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Christina Didszun

Als der Schmerz aufhörte die Seele zu essen

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Christina Didszun

Als der Schmerz
aufhörte die
Seele zu essen

Mein Tor zur Freiheit

unter Mitarbeit von

Regina Seidel

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Bibliographische Information
Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte
bibliographische Daten sind im Internet über
<http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Ich habe das Glück gehabt, einen Menschen zu treffen, der anderen hilft, indem er sie so akzeptiert wie sie sind. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich mein Leben lang darum bemüht hatte, anders zu sein, als ich bin und dass genau darin die Ursache meines Leidens lag.

Zahlreiche Menschen haben mir Mut gemacht, meine Geschichte aufzuschreiben. Dafür danke ich ihnen.

Christina Didszun

1

Die frühesten Erinnerungen aus meiner Kindheit haben sich fest in mein Gehirn und meine Seele eingebrannt. Noch heute schnürt mir das Bild, das vor meinem geistigen Auge aufsteigt, die Kehle zu und dieselben Gefühle wie damals machen sich in mir breit. Ich spüre die gleiche Ohnmacht und Hilflosigkeit, denselben tiefen Schmerz.

Es ist immer die gleiche dramatische Abschiedsszene, die sich unter dem Dach aus dunkelroten Kletterrosen vor dem Haus meiner Großeltern abspielt. Meine Großmutter hält mich fest auf dem Arm und ich brülle wie am Spieß, während sich meine Eltern in Richtung Straße entfernen.

Gleichzeitig mit diesem Bild höre ich die für mich so bedeutungsvollen Sätze: »Du kannst jetzt nicht mitfahren, Mama und Papa müssen arbeiten, Geld verdienen, damit du es später einmal besser hast.« Meine Großmutter, die diese Sätze noch oft wiederholen wird, steht mit mir, diesem in Tränen aufgelösten Häufchen Unglück, auf der obersten Treppenstufe vor ihrem kleinen Einfamilienhaus. Zwischen meinen Eltern und uns befindet sich mittlerweile die Treppe, dann ein mir endlos lang erscheinender Steinweg, der Gartenzaun und der Bürgersteig. Hilflos strample ich mit den Beinen und meine kleinen Ärmchen zeigen in Richtung meiner Eltern, die sich nach einem kurzen Besuch am Sonntag auf den Heimweg machen. Mit meinen anderthalb Jahren kann ich nicht begreifen, was hier vor sich geht. Kopfschüttelnd öffnet mein Vater die Wagentür, um gleich darauf im Auto zu verschwinden und den Motor anzulassen. Meine Mutter bleibt noch einen Augenblick stehen, dreht sich nach mir um und winkt mir lachend ein letztes Mal zu. Dann steigt auch sie in das schöne große Auto, das sie sich so mühevoll erarbeitet haben, wie man mir immer wieder sagt. Der Motor heult kurz auf und sanft setzt sich der Wagen in Bewegung. Eine Welt bricht für mich zusammen. Eine Welt, die eng mit meiner Mutter verbunden ist, die Nähe, Wärme und Geborgenheit für mich bedeutet.

Mein Schreien, das mittlerweile einer Sirene gleicht, will nicht aufhören. Im Gegenteil, von Minute zu Minute schwillt es weiter an. Großvater, der inzwischen das Gartentor abgeschlossen hat, schlurft die Stufen hoch und beschwert sich bei Großmutter über mein Gebrüll und darüber, was die Nachbarn wohl denken mögen. Inzwischen versucht Großmutter mich weiter zu beruhigen. Sie zeigt auf die Rosen, die sich kunstvoll am Geländer entlangranken und an der grauen Hauswand festklammern. Als das nichts hilft, wird ein Schlüssel vor meinem Gesicht hin und her geschwenkt. Doch ich will von den Rosen und dem Schlüssel nichts wissen. Das Einzige, was zählt, ist, dass ich meine Eltern nicht mehr sehe. Und das ist für mich nicht auszuhalten. Voller Wut, Trauer und Verzweiflung schlage ich um mich. Ein brennender Schmerz breitet sich in meiner Brust aus. Hilflos geht meine Großmutter mit mir auf dem Arm ins Haus, um weiter irgendwelche Gegenstände zu suchen, die mich ablenken könnten. Doch ich lasse mich nicht beruhigen. Unaufhörlich rufe ich nach meiner Mami. Sie soll kommen und mich trösten. Sie soll wieder da sein. Ich will ihre Wärme und Nähe spüren. Die Tränen hören nicht auf, über meine Wangen zu kullern und das Schluchzen schüttelt meinen kleinen Körper. In ihrer Not legt mich meine Großmutter irgendwann auf die Couch, auf der ich endlich vor Erschöpfung einschlafe.

Die Welt, die Mami hieß und mich wirklich glücklich machte, eröffnete sich mir, wenn überhaupt, nur sonntags. Den größten Teil meiner Kindheit verbrachte ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits, die mit der jüngeren Schwester meiner Mutter im Westen von Berlin in einer kleinen Vorstadtsiedlung wohnten. Bis es dazu kam, wurden mein zwei Jahre älterer Bruder und ich von den einen Großeltern zu den anderen geschickt. Von West nach Ost und von Ost nach West. Als dies zu aufwändig und politisch zu problematisch wurde, entschied man sich für diese Lösung. Ende der fünfziger Jahre war die Zeit wirtschaftlich hart, doch clevere Unternehmer, die ihre Chance ergriffen, konnten gute Geschäfte machen. Mein Vater, der aus dem Ostteil der Stadt kam, war erst als angestellter Fahrlehrer tätig, machte sich aber nach wenigen Jahren mit seiner ersten Fahrschule selbstständig. Meine Mutter unterstützte ihn dabei und so bauten sie in wenigen Jahren fünf Fahrschulen in Berlin auf. Der Aufbau ihres Unternehmens und dass es uns Kindern einmal besser gehen sollte, war die Begründung für meine ständige Unterbringung bei den Großeltern. Mein Bruder durfte irgendwann bei meinen Eltern bleiben. Daneben gab es einen weiteren Grund, über den jahrelang geschwiegen wurde, der jedoch unbewusst von Geburt an mein Leben bestimmte. Fakt war, dass mein Vater überhaupt keine Kinder wollte. Er mochte sie nicht, empfand sie als Quelle ständigen Ärgers und als Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. Frei und ungebunden wollte er sein, damit er ein Leben nach seiner Fasson führen konnte, ohne Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse meiner Mutter oder von uns Kindern. In der Hauptsache bestand sein Freiheitsbegriff darin, die Nächte mit Freunden und Bekannten zu verbringen. Dabei wurden gewisse Etablissements aufgesucht und es wurde ausschweifend gefeiert. So war ich als zweites Kind ebenso unerwünscht und lästig wie mein Bruder. Zwei Kinder konnte meine Mutter von sieben Schwangerschaften behalten, die anderen fünf musste sie abtreiben lassen. Verhütung war Frauensache und wenn es mal wieder passiert war, dann musste eben ein entsprechender Eingriff vorgenommen werden. Mit einer Totaloperation endete das »Theater mit dem Kinderkriegen«, wie mein Vater es nannte.

Über fünfundzwanzig Jahre lebte ich in dem Glauben, dass die Entscheidung meiner Eltern, mich bei meinen Großeltern aufwachsen zu lassen, ausschließlich damit zu tun hatte, dass ihnen ihre Arbeit keine Zeit ließ, für mich zu sorgen. Doch das stimmte nicht, sondern war nur eine gut verpackte Lüge. Ich war ein unerwünschtes Kind. Eine Tatsache, die mich tief im Innern nie zur Ruhe kommen ließ. Wie viele andere Töchter auch, kämpfte ich um die Liebe meines Vaters, ohne zu ahnen, dass es sie gar nicht gab. Ich wollte seine innere Ablehnung nicht wahrhaben. In meiner Scheinwelt, die ich mir erschuf, war ich tief von der Liebe meines Vaters überzeugt.

Sobald ich laufen konnte, wartete ich sonntags am Gartenzaun auf meine Eltern. Jedes vorbeifahrende Auto wurde anhand seines Motorengeräuschs, der Farbe oder Größe einer sorgfältigen Prüfung unterzogen, nur um wieder und wieder festzustellen, dass es das sehnsüchtig erwartete nicht war. Unzählige Sonntage verbrachte ich mit endlosem Warten. Nach dem Mittagessen fing es an und endete mit Einbruch der Dunkelheit. Gutes Zureden von Seiten meiner Großeltern half nichts, ich war nicht vom Zaun wegzubekommen. Stundenlang starrte ich auf die Straße und harrte geduldig aus, bis ich abends enttäuscht und traurig ins Bett gehen musste, weil meine Eltern mich wieder einmal »vergessen« hatten. Dabei konnte ich überhaupt nicht begreifen, wie das geschehen konnte. Schließlich war ich doch ihr kleines Mädchen, dem sie versprochen hatten, zu kommen. Stets bekam ich von meinen Großeltern die gleichen Erklärungen zu hören: Dass meine Eltern sicherlich von der Arbeit nicht weg konnten oder sonst etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen war. Damals glaubte ich noch an die Unfehlbarkeit meiner Eltern und war fest davon überzeugt, dass, wenn sie etwas versprochen hatten, sie es auch einhalten würden. Es sei denn, etwas ganz, ganz, ganz Wichtiges hinderte sie daran. Versprochen war versprochen. Später erfuhr ich, dass meine Mutter mehrmals von meinem Vater daran gehindert worden war, mich zu besuchen. In dem Moment, in dem sie losfahren wollte, gab er ihr eine weitere Aufgabe, die angeblich dringend erledigt werden musste.

Von früher Kindheit an hatten Versprechen für mich etwas Bindendes. Die Enttäuschungen, die damit einhergingen, wenn sie nicht erfüllt wurden, erschütterten mein Herz jedes Mal aufs Neue. Doch trotz der vielen gebrochenen Versprechen, habe ich mir den Glauben daran bis heute bewahrt.

Während meiner gesamten Kindheit vermisste ich meine Eltern. Dieses Gefühl hörte nie auf. Anstatt mich irgendwann damit abzufinden, wurde meine Sehnsucht immer größer und der innere Schmerz tiefer. Beständig wuchs in mir das Gefühl, nicht liebenswert genug zu sein. Darüber hinaus fühlte ich mich schuldig, dass meine Eltern so hart arbeiten mussten. Ich war fest davon überzeugt, dass ihr Leben einfacher wäre ohne mich.

Obwohl meine Großeltern alles Erdenkliche taten, um mir meine Eltern zu ersetzen, fehlte mir die mütterliche Liebe, Nähe und Fürsorge. Es waren jedes Mal qualvolle Momente, wenn meine Eltern mich sonntags schreiend und verzweifelt in den Armen meiner Großmutter zurückließen.

Weil meiner Familie mein Gebrüll nicht nur auf die Nerven ging, sondern wegen der Nachbarn auch peinlich war, wurde eine bunte Palette von Strategien entwickelt, die mir den Abschied erleichtern sollten. Einmal versprach mir Großmutter einen besonders schönen Kuchen zu backen, ein andermal sagte man mir, dass man mich das nächste Mal bestimmt mitnehmen würde, in der Hoffnung, dass ich es bis dahin vergessen hätte. Eine besonders schmerzliche Variante des Abschieds war, wenn Großmutter mit mir in den Keller oder in den Garten ging, um irgendetwas zu holen, während meine Eltern heimlich abfuhren. Diese hilflosen Aktionen bewirkten das genaue Gegenteil von dem, was meine Großmutter sich erhoffte und hatten zudem einen weiteren Effekt. Mein Misstrauen gegenüber dem, was Erwachsene sagten, wuchs und ich entwickelte feine Antennen für das, was um mich herum geschah. Natürlich durchschaute ich dieses Spiel mit der Zeit und wusste ganz genau, was geschehen würde, wenn meine Großmutter mit mir in den Keller ging. Trotzdem ließ ich mich darauf ein, ich wollte ja brav sein. Außerdem hoffte ich jedes Mal, dass ich mich täuschte und meine Eltern noch da sein würden, wenn wir wieder nach oben kamen.

Damit die Sehnsucht mich nicht zu sehr schmerzte, versuchte meine Großmutter, die fehlende Mutterliebe auf ihre Art zu ersetzen. Sie war eine gütige, stille Frau, die auf sich allein gestellt mit meiner Mutter die Kriegstage überstanden hatte. Ein Leben lang begleiteten sie die Schrecknisse des Krieges, von denen sie immer wieder erzählen musste.

Ich bezweifle, dass Großvater je der Mann ihrer Träume gewesen ist. Nach der Hochzeit gab sie ihm zuliebe ihre Stelle als Kunstgewerblerin und damit ihre Selbstständigkeit auf. Stolz verkündete er stets im Familienkreis, dass seine Frau es nicht nötig habe zu arbeiten, weil er sie allein versorgen könne. Wenn sie einmal »nicht richtig spurte«, was selten vorkam, wurde kurz die männliche Macht demonstriert, indem meinem Großvater »die Hand ausrutschte«. Mit der Hochzeit war Großmutter sein Eigentum geworden und musste sich ihm fügen. Gehorsam tat sie ihm diesen Gefallen, still, ohne zu klagen. Nie hörte ich aus ihrem Mund ein Wort der Unzufriedenheit oder des Aufbegehrens. Sie beschwerte sich weder darüber, dass sie bis zu ihrem Tode die wöchentliche Wäsche im Keller auf dem Waschbrett waschen musste noch, dass mit der Ofenheizung lediglich Wohn- und Esszimmer geheizt wurden und die restlichen Räume kalt blieben. Auch ihre schwere Nierenkrankheit, die sie seit dem dreißigsten Lebensjahr begleitete, ließ sie nie verzweifeln. Ich glaube, sie konnte alles ertragen, Hauptsache, es gab keinen Streit oder böse Worte. Sicherlich schützte sie sich so vor dem Jähzorn meines Großvaters, der, wenn erst einmal in Rage gebracht, nicht mehr zu bremsen war. Trotz alledem haderte sie nicht mit ihrem Schicksal. Nur manchmal, wenn sie von ihren heimlichen Verehrern aus vergangenen Tagen erzählte, blitzten ihre kleinen Äuglein verräterisch auf und zeugten von einer leisen Sehnsucht. Ich hörte Geschichten aus ihrem Leben, bevor es Großvater gab. Geschichten aus ihrer Jungmädchenzeit, bunt, schillernd und voll von Sehnsüchten und Wünschen an das Leben. Sie erzählte von ihrer Arbeit als Kunstgewerblerin, der Freude, die sie beim Entwerfen neuer Modellkleider empfand, von den vielen Verehrern, die sie abwechselnd ausführten und den vielen Chancen, die sie ausgeschlagen hatte, bis Großvater in ihr Leben trat. Bei diesen Erzählungen veränderte sich jedes Mal ihre Stimme. In einer anderen Tonlage sprach sie dann von Großvater und davon, dass sie der festen Überzeugung sei, mit ihm den besten Mann bekommen zu haben. Zum Schluss betonte sie immer, wie ehrlich, treu und bescheiden er wäre. Darüber hinaus würde er stets pünktlich nach Hause kommen, nie in Kneipen gehen und später eine gute Rente erhalten. Das waren ihre Werte, an die sie glaubte und die allein zählten. Dafür nahm sie in Kauf, dass er über sie bestimmte, nur das angeschafft wurde, was er wollte, nie verreist wurde und auch sonst alles nach seinem Willen geschah.

Großmutter und ich lachten, sangen und scherzten den Tag über so lange, bis es vier Uhr wurde und Großvater von der Arbeit nach Hause kam. Von da an wurde den Rest des Tages fast nur noch geschwiegen und lediglich das Nötigste gesprochen. Freundinnen oder Bekannte, mit denen Großmutter sich hätte austauschen können, gab es nicht. Die hatte Großvater ihr, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, kurzerhand verboten. Aus dem Haus ging sie, auch wegen ihrer Krankheiten, nur zum Einkaufen oder zu Familienfeiern.

Am glücklichsten war sie, wenn sie in ihrem Garten wühlen konnte. Er war ihr Ein und Alles. Dort schöpfte sie Kraft und holte sich Anerkennung. All die Blumen, Pflanzen und Obstbäume, die sie eigenhändig in die Erde gebracht hatte, waren ihr ganzer Stolz. Gläserweise wurden Pflaumen, Kirschen, Beeren und Pfirsiche eingeweckt oder zu Marmelade verarbeitet. Dutzende von Gläsern stapelten sich im Keller und warteten nur darauf, an die Familie verschenkt zu werden.

Abends, wenn die Gartenarbeit beendet war, saß ich neben ihr auf der Couch und sah ihr zu, wie sie mit ihren schwieligen Händen edle Handarbeiten mit Gold- und Silberfäden anfertigte. Nadelmalerei nannte sie das und wie eine Malerin fertigte sie aus bunten Garnen die schönsten Blumenmotive bis in die kleinsten Schattierungen hinein. Bis ihr irgendwann mit den Jahren die Augen den Dienst versagten, häkelte, stickte, strickte und klöppelte sie ohne Unterlass. Schon früh hatte sie mir das Sticken beigebracht und mit fünf Jahren konnte ich bereits meine eigenen kleinen, bunten Kunstwerke zaubern. Das Bildnis eines kleinen Hundes war mein erstes Geschenk an meine Mutter. Es hängt noch heute eingerahmt im Flur und erinnert mich an meine Kindheit.

Keinen Wunsch schlug Großmutter mir damals ab. Schließlich sollte ich es gut haben und die Eltern sollten sehen, wie prächtig ich mich in ihrer Obhut entwickelte.

Meine nächste bewusste Erinnerung setzt erst im Alter von etwa vier bis fünf Jahren wieder ein. Mit einem Bild, in dem die Stille der Siedlung und der Gesang der Amsel durch mein Freudengeschrei unterbrochen wurde. Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief ich juchzend und voller Vorfreude am Gartenzaun auf und ab, dann mit fliegenden Zöpfen durch den Garten und ums Haus, damit alle von der Ankunft erfuhren, und wieder zurück in den Vorgarten. Es war endlich wieder Sonntag. Außer mir vor Freude und Ungeduld beobachtete ich atemlos, wie der Wagen meiner Eltern vor dem Haus einparkte. Mit dem Eintreffen meiner Familie verschwanden Ruhe und Beschaulichkeit im Krantorweg 26. Flink flogen meine kleinen Beinchen durch die Luft, fegten fast vor mir die Treppe nach oben, um den Schlüssel für das Gartentor zu holen. Gleich darauf sauste ich die Stufen wieder hinab, damit ich schnell das Schloss öffnen und meine Eltern umarmen konnte. Aufgeregt hüpfte ich am Tor, die sich öffnenden Wagentüren immer im Blick, von einem Bein auf das andere. Zappelnd hantierte ich am Schloss herum, sodass sich meist der Schlüssel verkantete. Dann schrie ich nach Großvaters Hilfe und hatte mir vor Aufregung, bis er endlich kam, schon fast in die Hose gemacht. Die Sekunden, die mich von meinen Eltern trennten, waren wie eine Ewigkeit. Aus der hinteren Wagentür stieg in der Regel mein Bruder, der mich verständnislos anschaute und pikiert die Augenbrauen hochzog. Er war jedes Mal peinlich berührt von meinem Gehabe. Schließlich passierte nichts weiter, als dass ein Familientreffen stattfand und es bei Großmutter den leckersten Kuchen der Welt gab.

Ich hingegen sprang wie ein Gummiball unentwegt an meiner Mutter hoch. Dabei plapperte ich einfach drauflos, ohne darauf zu achten, ob das, was ich sagte, Sinn und Verstand hatte. Es gab so viel zu erzählen. In kürzester Zeit wurden alle großen und kleinen Vorkommnisse mitgeteilt, die sich seit unserem letzten Treffen ereignet hatten.

Nach einer kurzen Runde durch den Garten, bei der Großmutter stolz ihre wunderschönen Blumenrabatten sowie ihr Obst und Gemüse präsentierte, versammelten wir uns um den sorgfältig gedeckten Kaffeetisch, an dem oftmals ein erster Streit zwischen meinem Bruder und mir ausbrach.

Einmal hatte er mir einfach meinen Stuhl weggezogen und sich grinsend darauf gesetzt, was mich in höchste Aufregung versetzte, weil ich dadurch nicht mehr neben meiner Mutter sitzen konnte. Sofort begann ich jammernd an dem Stuhl zu zerren. Mein Bruder indes feixte weiter, hatte er doch genau den Knopf gedrückt, der mich sofort zum Schreien brachte. Meine Eltern, die von alledem nichts mitbekommen hatten, zuckten beim ersten Sirenenton zusammen und schwupp, schon hatte mein Bruder von meinem Großvater eine gewischt bekommen. Er verzog keine Miene, verließ meinen Stuhl und setzte sich, als wäre nichts gewesen, dorthin, wo er immer saß.

Zwischen meinem Bruder und mir gab es jedes Mal Zank und Streit, wenn wir aufeinander trafen. Oft wurde ich dabei körperlich von ihm traktiert. Anschließend lief ich heulend in die Arme meiner Mutter, um mich über ihn zu beschweren. Wie sollten wir auch miteinander spielen können, wir waren uns so fremd. Mein Bruder beneidete mich vermutlich wegen des schönen Gartens und der vielen Köstlichkeiten, die Großmutter in der Küche zauberte und ich beneidete ihn, weil er bei meiner geliebten, so schmerzlich vermissten Mutter leben durfte.

Dass die Bevorzugung, die wir uns jeweils unterstellten, nicht der Wahrheit entsprach, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen.

Damit mich alle Welt lieb hatte, wurde ich zu einem mustergültigen Kind. Stets war ich darauf bedacht, freundlich zu sein und mich »anständig« zu benehmen. Denn, so hatte ich gelernt, folgsamen und artigen Kindern konnten Erwachsene keine Bitte abschlagen. Vermutlich hoffte ich auch, meine Eltern würden mich eines Tages mit zu sich nach Hause nehmen, wenn ich nur immer brav wäre.

So verlernte ich nach und nach auf meine innere Stimme zu hören. Stattdessen richtete ich all meine Aufmerksamkeit nach außen, auf das, was andere Menschen von mir wollten und dachten.

Wenn die Sehnsucht nach meiner Mutter ins Unermessliche stieg und mein Herz nach ihrer Liebe schrie, wurde ich wie von Zauberhand innerhalb weniger Stunden krank und bekam hohes Fieber. Dies geschah meist am Abend, so etwa gegen zehn Uhr. Da meine Großeltern kein Telefon hatten, musste mein Großvater sich auf den Weg zur nächsten Telefonzelle machen und dann dauerte es noch etwa eine Stunde bis meine Eltern eintrafen. Der Anblick meiner Mutter und ihre Nähe reichten aus, um die Temperatur schlagartig zu senken. Mit leuchtenden Augen saß ich im Bett und freute mich über ihre Anwesenheit. Freudestrahlend erzählte ich ihr meinen letzten Traum oder was mich gerade bewegte. Darüber war mein Vater regelmäßig sehr verärgert und er schimpfte mit meinen Großeltern, weil ich wieder einmal nur »markiert« hätte. Das nächste Mal sollten sie sich doch vorher besser davon überzeugen, ob ich wirklich krank sei, schließlich wären sie weit über eine Stunde unterwegs. Trotzdem mussten sie oft in der Nacht kommen, um festzustellen, dass mein Fieber am Abklingen war, wenn sie eintrafen.

Dass ich mir auf diese Art die mir fehlende Zuneigung und Liebe holte, war mir natürlich nicht bewusst. Doch die Worte meines Vaters, der mich als Simulantin bezeichnete, klangen in mir nach, ebenso die Tatsache, dass ich meine Großeltern und Eltern in Sorge versetzt hatte.

So war meine Kindheit durch wiederkehrende lebensbedrohliche Fieberattacken geprägt und durch die andauernde Sorge der Großeltern um mein körperliches Wohlbefinden.

Wie ein Damoklesschwert muss die Verantwortung über meinen Großeltern geschwebt haben. Sie ließen mich so gut wie nie aus den Augen. Sportliche Aktivitäten wurden von vornherein als gefährlich eingestuft und waren somit ausgeschlossen. Dass sie sich nur sorgten, wurde nie direkt ausgesprochen. Rad fahren, Rollschuh und Schlittschuh laufen durfte ich nur am Wochenende im Beisein meines Großvaters. Einem Verein beizutreten wurde zwar nie direkt verboten, mir aber geschickt ausgeredet. Man musste nur an mein schlechtes Gewissen appellieren. Ob ich Großvater wirklich zumuten möchte, mich so spät abzuholen? So ein Satz reichte aus, um jeden meiner Wünsche im Keim zu ersticken. Wie konnte ich so etwas nur erwarten? Tat man nicht schon genug für mich?

Als mich mein Schulfreund Thomas im Alter von sieben Jahren fragte, ob ich gemeinsam mit ihm zum Turniertanzen gehen wolle, wurde mir auch dieser Wunsch auf die subtilste Art ausgeredet. »Stell dir nur vor, Kind, da musst du immer da sein, egal wie es dir geht. Du weißt doch, nach oben kommen nur die Besten und wenn du das nicht schaffst, bist du traurig. Da musst du auch tanzen, wenn dich die Schuhe drücken. Willst du die Eltern von deinem Schulfreund so belasten, dass sie dich immer mitnehmen? Wir können dich nicht zu den Turnieren bringen. Du weißt doch, dass wir kein Auto haben.« So ging es in einem fort. Das, was mich endgültig überzeugte, war der besorgte Hinweis »Denk daran, du wirst später immer unterwegs sein und in fremden Hotelzimmern schlafen müssen. Kein anständiger Mann will eine Tänzerin als Frau. Und du willst doch heiraten und Kinder haben?« Damit zerplatzte ein für allemal der Traum von der Turniertänzerin, die in wunderschönen Kleidern strahlend über das Parkett geführt wird.

Welche Wendung hätte mein Leben genommen, wenn ich nur einmal die Chance gehabt hätte, mich durchzusetzen. Doch es gab nichts zum Durchsetzen. Nie wurden direkte Verbote ausgesprochen wie »Du darfst das nicht, weil …« Hätte man mir je etwas verboten, hätte ich mich ausprobieren können, taktieren lernen, streiten, nach Lösungen suchen oder mich vielleicht sogar über Verbote hinweggesetzt. Mit allen daraus resultierenden guten oder schlechten Folgen. Doch mit dieser subtilen Art, mir Schuldgefühle einzureden, lernte ich das Wichtigste im Leben nicht. Nie lernte ich für eine Sache zu kämpfen, die mir wichtig war. Mit Sicherheit haben meine Großeltern nicht böswillig gehandelt, sie wussten es einfach nicht besser. Mir meine Wünsche auszureden und mich so zu manipulieren, bis ich mich schuldig fühlte, war bequem. Diese Erziehungsmethode hatte allerdings weit reichende Konsequenzen für meine Entwicklung. Immer wenn ich im Laufe meines späteren Lebens bestimmte Wünsche hatte, sei es beruflicher oder privater Natur, versuchte ich, sie zuerst mit Begeisterung entgegen den Grundsätzen meiner Großmutter zu verwirklichen. Doch tief in mir schlummerten tausend Gründe, warum das Geschäft, die Beziehung nicht klappen würde. Daher probierte ich zu Beginn zwar alles aus, konnte die Begeisterung aber nicht halten, weil meine negativen Glaubenssätze dies verhinderten.

Thomas suchte sich natürlich eine andere Partnerin, mit der er sich später einigen Erfolg ertanzte. Wenn ich nach der Schule bei ihm zum Spielen war, sah ich seine Mutter oft nähen. Unter ihren Händen entstanden die schönsten und feinsten Tanzkleider. Dafür verarbeitete sie edle und kostbare Materialien wie Samt, Satin, Batist und Spitze in allen Variationen. Und natürlich meine heiß geliebten Pailletten, Perlen und Strasssteine. Dies alles verwandelte sie zu wahren Kunstwerken. Jedes Mal nähte sie an einem anderen Kleid, das aus meiner Sicht stets schöner und feiner als das vorherige war. Schmerzhaft zog sich mein Kinderherz zusammen, wenn es hieß, Thomas hätte keine Zeit mehr zum Spielen, weil er gleich zum Training fahren müsse. Noch quälender war es, als er mir stolz seine ersten Pokale zeigte. So ging unsere Freundschaft bald auseinander, da er immer weniger Zeit für mich hatte. Es erfüllt mich heute noch mit Wehmut, wenn ich daran denke.

Brav und folgsam wie ich war, verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit bis zum Schuleintritt und auch noch einige Zeit später im großelterlichen Garten. Aber irgendwann ließ sich das natürlich nicht mehr so streng durchhalten, da ich nach der Schule zu meinen Freunden zum Spielen wollte. Zu uns durften andere Kinder selten kommen, da nach Aussage meiner Großmutter erst einmal richtig geputzt werden müsse, bevor man jemanden ins Haus ließe. Bis heute habe ich nicht wirklich verstanden, warum ich mit meinen Freunden nie im Garten spielen durfte. Vermutlich befürchtete meine Großmutter, die Kinder könnten irgendetwas anstellen oder kaputt machen. Auch meine Tante, die nur zehn Jahre älter war als ich, brachte nie andere Kinder mit nach Hause. Da sie mit mir nichts anzufangen wusste, blieb ich die ersten Jahre ganz auf mich allein gestellt.

Im Laufe der Zeit machten meine Großeltern eine Marionette aus mir. Immer schön adrett und sauber. Nur nicht auffallen und keinen Ärger machen. Eine Puppe, die gehorchte und das machte, was die Erwachsenen von ihr verlangten. Ebenso wie auf mein Verhalten wurde viel Wert auf mein Äußeres gelegt. Meine blonde Mähne fiel mir bereits als Dreijähriger weit über die Schultern und endete am Po, was einen enormen Eindruck auf die Erwachsenenwelt machte. Meine Großmutter wurde sogar auf der Straße wegen meiner tollen Haarpracht angesprochen und oft hörte ich die Leute sagen, dass man mit so einem kleinen Engel doch sicherlich keine Probleme hätte und was ich doch für ein schönes, liebes und gut erzogenes Kind sei. Durch das Ziepen beim täglichen Kämmen lernte ich »wer schön sein will, muss leiden«. Und dass Frauen ohnehin leiden müssen, weil sie die Kinder zur Welt bringen. Gebetsmühlenartig wurde mir suggeriert, dass nur Frauen, die schön, adrett und gepflegt sind, auch einen entsprechend gepflegten und anständigen Mann bekommen.

Über viele Jahre wurde ich von meiner Großmutter mit selbst genähten Sachen ausstaffiert, die ich so lange selber schick fand, bis ich zum Gespött der Klasse wurde, weil ich darin so »altbacksch« aussah. Dennoch ertrug ich mein Schicksal mit Fassung. Schließlich hatte sich meine Großmutter mit dem Nähen und Besticken der Blusen und Kleider so viel Mühe gegeben, da konnte ich sie auf keinen Fall enttäuschen und traurig machen. Sie hatte doch ohnehin schon genug Sorgen. Also trug ich ihre »Werke« weiterhin, in der Hoffnung, dass sie selbst irgendwann erkennen würde, welches Opfer ich brachte. Obwohl ich dabei nicht an mich dachte, fühlte ich mich schuldig.

Wie ein riesengroßer Krake mit unzähligen Armen und Tentakeln entwickelte und festigte sich mein ständiges Schuldgefühl. Sobald sich der leiseste Hauch von Aufbegehren in mir breit zu machen drohte, war es da und hinderte mich an weiteren Taten. Ich war zu der festen Überzeugung gelangt, dass ich für die Sorgen und Probleme meiner Großeltern verantwortlich sei.

Gefördert wurde dies durch meine Mäkelei beim Essen. Aus Sicht meiner Großmutter war ich keine gute Esserin. Obwohl ich einen kräftigen Körperbau habe, wirkte ich stets sehr schlank. Meine Großmutter, die ständig in Sorge um mich war, befand eines Tages, dass ich untergewichtig sei und begann mich kurzerhand zu mästen. Es sollte mal richtig was an mich dran kommen, damit ich nicht so »schwindsüchtig« aussähe. So wurden mir täglich bis zu vier Mahlzeiten vorgesetzt, die so lange vor meiner Nase stehen blieben, bis ich sie unter großer Quälerei aufgegessen hatte. Wenn ich nicht essen wollte, wurde ich gefüttert. Das konnte Stunden dauern. Meine Großmutter muss dieses Theater viel Nerven gekostet haben, da sie hinterher immer völlig entkräftet war. Aber nie schimpfte sie deswegen mit mir. Stattdessen ging sie anschließend mit dem leeren Teller wortlos in die Küche und nahm unter leisem Seufzen eine ihrer unzähligen bunten Pillen ein.

Zur Unterstützung dieser erzwungenen Nahrungsaufnahme wurde der Suppenkaspar aus dem Struwwelpeter hinzugezogen. Bild für Bild wurde der Kaspar vor meinen Kinderaugen dünner und dünner »und war am fünften Tage tot«. Übrig blieb ein Kreuz und eine Suppenterrine auf seinem Grab. Zeitweise starb der Suppenkaspar fast täglich vor meinen Augen.

Dieses »Und war am fünften Tage tot« bekam ich jedes Mal zu hören, wenn ich meinen Teller nicht leer essen wollte oder das Essen mir nicht schmeckte. Irgendwann später, ich war schon Ende zwanzig, musste ich regelmäßig an diesen einen Satz denken. Und manchmal, wie aus heiterem Himmel, habe ich den genauen Wortlaut und die Stimme meiner Großmutter heute noch im Ohr.

Essen und alles, was damit zusammenhing, war all die Jahre stets mit Qualen für mich verbunden. Als ich älter war und schon in die Schule ging, versuchte ich es zu verstecken. In meiner Hosentasche oder hinter dem Sofa, um es später wegzuwerfen. Doch meine Großmutter ließ sich nicht hinters Licht führen, meist bemerkte sie mein frevelhaftes Tun. Entweder, weil das Essen aus ihrer Sicht viel zu schnell von meinem Teller verschwunden war oder ich Sachen, die ich sonst nicht aß, wortlos verputzt hatte. Mit traurigem Kopfschütteln stand sie vor mir und machte mir klar, dass ich nie im Leben aufgegessen haben könnte und wie sehr sich die armen, hungernden, elternlosen Kinder in Afrika über das Essen freuen würden. Geduckt und mit schlechtem Gewissen holte ich das Essen wieder aus meinem Versteck. Dann schlich ich unter ihrem vorwurfsvollen Blick wie ein geprügelter Hund in die Küche, um die Essensreste in die Mülltonne zu entsorgen. Ein ähnliches Drama vollzog sich, wenn ich den verhassten Lebertran einnehmen sollte. Diese Ekel erregende Flüssigkeit brachte ich nur unter Tränen und größtem Theater, sprich körperlicher Gegenwehr, hinunter. Redete Großmutter erst mit Engelszungenauf mich ein, wurde ihr Ton bald schärfer und wenn gar nichts mehr half, holte sie Großvater zu Hilfe. Dann hieß es nur noch »Schnabel auf«. Kaum war der Löffel in meinem Mund und das ekelhafte Zeug auf meiner Zunge, war es auch schon wieder draußen. So ging es mehrmals hintereinander. Wieder und wieder erbrach ich, bis sie endlich aufgaben. Selbst Großvater war gegen meinen Würgereiz machtlos. So entließ man mich an einem Tag, versuchte es aber am nächsten erneut, in der Hoffnung, dass es dann besser klappen würde. Selbst Medikamente erbrach ich, sodass meist nur Kirschsaft zur Senkung meiner Fieberattacken eingesetzt werden konnte. Trotzdem erhielt ich viel Antibiotika in Form von Pillen und Kapseln. Jegliches bittere Zeug, das mit Zucker eingenommen werden musste, hatte dagegen keine Chance, weil ich es einfach nicht herunterbekam.

Alles, was meine Großeltern taten, geschah aus vermeintlicher Liebe und weil sie es nicht besser wussten. So gut wie nie wurde die Stimme erhoben oder mir ernsthaft gedroht. Im Gegensatz zu meinen Schulkameraden habe ich nie Schläge bekommen und zumindest für Außenstehende schien meine Kindheit in harmonischen Bahnen zu verlaufen. Innerlich vollzog sich in mir jedoch ein Drama, mit dem ich über Jahrzehnte kämpfen musste und das mich fast das Leben gekostet hätte.

Das Thema Geld war für meine Großmutter absolut tabu. Für Geld hatte der Mann zu sorgen, darüber sprach man nicht, es war einfach da. Pünktlich erhielt sie ihr Haushaltsgeld, aber wie viel mein Großvater verdiente, das wusste sie nicht. In meiner Vorstellung musste es reichlich sein, denn sie redete über die zu erwartende Rente, wenn sie einmal darüber sprach, stets im Flüsterton. Im Allgemeinen war sie sehr sparsam. Wenn sie sich doch einmal etwas »leistete«, dann tat sie es heimlich. »Davon muss der Opa nichts wissen.« Sie versteckte ihre Schätze in einem alten Schrank im Keller. Meistens waren es Stoffe, die sie dann zu irgendeiner Gelegenheit nach oben holte und zu Kleidern verarbeitete. Wenn mein Großvater nachfragte, sagte sie: »Ach, der Stoff, der ist schon alt, den habe ich schon ganz lange, mindestens sechs oder sieben Jahre.« Als Kind kam mir dieses Verhalten sehr merkwürdig vor. Hieß es doch stets, du sollst nicht lügen. Über die Verhältnisse leben war ein Verbrechen, Schulden eine Todsünde und Unehrlichkeit von Gott verdammt. Doch wenn Großmutter sich zu diesen Dingen verleiten ließ, so dachte ich, dann müsste es wohl richtig sein. Einmal hatte ich es gewagt und ihr heimlich fünf Mark aus dem Portemonnaie genommen. Als sie mich daraufhin zur Rede stellte, sagte sie nur: »Was wird der liebe Gott wohl dazu sagen?«, ging aus dem Zimmer und ließ mich mit dem lieben Gott allein.

Vertraulichkeiten zwischen meinen Großeltern habe ich nie erlebt und alles, was im weitesten Sinne mit dem Thema Sex zu tun hatte, wurde totgeschwiegen. Tauchte im Fernsehen ein nackter Busen auf, wurde ich sofort kommentarlos aus dem Zimmer geschickt. Nur manchmal sah ich Großmutters großen Busen, wenn sie sich im Schlafzimmer fürs Bett zurecht machte. Ich wunderte mich, warum sie da oben so viel Fleisch hatte und der Großvater nicht. Auf meine Frage antwortete sie, dass ich so etwas später auch bekommen würde und Männer das schön fänden. Von diesen Ausnahmen abgesehen, habe ich meine Großeltern nie unbekleidet gesehen. Im Bett trug Großvater ein dickes Nachthemd und auf dem Kopf eine Pudelmütze. Irgendetwas schien am Nacktsein nicht schicklich zu sein.

Als meine Tante, die zu diesem Zeitpunkt noch bei uns lebte, ihr erstes Kind bekam, konnte ich mir mit meinen zehn Jahren nicht erklären, woher das kleine Baby gekommen war. Auf einmal war es da, wie vom Himmel gefallen. Und nicht nur, dass es aus dem Nichts aufgetaucht war, es zog wie magisch alle Aufmerksamkeit auf sich. Wie hypnotisiert standen alle Erwachsenen ständig um das Kinderbettchen herum und gaben komische Laute von sich. Jeder wollte das Baby tragen, hochheben und jede Körperregung dieses kleinen Wesens wurde kommentiert. Nun war ich nicht mehr die Kleinste. Über Nacht war ich entthront worden und niemand hatte mich darauf vorbereitet. Noch heute spüre ich den Druck im Magen, wenn ich mich daran erinnere, wie alle in heller Aufregung um den Kinderwagen standen und lauthals frohlockten: »Oh wie süß, wie niedlich, so ein schönes Kind.« Kein Mensch achtete in diesen Momenten auf mich. Einsam und verloren verkroch ich mich in die letzte Ecke des Wohnzimmers. Selbst meine Mutter bemerkte nicht, wie ich dort zusammengekauert darauf wartete, dass man mich endlich wieder wahrnahm. Um die Zuneigung der anderen zurückzugewinnen, wählte ich die Strategie, die ich inzwischen so gut gelernt hatte: Ich tat so, als wäre nichts geschehen, machte ein fröhliches Gesicht und war wieder die liebe Kleine.

Während zu Hause die Aufmerksamkeit an meiner Person schwand, machte ich gleich noch eine weitere schmerzhafte Erfahrung: Meine erste große Kinderliebe begann, mich abzuschieben. Um mich nicht mehr nach Hause bringen zu müssen, flüchtete sich Peter, mein erster und bester Freund, in tausend Ausreden. Seit der ersten Klasse war er mein Held und Beschützer. Er war derjenige, der mich in seine Sportriege wählte, wenn ich bei der Staffellaufauswahl mal wieder übrig geblieben war. Der, der mich auf dem Schulhof vor den Hänseleien der anderen Jungen beschützte. Oder einfach der, der mir geduldig die Hausaufgaben erklärte. Seit unserer Einschulung brachte er mich an zwei, drei Tagen in der Woche von der Schule nach Hause. Von ihm bekam ich später meinen ersten scheuen Kuss auf die Wange. Peter war ein stiller Junge, konnte aber auch wild und ungezügelt sein. Wenn diese Seite zum Vorschein kam, konnte man mit ihm Pferde stehlen. Heimlich bauten wir im Wald aus abgebrochenen Ästen Hütten, riefen mit unseren selbst gebastelten Waffen den Krieg und die kommende Revolution aus oder spielten verbotenerweise so lange am Bahndamm, bis einmal ein Zug mitten auf der Strecke anhielt und der Schaffner uns von den Gleisen verjagte. Grundsätzlich war Peter aber brav und folgsam und damit hatte er das Wohlwollen meiner Großmutter quasi gepachtet. Deshalb durfte ich sogar zu ihm, um Hausaufgaben zu machen.

Irgendwann im Sommer des darauf folgenden Jahres, kurz vor den Ferien, brach die Katastrophe über mich herein. Peter begann plötzlich, merkwürdige Ausreden zu erfinden, warum er dringend und schnell nach Hause musste. Nach drei Wochen erkannte ich endlich den wahren Grund. Schmerzlich musste ich feststellen, dass er blond war, lange Beine hatte und Christiane hieß. Eine neue Klassenkameradin, die mitten im Jahr die Schule gewechselt hatte. Nur langsam begriff ich, dass ich Peter als Freund verloren hatte. Und zwar nicht nur für eine kurze Zeit, sondern für immer. Es war furchtbar für mich zu erleben, wie er mir nach der Schule den Rücken kehrte, um das andere Mädchen nach Hause zu bringen. Bald hielt ich es nicht mehr aus und erfand alle möglichen Ausreden, um nicht mehr in die Schule zu müssen. Ich fühlte mich verraten und litt unsagbar. Dies führte dazu, dass meine Leistungen erheblich nachließen und ich bald gar nicht mehr zur Schule gehen wollte. Um dem Ganzen zu entfliehen, setzte ich alles daran, meine Mutter zu überzeugen, dass ich an einer anderen Schule wieder besser werden würde. Meine Flucht vor Peter war mit der Grund, warum ich mit zwölf Jahren die Schule und von diesem Zeitpunkt auch meinen Aufenthaltsort wechselte. Endlich durfte ich zu meiner Mutter.

So ungewöhnlich und schmerzlich der Anlass dafür auch war, empfand ich meinen Umzug gleichzeitig als Weg in die Freiheit, ins Leben. Endlich weg aus der Enge, dem Überbehütetsein. Doch ich wurde keinesfalls mit offenen Armen empfangen. Ganz im Gegenteil. Mein Vater war überhaupt nicht davon erbaut, dass ich von nun an bei ihnen wohnen würde. Irritiert fragte er mich bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen, warum ich noch da und nicht auf dem Weg zu den Großeltern sei. Alle vorausgegangenen Gespräche, die meinen Umzug betrafen, hatte er augenscheinlich nicht ernst genommen. Er schien noch nicht einmal registriert zu haben, dass neue Möbel geliefert worden waren, ein schönes rotes Jugendzimmer. Bei meinen Großeltern hatte ich im Keller gewohnt, nun bekam ich ein wunderschönes Zimmer, das meine Mutter ganz nach meinem Geschmack einrichtete. Voller Freude und Glück berichtete ich ihm, dass ich sogar in der Schule umgemeldet war. Mürrisch fragte er, ob dies nicht rückgängig zu machen sei. Erst in diesem Augenblick begriff ich, dass ich immer noch unerwünscht war. Alle Freude, alle Hoffnungen waren wie weggeblasen. Mein Bruder grinste mich an und hoffte wohl insgeheim, dass ich nun wieder abziehen würde. Ängstlich blickte ich zu meiner Mutter. Die schaltete sich nun endlich ein und stellte in kurzen Sätzen klar, dass die Situation nun einmal so sei und der Schulwechsel keinesfalls rückgängig gemacht werden könne. Außerdem sei mir das nicht zuzumuten. So musste sich mein Vater mit den gegebenen Tatsachen abfinden.

Nun begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Alles, was ich über die Jahre an Sorgenfreiheit erlebt hatte, war mit einem Mal erloschen und vorbei. Fast über Nacht lernte ich etwas kennen, was völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft lag. Das Leben meiner Eltern stand im krassen Gegensatz zu dem meiner Großeltern. Täglich wurde gestritten, geschimpft und die Türen wurden geknallt. Meinen Bruder traf es oft ganz besonders, aber er schien sich nicht viel daraus zu machen und verzog sich meist auf sein Zimmer.

Nie habe ich erlebt, dass Vater pünktlich nach Hause kam. Er rief nicht einmal an, wenn er sich verspätete, erwartete aber, dass genau dann, wenn er kam, das Essen heiß auf dem Tisch stand. War dies nicht der Fall, beschimpfte er meine Mutter, ging in die Küche und suchte nach Lebensmitteln, die er durch die Gegend werfen konnte.

Oder es gab eine andere Variante seiner Heimkehr. Sah er, dass wir drei es uns vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten, schaltete er einfach um, sodass wir unseren Film nicht mehr zu Ende sehen konnten. Sagten wir auch nur einen Ton, war der Teufel los. Drastisch ließ er uns wissen, dass er der Herr im Hause sei und von ihm der ganze Wohlstand abhinge. Schließlich wären wir ja alle »zum Scheißen zu dämlich«. Ohne ihn wären wir nichts. Entmutigt und demoralisiert gaben wir nach kurzer Zeit auf, den Film weiter sehen zu wollen und verzogen uns in unsere Zimmer. Vater blieb alleine im Wohnzimmer zurück.

Zu meiner Verwunderung gab es oft Zeiten, in denen Vater gar nicht heimkam. Manchmal sahen wir ihn drei, vier Tage oder sogar noch länger nicht. Die ersten Male war mir unerklärlich, wo er abgeblieben sein konnte, schließlich war sein Zuhause bei uns. Hier gab es Essen, hier stand sein Bett und seine Sachen befanden sich im Kleiderschrank. Konnte ihm etwas zugestoßen sein? Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt? Bis ich dann von Mutter erfuhr, dass er mal wieder eine Freundin hatte. Zum ersten Mal hörte ich davon, dass verheiratete Männer manchmal Freundinnen haben. Wenn Vater seinen Liebschaften und Vergnügungen nachging, war es zu Hause gemütlich und gut auszuhalten. Mit meiner Mutter verstand ich mich prima. Wir lachten und scherzten viel, obwohl ich bald merkte, dass sich hinter ihrer fröhlichen Art etwas sehr Trauriges verbarg. Tauchte Vater wieder aus der Versenkung auf, hatte er meist ein schlechtes Gewissen und war für einige Zeit erträglich. Ohne Freundin war er allerdings unleidlich, aggressiv und verletzend. Manchmal hatte ich sogar Angst vor ihm. So kleinwüchsig er auch war, strotzte er vor Kraft und Energie. Eine fürchterliche Unberechenbarkeit ging von ihm aus. Nie wusste ich, wer gerade die Haustür aufschloss und zur Tür hereintrat. Ein gut gelaunter, entspannter Vater, ein übertrieben heiterer Trunkenbold oder ein herrschsüchtiger Tyrann. Ein Blick in seine Augen, die mich hämisch und voller Zynismus ansahen, und schon flossen bei mir die Tränen. Wurde ich daraufhin noch als zickig bezeichnet, war es ganz aus mit mir. Vater war ein wahrer Meister im Demütigen und Erniedrigen.

Meist traf es mich ganz unvermutet und ohne Vorwarnung. So wie eines Tages, als ich in der Fahrschule meine Hausaufgaben machte. Vor allen Kunden, die auf ihren theoretischen Unterricht warteten, tönte er laut, ich solle sofort das Geschmiere aus meinem Gesicht waschen, aber dalli. Mit hochrotem Kopf erhob ich mich von meinem Stuhl und schlich an den wartenden Leuten, die betreten schwiegen, vorbei in die Toilette. Dort wusch ich mir unter Tränen einen Rest Lippenstift ab, den er entdeckt hatte. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, als ich ihn nach der Schule zusammen mit meiner Freundin ausprobiert hatte. Ich schrubbte und schrubbte, bis auch der letzte Schimmer von Farbe verschwunden war. Verzweifelt überlegte ich, wie ich aus dieser peinlichen Situation wieder herauskäme. Ich beschloss, so lange zu warten, bis die Leute da draußen weg waren. Doch schon kurze Zeit später hörte ich die Stimme meines Vaters, der sich erkundigte, wo ich denn so lange bliebe und ob ich auf der Toilette eingeschlafen sei. Sofort schossen mir wieder die Tränen in die Augen. Schnell griff ich ein Tuch, trocknete mir das Gesicht, öffnete langsam die Tür und ging mit gesenktem Kopf an den Fahrschülern vorbei an meinen Platz. Vater stand lachend hinter seinem Schreibtisch und fuhr mich an, dass er so etwas nicht noch einmal in meinem Gesicht sehen wolle. Und im Übrigen solle ich nicht so zickig und wehleidig sein, schließlich wäre ja nichts passiert. Stumm versteckte ich mich hinter meinen Büchern. Wenige Wochen später, ich räumte gerade mein Zimmer auf, stand mein Vater plötzlich in der Tür. Ich war nur mit einem Schlüpfer bekleidet und obwohl ich auch sonst halb nackt durch die Wohnung lief, wurde mir plötzlich unglaublich mulmig. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, forderte mein Vater mich auf, mit ihm in die Küche zu kommen. Zögernd folgte ich ihm. Mein Bruder hatte gerade die Terrasse gefegt und ich sollte nun den Dreck, der gesammelt in einer Tüte in der Ecke stand, zum Müllschlucker bringen. Schnell wollte ich in mein Zimmer laufen und mir etwas überziehen. Doch mein Vater war ganz anderer Meinung. Ich würde mich doch sonst nicht so zieren, nur um kurz den Müll rauszubringen, bräuchte ich mir nichts anzuziehen. Als ich trotzdem gehen wollte, versperrte mir mein Bruder den Weg. Verschämt und eingeschüchtert verschränkte ich meine Arme vor der Brust. Mein Bruder lachte hämisch und mein Vater drängte mich weiterhin, seinen Auftrag auszuführen und zwar sofort. Als ich mir stattdessen einen Weg vorbei an meinem Bruder suchte, packte dieser plötzlich meine Hände und hielt mich fest. Dann verdrehte er mir mit einem Ruck die Arme nach hinten, sodass ich völlig wehrlos war, und schob mich an meinem Vater vorbei auf die Terrasse. Mein Betteln und Flehen, sie mögen mich doch in Ruhe lassen, verhallte ungehört in ihren Ohren. Nicht einmal meine Brust ließen sie mich bedecken, schließlich gäbe es da nichts zu sehen. Noch nie hatte ich mich so gedemütigt und hilflos gefühlt. Tief verletzt brachte ich den Abfall zum Müllschlucker. Obwohl ich es damals noch nicht wirklich in Worte fassen konnte, spürte ich, dass etwas Zartes, Unwiederbringliches in mir zerbrochen war.

In dieser Zeit ließen meine Schulleistungen wieder dramatisch nach. Einem Erdrutsch gleich geriet alles aus den Fugen. Meine Zensuren auf der neuen Schule waren bis dahin gut gewesen und ich war mit einer Empfehlung für das Gymnasium von der Grundschule abgegangen. Nun war abzusehen, dass ich das erste Jahr auf dem Gymnasium nicht überstehen würde. Gleichzeitig nahmen die zahllosen Streitereien meiner Eltern weiter zu. Zum einen, weil mein Bruder leicht kriminelle Züge entwickelte und meine Mutter dies nach Meinung meines Vaters zu verantworten hatte, weil es ja schließlich »ihr Sohn« sei, zum anderen, weil meine Mutter Vaters Druck nicht mehr aushielt und immer häufiger zur Flasche griff. Nie wusste ich, wer mich zu Hause erwartete: meine Mutter oder eine fremde Frau.

Ein Erlebnis, das ich eines Tages auf der Fahrt zur Fahrschule meiner Eltern in Zehlendorf hatte, brachte mich zusätzlich völlig durcheinander. Eine Woche schon fuhr ich mittags mit der S-Bahn dorthin, um Bürodienst zu machen, als ich auf diesen Mann aufmerksam wurde. Er stand mir gegenüber nah am Ausgang, außer uns war niemand im Wagen. Während er mich beobachtete, rieb er heftig an seiner Hose. Sie war an dieser Stelle dick und ausgebeult. Immer weiter fummelte er sich an der Hose herum und ich glaubte auch erkennen zu können, dass er sie öffnete. Eine Mischung aus Angst und Unsicherheit schnürte mir die Kehle zu. Einem natürlichen Instinkt folgend, klappte ich kurzerhand mein Buch zu und stieg an der nächsten Station schnell aus.