily«, empörte sich Otto und pfefferte seinen Schulranzen auf Tante Sharons blank gewienerten Küchenboden. »Dieser schräge Mr Malone kann doch nicht ernsthaft annehmen, dass wir ihm diese Geschichte tatsächlich abkaufen.«

Emily kletterte auf einen der Barhocker am Küchentresen und blickte Otto nachdenklich an. »Noch dazu hat er ganz plötzlich begonnen zu stottern, obwohl er davor gar nicht den Eindruck gemacht hat, auf den Mund gefallen zu sein. Außerdem haben sich seine Pupillen erweitert und er hat angefangen, am Haaransatz zu schwitzen. In der Kriminalistik ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Tatverdächtige lügt!«

Eine Lüge. Otto ballte die Hand zur Faust, als er wieder daran dachte, wie Malones Haut durch Emilys Wasserdusche urplötzlich ihre Farbe verloren hatte. Die gräulich schimmernde Schicht, die darunter zum Vorschein gekommen war, hatte Otto und Emily in einen regelrechten Schockzustand versetzt. Sprachlos hatten sie die Hand ihres Lehrers angestarrt, bis der schließlich zu einer Erklärung angesetzt hatte.

Eine seltene Pigmentstörung. Otto hatte in einem von Emilys Wissenschaftsmagazinen gelesen, dass manche Menschen oder Tiere mit einem Defekt in ihrer DNA geboren wurden und deshalb nahezu weiße Haut besaßen. In manchen Fällen hatte der Betroffene sogar rote Augen. Albino war der Fachbegriff für dieses Phänomen.

War Mr Malone also ein Albino? Seine Augen waren nicht rot, sondern leuchtend hellblau. Vielleicht trug er aber auch farbige Kontaktlinsen – er benutzte ja schließlich auch pfirsichfarbene Schminke für seine Haut. Allerdings hätte er wohl besser wasserfeste Schminke kaufen sollen.

»Also, wenn ihr mich fragt, ist die Sachlage vollkommen klar, Leute.« Vincent baumelte mit verschränkten Flügeln vom Lampenschirm über den Köpfen der anderen. »Mr Malone ist ein Geist. Vielleicht sogar ein Poltergeist. Er hat Ms Singh entführt und macht sich nun einen Spaß daraus, dich und Emily im Kunstunterricht irgendwelche sinnlosen Bilder malen zu lassen. Die verkauft er dann auf dem Schwarzmarkt für hohe Summen als unentdeckte Kunstwerke Picassos.« Überzeugt nickte er Otto und Emily zu. »Und ich habe auch schon eine Idee, was wir mit diesem elenden Kidnapper anstellen können.«

Skeptisch blickte Emily zu ihm hoch. »Und die wäre?«

»Ich beiße ihn ins Ohrläppchen. So fest, bis er weint und Ms Singh freilässt. Meine Ms Singh, wohlgemerkt. Und dann schleife ich ihn an seinem leichenblassen Ohr bis direkt vor die örtliche Polizeidienststelle. Wo sie ihn verhaften und in ein Gefängnis aus Aluminiumgitter stecken werden.« Sehnsuchtsvoll blickte er an die Decke. »Oh Sanya, meine wunderbare Traumfrau. Wo bist du nur? Bist du wohlauf? Für dich flattere ich bis nach Indien, und noch viel weiter, so weit mich meine Flügel tragen –«

Otto schnaubte genervt. »Bitte, Vincent, werde nicht wieder poetisch«, unterbrach er seine Hausfledermaus. Nachdem Mrs Dimpleby heute Vormittag Ms Singhs Verlobung bekanntgegeben hatte, hatte Otto gehofft, Vincents Schwärmerei würde endlich ein Ende haben – doch da hatte er sich wohl zu früh gefreut. »Vincent, Ms Singh ist nicht in Gefahr, sondern trägt vermutlich in diesem Augenblick einen hübschen Sari und erlebt in Indien den schönsten Tag ihres Lebens. Hast du Mrs Dimpleby etwa nicht zugehört?«

»Pff!«, machte Vincent. »Die alte Dumpfnudel steckt da garantiert auch mit drin. Sie und Mr Malone. Die haben sich gegen mich und Ms Singh verschworen, um unsere Liebe zu sabotieren.« Wehmütig legte er sich den Flügel aufs Herz. »Ein großes Kompott.«

»Du meinst wohl Komplott«, korrigierte Emily.

»Kompott, Komplott, wie auch immer.« Vincent brummte, flatterte zum Kühlschrank und bemühte sich, den Griff mit seinen Fledermausflügeln zu öffnen. Es gelang ihm nicht. »Jedenfalls habe ich Hunger. Hat Tante Sharon diesmal endlich was Anständiges eingekauft? Spinnen? Fliegen? Wobei … ich wäre auch schon mit ein paar staubtrockenen Maden zufrieden.«

Otto starrte ihn an. »Du kannst doch nicht schon wieder hungrig sein, nachdem du vorhin auf dem Dachboden der Schule sämtliches Ungeziefer vertilgt hast.«

»Doch. Ich bin sportlich aktiv und brauche daher regelmäßig Eiweiß und Kohlenhydrate. In Form von Maden. Und bei meiner Figur kann ich es mir leisten«, erklärte Vincent und rammte seine Fledermauszähne in eine braun gefleckte Banane, die neben dem Kühlschrank in einer Obstschale lag. Er verzog das Gesicht. »Igitt, das schmeckt ja widerlich. Wer isst denn so was?«

»Die muss man ja auch schälen«, erklärte Otto in Gedanken versunken, schälte die Banane und legte sie vor Vincents Nase, der sie gierig verschlang. So nervig Vincent manchmal auch sein konnte, etwas, das er vorhin gesagt hatte, hatte Otto zu denken gegeben. »Wenn man mal Ms Singhs an den Haaren herbeigezogene Entführung außer Acht lässt, finde ich deine Theorie gar nicht mal so übel, Vincent,« sagte er schließlich.

Vincent kletterte aus der Obstschale und spähte in Ottos Richtung. »Ja, nifft wahr? Iff bin ein Genie«, murmelte er, ein Riesenstück Banane im Mund. Eilig schluckte er herunter, bevor er weitersprach. »Ich sag ja, gefälschte Picassos. Deine künstlerischen Fähigkeiten lassen zwar zu wünschen übrig, mein Freund, aber Picasso hatte ja auch nicht wirklich viel drauf. Reichlich überbewertet.«

»Doch nicht die Theorie mit den gefälschten Kunstwerken, Vincent. Die ist ausgemachter Blödsinn«, korrigierte ihn Otto. »Sondern die, dass es sich bei Mr Malone um einen Geist handelt. Jemand, der in Wirklichkeit bereits tot ist. Was auch erklärt, warum Mr Malone spricht und aussieht, als sei er einem Historienfilm entstiegen. So ähnlich wie Sir Tony.«

In diesem Augenblick spähte Sir Tony in die Küche. Seine dicke Nase und sein runder Hut waren mit Ruß geschwärzt, vermutlich hatte er sich wieder im Kamin verkrochen. »Also zum einen, meine Freunde, ist niemand auf Erden oder im Jenseits so ähnlich wie ich. Ich bin einzigartig! Ich verbitte mir jeglichen Vergleich, egal ob mit lebenden oder toten Personen«, schnaufte Ottos ältester Hausgeist mit erhobenem Zeigefinger. »Und zum anderen kenne ich alle Geister hier in der unmittelbaren Umgebung. Aber ein Geist namens Mr Malone ist mir noch nie untergekommen.«

Otto nickte. »Außerdem sind Geister unsichtbar. Niemand außer mir kann sie sehen und hören. Wie soll Mr Malone es dann angestellt haben, sich als Geist vor allen Schülern meiner Klasse sichtbar –«

»Sir Tony? Bist du hier?«, fiel ihm Emily ins Wort, die mitbekommen hatte, dass Otto mit einem Geist sprach. Damit erinnerte sie ihn wieder mal daran, dass tatsächlich nur Otto seine Hausgeister sehen und hören konnte – zumindest mit bloßem Auge. »Oh, Otto, bitte hol mir die Geisterbrille, ich habe Sir Tony schon ewig nicht mehr gesehen. Und ich würde zu gerne erfahren, was er zu unserem oberschrägen Kunstlehrer zu sagen hat.«

Otto kratzte sich verlegen im Nacken. »Ähm, da gibt es leider ein klitzekleines Problem, Emily«, gab er zu. »Seit ich Tante Sharon von den drei Hausgeistern erzählt habe, rückt sie Onkel Archibalds Geisterbrille nicht mehr raus. Sie sagt, sie fühle sich unbehaglich, wenn sie die Geister nicht sehen könne. Deshalb trägt sie dieses hässliche Ding neuerdings immer und überall im Haus. Selbst wenn sie schläft.«

Emily seufzte. »Oh, Otto, vielleicht hättest du die Existenz der Geister doch lieber für dich behalten sollen«, überlegte sie. »Deine arme Tante. Bestimmt schlottert sie nachts vor Angst.«

Otto warf seiner Freundin einen kurzen Blick zu. Vermutlich lag Emily damit gar nicht so falsch. Seit Tante Sharon von den Geistern wusste, sprach sie von nichts anderem: davon, was für Menschen Sir Tony, Bert und Molly wohl gewesen waren, als sie noch gelebt hatten. Davon, ob eigentlich alle verstorbenen Menschen zu Geistern wurden. Und davon, wie sich ein Geisterleben eigentlich anfühlte. Otto wurde das Gefühl nicht los, dass sich, seit Sharon von den Geistern wusste, noch mehr Fragen aufgetan hatten, die er ihr früher oder später beantworten musste. Und dass er ihr wohl oder übel bald von dem Sensenmann erzählen musste, mit dem er sich vor etwas über einem halben Jahr angefreundet hatte. Und von dem geheimen Portal in ihrer Pendeluhr, durch die »Scary Harry« jede Nacht Seelen in Gurkengläsern ins Jenseits schickte. Und nicht zuletzt von Onkel Archibald, der sich quicklebendig im Jenseits befand und immer noch nach einem Weg suchte, zu seiner großen Liebe Sharon zurückzukehren.

»Ich weiß, Emily«, antwortete Otto schließlich und blickte verlegen zu Boden. »Aber mir blieb keine andere Wahl. Wüsste Tante Sharon nicht die Wahrheit über die Geister, hätte sie die Villa aus Angst vor drei bösartigen Poltergeistern verkauft. Und ich würde nun in London leben und wir beide würden uns nur noch in den Sommerferien sehen. Da ist die Wahrheit über die Geister doch das geringere Übel.«

Emily brummte. »Ja, das stimmt. Obwohl ich die Geisterbrille schon gerne wieder mal aufsetzen würde. Ich vermisse es, Sir Tony, Bert und Molly zu sehen.«

»Sieh es positiv, Emily. Mich kannst du auch ohne Brille sehen«, grinste Vincent, der inzwischen die halbe Banane verputzt hatte und pappsatt in der Obstschüssel faulenzte.

Emily warf ihm einen kurzen Blick zu, doch sie antwortete nicht. Vermutlich wollte sie Vincents Gefühle nicht verletzen. Otto überlegte gerade, unter welchem Vorwand er Tante Sharon die Geisterbrille abluchsen konnte, da hörte er, wie sich der Haustürschlüssel im Schloss drehte. Wenige Augenblicke später lugte Tante Sharon um die Ecke. Sie trug nicht nur die Geisterbrille auf der Nase, sondern auch zwei randvolle Einkaufstüten in ihren Händen.

»Hallo, Tante Sharon!«, rief Otto und schaffte es gerade noch, Vincent in die Bestecklade zu stopfen. Von der Hausfledermaus wusste sie nämlich auch noch nichts.

»Hallo, Otto. Hallo, Emily.« Tante Sharon klang verunsichert. Zögerlich machte sie einige Schritte in den Raum und sah sich über die Einkaufstüten hinweg in ihrer Küche um. »Sag schon, lauert er da irgendwo? Oder ist er … endlich weg? Steckt er vielleicht … hinter den Vorhängen? Oder im Mülleimer? Habt ihr da schon nachgesehen?«

Otto und Emily warfen sich verwirrte Blicke zu.

»Wen meinst du, Tante Sharon?«

»Na, den Geist, der mich andauernd terrorisiert. Ständig hüpft er mir vor die Nase, immer dann, wenn ich mich gerade konzentrieren muss. Zum Beispiel, wenn ich auf Archibalds wackeliger Leiter stehe, um den Kronleuchter zu putzen. Oder wenn ich Teewasser aufgieße. Erst gestern hätte ich mich um ein Haar verbrüht!«

»Hahaha!«, krähte es aus dem Kamin. »Endlich schaffe ich es, der alten Schnalle Angst einzujagen. Also bin ich doch das gruseligste Spukgespenst auf diesem Planeten. Muahahaha!«

Otto, Tante Sharon und Emily sahen einander an, während Sir Tonys höhnisches Lachen durch den Schornstein hallte.

»Äh, Sir Tony, Tante Sharon kann dich mit der Brille nicht nur sehen, sondern auch hören«, erinnerte Otto seinen Hausgeist, als der sich von seinem Lachanfall erholt hatte. »Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nett zu Tante Sharon sein sollst? Sie ist Geister nun mal nicht gewohnt.«