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Dana Müller

Zlatans Erbe

Vampirroman


Die Geschichte basiert auf der Fantasie der Autorin und ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Handlungen sind rein zufällig und nicht gewollt. http://danamueller.jimdo.com/ https://www.facebook.com/pages/Dana-Müller/258472350978589 Text Copyright © 2015/2016/2017 Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere das Recht der Vervielfältigung und des Nachdrucks in jeglicher Form.


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81371 München

Zlatans Erbe

 Dana Müller, 1974 in Berlin geboren. Die mehrfache Mutter fühlt sich bereits in der Grundschule zu Büchern hingezogen und tauscht ihre Pausenbrote gegen Lesbares ein. Das Schreiben begleitet sie seit 2003, damals inspiriert durch Wolfgang Hohlbein und Stephen King, heute durch den Alltag, ihre Kinder und den Ehemann. 2013 beendet sie erfolgreich das Fernstudium „Kreatives Schreiben“, in dem sie die Feinheiten des Handwerks erlernt. Ein Jahr darauf folgt die Veröffentlichung des Debüts „Jayden“. Seitdem schreibt Dana Müller breitgefächert im Bereich Fantasy/Phantastik/Horror. 2015 entsteht gemeinsam mit ihrer Tochter Jennifer die Trilogie „Lupus Amoris“. Mutter und Tochter sind von der Zusammenarbeit so begeistert, dass eine Wiederholung dieser in naher Zukunft geplant ist. 2016 ruft Dana Müller das Pseudonym „Cecilia Bennett“ ins Leben, unter dem sie zu den eigentlichen Projekten Liebesgeschichten für Erwachsene veröffentlicht. Aktuell fühlt sie sich im Genre des Horrors pudelwohl.
Sie lebt mit ihrer Familie, Hund und Katzen in der Nähe von Berlin.

Zitat

Für alle, die ihren Platz im großen Netz des Schicksals noch nicht gefunden haben.

-Habt Geduld-

 

Dana Müller

Lockruf des Schicksals

 

 

Im finsteren Tal

dort sah ich dich;

im finsteren Tal,

dort riefst du mich,

versprachst mir

die Ewigkeit.

Ich ertrank in dir

und verlor meine Freiheit.

 

 

Text Copyright © 2015 Dana Müller

 

Vorgeschichte: Zlatan


Das Purpur der einkehrenden Nacht zeichnet sich hinter den regenschwangeren Wolken ab. Der rote Feuerball versinkt stetig hinter dem Horizont und wirft ein letztes Brennen auf den Ozean. Wie ein verklingendes Echo, der letzte Aufschrei einer sterbenden Sonne.

Ich betrachte die Lichter unter mir. Von hier aus sieht die Stadt so friedlich aus. Keine Gewalt hinter verschlossenen Türen, keine Wut, kein Hass, nicht einmal die Schüsse der sich bekriegenden Straßenbanden sind hier oben zu erahnen. Wenn die Götter nur weiter unten ihren Herrschersitz hätten, dann würden sie auch die Gebete der trauernden Mütter, schreienden Kinder und verzweifelten Väter hören. Und das Wehklagen einer jungen Frau, deren Leben in Dunkelheit ertrinkt. Aber sie hören mich nicht, sie sehen mich auch nicht. Sie sind nur die Erfindung verzweifelter Menschen, die einem letzten Hoffnungsschimmer nachjagen, ehe die Finsternis sie wie eine wilde Bestie einholt und erstickt. Ich habe aufgehört zu glauben. Meine Gebete sind verstummt und auch die Hoffnung, der Leere meiner Seele zu entkommen, ist wie die zarte Flamme einer Kerze im Wind erloschen.

Eine Windböe erfasst mich. Meine Arme umklammern rechtzeitig den eisernen Metallträger zu meiner Rechten, während mein Herz wild gegen meine Brust trommelt. So sollte es nicht sein. Ich wollte den Zeitpunkt selbst wählen. Der Träger ragt hinauf und stützt einen weiteren Eisenbalken über mir. Das Vibrieren meines Handys lässt mich zusammenfahren. Vorsichtig ziehe ich es aus der Tasche meines Sweaters und werfe einen Blick auf das Display. Meine Mutter! Nein, sie ist die Letzte, mit der ich jetzt reden will, mit dem ich überhaupt reden will. Meine gefühlskalte Mutter war überhaupt an allem hier schuld. Nicht ein einziges Mal hat sie mir wirklich zugehört, oder mich in den Arm genommen, weil ihr Herz sie dazu drängte. Nein, diese Frau tut alles nur, um überall als gute Mutter angesehen zu werden. Wie es mir dabei geht, das interessiert sie nicht. Genauso wenig, wie es sie interessiert, dass ihr neuer Freund mich mit seinen Augen auszieht. Sie glaubt mir nicht, das tut sie nie.

Entschlossen stecke ich das vibrierende Ding wieder ein. Nach einer Weile verstummt es und überlässt mich meinem Schicksal, hier oben in schwindelnder Höhe. Nur das Rauschen des Windes, der sich erneut in dem Baugerüst und meinen Haaren verfängt, arbeitet sich gemächlich durch die Stille. Ich lasse mich nicht drängen. Ich gehe, wenn ich es will.

Die Böe löst sich und zieht weiter, wirbelt einige Blätter der höchsten Bäume auf und trägt sie in die Stadt. Ich lasse den Träger los und schiebe meine kalten Hände in die Taschen des Sweaters. Nur eine kleine Böe würde reichen und ich wäre frei. Aber es bleibt windstill.

Ein weiteres Mal vibriert mein Handy. Ich ahne, dass es wieder sie ist, und versuche das Summen in meiner Hand zu ersticken.

»Willst du nicht rangehen?«, ertönt eine sanfte Stimme rechts neben mir. Ich fahre zusammen und verliere beinahe den Halt, als ich ihn entdecke. Der Mann sieht mich mit einem weichen Lächeln an und fährt sich durch das volle, schwarze Haar. Mir fallen seine ungewöhnlichen Augen auf. Sie schimmern in einem seltsamen Silber und verändern ihre Farbe, als er hinauf zum Mond blickt. Ein zartes Violett flutet die Iris im Schein des Mondes und ich frage mich langsam, wo dieser Typ hergekommen ist. Noch dazu sieht er verdammt gut aus. Er gehört hier nicht her, er gehört in eine Disco oder einen Film, aber nicht mitten in der Nacht auf ein Baugerüst. Mir fällt sein kräftiger Kiefer auf. Seine Züge haben etwas von den alten Abbildungen griechischer Helden und Götter.

»Verschwinde wieder. Lass mich allein!«, zische ich ihn an.

Aber er rührt sich nicht. Einzig sein rechtes Auge zuckt beim Klang meiner Worte.

Mein Blick ist starr nach vorne gerichtet. Vielleicht verschwindet er, wenn ich ihn nicht beachte.

»Was machst du hier oben?«, sprengt er die Stille.

»Geht dich nichts an«, erwidere ich ruppig und hoffe, dass er mich endlich in Ruhe lässt.

»Verstehe«, sagt er und neigt sich nach vorne. »Ist tief. Wenn du das wirklich durchziehen willst, dann hast du genau den richtigen Ort gewählt. Wenn du da unten nämlich ankommst, bist du Brei.«

Seine Worte gewinnen an Form, sie erzeugen grässliche Bilder in meinem Kopf. Alles beginnt sich plötzlich zu drehen, als ob ich in einem Karussell sitze, und ein unangenehmes Gefühl stellt sich in meiner Magengegend ein.

»So genau wollte ich das nicht wissen«, antworte ich und muss den Kloß hinunterschlucken, der sich in meinem Hals festgesetzt hat.

»Du hast recht. Wenn du erst mal unten aufgeschlagen bist, müssen sich andere mit deinen Resten beschäftigen«, stichelt er weiter und hüpft mit einem Satz auf den Stahlträger, auf dem ich sitze.

Ich blicke hinauf zu ihm und traue meinen Augen nicht. Er steht mit weit ausgestreckten Armen neben mir und ein Schrei löst sich aus seiner Kehle. Er brüllt den Mond an, wie ein Wolf es tun würde. Aber er ist kein Wolf, er ist ein Mensch.

Nun hüpft er von einem Bein aufs andere, den Träger entlang und verliert das Gleichgewicht.

Ich erstarre.

Ich kenne ihn nicht, und dennoch könnte ich es nicht ertragen, ihn fallen zu sehen. Er rudert mit den Armen und findet seinen Halt wieder.

»Ich bin Zlatan«, ruft er mir entgegen und überwindet einige Meter im Sprung. Er landet neben mir in der Hocke und streckt mir seine Hand entgegen.

Zögerlich ergreife ich sie und stelle mich ebenfalls vor. »Emma.«

»Freut mich, Emma«, erwidert er und setzt sich neben mich.

Seine Füße baumeln locker, während er die Hände in die Taschen seiner Collegejacke schiebt und die Augen schließt. Er neigt den Kopf nach hinten und atmet tief ein.

Eine Weile sitzen wir einfach nur so da. Der Wind wird stärker und kälter. Ein Zittern jagt durch meinen Körper. Zlatan sieht mich mit einem zarten Lächeln an und rückt näher. Seine ungewöhnlichen Augen mustern mich. Langsam fühle ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut und senke den Blick. Der Wind spielt mit meinem Haar und jagt einige Strähnen wild über mein Gesicht. Ich ziehe meine Hand aus der Tasche. Dabei rutscht das Handy heraus und fällt taumelnd in die Tiefe. Aus einem Reflex heraus greife ich erschrocken in die Leere und verliere das Gleichgewicht.

Ich falle.

In dem Bruchteil eines Augenblicks greift Zlatan nach meiner Hand und hält sie fest. Er zieht mich hinauf, als wäre ich leicht, wie eine Feder und stellt mich neben sich auf dem Träger ab. Meine zittrigen Knie drohen nachzugeben. Ein Blick hinab startet das Karussell in meinem Kopf erneut. Allein die Vorstellung daran, dass ich jetzt tot dort unten liegen würde, wäre Zlatan nicht gewesen, lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Und plötzlich zweifele ich stark an meinem Vorhaben, mit dem ich eigentlich hierhergekommen war.

»Nein«, sagt er und packt meine Schultern. Dann sieht er mir erneut in die Augen. »Du bist nicht so weit. Noch nicht«, erkennt er und wischt eine Träne aus meinem Augenwinkel, die sich unbemerkt angesammelt hatte.

Ich fühle mich furchtbar. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, hier hinaufzuklettern, um mich fallen zu lassen?

»Wir werden jetzt diese Todesfalle verlassen. Kannst du gehen?«, fragt er.

»Keine Ahnung. Meine Beine hören einfach nicht auf zu zittern«, antworte ich mit brechender Stimme und traue mich nicht, ihn anzusehen.

»Wie bist du überhaupt hier hochgekommen?«, will er wissen.

»Geklettert. Aber ich kann nicht wieder runter. Mir ist schwindlig«, gestehe ich ein und muss die Angst bekämpfen, erneut zu fallen.

Zlatan lässt mich los und dreht mir den Rücken zu. »Klammeraffe«, sagt er und reicht mir seine Hände über die Schultern.

Vorsichtig folge ich seiner Aufforderung und achte darauf, nicht hinunterzusehen. Ein Beben durchfährt mich, als er mich auf seinen Rücken zieht und ich den Balken unter meinen Füßen verliere. Ich verankere meine Hände vor seiner Kehle ineinander und versuche mich so vor dem Sturz zu bewahren. Trotz der Kälte, die ich plötzlich wahrnehme, schwitzen meine Hände und drohen den Halt zu verlieren. Zlatans Finger gleiten an meinen Oberschenkeln hinab und kommen in meiner Kniebeuge zum Stehen. Mit einem beherzten Ruck zieht er meine Knie hinauf auf seine Hüften und verkeilt meine Füße vor seinem Bauch.

Ich hoffe, niemand sieht mich in der Pose, denn ich befürchte, man könnte mich auslachen. Wie ein nasser Sack hänge ich hier nun auf dem Rücken eines mir völlig fremden Jungen und mache mir vor Angst fast in die Hosen. Oberpeinlich! Ich frage mich, ob er das für jedes Mädchen tun würde, und lege mein Gesicht auf seinen Rücken.

»Bereit?«, fragt er und dreht seinen Kopf so weit wie möglich zu mir nach hinten.

»Ja!«, lüge ich, denn ich bin alles andere als das. Wer wäre schon bereit, auf dem Rücken eines Jungen das höchste Baugerüst Amerikas hinabzusteigen.

»Dann halt dich gut fest«, erwidert er und setzt zum Sprung an. Zum Sprung? Heilige Scheiße, denke ich, er wird doch nicht mit mir gemeinsam in den Tod springen?

Noch, bevor ich meine Gedanken ordnen kann, landen wir mit einem Ruck auf einem Metallträger. Vorsichtig öffne ich die Lider und sehe mich um. Hier bin ich vorhin gewesen, das weiß ich ganz genau. Mein Blick wandert hinauf und ich traue meinen Augen nicht. Wir haben mindestens fünfzig Meter mit einem Sprung überwunden.

»Noch mal?«, fragt er und wartet meine Antwort nicht ab, sondern setzt erneut zum Sprung an.

Diesmal lasse ich meine Augen offen. Er springt hinunter und ich sehe das Gerüst an uns vorbeiziehen. Der Wind saust durch mein Haar und fährt in meinen Jackenkragen. Ich lasse mich von dem Augenblick der absoluten Leichtigkeit berauschen.

Ich fliege.

Diesmal landen wir mit einem heftigen Ruck auf dem staubigen Grund. Ich lasse los und taumle zurück, falle in den Staub und kann einen Husten nicht unterdrücken. Seine Hand schnellt aus der aufgewirbelten Staubwolke hervor. Ich ergreife sie, und er zieht mich auf die Füße.

»Was war das?«, will ich wissen, doch er schenkt mir nur ein freches Grinsen.

»Ich habe dich eben vor einer Dummheit bewahrt«, antwortet Zlatan schließlich und klettert durch den schmalen Spalt im Zaun hinaus.

Ich folge ihm und blicke ein letztes Mal hinaus, um mich zu vergewissern, dass ich tatsächlich auf einem der obersten Balken gesessen habe. Es ist mir unbegreiflich, wie er diese Strecke mit nur zwei Sprüngen hinter sich lassen konnte.

»Das ist unmenschlich«, rutscht es mir heraus und er sieht mich nachdenklich mit einer Kerbe zwischen den Brauen an. Dabei neigt er den Kopf ein wenig zur Seite.

»Wie hast du das gemacht?«, bohre ich weiter.

»Ein einfaches Danke hätte gereicht«, erwidert er und läuft los.

»Warte, wo willst du hin?«

Abrupt bleibt er stehen und dreht sich langsam auf dem Absatz zu mir um. »Sind wir jetzt verheiratet?«, fragt er mit einem gehörigen Schuss Sarkasmus in der Stimme, während seine rechte Braue in die Höhe schnellt.

Das war direkt. Peinlich betreten senke ich meinen Blick und hoffe, nicht rot anzulaufen.

Er nähert sich mir, hebt mein Kinn mit dem Zeigefinger an und verliert sich in meinen Augen. »Ich weiß nicht, ob ich dich mitnehmen kann. Du gehörst bestimmt jemandem«, sagt er mit einem Schmunzeln und lässt mich erneut stehen.

»Was? Ich gehöre niemandem! Hallo? Warte doch mal!« Ich renne ihm hinterher und kann nur mit Mühe mit seinem schnellen Schritt mithalten. »Zlatan, bleib doch mal stehen!«

»Hast du Lust auf `ne Party?«, fragt er und lässt mich weiterhin hinter sich herlaufen.

Mit einem Schulterzucken antworte ich: »Von mir aus. Alles ist besser, als mein beschissenes Leben.«

Ohne mich vorzuwarnen, schnappt er nach meinem Arm und schwingt mich auf seinen Rücken. Ehe ich registriere, dass er mich huckepack genommen hat, rennt er los und an uns ziehen die Lichter der Stadt vorbei. Schließlich wird er langsamer und setzt mich wieder ab. Meine Knie fühlen sich an, wie Wackelpudding. Berauscht von der Geschwindigkeit, taumle ich ihm hinterher.

Vor einer Technodisco bleibt er stehen und sieht mich fragend an. Techno ist zwar überhaupt nicht meine Richtung, aber ich würde im Moment alles tun, um meinem Leben zu entfliehen.

»Bist du sicher, dass du mit rein willst?«, fragt er und zupft an meinem Sweater herum.

Mit einem Nicken antworte ich und setze mich in Bewegung, aber er hält mich am Arm fest und drängelt sich vor. Dann nimmt er meine Hand und entfacht damit ein Flattern in meinem Bauch.

Während er die neongrüne Tür aufdrückt, wendet er sich mir erneut zu. »Egal, was da drinnen passiert, egal, wen oder was du siehst, du bleibst dicht bei mir. Wenn sich jemand für dich interessiert, dann gehörst du zu mir. Kapiert? Sonst kann ich für nichts garantieren.«

»Okay«, antworte ich, frage mich aber, warum er plötzlich so besorgt ist. Was sollte mir denn schon in einer Disco passieren?

Eine Mischung aus schnellem Beat und Alkohol schlägt uns entgegen, als wir eintreten. Die Lautstärke flutet meinen Kopf und sorgt für ein Gefühl, wie in Trance. Zlatan läuft geradeaus durch die tanzende Menschenmenge und zieht mich hinter sich her. An einer unscheinbaren Tür bleibt er stehen und klopft drei Mal lang, und zwei Mal kurz, wartet einen Moment und klopf erneut vier Mal kurz hintereinander. Die Tür wird von innen geöffnet und ein Typ mit gelben Kontaktlinsen starrt mich gierig an. Ich verstecke mich hinter Zlatan und warte, dass er uns einlässt. Aber der Kerl stellt sich breitbeinig vor meinen Beschützer und lässt uns nicht durch.

»Was soll das, Janek?«, raunt Zlatan ihn an.

»Wie lautete das Zauberwort?«, erwidert der Gelbäugige mit einem gehässigen Grinsen und rührt sich kein Stück.

Zlatan wirkt gelangweilt, er plustert seine Wangen und entlässt die Luft aus ihnen nur ganz langsam. »Hämoglobin«, sagt er schließlich und legt seine Hand auf die Schulter des Türstehers. »Und jetzt lass uns rein!«

Der seltsame Typ gibt den Weg frei und lässt uns eintreten.


Die Musik fällt mir sofort auf, sie ist dezenter. Sie gefällt mir, denn in ihr liegt etwas endgültig Verlorenes. Ich frage mich, welche Musikrichtung das wohl ist. Es könnte eine Mischung aus Gothic und Elektro sein, doch die engelsgleiche Singstimme sprengt meine Überlegungen und ich lasse mich von den Klängen tragen. In dem langen Flur, den wir durchqueren, treffen wir auf ineinander vertiefte Pärchen. Ein Typ mit stoppeligen, platinblonden Haaren hält seine brünette Errungenschaft fest im Arm und hat sie offensichtlich in einen Rausch geküsst. Die Arme der Frau baumeln herunter, während er sich an ihrem Hals zu schaffen macht. Seine Lider schnellen auf, als hätte er meinen Blick gespürt und seine roten Augen starren mich an. Sofort senke ich den Blick. Ein unangenehmes Gefühl des Ertapptseins setzt ein und ich klammere mich an Zlatans Arm.

»Auf Kuschelkurs?«, fragt er und blickt zu mir hinunter.

Er ist einen guten Kopf größer als ich und irgendwie fühle ich mich sicher bei ihm.

»Ist das hier eine Kostümparty?«, werfe ich beiläufig ein und ernte ein kurzes Lachen.

»Wie kommst du darauf?«

»Die Typen hier haben alle Kontaktlinsen und sind irgendwie schräg, so als würden sie irgendeine Rolle spielen«, erwidere ich und blicke an mir hinunter. »Ich glaube, ich passe hier nicht so gut rein.«

»Blödsinn. Da drinnen laufen auch Normalos rum. Da fällst du gar nicht auf, und wenn doch, dann gehörst du mir«, antwortet er und bleibt stehen.

Wir haben das Ende des Flurs erreicht und stehen vor einem samtenen Vorhang. Seine letzten Worte hallen wie ein Echo durch meinen Kopf. Hatte er gerade schon wieder gesagt, ich würde ihm gehören?

Ein Kerl tritt hinter dem schweren Stoff hervor und wirft Zlatan einen Gruß mit dem Kopf zu. »Hey Zlatan, ist das deine?«

Zlatan sieht mich kurz an, beißt sich auf die Unterlippe und nickt.

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht läuft der Typ an uns vorbei und gibt den Durchgang hinter dem Vorhang frei.

Doch Zlatan wendet sich mir zu und fesselt mich mit seinen violetten Augen. Ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden, erst recht nicht, als seine Lippen sich nähern. Wird mich dieser unglaublich gut aussehende Typ etwa küssen? Mein Herz donnert so stark gegen die Brust, dass es schmerzt, meine Knie werden weich. Genauso, wie auf dem Gerüst, aber jetzt ist es nicht die Angst vor dem freien Fall, es ist die Erwartung einer zarten Berührung, die mich in Panik versetzt.

»Wenn einer fragt, gehörst du mir«, haucht er und atmet tief durch die Nase ein. Ihm scheint zu gefallen, was er riecht, denn er schließt die Augen und wirft den Kopf nach hinten, dann atmet er ein weiteres Mal ein, diesmal noch tiefer.

Hinter dem Vorhang tritt erneut jemand hervor, diesmal drängelt sich eine Blondine dicht an mir vorbei, obwohl hinter uns genügend Platz ist. Ich vermeide den Blickkontakt zu ihr und erfasse die schwarze Spitze ihres geschnürten Kleids. Sie kommt immer näher und fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Sie ist mir unheimlich und ich neige meinen Kopf nach hinten, um ihrer Nähe zu entkommen. Trotzdem bedrängt sie mich immer weiter. Erst, als sie ihren Mund leicht öffnet und nach meinem Hals sucht, geht Zlatan dazwischen. »Amelia! Schluss jetzt! Such dir dein eigenes Dessert!«

Dessert? Das bin ich also für ihn. Ein Nachtisch nach dem Hauptgang. Darauf habe ich keine Lust und überlege, wieder zu gehen, aber Zlatan hält meine Hand immer noch fest und zieht mich hinter den roten Vorhang.

Ich erstarre bei dem Anblick dessen, was meine Augen zu erfassen versuchen. Es erscheint mir, wie eine andere Zeit. Ein gewaltiger Kronleuchter hängt von der hohen Decke und flutet den Saal mit seinem warmen Licht, das sich in den unzähligen Kristallen bricht, die an ihm hinunterhängen. Sie funkeln, wie kleine Sonnen, und es fällt mir schwer, meinen Blick von ihnen zu lösen. Große rote Polstermöbel, in goldene Verzierungen gefasst, stehen in kleinen Gruppen und auf ihnen tummeln sich Paare. Ich fühle mich hier fehl am Platz. Die Kellnerinnen tragen knappe Korsetts und Strapse. Hier will ich nicht sein.

»Scheiße, das ist ein Swingerklub!«, bemerke ich und will mich an Zlatan vorbeidrängeln, um diesen verruchten Ort zu verlassen, aber er packt mich am Arm und hält mich fest.

»Weit gefehlt!«

»Zlatan, lass mich los. Ich hab in solchen Klubs nichts verloren. Verdammt, ich bin fünfzehn!«, versuche ich zu erklären und hoffe auf seinen gesunden Menschenverstand, aber er kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und zerrt mich die Treppe zu meinen Füßen hinunter.

»Du gehst, wenn ich das sage«, sagt er mürrisch.

Ein Gemisch aus Verzweiflung, Reue und Angst hat sich in einem dicken Kloß in meinem Hals festgesetzt. Ich schlucke.

»Kommst du klar, wenn ich dir sage, dass es kein Swinger ist?«, fragte er mit harter Stimme und schubst mich auf ein rotes Liegesofa.

Angst schnürt mir die Kehle zu. Erst jetzt begreife ich, dass ich etwas sehr Dummes getan habe. Wie konnte ich nur mit einem wildfremden Kerl mitgehen?

Eine der leicht bekleideten Kellnerin tritt an uns heran und stellt ein bauchiges Glas Rotwein und eine Cola auf einem winzigen Tischchen ab und geht wieder. Zlatan hebt das Weinglas gegen das Licht und nippt schließlich daran. Ich blicke mich um. Hinter mir sind zwei Kerle mit einem Mädchen beschäftigt, das allem Anschein nach unter irgendwelchen Drogen steht. Neben uns das gleiche Bild, nur dass sie zu dritt sind und eine Frau in einem Rüschenkleid ihre Unterröcke rafft, um sich breitbeinig auf den Mann zu setzen, der offensichtlich ebenfalls betäubt ist. Sie neigt ihren Kopf zu seinem Hals und zieht seinen Geruch tief ein. Wo zum Teufel bin ich hier bloß gelandet?

Ich beschließe, keinen Schluck von der Cola zu trinken.


Die Musik verstummt plötzlich und ein Gong ertönt, der mich zusammenfahren lässt. Sofort horchen die Leute in ihren barocken Kleidern auf und blicken sich um. Die Frau neben uns erfasst meinen erschrockenen Blick und öffnet ihren Mund leicht. Etwas stimmt nicht. Das Weiß ihrer Zähne blitzt auf und ich sehe, wie sich ihre Eckzähne verlängern. Schließlich reißt sie die hellen Augen auf und versenkt ihre Zähne in dem Hals des Mannes unter ihr. Ich bin erstarrt. Ein Blutstropfen rinnt unter ihrem Mund heraus und sammelt sich in der Kuhle zwischen Hals und Schulter des Opfers. Sind das etwa Vampire? Bin ich hier etwa in einer verdammten Vampirhöhle gelandet?

Nur mit Mühe gelingt es mir, meinen Blick von ihr abzuwenden. Ich sehe Zlatan an, der tief in seinem Cocktailsessel sitzt und noch immer an dem Wein nippt, den er in der Hand hält. Sein Blick verliert sich in Leere, bis er zu mir herüber sieht. Ich will schreien, aber meine Kehle hält den Schrei fest. Ich will aufstehen und wegrennen, aber mein Körper gehorcht mir nicht. Das ist der Moment, in dem ich sterben werde, der Moment, den ich vor einigen Stunden mit offenen Armen empfangen hätte. Ein süßlicher Geruch vermengt sich mit dem von Rost.

Blut.

Ich kann es riechen, der Geruch wabert wie eine verheißungsvolle Ahnung um mich herum, und ich weiß, dass mein Blut auch gleich in einer Wolke den Raum erfüllen wird.


Aus dem Augenwinkel vernehme ich eine Bewegung. Mit aller Macht kämpfe ich gegen meine Starre an und drehe den Kopf nach links. Ich entdecke einen Kerl mit zerzaustem Haar und Klamotten, die er anscheinend von Mozart persönlich gestohlen hatte. Gierig grinsend taumelt er auf mich zu, duckt sich und breitet die Arme aus, als wolle er ein Tier einfangen.

Ich kann mich nicht bewegen, nicht atmen. Jetzt werde ich sterben. Ich schließe meine Augen und hoffe, dass es schnell geht, dass die Schmerzen mir Ohnmacht schenken.

Doch dann höre ich ein drohendes Knurren aus Zlatans Kehle und er faucht: »Sie gehört mir!«

Ein kurzer Gedanke daran, die Augen zu öffnen verpufft im selben Moment seiner Entstehung, denn dem Tod werde ich hier nicht entkommen. Wenn der Kerl es nicht tut, dann wird sich Zlatan über mein Blut hermachen.

Ein Fauchen zischt an meinem Ohr vorbei und meine Lider springen auf, ohne dass ich es verhindern kann. Dicht vor meinem Gesicht starren sich Zlatan und der Kerl an, während beide ihre Reißzähne zeigen. Es ist ein stiller Kampf, den sie mit ihren starren Blicken ausführen. Schließlich entspannt sich der Kerl mit dem Barockanzug und zieht wieder ab.

»Verflucht! Komm, wir verschwinden hier«, höre ich Zlatan sagen, aber ich glaube nicht, was ich höre. Warum sollte er denn diesen Ort verlassen wollen, und das mit mir?

Er wartet keine Antwort ab, er wartet auch nicht darauf, dass sich meine Starre löst, sondern zerrt meinen steifen Körper nach vorne und hievt mich über seine Schulter. Die marmornen Bodenplatten, die an mir vorbeiziehen, sind mit Blut besprenkelt. Zlatan trägt mich an einem Kind vorbei, das die roten Flecken vom Fußboden lutscht. Seine funkelnden schwarzen Augen versehen mich mit einem gierigen Blick, dann widmet es sich wieder dem Boden. Das Blut rauscht in meinem Kopf und ein Karussell beginnt, sich zu drehen. Alles verschwimmt und ich gleite in die Leichtigkeit der Ohnmacht hinein, lasse mich von ihr tragen und ertrinke im Nichts.


Mein brummender Kopf ist das Erste, das ich wahrnehme, als ich langsam wieder zu mir komme. Bilder schwirren vor meinem inneren Auge umher, Bilder die ich mir nicht erklären kann. Vampire gibt es nicht, hallt es durch mein Bewusstsein, aber ich habe sie gesehen, das weiß ich genau. Ich erinnere mich an den Kerl mit der Mozartjacke und auch an die Frau, die dem armen Mann das Blut aussaugte.

Vorsichtig setze ich mich auf und reibe mir die Schläfen.

»Na endlich! Ich dachte, du würdest nie mehr aufwachen«, ertönt Zlatans Stimme neben mir.

Erschrocken weiche ich zurück und drücke meinen Rücken in die Wand hinter mir. Die Erlebnisse vor meiner Ohnmacht fallen wie kaltes Wasser über mich und ich muss mich erst mal sammeln, ehe ich etwas sagen kann.

»Hör zu, es tut mir leid. Ich hab `nen riesen Fehler gemacht. Dabei wollte ich nur einen berauschenden Abgang haben. Ist nichts gegen dich persönlich«, fährt er fort und wirft Fragen in mir auf, doch mir fehlen immer noch die Worte, sie zu stellen.

»Ich hätte dich da nicht mit hinnehmen dürfen. Verzeih mir, wenn du kannst«, sagt er mit gesenktem Blick.

»Wie meinst du das? Was für einen Abgang?«, frage ich mit brechender Stimme.

»Du hast gesehen, was ich bin, und das bin ich schon seit vierhundert Jahren. Vielleicht wirst du verstehen, dass ich es leid bin, dieses Leben. Du wirst es verstehen, denn dir geht es nach fünfzehn Jahren bereits so. Ich wollte ein letztes Mal den Rausch von warmem Blut spüren und dann nach so langer Zeit den Sonnenaufgang sehen.«

»Bei mir ist es was anderes. Du hast Möglichkeiten, die ich nicht habe, wenn du wirklich das bist, wofür ich dich halte«, erwidere ich.

»Pah«, macht Zlatan und sieht mich mit seinen violetten Augen eindringlich an. »Was denkst du denn, was ich bin?«

»Das ist nicht wichtig«, gebe ich zurück. Sollte ich mich irren, dann würde er mich auslachen und davon habe ich genug. Ich wollte nie wieder ausgelacht werden.

»Für mich ist es wichtig. Sag es!« Sein Ton wird drängender und ich fasse meinen Mut zusammen, um dieses eine Wort zu sagen, das bereits so lächerlich klingt, wenn ich es nur denke.

»Ein Vampir?«, flüstere ich.

Doch er lacht nicht. Sein Gesicht ist wie versteinert, als er bejahend nickt. »Ein verdammt einsamer Vampir, seit dreihundert Jahren alleine. Das geht mir so auf den Sack, dass ich nicht mehr will.«

»Du könntest«, beginne ich und überlege kurz, ob ich das wirklich sagen will, doch die Worte verselbstständigen sich und ich kann nicht verhindern, meinen Gedanken laut auszusprechen. »Mich verwandeln. Dann wären wir beide nicht mehr einsam.«

Zum wiederholten Mal sieht er mich eindringlich an. Ein Lächeln huscht über das blasse Gesicht. »Ein verlockendes Angebot«, erwidert er und senkt den Blick. »Aber ich bin zu müde.«

Eine Weile sagt niemand von uns etwas. Ich sehe mich um und erkenne meine Umgebung. Hier sind wir uns begegnet, nur sehr viel weiter oben. Wir sitzen beide mit angezogenen Knien auf dem staubigen Grund, als wären wir alte Freunde, die sich überlegen, wie sie ihre Langeweile bekämpfen könnten.

»Vor dreihundert Jahren habe ich mich in eine Sterbliche verliebt«, sprengt er die Stille zwischen uns. »Ich wollte ihr die Unsterblichkeit zum Geschenk machen, aber sie lehnte ab«, fährt er fort und zieht an dem schwarzen Lederbändchen, das um seinen Hals liegt. Eine kleine gläserne Phiole kommt zum Vorschein, die er zwischen Zeigefinger und Daumen hinaufhebt und ihren Inhalt im Mondlicht betrachtet. »Hier drinnen befindet sich die Ewigkeit, mein Gift. Damals dachte ich, dass irgendwann der Moment kommen würde, in dem sie ihre Entscheidung ändert, aber ich habe mich geirrt. Selbst auf dem Sterbebett wollte sie es nicht und gab es mir zurück. Seitdem trage ich es um meinen Hals. Ich weiß, dass sie auf mich wartet, irgendwo an einem besseren Ort. Ich bin mir sicher. Ich habe keine Angst vor dem ewigen Tod, aber vor dem Weg dorthin. Wenn du mich begleiten könntest, dann würde ich dich mit der Ewigkeit belohnen«, sagt er und hebt das Bändchen über seinen Kopf, um es mir zu reichen.

Sprachlos nehme ich die Phiole entgegen und betrachte die klare Flüssigkeit in ihr.

»Solltest du wirklich den Wunsch verspüren, eine von uns zu werden, dann muss mein Gift in deinen Blutkreislauf geraten. Aber, ich muss dich warnen, denn ein Jungvampir, der ohne seinen Erschaffer auftaucht, wird nicht gerne gesehen. Er ist zu gefährlich für uns, zu unerfahren«, sagt er und legt eine kurze Pause ein, dann spricht er weiter. »Also solltest du es tatsächlich tun, dann wirst du es nicht leicht haben, vielleicht wirst du es nicht überleben. Erzähle niemandem davon, die Menschen sind gierig. Wenn jemand wüsste, dass du den Schlüssel zu ewigem Leben hast, würde man dich dafür töten.«

Ich bin verwirrt. Warum bleibt er nicht und verwandelt mich einfach so, wie man es aus den Filmen kennt?

»Warum beißt du mich nicht einfach?«, will ich von ihm wissen.

»Weil du dann die Sonne nicht verträgst und mich nicht auf meinem letzten Weg begleiten kannst, dann wäre unsere Abmachung hinfällig. Außerdem konnte ich es schon nicht im Klub, was sollte jetzt anders sein?«, klärt er mich auf und sieht mir so tief in die Augen, dass ich das Gefühl habe, er würde in meine Seele blicken.

»Warum? Bin ich nicht genauso gut, wie jeder andere?«, frage ich etwas beleidigt, denn ich erinnere mich an den Moment, als er an mir gerochen hatte. Habe ich mich geirrt, als ich dachte, es hätte ihm gefallen?

»Nein, das bist du nicht. Dein Blut könnte meinen Entschluss ins Wanken bringen. Du wärst ein verdammt besonderer Vampir«, sagt er und schiebt seine Hand an meiner Wange hinauf.

Die Berührung jagt einen angenehmen Schauer über meinen Körper und das Verlangen nach mehr macht sich in mir bemerkbar. Scheinbar hat er das bemerkt und zieht seine Hand wieder zurück. »Wenn es vorbei ist, wird eine Menge Asche von mir übrig bleiben. Es wäre nett, wenn du sie nicht hier liegen lassen würdest«, sagt er und steht auf.

»Es ist so weit. Hilfst du mir?«, fragt er und reicht mir seine Hand, die ich packe und mich an ihr hinaufziehe.

»Komm, wir gehen hinauf auf die Plattform. Dort haben wir eine bessere Sicht«, erklärt Zlatan und schwingt meinen Körper auf seinen Rücken. Langsam könnte ich mich daran gewöhnen, ich schiebe meinen Arm unter seinem hindurch und verschränke meine Finger vor seiner Brust ineinander. Mit einem Satz springt er an das Gerüst und klettert so schnell hinauf, dass ich die Metallträger nicht erfassen kann. Sie ziehen als grauer Schleier an mir vorbei. Wenige Augenblicke später befinden wir uns auf halber Höhe. Hier ist eine Betonplatte der Ruine erhalten geblieben. Behutsam setzt er mich ab, zieht seine Collegejacke aus und setzt sich darauf.

»Damit du meine Reste nicht erst zusammenfegen musst«, meint er und nimmt meine Hand.

Ich setze mich dazu und betrachte ihn, wie erwartungsvoll er in die Richtung sieht, in der die Sonne jeden Moment aufgehen wird.

Mit kräftigen Rottönen kündigt sich der Morgen am Horizont an und durchbricht die schwindende Nacht. Zlatan drückt meine Hand fester. In diesem Augenblick kocht eine seltsame Gefühlsmischung in mir auf. Einerseits tut er mir leid, denn er weiß genau, dass er jeden Moment aus dieser Welt gehen wird, aber andererseits sieht er so entspannt und zufrieden aus, dass ich mich ein wenig für ihn freue. Obwohl ich ihn erst wenige Stunden kenne, fühle ich mich, als würde ein guter Freund sterben. Tränen drängen in meine Augen und rinnen meine Wangen hinunter. Zlatan bemerkt sie nicht, sein Blick haftet an dem zauberhaften Schauspiel der aufgehenden Sonne, deren erste Strahlen den Horizont durchbrechen.

»Ich danke dir«, wispert er, atmet tief ein und schließt die Augen.

Der Geruch von verbrennendem Fleisch umgibt ihn, auf seiner Stirn entstehen Bläschen und werden schwarz, wie Ruß. Bald darauf ist sein ganzes Gesicht verbrannt. Qualm steigt aus seinem Shirt und nimmt mir die Sicht. Ein leises aber gequältes Stöhnen arbeitet sich aus den Tiefen seiner Kehle und entwickelt sich rasch zu einem Schrei. Seine Hand wird immer heißer, aber ich lasse sie nicht los, ich will ihn nicht alleine lassen. Es fühlt sich an, als würde ich auf eine heiße Herdplatte fassen, doch ich unterdrücke den Schmerz, atme ihn aus, bis Zlatan selbst loslässt und schließlich verstummt. Der Vampir neben mir bricht in sich zusammen und alles, was von diesem gut aussehenden Typen übrig bleibt, ist ein Haufen dampfende Asche. Eine Böe erfasst Zlatans Reste und trägt sie hinaus in den wiedergeborenen Morgen. In meiner Hand spüre ich die gläserne Phiole und fahre mit dem Daumen an ihr entlang. Zlatans Vermächtnis an mich, ein Mädchen, dessen Leben nun eine andere Richtung einschlagen wird.


Das Violett des einkehrenden Tages bricht hinter den regenschwangeren Wolken hervor. Der gelbe Feuerball steigt stetig über den Horizont und wirft ein heißes Brennen auf die Stadt. Wie der erste Schrei eines Säuglings, den das Leben mit offenen Armen empfängt.

Von hier aus sieht die Stadt so friedlich aus. Keine Spur von Gewalt hinter verschlossenen Türen, keine Angst, keine Verzweiflung, nicht einmal die Schreie der sterbenden Opfer, an denen sich hungrige Vampire nähren, sind hier oben zu erahnen. Wenn die Götter nur weiter unten ihren Herrschersitz hätten, dann würden sie auch die Gebete der Verfluchten hören. Und sie hätten das Flehen eines Vampirs vernommen, dessen Dasein in Einsamkeit ertrunken ist. Aber sie hören nicht, sie sehen nicht. Sie sind nur die Erfindung verzweifelter Menschen, die einem letzten Hoffnungsschimmer nachjagen, ehe die Finsternis sie wie eine wilde Bestie einholt und erstickt. Ich aber glaube. Meine Gebete wurden erhört und ein Vampir mit einem liebenden Herzen schenkte mir Hoffnung, meinem traurigen Leben zu entkommen. Die zarte Flamme meiner Kerze hat den Kampf gewonnen.