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Kurt Lehmkuhl

Kohlegier

Kriminalroman

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Zum Buch

Braunes Gold Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Rudolf-Günther Böhnke muss, auf Bitte seiner Lebensgefährtin Lieselotte Kleinereich, den idyllischen Eifelort Huppenbroich verlassen, um den vermissten Studenten Paul Mertens aus Aachen zu suchen. Als der ermordet wird, gerät Konrad Bauer, ebenfalls RWTH-Student, in Verdacht. Er verschwindet spurlos. Nach dem Mord an einem zweiten Studenten erkennt Böhnke ein System: Der erste Student wurde im Bereich Garzweiler II ermordet und recherchierte über die Problematik des Tagebaus Inden. Der zweite befasste sich mit dem Tagebau Garzweiler II und wurde am Tagebau Inden ermordet. Bauer beschäftigte sich mit dem Tagebau Hambach. Das lenkt den Verdacht auf einen Promotionsstudenten aus Köln, der befürchten muss, dass die drei Studenten aus Aachen mit ihren Ergebnissen seine Promotionsarbeit infrage stellen könnten. Aber ist er tatsächlich der Täter? Oder doch Bauer? Böhnke hat nicht nur daran Zweifel, sondern im Zuge seiner Ermittlungen auch daran, ob der Braunkohletagebau im Rheinischen Revier noch zeitgemäß ist.

Kurt Lehmkuhl, 1952 in der Nähe von Aachen geboren, war mehr als 30 Jahre lang als Redakteur im Zeitungsverlag Aachen tätig. Durch die Beschäftigung mit dem Strafrecht, im Rahmen seines Jurastudiums, hat er sehr früh damit begonnen Kriminalromane zu schreiben. Die Texte waren zunächst nur als Geschenke für Freunde gedacht. Zur ersten Veröffentlichung kam es eher zufällig. Inzwischen hat Kurt Lehm­kuhl über 20 Romane veröffentlicht. Der Journalist und Schriftsteller ist auch als Volkshochschuldozent für kreatives Schreiben tätig.

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Teka77 / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4906-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

1. Kapitel

Was sollte dieser Unfug? Typisch Frau.

Er schmunzelte. Er war zu gut drauf, um sich über diese kleine Störung zu ärgern. Kaum hatte er sich von ihr nach dem Frühstück verabschiedet und fuhr in Richtung Düsseldorf, da meldete sie sich auch schon mit einer Nachricht auf seinem Handy. Wie immer mit unterdrückter Rufnummer und ohne Namen. Aber wer sonst außer sie sollte bei ihm um diese frühe Zeit anklopfen?

»Ich habe noch eine Überraschung für dich. Wir treffen uns gleich auf der Autobahnraststätte Ruraue. Ganz am Ende, wo das Klettergerüst für Kinder steht.«

Auf die Überraschung war er gespannt. Viel Zeit hatte er nicht. Sein Flugzeug, das ihn in den Urlaub auf Fuerteventura bringen sollte, würde seinetwegen nicht warten. Aber er kannte seine Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie nicht scherzte. Sie würde tatsächlich am Treffpunkt auf ihn warten und wäre garantiert nicht zu Scherzen aufgelegt, wenn er nicht anhielte.

Ob sie in einem der Fahrzeuge saß, die ihn auf der Autobahn überholten, oder ob sie auf anderen Strecken zur Raststätte kommen würde, darüber machte er sich keine Gedanken. Sie fand immer Mittel und Wege, ihr Ziel zu erreichen.

Der Verkehr auf der A 44 von Aachen in Richtung Norden hielt sich bei Tagesanbruch noch in Grenzen. Auf dem Rastplatz bei Jülich parkten verstreut nur einige wenige Pkws. Er war langsam an dem kleinen Restaurant vorbeigefahren, als er endlich das Wohnmobil erkannte, das rechts vorne neben dem im Sand installierten Metallgestänge auf der Fahrbahn stand.

Bestimmt hatte sie diese Stelle gemeint. Knapp hinter dem Wohnmobil hielt er an und wunderte sich, dass hinter ihm ein weiteres Fahrzeug stoppte. Unvermittelt war er eingeklemmt. Ehe er etwas sagen konnte, war ein Mann auf seinen Beifahrersitz gesprungen.

»Was willst du denn hier?«, fragte er verwundert.

Die Antwort bestand in einer Pistole, die ihm an den Kopf gehalten wurde. »Schnauze. Fahr weiter.«

»Wohin?«

»Das wirst du noch früh genug merken.«

2. Kapitel

»Commissario, dein kriminalistischer Spürsinn ist gefragt.« Die Dringlichkeit, mit der ihre Stimme aus dem Telefon klang, ließ keinen Widerspruch zu.

»Ist nicht. Ich bin im Ruhestand«, knurrte Böhnke widerstrebend in dem Wissen, dass er schon verloren hatte, bevor er überhaupt wusste, was genau Lieselotte von ihm wollte.

Die von ihm erwartete Antwort kam prompt: »Ist wohl. Du hast lange genug auf deiner faulen Haut bei freier Kost und Logis in meinem Haus herumgelungert. Ich habe Arbeit für dich, mein Freund.«

»Und was?« Das wenig erbauliche Telefonat störte ihn bei der Lektüre eines Zeitungsartikels aus dem Plangebiet des Braunkohlentagebaus Garzweiler II, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte. »Mach schon!«, forderte er Lieselotte auf.

»Also, es handelt sich um eine gute Kundin, oder besser gesagt um die Tochter einer guten Kundin. Ach nee, eigentlich um den Freund der Tochter der Kundin. Und jetzt macht man sich Sorgen.«

»Wer?« Böhnke musste sich zwingen, nicht ungehalten zu werden. Lieselotte nervte ihn in ihrer Umständlichkeit. »Wer macht sich Sorgen? Die Kundin oder die Tochter der Kundin oder der Freund der Tochter der Kundin?«

Wieder erhielt er die Antwort, auf die er hätte wetten können; immerhin kannte er seine Liebste und ihre Eigenarten schon seit mehr als zwei Jahrzehnten: »Alle.«

»Und warum machen sich alle Sorgen?« Böhnke stöhnte ins Telefon.

»Weil der junge Mann verschwunden ist. Und keiner weiß, wo er ist.«

»Super«, feixte Böhnke, »und darum bittet dich deine Kundin, respektive die Tochter der Kundin oder vielleicht auch beide, ich solle mich gefälligst auf die Suche nach dem Jüngling machen.« Der habe sich wahrscheinlich mit seiner Freundin zerstritten und sich aus dem Staub gemacht, vermutete er laut. »Am besten geben die eine Vermisstenanzeige auf und kaufen bei dir Beruhigungspillen.«

»Rudolf-Günther, du nimmst mich nicht ernst.« Lieselottes Tonfall wurde streng; verbunden mit der seltenen Nennung seines Vornamens ein untrügerisches Zeichen dafür, dass es weder Zeit für Scherze noch für Belanglosigkeiten gab. Ohne Vorankündigung legte sie auf, und Böhnke wusste, worauf er als Nächstes würde wetten können.

Seufzend legte er das Telefon beiseite und griff erneut zur Zeitung. Eine knappe halbe Stunde würde ihm für die Lektüre bleiben, schätzte er, während er nach dem Artikel suchte.

Wie die Zeitung berichtete, hatte es am Vortag einen Leichenfund gegeben, in der Nähe der Abbaukante des Tagebaus Garzweiler II, der sich langsam und scheinbar unaufhaltsam gen Westen in Richtung Erkelenz schob. Bei Reinigungsarbeiten im Autobahndreieck Jackerath in der Nähe von Immerath hatten Mitarbeiter der Straßenmeisterei im Regenüberlaufbecken ein Fahrzeug entdeckt und sofort eine Bergung veranlasst. Das durchschimmernde Dach des Wagens knapp unterhalb der Wasseroberfläche war ihnen aufgefallen. Sie waren davon ausgegangen, dass irgendjemand seinen alten Karren billig entsorgen wollte, anstatt ihn zum nur ein paar Meter entfernten Schrottplatz zu bringen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass das Wasserbecken als Mülldeponie missbraucht worden wäre. Im Modder entdeckten sie immer wieder ausgediente Rasenmäher oder Fahrräder, Mopeds oder Fernsehgeräte. Sogar die Überreste eines Schweins waren ihnen schon in die Hände gekommen. Ziemlich sicher konnten sie davon ausgehen, dass der Wagen nicht nach einem Unfall auf der Autobahn in den künstlichen See gestürzt war. Zwischenfälle jeglicher Art waren in den letzten vier Wochen nicht gemeldet worden, wie die Zeitung mit einem Hinweis auf die Presseberichte der Autobahnpolizei schrieb. Außerdem hätte es nach einem Unfall an den Bäumen und den Büschen zwischen der Fahrbahn und dem tiefer gelegenen Wasserbecken Spuren gegeben, abgeknickte Äste oder zerfetztes Buschwerk. Ein schleuderndes Auto hätte eine Schneise in die Anpflanzung geschlagen, die jedem in der benachbarten Straßenmeisterei Jackerath aufgefallen wäre. Insofern sprach alles dafür, dass der Wagen in voller Absicht bis ans Ufer gefahren und dann im Wasser versenkt worden war.

Doch nachdem ein Kran das Gefährt an Land gehievt hatte, mussten sich die Männer erschrocken eingestehen, dass sie mit ihrer Vermutung danebenlagen. Einen schwarzen Polo der aktuellen Baureihe hatte der Kranführer am Haken. Mit dem Öffnen der Fahrertür schoss ihnen nicht nur ein Wasserschwall entgegen, es kippte ihnen auch ein Körper vor die Füße. Damit war aus der illegalen Müllentsorgung ein makabrer Todesfall geworden, wie die Zeitung wahrscheinlich ungewollt zynisch erläuterte.

Despektierlich wirkte auf Böhnke sogar die Bemerkung: ›Der sofort herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des Fahrers feststellen.‹ Es handelte sich um einen Mann, so viel konnte und wollte die Polizei mitteilen. Wer der Tote war, und seit wann der Polo im Wasser lag, müsste noch ermittelt werden, erklärte der Pressesprecher. Auch könne nicht gesagt werden, dass der Fahrer zugleich der Halter des Wagens sei.

Wahrscheinlich, so vermutete der Reporter, stammte der Tote aus der Stadt oder der Städteregion Aachen. Mit dem Hinweis auf einen Zeugen, womit er im Prinzip jeden am Fundort meinen könnte, schrieb er, dass das Fahrzeug ein AC-Kennzeichen besitze. Abschließend ließ er sich zu einer Behauptung hinreißen, die nur dem Zweck diente, den neugierig gemachten Leser dazu zu verleiten, am nächsten Tag wieder zur Zeitung zu greifen. ›Ob der Fahrer bei Bewusstsein oder eventuell alkoholisiert war, als er in das Becken fuhr, ist eine der Fragen, die wir in einer der nächsten Ausgaben vielleicht beantworten können.‹

Böhnke hingegen stellte sich nach dem Telefonat mit seiner Partnerin eine ganz andere Frage.

3. Kapitel

Die Wette, die ihm mit Sicherheit von keinem Wettbüro der Welt angeboten worden wäre, hätte er garantiert gewonnen. Auf seine Lieselotte war halt Verlass.

»Commissario, dein kriminalistischer Spürsinn ist gefragt.« Exakt eine halbe Stunde nach dem ersten Telefonat meldete sich seine Lebensgefährtin wieder. Diesmal in einem ruhigen Tonfall und eher bittend, statt fordernd.

»Wie kann ich dir helfen, meine Liebe?« Böhnke gab sich entgegenkommend. Von vornherein ihr Anliegen abzulehnen oder schroff zu wirken, hätte das Gespräch wahrscheinlich sehr schnell in eine hitzige Atmosphäre gelenkt. Darauf konnte er gerne verzichten. »Was gibt es?«

»Du musst Paul Mertens suchen.«

Bei diesem Paul Mertens konnte es sich im Prinzip nur um den Freund der Tochter der Kundin handeln, dachte sich Böhnke, bevor Lieselotte fortfahren konnte.

Wie von ihm erwartet, bestätigte sie seinen Gedanken. »Paul Mertens ist der Freund von Susanne Brettschneider. Das ist die Tochter meiner Kundin Gerda Brettschneider.«

Okay, hätte er am liebsten unterbrechend eingeworfen, weil er befürchtete, dass er sich zunächst einen medizinischen Exkurs über den Gesundheitszustand von Gerda Brettschneider anhören musste und über die Medikamente, die die Frau in der Apotheke von Lieselotte Kleine­reich erhielt. »Sie gehört schon seit Jahrzehnten zu meinem Kundenstamm, und ich kenne auch Sabine, seit sie ein kleines Kind war. Da gibt es ein gewisses Vertrauensverhältnis. Und da die beiden wissen, dass du mal bei der Kripo warst, haben sie mich einfach gefragt, ob du nicht mal deine Fühler ausstrecken kannst.«

»Nach Paul Mertens.«

»Genau. Der junge Mann ist von jetzt auf gleich spurlos verschwunden. Ohne ein Abschiedswort zu hinterlassen und ohne einen Hinweis.«

»Sagen die Frauen?« Böhnke fragte vorsichtig nach. Bei Lieselottes Fantasie konnte er auf manche Überraschung gespannt sein.

Prompt schränkte die Apothekerin ein. »Das habe ich mir gedacht, nachdem sie mir gesagt haben, dass er sich seit fast drei Wochen nicht gemeldet hat.«

»Das ist dann also deine Interpretation. Na gut.« Er bremste sich in seiner Belehrung. »Wie auch immer. Susanne Brettschneider hat also ihren Freund vor knapp drei Wochen das letzte Mal gesehen. Richtig?«

»Richtig.«

»Was hatte er denn vorgehabt?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, antwortete Lieselotte leicht aufbrausend mit einer Gegenfrage. »Ich weiß nur, dass er Student ist.«

»Es hätte ja sein können, dass deine Kundin was gewusst und dir gesagt hätte«, sagte er bedächtig. Er hatte einfach keine Lust, mit Lieselotte in einen erregten Disput zu geraten. Er wusste, was er tun würde, aber er wollte seiner Liebsten die Möglichkeit geben, ihm den entsprechenden Vorschlag zu machen. »Was meinst du denn, wie ich helfen kann?«

»Am besten ist wohl, du redest selbst mit Susanne Brettschneider, und dann kannst du ja entscheiden, ob das ein Fall für deine ehemaligen Kollegen ist«, schlug sie erwartungsgemäß vor. »Ich habe auch schon einen Termin ausgemacht. Morgen um 15 Uhr in meiner Apotheke. Du musst ja sowieso nach Aachen. Oder hast du deinen Arztbesuch schon wieder vergessen?«

»Der ist um 14 Uhr«, antwortete er. Er musste schmunzeln, genau an diese Terminabfolge hatte er gedacht. Er würde sich gerne mit der jungen Frau unterhalten, meinte er. Nach kurzer Überlegung schob er noch eine Frage nach: »Weißt du vielleicht, was für ein Auto ihr Freund fährt?«

»Kann ich dir sagen«, sagte Lieselotte erstaunlich schnell. »Der fährt einen schwarzen Polo mit Aachener Kennzeichen, so wie ich. Ich weiß das, weil er ein paar Mal Frau Brettschneider zur Apotheke gefahren hat. Sie hat ihn mir dann stolz als ihren zukünftigen Schwiegersohn vorgestellt.«

Böhnke stöhnte. Jetzt hatte er Liselotte wieder auf ein für ihn falsches Gleis gesetzt. Sie würde ihm wahrscheinlich langatmig einen Vortrag über das Familienleben der Brettschneiders der letzten Jahrzehnte mit Hochzeiten und gescheiterten Hochzeiten halten, als wenn ihn das auch nur die kleinste Bohne interessieren würde.

Aber sie überraschte ihn. »Warum willst du das wissen?«, fragte sie verblüfft.

Das gehöre schon zu seiner Recherche, antwortete er ausweichend. Er wollte Lieselotte nicht beunruhigen, zumal sie offensichtlich noch nichts wusste von dem Toten im Regenüberlaufbecken am Autobahnkreuz Wanlo. Darüber hatte zwar ein Bericht im Regionalteil der Aachener Zeitung gestanden. Aber jemand wie seine Liebste, die im Prinzip niemals aus ihrer Heimatstadt herausgekommen war, las nur den Aachener Lokalteil. Sie interessierte sich wie viele der Öcher einfach nicht für das, was sich außerhalb ihrer Kaiserstadt ereignete.

Böhnke jedenfalls konkretisierte für sich seine Frage, nachdem er zwei Fakten kannte: fast drei Wochen verschwunden, und schwarzer Polo mit AC-Nummernschild.

Handelte es sich bei dem Toten am Tagebaurand möglicherweise um Paul Mertens?, fragte er sich zum zweiten Mal.

4. Kapitel

Das ungewisse Schicksal von Mertens bereitete ihm keineswegs eine unruhige Nacht. Zwar ließ es ihn, allein schon wegen Lieselottes Einsatz für dessen Freundin Susanne, nicht kalt, aber es beschäftigte ihn nicht nachhaltig. Da hatte es in seiner langjährigen Tätigkeit bei der Kriminalpolizei andere, gravierendere Situationen gegeben, die ihm tatsächlich den Schlaf geraubt hatten. Insbesondere einige Fälle, die er in seiner letzten langjährigen Funktion als Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte bei der Kriminalpolizei Aachen im Polizeipräsidium in der Soers auf den Tisch bekommen hatte, hatten ihm weitaus mehr zu schaffen gemacht; wenn er etwa einen pädophilen Mörder jagte und er den Eltern sagen musste, dass sie ihre Kinder nie mehr wiedersehen würden. Verglichen damit war ein verschwundener Freund nun wirklich kein Grund zu übertriebenem Aktionismus.

Böhnkes Interesse wurde schlagartig größer, als er am Morgen beim Frühstück die Tageszeitung aufschlug. Es gab nichts Neues zu berichten, hieß es im Regionalteil. Warum dann aber ein ellenlanger Artikel über nicht Neues geschrieben werden musste, verwunderte ihn schon. Der größte Teil, das erkannte er schnell, war eine Wiederholung des schon Bekannten.

Lediglich neu war die Mitteilung, dass die Polizei bislang keine Angaben über den Toten machen könnte, weil zum einen noch kein Obduktionsergebnis vorliegen würde, und zum anderen die Auswertung des Fahrzeugs, der darin befindlichen Gegenstände und der Kleidung des Mannes nicht abgeschlossen sei. Die Argumentation kam Böhnke fadenscheinig vor. Ausweis, Führerschein, Geldbörse, eventuell einen Koffer oder eine Tasche hätten die ehemaligen Kollegen doch längst überprüfen können, dachte er sich.

Offensichtlich hatte die Argumentation aber dem Journalisten genügt. Der Mann begeisterte sich vielmehr an seiner Recherche über die mögliche Zeit, die der Wagen in dem Überlaufbecken gelegen hatte. Dank der Unterstützung eines Meteorologen hatte er die Niederschlagsmengen der letzten Wochen ermittelt und war zu der Erkenntnis gekommen, dass der Zeitraum zwischen zwei und drei Wochen liegen müsste. Das ergebe sich, so seine Berechnung, zum einen aus der Niederschlagsmenge, der Verdunstungsmenge, dem aktuellen Wasserstand und dem wahrscheinlichen zum Zeitpunkt des merkwürdigen und zugleich tragischen Unfalls.

Der Journalist schrieb zu Böhnkes Erstaunen von einem Unfall, ohne eine Quellenangabe dafür anzugeben. Schlüssig hingegen schien seine Rechenaktion, die sogar von der Polizei bestätigt wurde. Vor drei Wochen sei der Wasserstand in dem Becken so niedrig gewesen, dass ein Auto nur bis knapp unterhalb der Oberfläche hätte versinken können. Dann hätte es den ersten großen Regen gegeben und den Anstieg des Pegels. In den Tagen danach sei im Prinzip mehr Regen gefallen als Wasser verdunstet, und erst im Laufe der aktuellen Woche sei der Wasserstand wieder auf denjenigen vor drei Wochen gefallen. Verbunden mit der Annahme, der Wagen mit der Leiche habe sich schon seit längerer Zeit in dem Becken befunden, liege die Annahme auf der Hand, man müsse von einer Dauer von zwei bis drei Wochen ausgehen.

Ein Indiz mehr, dass es sich um Paul Mertens handeln könnte, überlegte Böhnke. Mehr aber auch nicht. Unabhängig von dieser Vermutung beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Warum ließ sich die Polizei so viel Zeit bei der Identifizierung des Mannes? Und warum gab sich die Zeitung klaglos mit dieser Vorgehensweise zufrieden? Wahrscheinlich wusste die Polizei mehr, und ebenso wahrscheinlich war es, dass der Journalist eingeweiht war und mit der Zusage geködert worden war, er würde später als Erster und Einziger von der Polizei über die tatsächlichen Umstände des als Unfall bezeichneten Zwischenfalls informiert. Die Methode war Böhnke nicht fremd. Er hatte sie auch schon praktiziert bei Erpressungen, aber auch bei Mordermittlungen, bei denen die Presse darum gebeten wurde, bestimmte Informationen nicht zu veröffentlichen, weil sie Täterwissen beinhalteten oder dem Täter nutzen könnten. In aller Regel hielten sich die Journalisten an diese Bitte, weil sie wussten, bei anderer Gelegenheit bevorzugt bedient zu werden.

Damit war aber für ihn immer noch nicht geklärt, ob es sich bei dem Toten nicht doch um Paul Mertens handelte. Diese Information auf dem kurzen Dienstweg zu erhalten, schminkte Böhnke sich ab. Sein ehemals heißer Draht ins Polizeipräsidium nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Dienst war inzwischen erkaltet, und das Verhältnis zu seinem Nachfolger alles andere als kollegial. Da werde er wohl eher einen klärenden Anruf von Lieselotte erhalten, dachte er sich. Sollte der Tote Paul Mertens sein, würde sicherlich bald Susanne Brettschneider Bescheid wissen und über ihre Mutter auch Lieselotte.

5. Kapitel

Das Anschlagen des Telefons kam für ihn nicht unerwartet. Böhnke hatte eigentlich damit gerechnet, dass er noch am Vormittag angerufen würde, aber er musste sich bis nach dem Mittagessen gedulden. Die Zwischenzeit hatte er, jedenfalls in der Sprachregelung seiner Liebsten, sinnvoll genutzt, indem er den längst überfälligen Hausputz vorgenommen hatte. Wenn er schon auf Dauer in ihrem Ferienhaus in Huppenbroich lebte, das zu seinem Hauptwohnsitz geworden war, musste er sich auch um die Sauberkeit und den Erhalt der Immobilie kümmern. Schon vor vielen Jahren hatten sie aus dem leer stehenden, heruntergekommenen Gemäuer, in dem es nach dem Krieg für kurze Zeit einen Hühnerstall gegeben hatte, eine schicke Ferienwohnung gemacht. Nach ihrer Berufstätigkeit wollten sie dort ihren gemeinsamen Lebensabend verbringen. Für ihn war diese Zeit unfreiwillig früher gekommen. Nach seinem krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Dienst hatte er sich in das abgelegene Dorf zurückgezogen, während Lieselotte weiterhin ihre Apotheke in Aachen betrieb. Ihre erweiterte Wochenendbeziehung hatte durchaus Vorteile, wie Böhnke zwischenzeitlich erkannt hatte, und wenn es nur darum ging, abends in Ruhe in der Dorfkneipe einen Plausch zu halten, ohne daran denken zu müssen, dass im ›Hühnerstall‹ jemand auf ihn wartete. In ein paar Jahren würde es auch Lieselotte in ihren kleinen Geburtsort in der Nordeifel zurückziehen. Gerne zu ihm. Ob es dazu kommen würde, stand in den Sternen. Seine ungewöhnliche Krankheit, gegen die die Ärzte keine konkrete Therapie oder ein wirksames Medikament kannten, konnte seinem Leben jederzeit ein Ende setzen. Es konnte aber auch sein, dass er noch einige Jahre vor sich hatte – und von dieser optimistischen Annahme ging Böhnke für sich aus. Für ihn war ein Glas halb voll, nicht halb leer. Er machte sich keine Gedanken mehr über die Zukunft oder über die Zeit, die ihm noch auf Erden blieb. Seine Gedanken kreisten eher um das Aktuelle, um den Arbeitsauftrag von Lieselotte.

Der Anruf bereitete dem Hausputz ein willkommenes Ende. Er war gespannt, was ihm Lieselotte berichten würde, als er mit einem trockenen »Ich höre« das Telefonat annahm.

»Alles andere wäre schlecht«, konterte eine ihm wohlbekannte Stimme, die nicht die seiner Liebsten war. »Commissario, dein kriminalistischer Spürsinn ist gefragt.«

»Schon wieder«, brummte Böhnke in die Muschel. Er sah keinen Grund, den Anrufer zu grüßen, der sich weder vorgestellt, noch einen Gruß abgesondert hatte. Das hätte der Pensionär auch nicht von Tobias Grundler erwartet. Er nahm seinen Freund aus Aachen so, wie er war, ein wenig schnoddrig, ein wenig von sich selbst eingenommen, lässig und fernab von jeglichen Konventionen. Sie hatten sich schon vor Jahren kennengelernt, als er als Kommissar und der viel jüngere Grundler als Rechtsanwalt gemeinsam einige knifflige Verbrechen aufgeklärt hatten. Ihre Freundschaft hatte auch nach seiner Pensionierung Bestand. Vielleicht war sie sogar noch intensiver geworden, dachte sich Böhnke, wenn er auf die letzten beiden Jahre zurückblickte, in denen sie viel zusammengearbeitet hatten. »Warst du bei Lieselotte in der Lehre?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Grundler verblüfft.

»Vergiss es. Warum störst du meine heilige Hausmannstätigkeit?«

»Weil ich dich gerne bei einem Fall dabei hätte.«

Böhnke schwieg zu dieser Antwort. Sollte Grundler doch zunächst konkret werden, dann konnte er immer noch absagen. Andererseits war er sich fast schon sicher, was er tun würde.

»Du kennst bestimmt den Landwirt Karl Bauer bei euch in Huppenbroich«, fuhr Grundler fort, nachdem ihm das Schweigen zu lange wurde. »Der Landwirt hat einen Sohn, der in Aachen studiert.«

»Und der Sohn ist verschwunden«, warf Böhnke schnell dazwischen.

»Nein. Wieso sollte er?«

Der Kommissar wiederholte sich. »Vergiss es.«

»Also, Konrad Bauer ist Student in Aachen und momentan Hausbesetzer.«

»Das hatten wir doch schon einmal«, erinnerte sich Böhnke spontan. »Weißt du noch, damals, als der britische Premierminister den Karlspreis bekommen hat?«

»Commissario, wir leben heute und nicht gestern«, stöhnte Grundler theatralisch. »Das ist jetzt etwas ganz anderes. Bauer und seine Freunde haben kein Haus in Aachen besetzt, sondern eines in Immerath.«

»Und jetzt fehlt ihm das Geld für die Tapete oder was?« Böhnke hatte es sich längst abgewöhnt, sich über seine Unart zu ärgern, die meisten seiner Fragen mit ›und‹ zu beginnen. »Oder hat er kein Geld mehr für eine Zugfahrt von Immerath nach Aachen?«

»Du bist und bleibst ein Witzbold. Immerath hat keinen Bahnhof. Da musst du zuerst nach Erkelenz, glaube ich. Immerath hat gar nichts. Nicht einmal eine Zukunft. Bauer und seine Freunde haben ein leeres Haus in einem nahezu leeren Dorf besetzt, das wegen des Braunkohlentagebaus Garzweiler II abgerissen wird. Jetzt hat er den Werkschutz und die Stadtverwaltung Erkelenz am Hals und etliche Klagen wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und diverser anderer Kleinigkeiten.«

»Warum?«

»Warum er das Haus besetzt hat, oder warum das Dorf überhaupt abgerissen werden muss?«

Böhnke hörte über die Frage hinweg. Immerath, Student, waren die Stichworte, die in ihm den Gedanken auslösten. In der Nähe von Immerath war der Wagen mit dem Toten im Überlaufbecken entdeckt worden. Studenten hatten sich in Immerath eingenistet. Paul Mertens war Student. Ob es da einen Zusammenhang gab?

Die Antwort auf seine Frage war ihm nicht mehr wichtig. »Ich bin dabei. Du wolltest also nach Immerath fahren. Wann geht’s los, mein Freund?«

»Morgen früh gegen acht hole ich dich ab. Auf der Fahrt kann ich dir dann alles erzählen«

»Einverstanden.« Böhnke freute sich über die durchaus willkommene Abwechslung. »Aber unter zwei Bedingungen.«

»Als da wären?«

»Erstens müsste ich um 14 Uhr in Aachen bei meinem Doktor sein, und zweitens musst du bis morgen Früh herausbekommen haben, um wen es sich bei dem Toten aus dem Tümpel am Autobahnkreuz Jackerath handelt. Oder hast du von dem noch nichts gehört?«

Er sei doch nicht vom Mond, entgegnete Grundler. »Warum willst du das wissen?«

»Sag ich dir, wenn wir morgen unterwegs sind.« Böhnke war überzeugt, dass der Anwalt dank seiner guten Beziehungen zu den Ermittlungsbehörden die Informationen herausbekommen würde, die die Zeitung ihren Lesern verschwiegen hatte.

6. Kapitel

»Du siehst gut aus«, meinte Grundler, als er am Morgen Böhnke in Huppenbroich begrüßte.

»Und du wie ein alt gewordener Dauerstudent, du Lügner.« Den Pensionär störte es im Prinzip nicht, wenn Grundler in grauem Sweatshirt und Bluejeans herumlief; auch wenn es nicht die übliche Kleidung eines seriösen Rechtsanwalts einer renommierten Aachener Kanzlei war. Der Jurist war zu seinem Freund Dr. Dieter Schulz zurückgekehrt, nachdem er nach seiner Auszeit zunächst ein eigenes kleines Büro betrieben hatte. Aber der Mann Anfang 40 ließ sich weder in seine Kleiderfragen noch in seine Arbeitsmethoden hineinreden.

Gerne hatte Böhnke die herzliche Umarmung im Hauseingang erwidert. »Hast wohl kein Hemd mehr im Schrank?«, frotzelte er.

»Du hast ja auch keinen Schlips mehr«, entgegnete Grundler grinsend. Die Zeit, in der Böhnke akkurat in Anzug gekleidet seine Arbeit verrichtete, war längst vorbei. Grob kariertes Flanellhemd und Jeans waren seine Alltagskleidung, die er nur dann austauschte, wenn er an der Seite von Lieselotte in Aachen oder bei gesellschaftlichen Ereignissen unterwegs war.

»Wenn du das nächste Mal kommst, dann bitte in einem vernünftigen Wagen«, ächzte der Kommissar, als er sich in den schwarzen flachen Porsche mühte, den sein Freund in der Einfahrt abgestellt hatte. »Das ist nichts für alte, kranke Männer.« Insgeheim freute er sich über Grundlers Bemerkung zu seinem Zustand. In der Tat fühlte er sich wohl und gut, nichts deutete äußerlich auf seine Krankheit hin, und Beschwerden hatte er momentan auch keine.

»Was treibt dich eigentlich dazu, dich um einen kleinen Hausbesetzer zu kümmern?«, fragte er interessiert, während Grundler vorsichtig rückwärts auf die Kapellenstraße einbog. »Das ist doch gar nicht deine Kragenweite, weder Mord und Totschlag noch Erpressung und Raubüberfall. Oder gehen dir die Mandanten aus?«

Schmunzelnd nahm der Anwalt die Frage auf. »Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen kommt mein Mandant aus Huppenbroich, was eigentlich schon Grund genug ist, zum anderen hat es etwas mit dem Braunkohletagebau zu tun.« Seine blauen Augen funkelten. »Wenn ich etwas hasse, dann ist es diese sinnlose Vernichtung unserer Region durch die Tagebaue. Ich kann diesen Schwachsinn vielleicht nicht verhindern, aber ich kann ein paar Nadelstiche setzen.«

»Dann geht es dir also gar nicht um den Hausbesetzer, sondern um deine persönliche Überzeugung?«

»Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen«, antwortete Grundler. »Ich finde es toll, was der junge Bauer macht. Ich werde versuchen, dass er unbeschadet aus dieser Sache herauskommt. Die Sorge seines Vaters, Vorstrafen wegen dieser Aktion könnten sich nachteilig auf die berufliche Zukunft von Konrad auswirken, kann ich durchaus teilen. Den Staatsdienst kann er sich dann ebenso abschminken wie eine Tätigkeit bei einem großen Konzern, der mit dem Tagebaubetreiber RWE Power zusammenarbeitet.«

Er schaute Böhnke an, der sich auf dem Beifahrersitz in dem tief liegenden Sportwagen offensichtlich nicht wohlfühlte. »Außerdem«, fuhr er grinsend fort, »haben sich anscheinend alle Kriminellen aus Aachen zurückgezogen, nachdem sie gemerkt haben, dass du noch auf der Welt bist. Und schließlich gibt mir das Mandat die Gelegenheit, häufiger nach Huppenbroich zu kommen. Ich muss mich doch um unser ›Haus der Stiftungen‹ kümmern und um unseren Repräsentanten vor Ort.«

Die zwei Stiftungen, die in einem alten Haus ihren Sitz hatten, waren auch Böhnke ein Anliegen geworden. Eine der beiden Stiftungen war von Grundlers Partnerin nach einer immensen Erbschaft ins Leben gerufen worden, die andere war auf Initiative von Böhnke gegründet worden. Ihm waren Millionen angeboten und geschenkt worden, nachdem er als Privatmann Verbrechen aufgeklärt hatte. Er gehörte zum Stiftungsrat und hatte die Immobilie in Huppenbroich tagtäglich im Blick, in der er die Organisation erledigte, die Gremien tagten, und in der auch Grundler oft mit Sabine am Wochenende verweilte.

»Du kommst vom Thema ab«, brummte Böhnke. »Du willst doch nur ein wenig Abwechslung.«

»Wie recht du hast«, bestätigte Grundler. »Immer nur Scheidungen und Erbschaftsangelegenheiten, das ist langweilig.«

Böhnke klammerte sich fest, als sie endlich die Autobahnauffahrt Lichtenbusch erreicht hatten und Grundler auf der A 44 das Gaspedal durchdrückte. Bei dem Tempo würde er graue Haare bekommen, wenn er nicht schon welche hätte. »Wie fährst du eigentlich?«

»Schnell und sicher«, antwortete der Anwalt gelassen. »In Richtung Düsseldorf bis zum Autobahndreieck Jackerath, und dann sind wir auch schon fast in Immerath.«

Oder auf dem Friedhof, kommentierte Böhnke für sich. »Sag mal, was kannst du mir denn über den Toten aus dem Wasserbecken flüstern?«

»Nichts«, entgegnete der Anwalt. »Noch nichts. Man hat mir versprochen, dass ich die Informationen heute gegen Mittag bekomme.«

Böhnke gab sich mit der Auskunft zufrieden, obwohl sie sehr vage war. Das ›man‹ war zwar ebenso wenig aussagekräftig wie die Zeitangabe, aber er war sicher, dass ihn sein junger Freund nicht absichtlich vertröstete. Beim morgendlichen Blick in die Zeitung hatte er sich schon gewundert. Keine Zeile war über den merkwürdigen Zwischenfall zu lesen, als sei das Thema nicht mehr von Interesse. Oder es war derart brisant, dass absichtlich alle schwiegen, hatte er gemutmaßt.

»Das scheint eine größere Nummer zu sein«, ließ sich Grundler noch einmal vernehmen, der wohl ahnte, dass seine Antwort nur geringen Informationswert besaß. »Mein Informant muss noch recherchieren. Da sind anscheinend verschiedene Dezernate bei der Kripo beteiligt, und außerdem zanken sich die Staatsanwaltschaften Aachen und Mönchengladbach um eine mögliche Zuständigkeit.«

7. Kapitel

Das sollte ein Dorf sein!

Böhnke rieb sich ungläubig die Augen, als sie Immerath erreichten. Ein angerostetes Ortseingangsschild, auf dem auf die Zugehörigkeit von Immerath zur Stadt Erkelenz hingewiesen wurde, stand windschief am Rand einer nicht gewarteten, von Schlaglöchern übersäten Straße. Verstört erblickte er ein Hinweisschild der Stadt Erkelenz, auf dem darauf hingewiesen wurde, dass eine Zufahrt nur zwischen 6 und 21 Uhr erlaubt sei. Für die Zeit zwischen 21 und 6 Uhr sei eine Fahrt in den Ort nur Bewohnern und Berechtigten mit einer entsprechenden Erlaubnis gestattet.

Wenn es einmal Häuser an den Seiten gegeben haben sollte, war davon nichts mehr übrig. Allenfalls abgesenkte Bordsteine wiesen auf ehemalige Zufahrten hin. Nur wenige vereinzelte Gebäude, zumeist zweigeschossig und aus Backstein, standen an ehemaligen Straßen. Wohin Böhnke auch blickte, er erkannte meistens eingeebnete Flächen, auf denen Gras wuchs. Ab und an erkannte er einen knospenden Busch oder einen Baum. Trist und tot wirkte Immerath. Daran konnten auch die milde Frühlingsluft und die erwachende Natur nichts ändern.

»Hier hat es einmal ein Krankenhaus und den sogenannten Immerather Dom gegeben«, erläuterte Grundler, der Böhnkes Bestürzung bemerkt hatte. »Hier gab es Geschäfte und eine Apotheke, Kneipen und kleine Betriebe. Ist aber alles abgerissen worden. Mehr als 1000 Menschen haben hier einmal gewohnt und gearbeitet. Sie sind fast alle umgesiedelt worden, und manch einer hat seinen Job verloren.« Langsam steuerte er den Wagen über die holprige Straße. »Jetzt gibt es nur noch ein paar Unentwegte oder Unentschlossene, die hier noch hausen. Wohnen kann man das ja nicht nennen.«

»Aber die haben wenigstens Strom und Wasser?«

»Haben die, wenn auch nur notgedrungen«, erläuterte Grundler. »Solange hier noch Hauseigentümer wohnen und das öffentliche Straßennetz noch von der Stadt Erkelenz betrieben wird, solange müssen die Grundversorgung und die Kanalisation aufrechterhalten bleiben. Du kannst gar nicht so schnell gucken, wie hier Tabula rasa gemacht wird, wenn der Bergbautreibende das letzte Haus aufgekauft und die Stadt ihre Einrichtungen abgetreten hat. Eine Woche später wirst du hier gar nichts mehr finden. Dann wirst du an der Zufahrtstraße nicht mehr ein temporäres, sondern ein permanentes Durchfahrt-verboten-Schild finden und den Hinweis, dass du dich auf einem privaten Firmengelände befindest.«

»Und dann kommen die Bagger und graben nach der Braunkohle?«

»Nicht unbedingt.« Grundler schüttelte verneinend den Kopf. »Das kann dann noch Jahre dauern, ehe die Erde aufgerissen wird. Dem Konzern geht es zunächst nur darum, an das Land zu kommen. Der Abbau-Zeitplan ist nur ungefähr und steht auf einem anderen Blatt.« Er lenkte den Sportwagen behutsam um eine Kurve und fuhr auf ein alleinstehendes eingeschossiges Haus zu. »Da müssen wir hin. Diese Hütte wird besetzt.«

Um diese mickrige Bleibe ist es eigentlich nicht schade, dachte sich Böhnke, als er das Gemäuer erblickte. Zwei kleine Fenster flankierten eine alte Holztür, von der schon die braune Farbe abblätterte. Die Ziegel auf dem Dach hatten Moos angesetzt. Das Modernste schien eine Satellitenschüssel zu sein, die sich aus der Verankerung am brüchigen Kamin gelöst hatte und nun, nur vom Kabel gehalten, in der Luft schaukelte.

»Sieht heruntergekommen aus«, meinte Grundler. »Aber das bleibt ja nicht aus, wenn sich niemand drum kümmert und die Nachbarhäuser abgerissen sind. Das Haus gehört übrigens einer Seniorin, die noch nicht verkauft hat. Deshalb wartet man auch mit der Abrissbirne.«

»Darin hat sich jetzt Bauer verschanzt, und die Frau hat ihn wegen Hausfriedensbruch angezeigt?« Böhnke wunderte sich über den Aufwand, den Grundler wegen einer derartigen Lappalie betrieb.

»Nein«, antwortete der Anwalt, während sie ausstiegen. »Die Frau weiß wahrscheinlich gar nichts davon, dass Bauer in dem Haus ist. Die Anzeige wurde, wie es so schön heißt, von ›interessierten Kreisen‹ erstattet. Insofern ist die ganze Sache dubios.«

Kaum hatten sie den Porsche verlassen, da näherten sich zwei Männer in Arbeitskleidung, die offensichtlich in einem an der Seite geparkten Transporter gewartet hatten. Was sie hier wollten, fragte ein stämmiger Kerl grimmig und stellte sich wie sein Kollege breitbeinig vor den Hauseingang. Drohend griffen sie an den Gürtel, an dem sich Schlagstöcke befanden.

Böhnke und Grundler hatten Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. So einfach ließen sie sich nicht von provozierenden Mitarbeitern eines Sicherheitsdienstes aus der Ruhe bringen.

Was sie hier wollten, fragte Böhnke streng zurück, derweil Grundler nach dem Handy griff.

»Was machen Sie?«, fauchte ihn einer der zivilen Schutzmänner an.

Grundler schaute mitleidig zu ihm auf. »Was ich mache? Ich rufe gerade die Polizei an und bitte sie, zu kommen. Denn hier gibt es zwei Typen, die begehen gerade eine Freiheitsberaubung. Das findet Ihr Chef wahrscheinlich gar nicht toll, wenn Sie von der Polizei vernommen werden und eine Anzeige bekommen. Und jetzt Ihre Namen bitte!«

Verächtlich winkte der Mann ab. »Wir sind hier, damit keiner zu Schaden kommt. Aber wenn Sie sich unbedingt die Haxen brechen wollen …« Er gab seinem Kollegen einen Wink und trollte sich zu dem Transporter.

»Da könnte ich kotzen«, schimpfte Grundler. »Die führen sich auf, als gehörte ihnen das Land. Die haben garantiert schon mein Nummernschild notiert und forschen nach.« Er stapfte auf das Haus zu und hämmerte gegen die Tür.

»Herr Bauer, lassen Sie mich bitte herein! Ich bin’s, Ihr Anwalt.«

8. Kapitel

»Schön, Sie hier zu sehen, Herr Böhnke.« Unbefangen begrüßte Bauer den Kommissar. Bereitwillig hatte er die beiden Männer ins Haus eintreten lassen. Der muffige Geruch im schmalen dunklen Hausflur stieg Böhnke sofort unangenehm in die Nase. An die Schummrigkeit musste er sich ebenso gewöhnen wie an die niedrigen Decken in dem kleinen Raum, in den sie Bauer geführt hatte.

»Alles ziemlich provisorisch hier«, meinte der Bewohner entschuldigend. »Das Haus ist heruntergekommen und im Prinzip unbewohnbar.«

»Und dennoch wohnen Sie hier«, unterbrach ihn Böhnke. Er brauchte einige Momente, ehe er wusste, woher ihm der Student trotz des veränderten Aussehens bekannt vorkam. Bauer war einer der Drahtzieher gewesen bei der skurrilen Aktion in Huppenbroich, als die Dorfgemeinschaft mit aller Macht und Raffinesse versucht hatte, eine Thujahecke zu verhindern, die den Anblick und den Ruf des Buchendorfes gestört hätte. Im Nachhinein konnte Böhnke über die erfolgreiche Aktion schmunzeln. Als er erfahren hatte, wer alles dahinter steckte, war ihm nicht zum Lachen zumute gewesen. Da hätte er kurz vor einer Ehekrise gestanden, wenn er denn verheiratet gewesen wäre.

»Sie hausen aber nicht alleine hier?«, fragte Böhnke mit einem suchenden Blick. Die verschiedenen Schuhpaare im Hausflur waren ihm wohl aufgefallen.

»Das stimmt. Mit mir ist ein befreundetes Pärchen hierher gekommen. Die beiden sind unterwegs nach Titz oder Keyenberg, um Lebensmittel zu besorgen.« Bauer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Sie haben natürlich recht mit Ihrer Bemerkung, dass wir hier hausen. Wohnen kann man das bestimmt nicht nennen. Das ist vielmehr ein Ausharren.« Bauer bot ihnen Plätze auf dem ausgebleichten Sofa an, während er selbst mit einem einfachen Holzstuhl vorliebnahm. »Sie sehen ja selbst, dass das eine Bruchbude ist.«

»In der Sie sich illegal aufhalten.« Böhnke hatte keine Lust auf ein Gespräch über die Qualität des Wohnens im Allgemeinen und im Besonderen im fast toten Immerath.

»Davon kann keine Rede sein«, widersprach ihm der Student vehement. »Dieses Haus gehört der Großtante einer Freundin, die es einmal erben soll. Sie hat mir und meinen Freunden erlaubt, sich hier einzunisten.«

Er grinste Böhnke und Grundler an. »Ist das etwa illegal?«

»Sagen wir, es ist zumindest ungewöhnlich, sich hier aufzuhalten«, antwortete Grundler. Er hatte Böhnke beobachtet, der nicht sonderlich begeistert wirkte. Die Umgebung war ungastlich, der Student wirkte nicht nur selbstbewusst, sondern entsprach auch äußerlich nicht der Vorstellung, die sich Böhnke von Studenten machte. Bauer wäre mit seinen langen Rastalocken und dem zersausten Bart bei Böhnke eher als Kommunarde, denn als lernwilliger Student durchgegangen, als den ihn sein Vater unlängst noch in der Gaststätte in Huppenbroich stolz bezeichnet hatte. Das ausgewaschene T-Shirt, das wohl einmal blau gewesen war, die aus der Form geratenen Jeans, die dicken selbst gestrickten Socken und die unvermeidlichen­vermeintlichen Gesundheitssandalen verstärkten bei dem Kommissar den Eindruck.

»Keine Sorge, ich dusche jeden Tag«, versicherte Bauer ungefragt. Er hatte sich seinen Teil bei Böhnkes skeptischer Musterung gedacht.

Grundler räusperte sich. »Wie lange wollen Sie denn hier ausharren?«

»Ich weiß es nicht. Das hängt davon ab, wann die Hütte hier verkauft wird und man mich zwingen wird, den Ort zu verlassen. So lange bleibe ich hier und harre der Dinge und vor allem der Freunde und Journalisten.«

»Wie in Hambach«, meinte Grundler zu Böhnkes Erstaunen.

»Ja, wie in Hambach«, sagte Bauer mit einem Lächeln.

Der Student habe wochenlang in einem Baumhaus im Hambacher Forst gelebt, um gegen die Abholzung des Hambacher Forstes wegen des Braunkohletagebaus Hambach zu protestieren, klärte Grundler den offensichtlich unwissenden Kommissar auf. Erst als der Bergbautreibende mit polizeilicher Unterstützung angerückt wäre und den Baumhäusern mit Kettensägen und Baggern den Garaus bereitet hätte, sei Bauer mit seinen Mitstreitern abgerückt. Einer der Aktivisten hätte sich danach sogar in einer Erdhöhle verkrochen. Nach ihm hätte der Werkschutz noch tagelang gesucht.

»Hast du nichts davon mitbekommen?«

»Nein.« Böhnke winkte ab. Es gab andere Dinge, die ihm wichtiger erschienen als das Leben in einem Baumhaus und die Vertreibung daraus. Und wenn die Angelegenheit wichtig gewesen wäre, hätte die WDR-Lokalzeit darüber berichtet, sagte er sich. Andererseits, wenn er daran dachte, wie viele Journalisten sich ein Zubrot bei Unternehmen und Organisationen verdienten, indem sie Podiumsdiskussionen leiteten oder Gastbeiträge für Firmenzeitungen schrieben, würden sie über eine Sache vielleicht erst dann berichten, wenn es genehm war.

»Und nachdem Sie da weichen mussten, haben Sie es sich hier bequem gemacht?«

Bauer lachte auf. »Das hier ist eine Protestaktion, nachdem ich und meine Freunde einsehen mussten, dass wir in unserem Kampf für den Erhalt des Hambacher Forstes alleine dastanden. Politiker haben eh nichts mit uns im Sinn, und dann ist uns auch noch der BUND gewissermaßen in den Rücken gefallen. Die Umweltschützer hatten vor dem Verwaltungsgericht Aachen gegen die Abholzung geklagt und nach dem Urteil gegen sie auf ein weiteres juristisches Vorgehen verzichtet.«

Kein Wunder, dachte Böhnke. Der BUND wollte sich nicht wieder eine blutige Nase holen, nachdem er im Garzweiler-II-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kläglich gescheitert war. An dieses Verfahren erinnerte er sich, weil darüber in seiner Tageszeitung lang und breit berichtet worden war.

»Der Hambacher Forst ist nicht zu retten und der Tagebau Hambach nicht zu stoppen«, sagte Bauer nüchtern. Erst vor Kurzem und quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit habe die Bezirksregierung Arnsberg, in ganz NRW zuständig für Bergbau, den dritten Rahmenbetriebsplan für die Fortführung des Tagebaus genehmigt. »Dieser Genehmigungsbescheid bildet die Grundlage für den Weiterbetrieb des 1978 begonnenen Tagebaus über 2020 hinaus und bis 2030 innerhalb der durch den Braunkohlenplan vorgegebenen Grenzen«, dozierte der Student.

»Und jetzt versuchen Sie Ihr Glück beim Tagebau Garzweiler?«

»Ja, Herr Böhnke, und ich bin davon überzeugt, dass wir bei diesem Tagebau noch etwas bewirken können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er tatsächlich wie vorgesehen, bis 2030 oder noch darüber hinaus betrieben wird. Ich gehe jede Wette darauf ein, dass einige Dörfer, deren Umsiedlung jetzt noch geplant ist, nicht umgesiedelt werden müssen, weil RWE Power vorher seine Pläne geändert hat.«

Über Sinn und Zweck von Garzweiler II zu streiten, danach stand Böhnke nicht der Sinn. Er hätte ohnehin keine Argumente gehabt, anders als Bauer, der offenbar bestens mit der Materie vertraut war. Er wechselte lieber das Thema.

»Beeinträchtigt diese Aktion denn nicht Ihr Studium?«

Wieder lachte Bauer. »Keineswegs. Man könnte sie sogar als Teil meines Studiums bezeichnen. Ich nutze die Zeit hier, um an meiner Abschlussarbeit zu arbeiten.«

»Was studieren Sie denn?«, fragte Böhnke neugierig. Er hätte Bauer eher in der philosophisch-soziologischen oder vielleicht noch psychologisch angehauchten Ecke vermutet und war über die Antwort doch verblüfft.

»Wirtschaftsgeografie, Geografie und Wirtschaftswissenschaften. Ich bin jetzt im achten Semester und stehe kurz vor dem Abschluss. Im Anschluss habe ich übrigens schon eine Doktorandenstelle an der Uni Bochum. Die wollen unbedingt einiges von mir über die Braunkohle erfahren.«

»Und wie heißt der Titel Ihrer Abschlussarbeit?«

»Die wirtschaftliche Notwendigkeit des Braunkohletagebaus Hambach vor dem Hintergrund der Zunahme der erneuerbaren Energien.«

»Und Sie kommen natürlich zu der Erkenntnis, dass der Tagebau Hambach nicht notwendig ist.« Böhnke gab sich keine Mühe, seine Ironie zu verbergen.

Doch Bauer lachte wieder nur herzhaft auf. »Im Gegenteil, Herr Böhnke. Wir können auch in Zukunft nicht auf den Braunkohletagebau Hambach verzichten. Aber das würde jetzt zu weit führen, Sie ausführlich darüber aufzuklären.«

Er wandte sich Grundler zu, der schweigend dem Gespräch gefolgt war. »Was führt Sie zu mir?«

»Die Sorge Ihres Vaters über Ihr Wohlergehen, und die Befürchtung, Sie könnten sich illegal verhalten.«

»Keine Sorge«, beruhigte Bauer den Anwalt. »In dem Moment, in dem RWE Power im Grundbuch als Eigentümer dieses Grundstückes eingetragen ist, mache ich hier die Mücke. Aber so lange mache ich noch ein bisschen Stimmung.«

»Warum eigentlich?«, platzte Böhnke wieder dazwischen. »Wenn Sie doch für den Tagebau sind.«