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ANDREA PALUCH

Wundervolles
DorfLEBEN

Boyens Buchverlag

 

Für meine fünf Jungs

Erste Eindrücke

Als wir unser Haus auf dem Land renovierten, wurde die Baustelle immer größer. Eigentlich hätten wir so, wie es war, einziehen können. Aber dann wollten wir doch lieber ohne Nachtspeicheröfen leben. Also raus mit den alten Öfen und eine neue Gasheizung rein. Den Gasanschluss mussten wir allerdings erst legen. Wir buddelten von der Straße unter der Hauswand hindurch in den Heizungsraum. Der Holzfußboden lag direkt auf dem Sand. Das fanden wir dann doch zu rustikal. Wir nahmen den Holzfußboden heraus und karrten viel Sand aus dem Haus, um ein Fundament zu gießen. Dabei konnten wir doch eigentlich auch gleich die störenden Wände entfernen. Die zum Vorschein kommenden Elektroleitungen waren von 1910, Draht mit verrottetem Textilisolierband. Beim Versuch, diese Entdeckung zu ignorieren und schnell wieder zu verspachteln, floss der Strom durch den Maurer, der außer einem Schreck zum Glück keine Schäden davon trug. Also auch noch neue Leitungen. Statt einer neuen Heizung waren wir also mehr oder weniger dabei, das Haus zu entkernen. Glücklicherweise wurden wir ungefähr gleichzeitig an die Kanalisation angeschlossen und konnten die Sickergrube im Garten schließen.

Das Wohnen auf dieser Baustelle war sehr unangenehm, denn es war dreckig und kalt. Der Dorfkrug am Abend war unsere Rettung. Hände waschen und etwas Warmes essen. Handwerkerportionen für wenig Geld, vor allem Fleisch mit Soße. Unsere Ansprüche waren erheblich geschrumpft. Und dann kam das Highlight dieser Bauphase: eine Nachbarin lud uns zum Mittagessen ein. Ich erinnere mich vor allem daran, dass es grüne Bohnen gab. Was für eine Wohltat! Außerdem sprach jemand mit uns und erklärte uns die Nachbarschaft. Das war gemütlich, wenngleich wir uns kaum einen Namen merken konnten. Ich weiß nicht, ob ich den Grad der Dankbarkeit und Freude, der diese Einladung bei uns ausgelöst hat, später glaubhaft kolportieren konnte. Die besagte Nachbarin ihrerseits hatte uns nicht nur aus Mitleid ob unserer miesen Unterbringung eingeladen, sondern ausgesprochenermaßen auch aus Neugier, wer sich da in unmittelbarer Nähe ansiedeln würde. Diese pragmatische und gleichzeitig auch unverblümte Art gefiel mir gut und sollte sich wie ein roter Faden durch unser Landleben ziehen.

Irgendwann war die Renovierung abgeschlossen, und der Tag des Umzugs war da. Als wir mit dem Laster auf den Hof fuhren, hing eine Girlande an der Eingangstür, und ungefähr zwanzig wildfremde Menschen und ein paar Kinder tummelten sich davor. Sie begrüßten uns sehr freundlich mit Sekt und ließen sich durch das Haus führen. Dann verabschiedeten sie sich mit dem Hinweis, noch mal in aller Ruhe anlässlich der Einweihung wieder zu kommen. Das war aus meiner Städtersicht eine etwas indiskrete Form der Selbsteinladung. Wie ich später lernte, war diese Erwartungshaltung allerdings derart selbstverständlich, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, ihre Außenwirkung zu überprüfen. Also luden wir alle zeitnah noch einmal zu Kaffee und Kuchen ein, man traf sich ein zweites Mal, und wir fingen an, uns Bilder von den unterschiedlichen Personen zu machen. Wir befanden alle für äußerst nett, die Gruppe schien freundschaftlich verbunden und unkompliziert im Umgang zu sein. Wir äußersten uns gegenüber einem Gast aus der Stadt zufrieden über unseren Eindruck. Er bremste unsere Unvoreingenommenheit mit den Worten: „Wahrscheinlich müsst ihr eure Meinung noch ein paar Mal ändern.“ Das zerstörte für mich die Harmonie, die über dem Nachmittag gelegen hatte, es klang wie eine Drohung. Und ich trug ihm diesen Ausspruch eine ganze Weile lang heimlich nach. Bis ich anfing, meine Meinung ein paar Mal zu ändern.

Ankommen

Kaum hatten wir den Umzug am Vorabend hinter uns gebracht, riss ich morgens die Fenster auf, um die frische Luft hereinzulassen. Das war meine erste Erfahrung mit dem Landleben. So schnell konnte ich die Fenster gar nicht wieder schließen, wie der Güllegestank durch das Haus zog. Als alle angewidert „Iiiiih“ schrien, fielen mir automatisch die oft gehörten Worte meiner Mutter aus dem Mund: „Tief einatmen! Das stärkt die Lungen.“ Das mochte keiner so richtig glauben. Umgeben von so vielen Zweiflern wurde ich schließlich auch unsicher. Vor allem aber nervte mich die Einschränkung, in einem stinkenden Haus zu sitzen und die Fenster nicht öffnen zu können. Wir entschlossen uns, die Situation mit Humor zu nehmen. Denn ändern konnten wir sie ja nicht. Und zwar auf Jahre hinaus nicht. Wir lernten sogar, den Gestank völlig emotionslos hinzunehmen, so wie die Menschen um uns herum auch. „Is ja so“. Mit diesem Kommentar quittierten sie alles, was sich eben nicht ändern ließ.

Als ich das nächste Mal die Fenster öffnete, schnupperte ich erst einmal durch einen schmalen Spalt, ob die Luft auch rein war. Unten sah ich einen Fahrradfahrer in hohem Tempo vorbei fahren, der sich oft und panisch umdrehte und nach hinten sah. Ich wunderte mich über dieses Gebaren und wollte gerade mit dem Fensteröffnen fortfahren, denn die Luft war tatsächlich rein, frisch und klar. Da sah ich einen großen, schwarzen Neufundländer am Haus vorbei galoppieren. Und noch während ich in Gedanken den Hund mit dem Radfahrer in Verbindung brachte, näherten sich Rufe: „Moses! Moses!“ Ein wild fuchtelnder Hundebesitzer im Dauerlauf schlug die gleiche Richtung ein wie Jäger und Gejagter vor ihm. Wie das wohl ausging, fragte ich mich. Mit einem Kopfschütteln versuchte ich, mein Grinsen zu unterdrücken. Da stand ich nun am Fenster und wusste nicht mehr, was ich eigentlich machen wollte.

Moses war, wie sich später herausstellte, der Nachbarshund. Er war tapsig und gutmütig und kam ab und zu ungefragt in unseren Garten. Meistens erklomm er den schulterhohen Komposthaufen und suchte nach etwas Leckerem. Dann konnte es passieren, dass man nichtsahnend die Küchenabfälle ausleeren wollte und unversehens Aug in Aug mit einem Ungeheuer stand, das sich offenbar genauso erschreckte wie man selber. Daraufhin ließ er sich immer lammfromm und vielleicht auch ein bisschen schuldbewusst nach Hause bringen. Für uns Städter war Moses der erste normale Hund, den wir trafen. Im Stadtpark waren lauter gestörte Köter mit noch gestörteren Herrchen unterwegs gewesen. Unsere Kinder waren auf dem Spielplatz regelmäßig von unerzogenen Hunden umgerannt worden, und wir alle hatten Angst vor ihnen entwickelt. Moses nahm uns diese Angst. Die Kinder durften seine Zunge und Zähne untersuchen und sogar auf ihm reiten. Wenn ihn etwas störte, ging er weg. Aber das passierte eigentlich nie. Im Gegenteil war er eher begeisterungsfähig. Und vor allem berechenbar. Wenn wir Leute aus der Stadt zu Besuch hatten, staunten sie nicht selten Bauklötze, wenn ich das Kompostungeheuer am Halsband nahm und wie selbstverständlich über die Straße nach Hause brachte. So einen Umgang mit fremden Hunden war niemand gewohnt, und schon gar nicht von mir, der Schisserin vor dem Herrn. Uns war das längst selbstverständlich geworden und die Erinnerung an unangenehme Parkerlebnisse schon lange verblasst. Wie schnell ging dieses Verblassen? Ich glaube, es begann mit dem ersten Tag auf dem Land. Das neue Haus, die neuen Eindrücke und das Fremdsein – all das warf uns ins Hier und Jetzt und ließ die Vergangenheit zurück.

Die Kunst des Grüßens

Mir wurde ziemlich schnell zugetragen, dass „die“ aus dem Neubaugebiet irgendwie anders waren. Ich wollte natürlich gern wissen inwiefern. Das schien aber schwierig, in Worte zu fassen zu sein. Alles, was ich herausbekam, war, dass „die“ nicht grüßten. Meine Lebenserfahrung in der Stadt hatte mir bis dato bescheinigt, dass man nur Menschen grüßte, die man kannte. Grüßte man Bekannte nicht, war das ein Akt der Unfreundlichkeit oder der Versuch, Distanz auszubauen oder Abneigung zu demonstrieren. Was waren „die“ also für Leute? Unfreundliche? Offenbar auch sehr zurückgezogen lebende, denn ich hatte noch niemanden getroffen, der mich nicht gegrüßt hatte. Das fand ich eigentlich komisch, denn ich kannte ja keinen einzigen dieser Grüßer. Man konnte gar nicht anders, als unentwegt grüßend durchs Dorf zu gehen. Ich war mir nicht so sicher, was merkwürdiger war: Fremde zu grüßen oder Bekannte nicht zu grüßen.

Besonders schön war aber der Gruß selbst: „Moin!“ Meine anfänglichen Anläufe, wie gewohnt schlicht „Hallo“ oder etwas distinguierter „Guten Tag“ zu sagen, stellte ich schnell ein. Das klang irgendwie ausländisch. Also „Moin“ allerorten. Wenn wir mit Gästen spazieren gingen, konnte es vorkommen, dass sie die neue Vokabel registrierten und reaktionsschnell mit „Guten Morgen“ antworteten, egal welche Tageszeit es war. Das war lustig, denn mit einem „moin Wind“ wünschte man den Seeleuten einen guten Wind. „Moin“ war also „gut“ und nicht „Morgen“. Doch woher sollten das diese Besucher wissen? Man hatte Verständnis dafür, dass sie sich für das scheinbar Naheliegende entschieden. Das zeugte ja eigentlich von gesundem Menschenverstand. Verblüffung riefen eigentlich nur wenige hervor, die vom „Moin“ inspiriert in die Wundertüte der Begrüßungen griffen und etwa mit „Grüß Gott“ antworteten.

Neben der Unterscheidung „Dorf“ und „Neubaugebiet“ gab es auch noch die Unterscheidung „Hausbesitzer“ und „Mieter“. Mieter fielen nicht nur aus dem Gruß-Schema, sondern man erwartete zudem nicht, dass sie sich hundertprozentig auf das Sozialgeflecht Dorf einließen. Sie bekamen einen fünfzigprozentigen Erlass. Wenn etwa für einen Geburtstag, ein Richtfest oder einen Hochzeitstag Geld gesammelt wurde, lagen Hausbesitzer bei 10 Euro pro Kopf, Mieter wurden um 5 Euro gebeten. Wahrscheinlich deutete die Tatsache, dass sie kein Haus besaßen, darauf hin, dass sie nicht so liquide waren. Es war also Rücksicht. Oder es sollte kein Druck aufgebaut werde, sich in die Dorfgemeinschaft integrieren zu müssen, da sie doch eh irgendwann wieder weg zogen. Leider kannte ich die offizielle Erklärung für das Vorgehen nicht, als sich mir gegenüber einmal ein Mieter halbwegs irritiert darüber äußerte, dass er diskriminiert wurde. Ich war doppelt schockiert. Zuerst darüber, dass ich nie über diese Ungleichbehandlung und was sie bedeuten konnte nachgedacht hatte. Und dann darüber, dass es jemanden gab, der es offenbar vorzog, für private Feste fremder Menschen mehr Geld zu geben, als gefordert wurde. Vielleicht waren Mieter ja echt anders.

Was bin ich?

Wer waren wir Fremdlinge eigentlich in diesem Dorf? Wir hatten die Chance, uns völlig neu zu entwerfen. Es wäre denkbar gewesen, Mitglied eines wichtigen Gremiums im Gemeinderat zu werden, etwa im Festausschuss. Ich hätte mich bei den Landfrauen engagieren können, denen es an Nachwuchs mangelte. Mein Mann hätte mit dem Arzt, Apotheker und Lehrer Skat spielen können. Doch wir hatten kleine Kinder und waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Wir mussten es schaffen, zuhause zu arbeiten und uns nicht vom Alltagsgewusel ablenken zu lassen. Wir verschenkten sehr selbstdiszipliniert keine freie Minute und saßen so oft es ging am Schreibtisch. Und wenngleich wir uns kaum von unserer Scholle weg bewegten, waren die Tage so voll wie es eben ging. Die alltäglichen Pflichten griffen wie Zahnräder ineinander und ergaben einen ausgeklügelten Mechanismus, mit dem wir uns Arbeitszeit verschafften. Wenn ein Zahnrad ausfiel, entstand eine Kettenreaktion, die den ganzen schönen Mechanismus zunichtemachte. Dann mussten nicht nur Termine abgesagt werden, sondern es wurde auch nicht produktiv gearbeitet.

All das sahen wir. Von außen sah man nur, dass wir immer zuhause waren. Die logische Schlussfolgerung war, dass wir arbeitslos sein mussten. Eine Hartz-IV-Familie. Aber das Haus passte nicht dazu. Also versuchten wir die Information zu streuen, dass wir Schriftsteller waren. Darunter konnte sich niemand etwas vorstellen. Bücher schreiben. Aha. Einige, die Bücher kannten, fragten immerhin „Was für Bücher?“. Es setzte sich das Wort Künstler durch. Das war leichter zu merken. Manchmal wurde aus Künstler auch Maler, denn das waren Künstler ja nun mal. Just am Beginn unseres Dorflebens standen auch noch, für alle gut sichtbar, häufiger mal Pressefahrzeuge vor dem Haus. Also waren wir prominent und irgendwie wichtig. Unser Exotenstatus war geboren.

Die Entscheidung, unsere Kinder in den dänischen Kindergarten und die dänische Schule zu schicken, tat sein übriges. Das machten eigentlich nur Minderheitendänen, alleinerziehende Mütter, die auf längere Betreuungszeiten angewiesen waren oder asoziale Großfamilien. Wir passten am ehesten in die dritte Kategorie. Ob all das dazu führte, dass niemals die freiwillige Feuerwehr bei uns klingelte und unsere Mitgliedschaft einforderte? War es möglich, dass sie unser Haus im Brandfall nicht löschen würde? Solche Gedanken blitzten manchmal bei uns auf und verschwanden im Alltagschaos so schnell, wie sie gekommen waren. Und egal, wie wir tatsächlich eingeordnet wurden, ich genoss meinen privilegierten Beobachterstatus. Unsere ganze Familie, jeder einzelne, war sehr glücklich in dem Dorf, in das wir als unbeschriebene Blätter gekommen waren und das wir als Fundus voller Geschichten verließen.

Ernst des Lebens

Wir hatten ein Kind, das noch zu jung war für den Kindergarten. Ab drei Jahren bekam man einen Platz. Bis es soweit war, mussten wir mit ihm zuhause bleiben oder durch die Gegend streifen. In der Stadt hatte es den Spielplatz als Treffpunkt für derart Daheimgebliebene gegeben. Die Kinder hatten Spaß, und für die Erwachsenen verging die Zeit schneller. Mit Glück hatte sogar jemand Kaffe dabei. Der Spielplatz bei uns im Dorf jedoch war menschenleer. Wo waren die ganzen Unter-Dreijährigen? Ich ging auf die Suche. Beim Abholen im Kindergarten traf ich sie, all die Mütter mit kleinen Kindern. Ob wir nicht mal vormittags zusammen auf den Spielplatz wollten? Die Augen der Angesprochenen weiteten sich. Hier ist viel Raum für Interpretation: Überraschung, Hilflosigkeit, Panik – ich schätze innerhalb dieser Bandbreite war alles vertreten. Kurzgesagt, wir fanden niemanden, mit dem wir uns treffen konnten, denn alle hatten entsprechendes Spielgerät im eigenen Garten, und außerdem musste ja die Arbeit erledigt werden.

Ich war halb enttäuscht und halb erleichtert. Es gab also noch mehr Selbstständige, die die Disziplin aufbringen mussten, zuhause zu arbeiten. Trotz kleiner Kinder. Ich war fast etwas eingeschüchtert, denn ich konnte nicht arbeiten, wenn der Kleinste da war. Ich wurde neugierig und wollte wissen, was die Frauen so arbeiteten. Bei dem Versuch, Familie und Beruf unter einen Hut zu kriegen, war Kreativität zu erwarten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das Wort „feudeln“. Dazu hätte ich „den Fußboden wischen“ gesagt. Feudeln und allerhand andere Dinge im Haushalt wurden erledigt. Und zwar nach einem festen Plan, der keine Abweichungen zuließ. Also keine Verabredungen auf dem Spielplatz. Aber vielleicht mal eine Tasse Kaffee zusammen trinken? Nee, passt echt nicht rein, der Vormittag war eh schon so schnell rum. Ich war baff. Diese Mütter waren gar nicht selbständig. Vielmehr arbeiteten sie so emsig, als wären sie fremdbestimmt. Kein Handlungsspielraum.

Ich fand es bemerkenswert, dass Hausarbeit scheinbar einhellig als Arbeit begriffen wurde. Für mich war Arbeit etwas, womit man Geld verdiente. Haushalt war Privatvergnügen. Tatsächlich ist aber Hausarbeit, wie der Name schon sagt, Arbeit. Wer bestimmt also, was Arbeit ist? Diejenige, die arbeitet? Derjenige, der entlohnt? Arbeit ohne Lohn, also selbst gewählte Tätigkeit ohne Bezahlung, müsste eigentlich als extrem sinnhaft empfunden werden. Ist das bei Hausarbeit der Fall? Oder ist sie gerade deshalb Arbeit, weil sie lästige Pflicht ist und damit verwandt mit den Brotberufen der Männer? Ich war verwirrt.

Ich versuchte herauszufinden, was die Männer so arbeiteten. Einer arbeitete im Lager von Beate Uhse und war sehr zufrieden, einen sicheren Job zu haben. Ein anderer arbeitete bei Motorola und lebte seit Jahren mit der Ungewissheit, ob das Werk dieses oder nächstes Jahr geschlossen wurde. Ein dritter arbeitete in der Rinderbesamungsanstalt, kurz RSH. Für mich klang das irgendwie exotisch, und ich erkannte, dass sich die Frauen genau so ernsthaft einer Sache widmeten wie ihre Männer.

Grenzen werden zu Horizonten

Bei uns auf dem Land gab es verschiedene Grenzen. Da sind zum einen die Dorfgrenzen. Dörfer haben eine eigene Identität und rivalisieren mit ihren Nachbarn, z. B. wer das bessere Zeltfest hat oder wer seinen Maibaum besser bewacht. Ein bisschen über die Dorfgrenzen hinaus gehen die Sportvereine, deren Einzugsgebiete auf Grund von Nachwuchsproblemen größer und größer werden. Es gibt aber auch sichtbare Grenzen. Zum Beispiel die Deiche. Für uns Binnenländer waren sie eine Attraktion und wir pilgerten hin, um über die Krone einen Blick auf das Meer zu werfen. Doch Enttäuschung und Irritation waren groß, als sich dahinter lediglich grünes Marschland erstreckte, mit einem Deich am Horizont. Wir fuhren zu diesem Deich, bestiegen ihn, diesmal etwas verunsichert, aber vorgewarnt, und schauten auf die andere Seite. Land und Schafe, kein Meer. Noch nicht mal Watt. Am Horizont: ein nächster Deich. Dieser endlich trennte das Meer vom Land, wenngleich das Vorland ganz schön groß war. Aber zu sehen war eindeutig das Meer, kein Deich mehr am Horizont, dafür Landgewinnung in vollem Gang.