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Das Buch

Eine tote Arzthelferin. Ein dubioses Medikament. Ein Opfer im Rausch.

Nachdem in Frankfurt eine Frau tot aufgefunden wird, nimmt Esther Streit, Hauptkommissarin bei der Frankfurter Kripo, die Ermittlungen auf und stößt schnell auf merkwürdige Machenschaften in der gynäkologischen Gemeinschaftspraxis „Dr. Reuß & Dr. Hebauer“ in Bockenheim.

Da sich Jörg Rock, neuerdings Bestseller-Autor und Esther Streits Lebensgefährte, lieber neuen Sinneserfahrungen widmet, als die Hauptkommissarin zu unterstützen, gerät sie in einen Strudel aus Möchtegern-Liebhabern, heißen Affären und unhaltbaren Verdächtigungen. Ein Verwirrspiel um Sex und Drogen beginnt.

Doch dann scheint sich das Rätsel um die „Berauschenden Opfer“ zu lösen...

Der Autor

Harry Hold ist das Pseudonym eines deutschen Autors, der seit etlichen Jahren Krimis unter seinem richtigen Namen veröffentlicht und nun eine Frankfurter Krimi-Reihe gestartet hat, die exklusiv als E-Book erscheint. „Willige Opfer – Sex & Crime 1“ (ISBN 9783944124117), „Perverse Opfer – Sex & Crime 2“ (ISBN 9783944124124) und „Sündige Opfer – Sex & Crime 3“ (ISBN 9783944124186) und „Verlockende Opfer – Sex & Crime 4“ (ISBN 9783944124209) sind in der Reihe bereits erschienen. Weitere Bände sind in Planung.

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Harry Hold

Berauschende Opfer

Sex & Crime 5

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Copyright © 2013 mainbook Verlag, mainebook

Herausgeber: Gerd Fischer

Alle Rechte vorbehalten

Layout: Anne Fuß

Titelbild: © lassedesignen - Fotolia.com

Lektorat: Jana Wachter

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de und

www.mainebook.de

ISBN 978-3-944124-33-9

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Inhalt

Prolog

Frankfurt, Montag, 3. Dezember

9.26 Uhr

10.54 Uhr

14.11 Uhr

17.37 Uhr

19.23 Uhr

21.01 Uhr

Frankfurt, Dienstag, 4. Dezember

6.23 Uhr

10.54 Uhr

11.12 Uhr

15.44 Uhr

17.13 Uhr

19.01 Uhr

21.54 Uhr

Frankfurt, Mittwoch, 5. Dezember

7.02 Uhr

9.17 Uhr

11.22 Uhr

12.40 Uhr

13.20 Uhr

Frankfurt, Donnerstag, 6. Dezember

0.06 Uhr

6.17 Uhr

11.31 Uhr

14.59 Uhr

16.14 Uhr

17.11 Uhr

19.51 Uhr

Frankfurt, Freitag, 7. Dezember

10.06 Uhr

13.12 Uhr

16.55 Uhr

20.16 Uhr

20.31 Uhr

21.51 Uhr

22.54 Uhr

0.01 Uhr

0.05 Uhr

0.20 Uhr

0.33 Uhr

0.38 Uhr

0.47 Uhr

0.53 Uhr

0.54 Uhr

Epilog

Prolog

Die Bilder, die ich von ihnen gemacht habe, liegen in meinem Ankleidezimmer auf einem kleinen Tisch vor mir.

Das Mädchenparadies. Sie sind so süß in ihrem Rausch. In ihrer Ekstase. So unschuldig. Das ist mir am Wichtigsten: ihnen ihre Unschuld nehmen.

Meine Glücksversprechen. Ich habe sie in der Hand und kann meine Gier und meine Sehnsucht befriedigen. Wie einfach es ist, sie gefügig zu machen. Sie schweben zu lassen.

Und das Schönste: Ich muss sie nicht einmal suchen. Sie kommen zu mir. Ganz automatisch. Und so praktisch. Viele von ihnen kommen sogar freiwillig wieder, weil sie mehr wollen. Die anderen halten immerhin die Klappe. Ihre Sucht ist ihnen peinlich.

Das Leben ist so elektrisierend mit ihnen. Ich bin ganz euphorisch, wenn ich an sie denke. Endlos hätte ich so weitermachen können.

Ich betrachte die Bilder, nehme eins nach dem anderen in die Hand. Blond. Braun. Schwarz. Auch eine Rothaarige ist darunter. Ihr zarter Flaum entsprach farblich exakt den Kopfhaaren. Sie berauschen mich.

Aber die bloße Erinnerung an sie genügt mir schon lange nicht mehr. Ich will mehr. Diese jungen Körper haben es mir angetan.

Ich setze mich auf einen Stuhl, öffne meinen Hosenschlitz und reibe mein Glied. Nach wenigen Bewegungen füllt es sich mit Blut, schwillt an, wird größer und schließlich steif. Hart wie Kruppstahl. Ich muss lachen. Die rot-blauen Adern am Schaft treten hervor. Wow! Bald ist die Nächste fällig. Vielleicht schon heute, sobald ich mein Tagwerk antrete. In einer Stunde muss ich vor Ort sein.

Mein heißer Atem strömt jetzt stoßweise über meine Lippen. Im Haus kann mich niemand hören, zum Glück. Ich lecke über die Bilder. Es scheint, als habe jede von ihnen einen anderen Geruch. Eine riecht nach Rosen, die andere süßlich wie nach Zimt. Eine weitere herb. Oder frisch wie ein neues Parfüm.

Als mein Körper anfängt zu zucken, hole ich ein Taschentuch heraus. Meine Gedanken fliegen. Ich kann mich kaum noch zurückhalten. Kurz bevor ich komme, kneife ich die Augen zusammen, rubbele fester und denke an das letzte Mädchen.

Und den Spritzer Blut. Mein absoluter Glücksmoment.

Frankfurt, Montag, 3. Dezember

9.26 Uhr

Esther Streit betrat die Wohnung in Frankfurt-Eschersheim. Sie fühlte sich unbehaglich. Der Anblick eines weiteren Opfers kündigte sich an.

Sie ging ins Wohnzimmer und sah die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Overalls. Ihr Blick traf Dieter Porst. „Klara Abendrot“, sagte er, „29 Jahre alt, ledig. Etwa 1,65 m groß und 55 Kilo schwer. Arzthelferin. Wie es aussieht, wurde sie mit bloßen Händen erwürgt.“

Esther Streit schaute in die starren Augen des Opfers.

Wie sie das hasste!

Die Frau mit den halblangen dunkelblonden Haaren lag in der Mitte des kleinen Raumes auf einem Läufer, umringt von einem Sessel, einem Tisch und mehreren Stühlen. Ihr Körper war leicht verdreht. Während der Rücken komplett auf dem Boden lag, war das eine Bein angewinkelt und ragte halb über das andere. Die Haltung sah unnatürlich aus. Die Frau trug eine Jeans, einen Wollpulli und dicke Socken, selbstgestrickt. Blut war keines auszumachen. Sie war nicht geschminkt. Sie wirkte wie die nette Nachbarin, mit der man einen Prosecco trinken und Spaß haben konnte.

Ein Gerichtsmediziner, den Esther lediglich einmal kurz im Präsidium gesehen hatte und dessen Namen sie nicht kannte, beugte sich gerade über das Opfer und untersuchte die Leiche.

„Hallo“, sagte Esther, ohne dem Fremden die Hand zu reichen. „Esther Streit, Hauptkommissarin. Sie sind der Neue?“

Der Mann trug Handschuhe und sah ebenfalls davon ab, ihr die Hand zu geben. „Genau. Heiner Trost.“

Esther lächelte, obwohl ihr nicht danach war. „Todeszeitpunkt?“

„Kann ich noch nicht exakt bestimmen. Ich schätze gestern Abend oder frühe Nacht, also vor zehn bis vierzehn Stunden.“

„Kampfspuren?“

„Außer den Würgemalen wenig. Einige Abschürfungen an Armen und Beinen. Zwei, drei blaue Flecken. Ein paar Kratzer im Gesicht. Aber ob die vom Täter stammen, wird die Obduktion zeigen.“

„Hat sie sich gewehrt?“

„Lässt sich bislang nicht exakt rekonstruieren. Wenn ja, dann eher zaghaft. Oder sie wurde plötzlich überfallen und vom Täter überrascht.“

„Gibt es Hinweise auf einen männlichen Täter, weil sie das so betonen?“

„Kräftig muss er gewesen sein, sonst hätte er sie nicht zu Tode würgen können.“

„Anzeichen eines sexuellen Übergriffs?“

„Dazu kann ich noch keinerlei Aussage machen.“

Wie sie das hasste!

Esther seufzte. „Irgendwelche weiteren Erkenntnisse?“, fragte sie in die Runde, doch nahezu alle Spurensicherer gingen stoisch ihrer Arbeit nach. Bis auf Ines Freuke. Sie winkte Esther an die Eingangstür und deutete auf das Schloss.

„Hier, das ist unversehrt. Sieht so aus, als hätte sie ihm geöffnet.“

„Keine Einbruchspuren? Also kannte sie ihn?“

„Durchaus möglich. Zumal in der Wohnung nichts durchwühlt wurde.“

„Das heißt, es liegen keinerlei Anzeichen eines Raubmordes vor?“

„Exakt.“

Als Esther den Kopf hob, kam Carlo Funke die Treppe zur Wohnung im ersten Stock hoch und blieb vor ihr stehen.

„Auch schon da, Carlo-Bärchen?!“ Sie schmunzelte.

Den Spitznamen hatte er seit einer kurzen Liaison mit der Cousine von Jörg Rock, Esthers Freund. Sie hatte ihn aufgrund seiner Leibesfülle und der Vorliebe für Süßes so genannt.

„Sorry, Stau ohne Ende in der Stadt. Was ist denn hier los?“

„Tote Sprechstundenhilfe. Wir teilen uns die Arbeit. Schnapp dir die Jungs und klingel die Nachbarschaft ab. Sie wurde erwürgt. Vielleicht hat jemand einen Schrei gehört oder jemanden wegrennen sehen. Jemand muss in ihrer Familie und ihrem Freundes- und Bekanntenkreis recherchieren...“

„...übernehme ich“, sprach Funke dazwischen.

„Okay. Ich fahre in die Praxis, in der sie gearbeitet hat. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns in drei oder vier Stunden im Präsidium zur Lagebesprechung.“

10.54 Uhr

Die gynäkologische Gemeinschaftspraxis Hebauer & Reuß lag in Bockenheim in der Markgrafenstraße, in Sichtweite der beliebten Leipziger Straße, auf der es Geschäfte und Läden aller Art gab.

Esther hatte ihren Besuch angekündigt und darum gebeten, alle Mitarbeiter der Praxis, soweit derzeit verfügbar, zusammenzutrommeln. Sie wollte sich einen Überblick verschaffen und alle mit dem Tod der Kollegin konfrontieren. Eine Schocktherapie konnte ihren Ermittlungen eventuell dienlich sein.

Als Esther die Praxis betrat, erwarteten sie etliche Augenpaare, die sie wie gebannt anblickten. War etwas durchgesickert? Wussten sie bereits Bescheid? Woher?

Einer der Gynäkologen nahm sie in Empfang und gab ihr die Hand. Dr. Hebauer, wie Esther anhand des Schildes an seiner Brust erkannte.

„Womit können wir Ihnen behilflich sein?“, fragte er forsch mit einer butterweichen Schleimstimme.

Als Esther darauf bestand, zunächst mit allen Mitarbeitern reden zu wollen, wies er an, in den nebengelegenen Warteraum zu gehen.

Im Warteraum saß nun keine einzige Patientin mehr, dafür ein weiterer Arzt, Dr. Reuß, vier Sprechstundenhilfen und das Mädchen für alles, Herr Arno Kling, 54 Jahre alt, Kurierfahrer, Hausmeister, Handwerker, Kopierer und Frühstücksholer in einer Person.

Nachdem Esther ihren Blick durch die Runde hatte schweifen lassen und dabei jeden eine Weile fixierte, probierte sie es auf die direkte Tour. „Mein Name ist Esther Streit von der Frankfurter Kripo. Ich überbringe ihnen schlechte Nachrichten. Klara Abendrot ist gestern spätabends Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“

Esther beobachtete sehr genau die Reaktionen der Anwesenden. Links von sich registrierte sie Aufschreie aus zwei verschiedenen Kehlen. Eine dralle Braunhaarige und eine schlanke Schwarzhaarige hielten sich die Hände vor den Mund.

„Das ist ja furchtbar“, erklang es aus dem Mund von Dr. Reuß.

„Du lieber Himmel!“, fügte Dr. Hebauer hinzu.

Die beiden anderen Sprechstundenhilfen schienen so geschockt, dass sie keinen Laut über die Lippen brachten.

Nach Esthers Offenbarung schauten die meisten verschämt zu Boden, trauten sich nicht, einander anzublicken oder etwas zu sagen.

„Zum Tathergang und zum Täter lässt sich derzeit noch nichts Näheres sagen. Wir sind auf ihre Mithilfe angewiesen. Jede Information kann hilfreich sein. Hat jemand von ihnen mitbekommen, dass Frau Abendrot bedroht wurde?“

Schweigen.

„Weiß jemand von ihnen, ob Frau Abendrot Feinde hatte?“

Schweigen.

„Hatte Frau Abendrot Streit mit jemandem?“

Schweigen.

„Hat Frau Abendrot in letzter Zeit etwas erwähnt, was ihr Kummer bereitet hat?“

Schweigen.

„Hatte sie Sorgen? Ängste? Probleme, die sie mit jemandem von ihnen geteilt hat?“

Niemand im Raum machte Anstalten, etwas sagen zu wollen. Esther verstummte, schaute der Reihe nach alle an. Betretene Gesichter. Sie fühlten sich unwohl, das spürte sie. Aber das war gut so. Früher oder später würde jemand etwas sagen. Jemand, dem etwas auf dem Herzen lag oder der sich in die Enge getrieben fühlte.

„Okay“, fuhr Esther fort. „Scheint so, als hätte es ihnen allen die Sprache verschlagen.“

„Ja, wissen Sie, das ist so ungewohnt für uns alle“, setzte Dr. Reuß zu einer Erklärung an.

„Zum Glück“, erwiderte Esther. „Stellen Sie sich vor, sie wären an so etwas gewöhnt.“

Wieder Schweigen. Den Witz hatte niemand mitbekommen.

„Wir sind erschüttert“, schaltete sich auch der andere Arzt, Dr. Hebauer, ein. „Es ist so entsetzlich und unerwartet. Gestern hat sie hier noch gearbeitet. Ich darf gar nicht dran denken. Es tut mir leid, dass niemand Ihnen weiterhelfen konnte. Aber vielleicht fällt uns noch etwas ein, wenn sich das alles etwas gesetzt hat. Wir können ja noch nicht realisieren, was geschehen ist.“

„Keine Sorge, ich melde mich wieder bei ihnen“, antwortete Esther und schaute wieder in die Runde. „Ich lasse ihnen einige Karten hier. Bitte rufen sie mich sofort an, sobald ihnen im Zusammenhang mit Frau Abendrots gewaltsamen Ableben etwas einfällt. Egal was.“ Sie drückte den Anwesenden ihre Visitenkarten in die Hand. Ein Blick weckte ihre Aufmerksamkeit. Die Arzthelferin, auf deren Schild der Name Iris Jung stand, schluchzte plötzlich: „Sie war doch erst 29.“ Es klang wie die Inschrift auf einem Grabstein. Und kaum ausgesprochen, fügte sie mit bitterem Ton hinzu: „Ich glaube, ich drehe durch. Ich kann nicht allein sein heute.“ Eine ihrer Kolleginnen namens Jenny Nord nahm sie in den Arm. Sie umarmten sich lange. Tränen flossen. Die beiden anderen Arzthelferinnen, Isabell Tenhagen und Lisa Fontano, stimmten ein.

Esther beobachtete die vier eine Weile und warf noch einen Blick in die Runde. Die beiden Ärzte und Herr Kling standen fassungslos da. Alle wirkten zutiefst verstört. Oder waren sie passable Schauspieler, die ihre wahren Gefühle kaschieren und ihr Gesicht unter einer Maske aus Fassungslosigkeit verdecken konnten? Sie hätte zu gern die Gedanken der Anwesenden gelesen, aber sie konnte nicht hinter die Fassade schauen.

Esther wandte sich an Dr. Hebauer. „Können Sie mir eine Liste zukommen lassen mit allen Namen, Adressen und Telefonnummern Ihrer Mitarbeiter inklusive Ihrer eigenen?“

„Selbstverständlich. Das gebe ich sofort in Auftrag.“

„Danke. Bitte mailen Sie die Liste an die Adresse auf der Visitenkarte.“ Der Arzt nickte.

Anschließend verließ Esther die Praxis. Sie fühlte die Blicke auf ihrem Rücken. Wenn jemand darunter war, der etwas aussagen wollte und sich nicht vor den anderen getraut hatte, würde sich dieser Jemand nicht viel Zeit lassen und sie kontaktieren.

14.11 Uhr

Während sich Carlo eine Packung Nippon Puffreis gönnte, saß ihm Esther an seinem Schreibtisch gegenüber und berichtete von ihrem Besuch in der Praxis bei den Gynäkologen und ihrem Team. Sie spürte, während sie die Details schilderte, wie ein inneres Aufbäumen, das sich langsam ausbreitete, bis in die letzten Nervenendungen vordrang. Solche Fälle hatte sie satt wie sonst was. Sie machten sie aggressiv. Die Suche nach dem Mörder, nach Indizien und Motiven, das Wühlen im Dreck, ging ihr zunehmend gegen den Strich. Sie hätte ein Himmelreich für eine Alternative gegeben. Aber sie hatte verdammt nochmal keine Idee, was sie sonst mit ihrem Leben hätte anfangen sollen.

Nachdem sie ihre Schilderungen beendet hatte, kommentierte Carlo schmatzend. „Wenn dabei was rauskommen soll, müssen wir die einzeln vernehmen.“

„Wird ein Marathon“, erwiderte Esther. „Ich nehme sie mir morgen einzeln vor. Und bei dir?“

„Immerhin gibt es ein paar Hinweise. Der Nachbar, ein Jonas Becker, scheint interessant zu sein. Er ist die ganze Zeit im Treppenhaus herumgeschlichen, hat geguckt und geguckt und als er von ihrem Tod erfahren hat, war er wie aufgelöst. Ein Arzt musste ihm eine ordentliche Dosis Beruhigungsmittel reinjagen, sonst wäre er womöglich kollabiert. Natürlich konnten wir ihn in dem Zustand nicht vernehmen.“

„Dann wissen wir ja, was wir morgen vorhaben. Ist er einbestellt?“

„Ja. Um 11 Uhr. Willst du bei seiner Befragung dabei sein?“

„Nicht unbedingt. Hast du was zu ihren familiären Verhältnissen?“

„Sie ist ledig, war nie verheiratet. Und laut der Aussage einer älteren Nachbarin, die direkt unter ihr wohnt, hatte sie keinen Freund. Der letzte war vor einigen Monaten im Haus ein- und ausgegangen. Sie achte sehr auf Männerbesuche, meinte sie.“ Carlo schmunzelte.

„Für was ältere Damen alles gut sein können.“

„Genau. Übrigens sind die restlichen Mitbewohner alles Greise oder kurz vor scheintot. Keiner unter 75.“

„Bist du sicher, dass du nicht im Altersheim warst?“

„Bin ich.“

„Und? Hat keiner von denen was gehört oder gesehen?“

„Fast alle schwerhörig“, Carlo lachte herzhaft und biss in ein frisches Nippon. „Aber mal im Ernst. Die alten Leutchen pennen meistens schon vor der Tagesschau ein. Und wenn es draußen dunkel ist, noch früher. Keiner konnte eine halbwegs vernünftige Aussage machen. Einer hat wohl eine Art Stöhnen gehört, ein anderer eine Tür zuschlagen. An die Uhrzeit erinnern sie sich nicht mehr. Die Nachbarin hat jemanden im Treppenhaus gehört.“ Funke legte eine kurze Denkpause ein, während er ein weiteres Puffreis aß. „Also weiter. Klara Abendrots Eltern leben beide nicht mehr. Sie hat keine Geschwister und nur entfernte Verwandtschaft. Ein Onkel und eine Tante im Osten. Schwerin, um genau zu sein. Und eine Cousine, die am Bodensee lebt. Mit allen hatte sie nicht viel zu tun gehabt.“

„Kontaktscheues Mädel? So sah sie gar nicht aus.“

„Laut der Aussage der Nachbarin hat sie sehr viel gearbeitet. War jeden Tag 11 bis 12 Stunden außer Haus, manchmal länger.“

„Wofür gibt es eigentlich Arbeitszeitgesetze?“

„Wir prüfen noch, ob sie tatsächlich so lange in der Praxis gearbeitet hat oder vielleicht noch einen Zweitjob hatte, Hobbys, viel Sport getrieben hat oder so?“

„Okay, also können wir familiäre Streitigkeiten oder eine Erbangelegenheit vorerst ausschließen, genauso wie Raubmord und einen Unbekannten, sonst hätte sie wohl kaum die Tür aufgemacht. Wir müssen uns auf ihr unmittelbares Umfeld konzentrieren. Wen gibt es da noch?“

„Bis auf den Nachbarn Fehlanzeige.“

„Aber es muss doch eine beste Freundin oder so etwas geben.“

„Okay, ich kümmere mich darum. Die Auswertung der Mails, der SMSe und der eingegangenen und angerufenen Telefonnummern wird noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen. Übrigens: Um 17.30 Uhr haben wir einen Termin bei Ölbrich und Klaus. Sie wollen informiert werden.“

„Bis dahin brauchen wir aber noch einige handfeste Infos, sonst können wir den Bossen wenig erzählen.“

„Ich schaue, was sich machen lässt.“

17.37 Uhr

„Kommen Sie am besten gleich auf den Punkt“, sagte Henning Klaus, Leiter der Mordkommission, der sich mit der Hand nervös durch die graue Schläfe fuhr. „Das Herumgeplänkel stiehlt uns nur Zeit.“

Torsten Ölbrich, Esthers Teamleiter, wie immer in schickem Hemd, Krawatte und Jackett gekleidet, setzte sich neben Klaus und bat Funke zu beginnen.

Sie saßen in Carlo Funkes Büro und neben den Herren hatte auch Esther Streit Platz genommen. Sie hoffte insgeheim, dass ihr Kollege etwas Neues präsentieren konnte, glaubte aber nicht wirklich daran.

„Der Bericht der Spurensicherung liegt zwar noch nicht vor“, eröffnete Funke seine Darlegung, „aber wir haben was Interessantes gefunden. Und zwar ein Ticket nach Bali. Ausgestellt für den 14. Dezember, also grob gesagt in zwei Wochen.“

„Und was ist jetzt das Besondere daran?“, fragte Ölbrich.

„Es ist ein One-Way-Ticket. Sie hat keinen Rückflug gebucht.“

„Und was schließen Sie daraus?“, hakte Klaus nach.

„Womöglich plante sie für längere Zeit dort zu bleiben.“

„Oder sogar auszuwandern“, ergänzte Esther.

„Wie auch immer“, fuhr Funke fort. „Sie war weder im Begriff, ihre Wohnung aufzulösen noch gibt es andere Anzeichen für entsprechende Vorbereitungen. Außerdem hatte sie wenig bis nichts auf der hohen Kante, konnte sich das Ticket kaum leisten und musste sogar den Dispo in Anspruch nehmen. Frage: Wandert man da so mir nichts dir nichts aus?“

„Wohl eher nicht“, wog Esther ab.

„Es sei denn, man erwartet in nächster Zeit eine Stange Geld.“

„Aber woher?“

„Weiß ich nicht. Jedenfalls hat sie sich ausgiebig auf sämtlichen Bali-Seiten im Netz rumgetrieben. Eine erste Übersicht in der Chronik ihres Computers zeigt, dass sie sich seit einigen Monaten mit fast nichts anderem beschäftigt hat. Reiseberichte über Bali, allgemeine Auswandererseiten, Tipps für Asienreisende, kulturelle Angebote, Indonesienseiten und vieles mehr.“

„Wenn es ihr so wichtig war, müsste sie doch darüber mit einigen Leute aus ihrem Umfeld gesprochen haben“, konstatierte Esther.

„Es sei denn, sie hat es absolut geheim gehalten. Dann stellt sich natürlich die Frage warum.“

„Okay, das müssen wir herausfinden.“ Elke seufzte leicht. „Und außerdem, ob es auf Bali irgendeinen Kontakt gab. Vielleicht eine Freundin oder ein Freund, zu dem sie wollte.“

Während sich Esther und Carlo Funke austauschten, hörte sich Henning Klaus alles in Ruhe an, ruckelte aber zunehmend unruhig auf seinem Stuhl hin und her und platzte dann heraus: „Soll das alles sein? Verdammt wenig!“ Er lehnte sich zurück, seufzte in sich hinein und verschränkte die Arme vor der Brust. „Haben wir wirklich noch nicht mehr?“

Carlo Funke schien verunsichert. „Ja, also, ich meine, nein. Wir haben gerade erst angefangen, die Hausbewohner zu vernehmen. Morgen früh ist der Nachbar dran, dann die Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis. Weitere Bekannte und Freunde recherchieren wir noch. Die wenigen Familienmitglieder wohnen zu weit weg und hatten kaum Kontakt zum Opfer.“

„Ich hatte gehofft, wir wären schon weiter!“ Er räusperte sich und ließ seine tiefe Stimme laut erklingen. „Ich erwarte also, dass sämtliche Befragungen bis morgen abgeschlossen sind und weitere Erkenntnisse vorliegen. Solche Taten werden in der Regel im Familienkreis oder im Freundeskreis begangen. Wenn wir das Motiv haben, führt es uns fast automatisch zum Täter.“

Esther schüttelte energisch den Kopf und wäre fast aufgesprungen, doch ein kurzer Blick Funkes ließ sie innehalten. „Wie können Sie da so sicher sein?“, fragte sie mit gezwungen ruhiger Stimme und versuchte sich ihre Empörung nicht anmerken zu lassen. „Bis jetzt liegt kein Detail vor, das darauf hinweist.“

„Frau Streit, ich will mich bestimmt nicht mit Ihnen streiten.“ Er lächelte über sein eigenes Wortspiel, das er schon zigmal benutzt hatte. Esther fand es nur noch zum Gähnen. „Schon gar nicht möchte ich eine Diskussion über Ihren Sachverstand anzetteln. Aber die Sache hier liegt doch klar auf der Hand. Die Abendrot war eine unbescholtene Person und da wir Raubmord ausschließen können, führt der Weg zum Täter automatisch in den engeren Kreis und das Umfeld der Toten.“

„Ist mir schon klar, nur...“, erwiderte Esther trotzig, „... wissen wir noch lange nicht, wie der engere Kreis aussah. Es könnten durchaus noch weitere verdächtige Personen auftauchen. Wir müssen recherchieren und dazu brauchen wir Zeit.“

„Genau das ist Ihr Job und ich erwarte, dass Sie ihn zügig erledigen. Guten Tag!“ Klaus erhob sich und verließ das Büro.

In seinem Schlepptau stand Torsten Ölbrich auf, folgte dem Chef, blieb aber in der Tür noch einmal stehen und schaute sich um. Über die Schulter flüsterte er den beiden zurückgelassenen Hauptkommissaren zu. „Hab das Gefühl, ihm ist heute eine Laus über die Leber gelaufen. Ich kläre das. Ihr macht bitte ganz normal weiter.“

19.23 Uhr

„Das ist doch alles Firlefanz“, bemerkte Carlo Funke, aß das letzte Nippon des Tages und entsorgte den Müll im Papierkorb. Für morgen hatte er eine Packung Gummibärchen besorgt. Einen Tag mit Schoki, den anderen ohne. Abwechslung musste sein.

Esther fühlte sich wie gerädert, obwohl tagsüber nicht viel passiert war. Sie freute sich auf zu Hause und ihren Kuscheljungen.

„So, dann lass uns doch mal das Resümee des Tages ziehen“, sagte sie in der Hoffnung, baldmöglichst hier rauszukommen.

„Gut.“ Funke spülte mit Mineralwasser nach. „Es handelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen männlichen Täter aus dem näheren Umfeld des Opfers. Bisher sind uns vier konkrete Männernamen bekannt. Jonas Becker, der Nachbar, der offensichtlich scharf auf sie war. Ihre beiden Chefs, Dr. Reuß und Dr. Hebauer, und Arno Kling, das Mädchen für alles in der Praxis.“

„Wer war eigentlich ihr Ex-Freund?“, hakte Esther nach.

„Die Nachbarin hat mir den Namen genannt. Moment.“ Er kramte in seinen Notizen. „Olaf Ginster. Komischer Name. Adresse hab ich auch. Sollen wir ihn aufsuchen?“

„Unbedingt.“

„Okay. Ich fahre morgen zu ihm und schau mir den Knaben an. Was hältst du bislang von dem Fall?

Esther neigte den Kopf und schaute aus dem Fenster. Draußen war es längst dunkel, nur die Lichter der Großstadt blinkten in der Umgebung. Auf der Miquelallee zog sich die Autolawine hinaus aus der Stadt Richtung Wiesbaden. Vom Verkehrslärm war hier nichts zu hören. Esther wandte sich wieder an Carlo. „Irgendwas schmeckt mir an der Sache nicht. Ich habe ein komisches Gefühl. Wir brauchen unbedingt den Bericht der Spurensicherung und die Obduktion.“

„Schon klar. Aber dein Bauch, was sagt der?“

„Ich sehe weit und breit kein Motiv. Das macht mir Kummer. Da könnte was weiß ich was dahinter stecken. Und genau das sind immer die unangenehmsten Fälle, weil man vor Überraschungen nie gefeit ist.“

„Ich nehme an, du sprichst von bösen Überraschungen?“

„So ist es!“

21.01 Uhr

Spät abends kam Esther müde nach Hause zu ihrer Eigentumswohnung am Rande des Niddaparks in Ginnheim mit herrlichem Blick auf den Taunus. Sie war froh, endlich heimzukommen, sich die Klamotten vom Leib zu reißen, ein heißes Bad nehmen und sich danach in die warmen Arme ihres Schatzes schmiegen zu können.

In den letzten Tagen war es frostig geworden. Morgens überzog Raureif die kahlen Parkbäume, abends lag Nebel in den dunklen Straßen.