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Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

© 2012 Anke Höhl-Kayser

www.hoehl-kayser.de

Umschlagbild     Noëlle-Magali Wörheide
    www.noelle-magali.de
Satz und Layout     Heinz W. Pahlke
    www.pahlke-online.de
Herstellung und Verlag     Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8448-9042-6

Inhalt

Was bisher geschah

PROLOG

Das Spiel mit der Zeit

Das Vergessen

1. BUCH: DIE ERSTE ÄHRE

Die Rückkehr

Das Zaubervolk

Die Ähre

Der Herrscher der Elthen

Angriff der Wölfe

Der Wanderer

Gefangen

Der Ane

Unterwegs

2. BUCH: DIE ZWEITE ÄHRE

Der tiefe Fall

Die Riltenprinzessin

Die Gejagte

Drachenreiter

Außerhalb der Zeit

Die Baumfestung

Avenor

Macht und Ohnmacht

Der ferne Stern

Wurzeln

3. BUCH: DIE DRITTE ÄHRE

Letarans Stimme

Irith

Eine neue Zeit bricht an

Die Ketzer

Der wahre Elaran

Aleya

Die Erinnerung

Der Sturm

Satyas Geheimnis

Du hast vergessen, wer ich bin

Der Anfang von allem

Die Kutsche

4. BUCH: VERGANGENHEIT, GEGENWART, ZUKUNFT

Die Vereinbarung

Letarans Enkel

Die drei Ähren

Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

EPILOG

Amselfrühling

Das Haus in den Dünen

Personen

Danksagung

Für Noëlle und Ralph

Was bisher geschah

Was wir tun, wird dadurch bestimmt, wer wir sind.

In dieser Trilogie erlernt der Findeljunge Ronar die Kunst der Magie, kämpft gegen mächtige Feinde und hat spannende Abenteuer zu bestehen, doch sein größter Gegner, seine größte Herausforderung – ist er selbst.

Bevor Ronar den für ihn richtigen Weg einschlagen kann, muss er herausfinden, wer er ist. Zu lange haben ihm andere gesagt, dass er nichts taugt, dass er ein wertloser Schwächling ist. Wie verwandelt sich jemand, der immer machtlos war, wenn ihm auf einmal grenzenlose Macht zur Verfügung steht?

Ronar

Ronar ist ein Findelkind. In der Familie des Schmieds, in der er aufwächst, gilt er nicht viel. Zu sehr unterscheidet er sich von seinen Ziehgeschwistern – sowohl äußerlich als auch innerlich. Er, der weiß, dass er hier niemals dazugehören wird, träumt von einer Familie, in der man ihn liebt und so annimmt, wie er ist.

Ronars eintöniges Leben wird unterbrochen von der Ankunft geheimnisvoller Reiter in seinem Dorf, die seine Ziehschwester entführen. Der Gedanke, sich auf die Suche nach ihr zu machen, ist wie ein Ruf, dem er unbedingt folgen muss.

Schicksal – oder Magie – führt Ronar zu Athanian, dem Herrscher über das Zaubervolk der Elthen. Gerade als Ronar beginnt, Zutrauen zu seinem weisen Gefährten zu fassen, endet die Suche nach seiner Ziehschwester mit der Ankunft auf der Burg. Dort wartet der Schwarze König Elaran, der Urheber der Entführung und größte Feind Athanians.

Und mehr als das: er ist Ronars leiblicher Vater.

Elaran fordert Athanian zum Kampf auf Leben und Tod heraus – und scheut nicht davor zurück, seinen eigenen Sohn als Waffe gegen den Gegner einzusetzen...

Nach dem Sieg über Athanian erhebt Elaran Anspruch auf Ronar, den nun nichts mehr in seinem alten Leben hält.

Von seinem Vater lernt Ronar die Schwarze Kunst, indem er seinen aufgestauten Zorn beschwört. Ronar wird mächtig, denn diese Quelle ist schier unerschöpflich.

Plötzlich verändert sich die Einstellung seiner Umgebung zu ihm: Er ist nicht länger der verspottete Findeljunge, sondern ein Zauberer. Man achtet und fürchtet Ronar – und das gefällt ihm.

Doch Irith ist nach wie vor auf der Burg gefangen, und durch sie wird Ronar an das erinnert, was er unbedingt vergessen möchte: den Grund, weshalb er überhaupt hergekommen ist.

Er muss sich entscheiden, ob er den Weg Elarans gehen will, der ihm die Verlockungen von Macht eröffnet hat – oder den Weg seines weisen Freundes Athanian, dem er sich seelenverwandt fühlt.

Um die Elthen zu retten, müssen Ronar und sein Freund Athanian tief hinab unter die Erde, zum Zaubervolk der Rilten. Ronar lernt hier eine andere Art von Magie kennen. Er führt die endgültige Entscheidung herbei – indem er sich die Frage stellt, wer er sein will.

Ronar – Zwei Welten

Ronar hat ein neues Leben im Nebelwald bei den Elthen begonnen. Alles ist gut und er ist glücklich – oder doch nicht? Ronar zweifelt an seinem Glück, es scheint ihm unverdient.

Diese Zweifel werden genährt durch Athanians seltsames Verhalten. Was ist nur mit Ronars väterlichem Freund los? Er wirkt erschöpft. Für einen unsterblichen Elthen ein beunruhigender Zustand!

Für Ronar steht fest: er ist die Ursache dafür. Nimmt Ronar zuviel von Athanians Zeit in Anspruch? Schuldgefühle quälen den Jungen.

Doch dann kommt es zum Zusammenbruch Athanians, und das Ausmaß der Krankheit wird deutlich. Die Wunde, die der Schwarze König Elaran dem Elthenherrscher vor einem Jahr geschlagen hat, hat einen Keim hinterlassen, der als bösartige Geschwulst in ihm wächst.

Ronar begibt sich mit Athanian auf die Suche nach dem Verursacher der Krankheit. Dazu muss der schwer angeschlagene Athanian in den Zustand der Körperlosigkeit wechseln – ein buchstäblich lebensgefährliches Unterfangen.

Und Athanians Schwäche ist nicht unbemerkt geblieben. Feinde des Elthenreichs haben einen weiten Weg auf sich genommen, um die Ohnmacht des Elthenherrschers auszunutzen.

Athanians Sohn Avenor, der während der Abwesenheit seines Vaters die Aufgaben des Elthenkönigs übernommen hat, sieht sich mit dem schlimmsten Angriff auf den Elthenpalast seit Entstehung seines Volkes konfrontiert...

Der Ort, an dem der Schwarze König sich aufhält, scheint unerreichbar. Ronar und Athanian begegnen hilfreichen Freunden und rüsten sich für eine Reise, die sie fort von der Erde führt: zum Mond.

Am Ziel angekommen, erkennt Ronar, dass nicht sein Vater ihnen als Gegner gegenübersteht, sondern ein seltsames Geschwisterpaar aus einer fernen Zukunft, das über die Fähigkeit der Zeitreise verfügt.

Elaran selbst ist ein Gefangener, genauso wie Ronars Mutter Parina. Der Zustand von Athanians auf der Erde zurückgelassenem Körper verschlechtert sich immer weiter. Ronar muss alle Magie aufbieten, über die er verfügt, um seinen Ziehvater zu retten.

Die Geschwister entreißen ihn und das Energiewesen Athanian ihrer Zeit und entführen sie in das London der Gegenwart.

Ronar muss Grenzen überwinden und seine eigenen Fesseln zerbrechen, um eine wichtige Prophezeiung zu erfüllen.

Nur wenn Ronar das Unmögliche gelingt und sein Vater Elaran zum höchsten Opfer bereit ist, können die in der Schlacht von Sienten Getöteten aus ihrer Gefangenschaft in der Zeit zurückkehren und Athanians ungeborene Tochter Mané wird leben dürfen.

Der reine Augenblick entsteht durch die Abwesenheit von Zeit.

Afrikanisches Sprichwort

Meet the time as it seeks us.

William Shakespeare, The Tragedy of Cymbeline

PROLOG

Das Spiel mit der Zeit

DER Mann auf dem Maulesel war ganz in Schwarz gehüllt. Man sah noch gut die Erlesenheit seiner Gewänder, doch nun waren die edlen Stoffe zerrissen und fleckig.

Alles an ihm wirkte mitgenommen und verbraucht, selbst sein schmutziges und wegen der bitteren Kälte gerötetes Gesicht.

In seine blauschwarzen wirren Haare mischten sich zahllose graue Fäden, und Ränder umschatteten seine steingrauen Augen.

Sein Blick flackerte unstet und schweifte immer wieder in die Ferne, als könne er es nicht erwarten, von dort, wo er gerade war, fortzukommen.

So heruntergekommen er auch aussehen mochte, sein Gebaren verriet, dass er sich nach wie vor als Herr fühlte.

Seinen schwarzen Stock, mit dem er in der Kemenate auf der Burg die arbeitenden Mädchen traktiert hatte, trug er noch. Er machte damit bei dem Esel regen Gebrauch.

Sein Begleiter, ein magerer, blasser, zu Fuß nebenher gehender Jüngling, dessen Kleidung ihn als Bauernspross auswies, schien davon nicht begeistert. Offensichtlich gehörte der Esel in seine Obhut.

»Er kann nicht schneller, Herr«, sagte er ein ums andere Mal. »Ihr und das Werkzeug seid zu schwer für ihn.«

Der Schwarzhaarige in den abgetragenen Gewändern scherte sich nicht um die Worte des Bauernjungen.

»Vor Anbruch der Dunkelheit will ich an diesem See sein«, zischte er. Trotz der Anspannung, die seine Worte verrieten, hörte man in seinem Tonfall befehlsgewohnten Hochmut.

Sie durchschritten eine schmale Klamm zwischen zwei Steilhängen. Der Weg führte über einen wenig vertrauenerweckend aussehenden Holzsteg. Tief unten hörten sie das Plätschern eines unter einer dicken Eiskruste verborgenen Gebirgsbachs.

Der Bauernjunge fasste dem Esel ins Zaumzeug.

»Schlagt ihn nicht weiter, Herr, er könnte fehltreten«, sagte er. »Ich werde Euch führen.«

Der Schwarzhaarige stieß einen Fluch aus und schlug mit dem Stock zornig auf das hölzerne Brückengeländer.

Der Esel riss den Kopf hoch, schritt aber unbeirrt weiter.

»Ihr kennt Euch nicht gut aus mit Reittieren«, sagte der Bauernjunge vorwurfsvoll.

»Das denkst du«, antwortete der Schwarzhaarige mit zusammengepressten Zähnen. »Glaubst du, das hätte ich bei einem edlen Pferd getan? Ich weiß genau, dass der tumbe Esel deines Vaters selbst dann nicht erschrickt, wenn ein Dämon aus den Untiefen der Erde vor ihm auffährt. – Ich bin schon auf Pferden geritten, von denen ein einzelnes mehr wert war als das ganze Gehöft mitsamt den Ländereien deiner so wohlhabenden Familie.«

Der junge Mann schwieg. Er schaute angespannt zu Boden, als hätte er Mühe, im beginnenden Abenddämmer den Weg zu finden. Er versuchte seinen Ärger nicht zu zeigen.

»Was wollt Ihr an dem See, Herr?«, fragte er nach einer Weile leise. »Man sagt, er ist verflucht. Ein Toter ruht an seinem Grund, und man darf ihn nicht stören.«

Der Reiter lachte humorlos auf.

»Das genau ist meine Absicht, junger Freund«, antwortete er. »Den Toten zu stören. Und mehr werde ich dir nicht verraten. Du wirst gut bezahlt werden für deine Dienste, dafür darfst du jetzt schweigen.«

»Und Ihr seid sicher, dass Ihr mich nicht mehr brauchen werdet, wenn wir am See angekommen sind?«, wollte der junge Mann dessen ungeachtet wissen. »Wie wollt Ihr den Weg zurück ohne meine Hilfe finden?«

»Das lass meine Sorge sein«, sagte der Schwarzhaarige spöttisch.

Eine Weile ging es schweigend voran.

Die Sonne sank schnell, wie immer zu dieser Jahreszeit.

Dann endlich öffnete sich der Wald vor ihnen, und eingeschlossen zwischen Bäumen und Bergen lag ein riesiger See, der unter seinem Eispanzer geheimnisvoll lapislazulifarben leuchtete.

»Na endlich«, knirschte der Schwarzhaarige und glitt vom Rücken des sichtlich erleichterten Esels herunter.

Den jungen Mann schauderte es.

»Hier ist es unheimlich«, klagte er.

»Eines wirst du noch für mich tun, dann kannst du gehen«, erwiderte der Schwarzhaarige. Er schnallte das zusammengebundene, aus Pickel, Schaufel und Hacke bestehende Werkzeug vom Rücken des Esels. »Schlag mir ein Loch ins Eis.«

Der junge Mann nickte und begann.

»Größer«, sagte der Schwarzhaarige nach einer Weile wütend. »Das ist nicht zum Eisfischen. Es muss so groß sein, dass ein Mensch hindurchpasst.«

Dem Bauernjungen glitt die Spitzhacke aus der Hand, und er starrte sein Gegenüber mit offenem Mund an.

»Was habt Ihr vor?«, murmelte er.

»Los jetzt«, zischte der Schwarzhaarige.

Der junge Mann arbeitete schweigend weiter, aber seine Hände zitterten.

Schließlich war der Mann in den schwarzen Gewändern mit der Arbeit des Jungen zufrieden.

»Du kannst gehen«, sagte er. Er zog einen Lederbeutel aus seinem Umhang, in dem Münzen klimperten. »Hier ist dein Geld.«

»Herr Tarst«, murmelte der Bauernjunge, schwankend zwischen dem Bestreben, von diesem Ort fortzukommen, und seinem Pflichtbewusstsein. »Seid Ihr sicher, dass Ihr keinen Führer zurück braucht?«

»Ganz sicher«, erwiderte der Mann und warf dem Jungen einen Blick zu, der eisiger war als der Wind, der ihnen entgegen wehte.

Der Bauernjunge verbarg den Beutel mit dem Geld in seinem Mantel, dann ergriff er die Zügel des Esels. Als er zögerte, wies der Schwarzhaarige stumm in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und der junge Mann verließ ihn ebenso wortlos.

Tarst ließ ihn gehen, bis seine geschulten Ohren keinen Laut mehr vernahmen.

Dann murmelte er eine Beschwörung und zog seine Kleidung aus. Er stand völlig nackt auf dem Eis des Sees, den Stock in seiner Rechten, während der eisige Winterwind die Tannen zum Klagen brachte. Sein Körper verlor die Farbe, aber er schien es nicht zu spüren.

Endlich sprang er in das Loch hinab.

Er tauchte in die Schwärze des Wassers, und nur an der Tatsache, dass seine Gliedmaßen allmählich gefühllos wurden, spürte er die eisige Temperatur. Der Zauber hatte ihn gegen die Kälte unempfindlich gemacht – vor dem Erfrieren allerdings würde er ihn auf Dauer nicht schützen, dazu war er nicht mächtig genug.

Er öffnete die linke Hand, in der ein Gefäß sichtbar wurde. Von diesem Gefäß ging ein hellgoldenes Licht aus, das die Dunkelheit zerteilte.

Vor ihm waren Bewegungen. Er sah zwei weiße Leiber zu sich emporschießen. Der Eindringling war von den Wächtern bemerkt worden.

Mit den Zweien würde er fertig werden, hoffte er, obwohl Anen sehr stark waren. Aber mehr waren es nicht, denn die Wasserbewohner pflegten im Winter auf dem Grund des Sees im Schlamm zu schlafen.

Er richtete die linke Handfläche mit dem Flakon auf seine Gegner, deren weiße, aufgedunsene Gesichter grell beleuchtet wurden. Sie bedeckten ihre wässrigen Augen mit ihren Schwimmflossen und verloren die Orientierung.

Tarst stieß sie grob beiseite und schwamm einfach zwischen ihnen hindurch.

Die leuchtenden Felsen am Grund des Sees wiesen ihm den Weg durch die entvölkerte Anenstadt.

Doch sein Ziel, das er nur aus der Erzählung seines Herrn kannte, sah er noch nicht.

Er hoffte, dass er seine Aufgabe zu Ende gebracht haben würde, wenn die Wächter sich von ihrer Verwirrung erholt hatten.

Mit Anen war nicht zu spaßen, wenn man ihre Grenzen missachtete.

Je tiefer er tauchte, desto schwerer lastete der Druck auf seinem Körper. Der Zauber konnte ihn nicht länger als eine Viertelstunde vor dem Erfrieren und Ertrinken bewahren.

Er spürte zum ersten Mal seit seinem Aufbruch Angst. Seit zwei Jahren irrte er im Land umher, um den Aufenthaltsort seines Herrn zu finden und den Befehl auszuführen, der ihm gegeben worden war, nachdem das Unheil sich ereignet hatte. Der Zorn hatte ihn bis hierhin geleitet – Zorn auf den missratenen Jungen, diesen lieblosen Sohn, der seinen Vater verraten hatte. Immer war Tarst überzeugt gewesen, die Gerechtigkeit sei auf seiner Seite.

Doch hier, im eiskalten, stillen See der Anen, wusste er auf einmal nicht mehr, ob er es schaffen würde.

Wie lange schwamm er schon hier? Wenn der Luftvorrat zu Ende ging, bevor er den Plan ausgeführt hatte, musste er elend ertrinken, denn das Wasserloch würde er niemals rechtzeitig wiederfinden.

Tarst stutzte.

Dort – war da ein goldener Schimmer, ein Edelsteinfunkeln?

Die Angst wich. Entschlossen schwamm er tiefer hinab.

Sein Herz begann zu hämmern.

Ein großer goldener Gegenstand ruhte am Grund des Sees.

In diesem Augenblick packten ihn schwammige kalte Hände und rissen ihn zurück.

Tarst strampelte und trat, aber die beiden Anen ließen nicht locker. Sie waren viel stärker als er. Sie zogen ihn nach unten. Er wusste, dass sie sich mit ihm in den Schlamm des Grundes eingraben wollten – wenn ihnen das gelang, würde dieser See sein Grab werden.

Er hob erneut die leuchtende linke Hand, und als beide Anen gleichzeitig danach griffen, brachte er den Stock zum Einsatz. Er hieb wild um sich in der Hoffnung, gegen den Widerstand des Wassers ihre großen Köpfe und Schultern zu treffen.

Beide ließen von ihm ab. Der eine Wächter sank leblos zum Grund hinab. Der andere suchte das Weite, seinen schlaff herabhängenden linken Arm mit dem rechten festhaltend.

Tarst wandte sich wieder dem Thron zu. Seine Zeit wurde knapp.

Er ergriff die Armlehnen und hielt sich daran fest.

Auf dem goldenen, mit unzähligen Edelsteinen geschmückten Sitz saß ein dunkelblonder, großer Mann. Es bestand kein Zweifel, er war tot. Sein Gesicht war leichenblass, die Augen eingefallen. Obwohl er ein mächtiger Schwarzmagier war, der unter Wasser leben konnte, hob und senkte sich seine Brust nicht. Trotzdem fasste Tarst nach der Schlagader an seinem Hals.

Die Haut des Mannes war genauso eisig wie das Wasser, und sein Herz schlug nicht.

Tarst ergriff die Hand des Mannes mit der Rechten, während in seiner linken Hand das Leuchten langsam erlosch. Das Licht in dem kleinen Gefäß wurde zu einem weißen Pulver, das er in die Handfläche seines Herrn goss.

»Ich bin Euren Befehlen gefolgt, Meister«, flüsterte er. »Wir gehen jetzt zurück zum Beginn.«

In diesem Augenblick wurde er von hinten gepackt und vom Thron fortgerissen. Der Anenwächter war zurückgekehrt.

Tarst spürte, wie ihm ein scharfer Gegenstand in die rechte Seite drang. Seine Lungen begannen sich mit Wasser zu füllen und sein Herz stolperte.

Das macht nichts, war sein letzter Gedanke. Es ist gelungen.

Schwarzes Nichts quoll aus dem Thron und verschluckte ihn und den Mann, der darauf saß. Es kam auf Tarst und den Wächter zu und löschte sie aus. Einen Augenblick später war der See verschwunden, und die Schwärze verschlang das Land.

Das Vergessen

ATHANIAN stand mit verschränkten Armen inmitten des Elthenrates in der Großen Halle und widerstand dem Impuls, eine Hand an sein Herz zu legen, durch das gerade wieder ein schmerzhaftes Ziehen ging.

Er wusste, wie seine Freunde und Familie auf eine solche Geste reagieren würden, und er wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten.

Der Eingriff lag beinahe zwei Jahre zurück. Athanian wunderte sich, dass das Herz, das ihm sein bester Freund Elaran geschenkt hatte, um sein Leben zu retten, in letzter Zeit so unregelmäßig schlug. Das war vorher nicht der Fall gewesen, und es war unverständlich. Eigentlich hätte er unmittelbar nach der Operation Schmerzen haben müssen, aber nicht jetzt. Und diese Schmerzen, die er empfand, wurden immer stärker. Es fühlte sich an, als ob sich ihm etwas nähern würde, auf das sein Herz reagierte.

Er horchte in sich hinein. Wollte Elaran ihm etwas sagen?

»Athanian«, sprach ihn jemand an.

Athanian stutzte einen winzigen Moment beim Klang der Stimme.

Dann wandte er sich lächelnd seinem in silberne Gewänder gehüllten Ziehsohn zu, der dem Elthenrat seit einem halben Jahr angehörte.

Er sah den Jungen an, dessen liebes, offenes Gesicht, schon an der Schwelle zum Erwachsensein, und wurde von Zuneigung durchflutet.

Ronar war halb Mensch, halb Elthe, aber er wuchs auf Menschenart heran. Den Stimmbruch, der bei den Elthen viel später einzutreten pflegte, hatte er bereits in seinem vierzehnten Lebensjahr völlig hinter sich gebracht. Jetzt, mit fünfzehn Jahren, wechselte seine Stimme ab und zu noch in höhere Lagen, aber Athanian wusste, dass Ronar das tat, um seine kleine Ziehschwester Mané zum Lachen zu bringen.

»Mein Lieber, sag uns, worum es geht«, antwortete er auffordernd.

Ronar war der Anlass für die Einberufung der Versammlung gewesen. Soeben war er mit seinen Ziehbrüdern Avenor und Satya und seiner Mutter Parina von einem Ritt durch die den Nebelwald umgebenden Wälder gekommen.

Der junge Mann trat vor und wandte sich ohne zu zögern an die Mitglieder des Rates. Seine Stimme klang selbstbewusst. Er hatte seine Schlaksigkeit verloren, wirkte kräftig und stabil, und sein Gesicht hatte sich gerundet, was ihm gut stand.

Athanian durchfuhr ein plötzliches Gefühl des Stolzes im Angesicht dieser Veränderungen, als er an den hageren unsicheren Jungen zurückdachte, den er vor dreieinhalb Jahren während des Sturms auf seinen Armen in Sicherheit getragen hatte. Er sah seine Frau Aleya lächeln, die zwischen Satya und Avenor stand. Vor ihr konnte er seine Gedanken nur selten verbergen.

Ein Aussetzen seines Herzens brachte ihn rasch in die Realität zurück. Er atmete vorsichtig ein, und der Schmerz ließ nach.

»Dies ist der härteste Winter, den wir seit langem haben«, sagte Ronar. Der Schnee, der seinen Umhang als Folge des Rittes bis zu den Knien bedeckte, bestätigte seine Worte. »Ich habe um diese Versammlung gebeten, weil ich mich während meiner zweitägigen Reise mit meinen Brüdern und meiner Mutter davon überzeugen konnte. Es ist ganz außergewöhnlich für den Nebelwald und seine Umgebung, dass selbst hier der natürliche Kreislauf nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Die Wildtiere hungern. Und die Wölfe sind zu schwach zum Jagen, sie gehen in die Nähe der Dörfer, in der Hoffnung, leichte Beute bei den Kühen und Schafen zu machen.«

In diesem Moment zupfte etwas an Athanians Umhang. Der Höchste Elthe schaute nach unten und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er wusste oft selbst nicht, wie seine kleine Tochter es schaffte, so unbemerkt aufzutauchen. Doch nun stand sie in der Mitte des Eyeadon zu seinen Füßen, ohne dass irgendjemand ihr Kommen bemerkt hätte, und sah mit erwartungsvoller Miene zu ihm auf.

Sie hatte vor zwei Monaten ihren ersten Geburtstag gefeiert. Athanian sah Ronar staunen, weil kleine Elthenkinder sich viel schneller entwickelten als Menschenkinder im gleichen Alter. Sie konnte bereits seit längerem laufen und sich gedanklich mitteilen.

Der Höchste Elthe selber war verblüfft über das innige Verhältnis seiner kleinen Tochter zu ihrem Ziehbruder. Er war ihr liebster Spielgefährte. Sie versuchte immer in seiner Nähe zu sein, und es war durchaus nicht selbstverständlich für einen 15jährigen, dass er sie nicht als störend empfand.

Sie verbrachten Stunden auf dem Nayn, im hohen Gras mit Spielen beschäftigt, die nur sie beide verstehen konnten. Er kletterte mit ihr in Mondnächten auf die Bäume und erzählte ihr Geschichten, von denen Athanian wusste, dass manche wirklich geschehen waren.

»Er ist ihr Seelenfreund«, hatte Aleya lächelnd gesagt, als sie einmal den Blick ihres Mannes aufgefangen hatte.

Athanian hob Mané auf den Arm.

»Du hast recht, Liebes«, sagte Athanian zu seiner Tochter, dann wandte er sich an den Rat. »Es ist an der Zeit, dass wir etwas unternehmen.«

Durch den Elthenrat ging Bewegung.

»Was hast du vor?«, fragte Etheneor. »Es ist ja schon etliche Jahrzehnte her, aber während der letzten Male, als wir die Wildtiere zufüttern mussten, waren wir durch die vorangegangene Witterung auf die Kälte vorbereitet und hatten Saatgut angepflanzt. Diesmal hat sich der harte Winter nicht angekündigt. Was wollen wir ihnen geben? Wir haben nichts.«

Da die Elthen selbst praktisch keine Nahrung zu sich nahmen, betrieben sie – anders als die Bauern in Menschendörfern – keinen Ackerbau. Etheneor hatte recht. Eigentlich.

»Aber mein Lieber«, erwiderte der Höchste Elthe und schmunzelte vergnügt. »Dieser Einwand aus deinem Mund verblüfft mich ungeheuer. Du solltest mich doch eigentlich besser kennen.«

Zu Athanians unaussprechlichem Vergnügen zog Ronar tadelnd eine Augenbraue hoch. Etheneor sah es auch, und seine Mundwinkel hoben sich.

»Nun, es ist doch so«, sagte der Höchste Elthe und erlaubte sich ein breites Grinsen, »wenn wir nichts haben, dann zaubern wir etwas.«

Ronars Augenbraue wanderte noch höher.

»Solche Nahrung macht nicht satt«, antwortete er. »Nicht einmal, wenn du sie zauberst.«

»Man muss es nur richtig anstellen«, antwortete Athanian. »Kommt doch einfach mit nach draußen und seht selbst.«

Er verließ mit langen Schritten die Halle, Mané auf den Armen, gefolgt von Ronar und dem Elthenrat.

Auf dem großen Platz vor dem Elthenpalast, dem Nayn, lag wie immer kein Schnee. Doch am Waldsaum türmten sich die weißen Massen über einen Meter hoch.

Im Augenblick gleißte eine klare Wintersonne vom blauen Himmel, aber der Geruch künftigen Schnees lag schon in der Luft.

Athanian atmete tief durch. Es hatte sich gerade angefühlt, als ob ein Dolch durch sein Herz gebohrt würde.

Mané legte Athanian die Arme um den Hals. Sie wusste, was er fühlte. Er schüttelte verstohlen den Kopf.

Das bleibt unser kleines Geheimnis, wandte er sich in Gedanken an sie. Dass sie damit nicht einverstanden war, spürte er, aber sie schwieg und fügte sich.

Um sie abzulenken, sammelte er rasch seine Kraft, und sie schaute erwartungsvoll zu dem leuchtenden Stein in der Elthenkrone auf.

Gehst du mit mir?, wollte Athanian wissen. Was für eine Frage! Natürlich würde sie mit ihm kommen. Sie war ja die einzige, die fähig war, ihn auf einer solchen Reise zu begleiten.

Der Stein im Stirnreif färbte den Tag diamantblau. Er wandte sich in Gedanken an seine liebe alte Freundin, die Zeit, und empfing ihre lächelnde Zustimmung zu seiner Wanderung.

Der Schnee schwand.

Stattdessen nahm Athanian den Duft des Herbstes wahr.

Er zog gedankenschnell über das Land, bis vor ihm ein goldenes Feld voller herbstlichen Reichtums wogte.

Dies war ein Augenblick in der Vergangenheit, in dem er vor Jahrhunderten ein Feld angelegt hatte für den Fall, dass es einmal gebraucht werden würde. Es war einer der wenigen Orte, zu denen Athanian im stillschweigenden Einvernehmen mit der Zeit zurückreisen konnte. Immer wieder war er in den vergangenen Jahrhunderten in diesen reinen Augenblick zurückgekehrt, wo seine Freundin für ein kleines freundschaftliches Gespräch auf ihn wartete.

Seine Macht war an ihren Kreis gebunden, auf der er nur in eine Richtung reisen konnte, und er hatte früher oft deswegen mit ihr gehadert, aber inzwischen nicht mehr. Er war im Jetzt angekommen, und er brauchte den reinen Augenblick in der Vergangenheit nur noch, um seinen Schutzbefohlenen durch diesen kalten Winter zu helfen.

Nun bist du hier, hörte er die freundliche Stimme der Zeit, ich freue mich, dich und deine einzigartige kleine Tochter bei mir zu sehen. Wie immer werde ich dich aber auch diesmal mahnen: Lass diesen Augenblick nicht wieder zu deiner Zeit werden.

Du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen, antwortete Athanian. Meine Sehnsucht danach ist fort. Ich komme diesmal nicht um meinetwillen, sondern weil der Winter hart ist und die Tiere des Nebelwalds Nahrung brauchen.

Mané sah strahlend zum Stirnreif auf, dessen Licht sich veränderte. Nun war es goldgelb wie die Ähren vor ihnen. Athanians Zauber erntete das Feld innerhalb von Sekunden ab.

Es war in Gedanken leicht, diese Last zu schultern, und er begab sich auf den Rückweg. Er wunderte sich ein wenig, dass die Zeit auf seinen Abschiedsgruß nicht antwortete, aber vielleicht hatte sie Wichtigeres zu tun.

Plötzlich wurde Mané unruhig. Sie wand sich auf seinem Arm hin und her. Athanian sah sich um, aber er konnte nichts erkennen.

»Was hast du, mein Liebes?«, murmelte er, aber sie wusste es selbst nicht.

Im selben Moment waren sie wieder auf dem Nayn angekommen. Die reiche goldene Ernte materialisierte sich neben dem Höchsten Elthen. Mané juchzte und grub ihre Hände in die Saat.

Futter für die Tiere!

Athanian stutzte: Etwas stimmte nicht. Es war so merkwürdig still.

Er war sich sicher, nur Sekunden fort gewesen zu sein, doch es dämmerte bereits über dem Eyeadon.

Die Ratsmitglieder, die im Schatten der Dämmerung standen, hatten einen selbstvergessenen Ausdruck auf dem Gesicht.

Athanian fühlte etwas Einschläferndes von dieser Dunkelheit ausgehen, und sein Herz schmerzte wie nie zuvor.

Einen Augenblick später verstand er. Er zog Ronar an sich heran, aus dem Schatten heraus – wenigstens für einen Augenblick.

Der Blick von Ronars tief dunkelbraunen Augen wurde wieder klar.

»Was ist das?«, fragte er und sah seinen Ziehvater unsicher an.

Athanians Herz begann in seiner Brust heftig zu schlagen. Die Schatten waren sehr schnell.

»Keine Zeit«, murmelte er.

Er richtete das Licht des Edelsteins auf alle, die um ihn herum standen. Konnte es ihm noch gelingen? Er hatte Mühe, die Macht des Steins zu beschwören, es war viel zu nah.

Die Schwärze, die sich von allen Seiten näherte, hatte längst den größten Teil des Nebelwaldes verschlungen.

Er hielt Mané ganz fest, so als ob er sie dagegen schützen könnte.

Er musste es wenigstens versuchen, denn in ein paar Augenblicken würden sie alle fort sein.

Das Licht im Stirnreif rang der Dunkelheit mühsam Farben ab. Athanian versuchte es zu bündeln und zu kontrollieren, aber es entzog sich ihm. Die Schwärze ergriff Etheneor und verschlang ihn, dann hatte sie Aleya und Avenor erreicht. Beide sahen ihn nicht an, als sie verschwanden, und er stöhnte auf.

Er begann zu vergessen, was er tun musste.

»Athanian!«, rief Ronar. Einen Sekundenbruchteil später hatte der Schatten ihn verschluckt.

Der vertraute Klang seiner Stimme brachte Athanian ein letztes Mal zu sich. Er ergriff die Hand seiner Tochter, die ihn mit großen Augen ängstlich ansah, und legte drei Ähren hinein.

Vielleicht würde das reichen.

»Damit wir den Rückweg finden«, murmelte er.

Dann war die Schwärze bei ihm, und er versank in ihr und vergaß alles.

1. BUCH:
DIE ERSTE ÄHRE

Die Rückkehr

RONAR blinzelte. Er war ganz sicher, gerade aus einem verstörenden Traum aufgewacht zu sein, doch dann sah er, dass es helllichter Tag war und dass er nicht in seinem Bett lag, sondern auf dem Platz vor der Schmiede stand und den Esel des Müllers am Zügel hielt.

Er hatte von einem Mädchen geträumt. Er glaubte vage, es zu kennen, aber er war sich nicht sicher. Es hatte vor ihm gestanden, seine Hände gehalten (was ihm ganz und gar nicht unangenehm war) und ihn gefragt, ob er ein Geschenk annehmen wolle. Er hatte keinen Augenblick gezögert, woraufhin das Mädchen ihm etwas in die Hand drückte und sagte: Damit wir den Rückweg finden.

Ronar fühlte sich völlig verwirrt.

Er konnte sich nicht entsinnen, wie der Tag begonnen hatte.

War er heute Morgen aufgestanden, so wie immer, hatte sich in der Regentonne gewaschen und dann gefrühstückt?

Hatten die Geschwister wieder ihre Späße über ihn gemacht, weil er so langsam aß und immer wieder in seinen Träumereien versank?

Er konnte sich nicht einmal an seinen Ärger darüber erinnern.

Er betrachtete seine Hände. Irgendwie schienen sie ihm schmal und zerbrechlich – ein vollkommen verrücktes Gefühl.

Er sah an sich herunter: Er hatte Beine so dünn wie ein Storch. Warum war ihm gegenwärtig, viel kräftiger gewesen zu sein? Er war immer so dünn gewesen, seit er zurückdenken konnte. Er empfand gleichzeitig zwei widersprüchliche Erinnerungen, und sein Kopf schwirrte.

Es kam ihm vor, als sei er von seinem eigenen Körper unendlich weit entfernt gewesen und wäre auf einmal in einen anderen, ebenso vertrauten Körper hineingepresst worden.

Er wünschte sich sehnlichst einen Guss kalten Wassers über den Kopf, um wieder zu Sinnen zu kommen.

»Ronar«, dröhnte von drinnen der befehlsgewohnte Bass seines Ziehvaters, »was machst du eigentlich da draußen? Binde den Esel an und komm herein!«

Ronar gehorchte automatisch, wie immer beim Klang der Stimme des Schmieds. Sein Ziehvater duldete kein Zögern und keine Träumerei, das hatte Ronar manches Mal schmerzlich erfahren.

Er trat in die Schmiede, in der es trotz der Winterkälte glühend heiß war. In der Esse sprühte das Feuer, das sein Ziehbruder Setah mit kraftvollem Pumpen des Blasebalgs auf die richtige Temperatur brachte, und auf dem Amboss hämmerte der Schmied die Hufeisen für die Stute des Müllers.

Ronars ältere Ziehbrüder, alle drei stämmig, rundgesichtig, blondlockig und blauäugig, wechselten vielsagende Blicke und verzogen spöttisch die Gesichter, als er hereinkam.

Die Zwillinge Tano und Rekan, die noch im Elternhaus wohnten, obwohl sie bereits 21 und damit volljährig waren, und der drei Jahre jüngere Setah schwiegen, weil sie wussten, dass der Vater Raufereien während der Arbeit nicht duldete.

Aber Ronar sah in ihren Mienen, dass sie sich schon auf den Abend freuten, wo sie es ihm wieder einmal zeigen würden. Es hatte sich im Lauf der Jahre nichts geändert, außer dass sie viel stärker und ihre Späße gemeiner geworden waren.

Setah, der Anführer, war der Schlimmste. Wenn er seine Brüder – und oft genug auch die anderen Dorfjungen – hinter sich wusste, kannte er kein Erbarmen. Ronar hatte sich manchmal gefragt, was dieser Held mit seinen Soldaten wohl machen würde, wenn er sich einmal in Ronars Lage befände und allein gegen eine Übermacht zu stehen hätte. Aber er ging davon aus, dass das wohl niemals passieren würde. Setah war vielleicht nicht überaus schlau, aber klug genug, um für seine Sicherheit Sorge zu tragen.

Ronar nahm sich vor, auf das Abendessen zu verzichten und sich stattdessen eine Stunde in den Birnbaum zu setzen. Dort war es zwar bitter kalt, aber der Anblick des winterlichen Sternenhimmels entschädigte ihn stets für alles.

Und er wusste, dass seine Geschwister manchmal, wenn sie erst eine Weile satt und faul in der Stube gesessen hatten, ihre Rauflust vergessen konnten. Darauf hoffte er.

Trotzdem nistete sich ein unangenehm brennendes Gefühl in seinem Magen ein.

Wenn er doch anders wäre! Wie oft im Laufe seines fünfzehnjährigen Lebens hatte er sich gewünscht, sich richtig wehren zu können, nicht so dürr und schlaksig, sondern genauso kräftig wie sein Ziehbruder zu sein. Nein, besser noch, wenn er so stark wäre, dass man sich gar nicht erst an ihn herantraute!

Ronar war immer sehr groß gewesen, er war viel größer als Setah, sogar größer als die Zwillinge, aber was die Kraft betraf, konnte er mit dem stämmigen Schmiedssohn nicht mithalten – und erst recht nicht, wenn dieser geschwisterliche Verstärkung mitbrachte.

Ronar rieb sich die Schläfen, sein Herz pochte.

»Was ist los, Bohnenstange?«, rief Setah ihm über das Dröhnen von Hammer und Blasebalg zu. »Tut der Kopf weh vom vielen Träumen?«

»Ronar, geh mir hier zur Hand«, fuhr der Schmied ihn an. Sein Gesicht glühte rot vor Anstrengung und Schweiß tropfte ihm von der Stirn. Ronar nahm das fertige Hufeisen mit der Zange und tauchte es in den Wasserbehälter, wo es zischend abkühlte.

Während des ganzen Nachmittags sah Ronar immer wieder die Blicke seiner drei Ziehbrüder auf sich ruhen. Es waren Blicke voller hämischer Vorfreude, die ihm nichts Gutes verhießen.

Als der Schmied mit Schwung den Hammer in den Gerätekorb warf und sagte: »Schluss für heute!«, war Ronar mit einem Satz am Tor, riss seinen Umhang vom Haken und rannte nach draußen.

Hinter sich hörte er das Gejohle der anderen.

Der Schmied donnerte dazwischen: »Ihr geht sofort zur Mutter in die Stube und wascht euch für das Abendessen!«

Ronar seufzte. Das gab ihm etwas Aufschub.

Er rannte hinter das Haus und öffnete die Tür zu dem Stall, in dem einst seine beste Freundin gelebt hatte: Die große Kaltblutstute Sira. Es war ihm fast so, als sehe sie ihm auch jetzt erwartungsvoll entgegen. Er glaubte ihr Schnauben zu hören – dabei war sie vor drei Jahren gestorben. Er hätte so gern die Arme um ihren Hals geschlungen und sein Gesicht in ihrer strohigen Mähne verborgen.

Er stellte sich vor, wie er in den Hafersack griff und ihr eine Handvoll Körner herausholte. Sira hatte immer so aufgeregt die Nüstern gebläht und dann den Hafer vorsichtig und genussvoll von seiner ausgestreckten Hand genommen. Anschließend hatte er sie gestriegelt, wann immer ihm Zeit dafür blieb. Selbst an bitterkalten Wintertagen hatte er sich auf diese Weise in Hitze gearbeitet und seine Gedanken waren auf die Reise gegangen, hatten den Ort seiner Angst verlassen.

Nun war Sira seit langem fort, aber heute war sie in seiner Erinnerung unglaublich lebendig. Er konnte den warmen, scharfen Pferdegeruch in seiner Nase spüren.

Auf einmal erstand ein Bild vor seinen Augen.

Er sah sich selbst auf Siras Rücken über eine Sommerwiese mit hohem Gras und duftenden Blumen reiten. Vor ihm ragten Tannen auf und in einiger Entfernung sah er eine Hütte.

Er blinzelte. Er war mit Sira niemals weiter als zum Ende des Dorfes geritten. Was für ein seltsamer Tagtraum – und er schien so wirklich!

»Ich glaube, es stimmt, was sie alle sagen«, murmelte er. »Es wird immer schlimmer mit mir.«

Er verließ den Stall und glaubte zu hören, wie Sira ihm zufrieden nachschnaubte.

Draußen war es beinahe ganz dunkel geworden.

Der Himmel war klar und das Licht der ersten Sterne bahnte sich einen Weg aus unermesslichen Höhen zu ihm herunter.

Ronar atmete tief die klare Winterluft ein.

Vor ihm ragte der knorrige Birnbaum auf. Er war fast so hoch wie der Schornstein der Schmiede, und wenn man nicht wusste, wie man beginnen musste, fand man keinen Weg, ihn zu erklettern.

Aber an einer verborgenen Stelle gab es ein Astloch, in das man nur den Fuß setzen musste, und einen winzigen Spalt in der Rinde für die Finger, und dann konnte man sich soweit hochziehen, um den nächsten Ast zu ergreifen.

Bisher hatten seine Geschwister das Geheimnis nicht gelüftet, wie man auf diesen Baum stieg. Deshalb sah sich Ronar sonst immer um, bevor er hinaufstieg. Doch diesmal war er unaufmerksam gewesen. Er hatte gerade seinen Fuß in das Astloch gesetzt, als hinter ihm Gelächter laut wurde.

Sein Herz setzte aus.

Er drehte sich um: Setah, Tano und Rekan und seine Ziehschwester Irith standen hinter ihm.

»So kommt er also da rauf«, sagte Tano grinsend, und Ronars Mut sank ins Bodenlose.

»Freundchen, du hast mal wieder eine Abreibung verdient, damit du aus deinen Träumen aufwachst«, sagte Setah. In seiner Stimme schwang Vorfreude mit.

»Ich habe euch nichts getan«, versuchte Ronar sich zu verteidigen. Seine noch ungewohnt klingende tiefe Stimme machte ausgerechnet jetzt einen quietschenden Hüpfer in die Höhe, was die Brüder zu einem Heiterkeitsausbruch veranlasste. »Ich mache nur meine Arbeit. Ich möchte jetzt einfach in Ruhe hier draußen bleiben. Warum geht ihr nicht zum Essen?«

»Der Mutter ist der Kohl verkocht, weil Irith das Spinnrad kaputt gemacht hat«, antwortete Rekan achselzuckend. »Nun ist sie wütend. Und das ist alles deine Schuld.«

Sie kamen näher. Ronars Herz hämmerte gegen seine Rippen, und er wünschte, er hätte es schon hinter sich.

»Ich habe das Spinnrad nicht kaputtgemacht«, sagte Irith zu Rekan. Sie sah gleichzeitig wütend und gedemütigt aus. »Ich habe nur einen Moment aus dem Fenster gesehen, als Ada darunter gekrabbelt ist und es umgeworfen hat. Und dafür hat Mutter mir eine Ohrfeige gegeben. Ich bin jetzt siebzehn und ich verdiene keine Ohrfeigen mehr.«

Ronar fühlte Mitleid, das er schnell zu unterdrücken versuchte. Sie würde ihre Wut in wenigen Augenblicken genauso an ihm auslassen wie ihre Brüder. Was nützte es, wenn sie ihm leid tat, weil sie etwas getan hatte, das doch sonst nur ihm zu passieren schien?

Setah war jetzt ganz nah. Seine Hand umschloss Ronars Kinn wie ein Schraubstock. Mit der anderen holte er zu einem gewaltigen Schlag aus.

Ronar biss die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und stopfte sie in stummer Kapitulation in die Taschen des Umhangs.

Da piekste ihn etwas schmerzhaft in den rechten Daumen.

Ein merkwürdiges Gefühl durchströmte ihn. Er fühlte Kraft und Muskeln in einem wohlgenährten Körper und etwas ganz Unbekanntes – eine von innen kommende Größe.

Setahs Schlag ging ins Leere, und seine Hand glitt von Ronars Kinn.

Er starrte seinen Ziehbruder fassungslos an.

»Habt ihr das gesehen?«, stammelte er.

Die Zwillinge glotzten ebenso verständnislos, aber keiner sagte, was er gesehen hatte.

Ronar holte tief Luft, während das merkwürdige Gefühl allmählich wich.

Setah schüttelte sich wie ein Hund. Sein Gesicht verhärtete sich wieder. Er versetzte seinen Brüdern einen groben Stoß, der sofort von beiden zurückgegeben wurde.

»Was stehen wir noch hier rum?«, dröhnte er. »Lasst uns reingehen, die Mutter wird das Essen gleich fertig haben.«

Die drei Jungen drehten sich um und gingen.

Ronars Kinnlade klappte herunter.

Was war gerade geschehen?

Irith stand immer noch an derselben Stelle. Sie hatte einen fragenden Ausdruck in den Augen.

»Wie hast du das gemacht?«, wollte sie leise wissen.

»Ich – ich habe gar nichts gemacht«, stotterte Ronar.

»Du warst auf einmal so anders«, sagte Irith. Ihre Stimme klang gedämpft und sanft. »Und ich hatte eine Art Traum: ich habe dich auf einer Burg gesehen. Ich war in schlimmer Not, und du hast mir geholfen. Was war das, was ich gesehen habe?«

Ronar zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß.

Iriths Augen wurden allmählich wieder klar, aber der Blick, mit dem sie ihn ansah, hatte sich verändert.

Die Wut darin war fort, ebenso wie der Spott und die Verachtung.

»Komm«, sagte sie. »Gehen wir rein. Inzwischen wird die Mutter auch nicht mehr böse wegen der Spindel sein. Vielleicht bekommen wir ja statt des schrecklichen Kohls ein Brot mit Butter und Schinken?«

Ronar trottete fassungslos hinter ihr her, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. Er hatte keine Erklärung für das, was gerade geschehen war, aber er wusste: Es war so gut und so wunderbar, dass er es kaum ertragen konnte.

Sie hatten ihm nicht wehgetan. Setah hatte ihn losgelassen, weil er ihm nichts antun konnte. Warum auch immer.

Und Irith sprach mit ihm wie mit einem Bruder, der nicht verrückt war.

Er steckte die Hand wieder in die Tasche und tastete nach dem Ding, das ihn gestochen hatte.

Er zog es heraus.

Es war eine alte, trockene Ähre.

Das Zaubervolk

DAS laute Geklapper unzähliger Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster vor der Schmiede weckte Ronar. Von draußen drangen Stimmen ins Zimmer. Befehle wurden mit hart klingendem Tonfall gebrüllt. Ketten klirrten.

Ronar sprang auf und rannte ans Fenster.

»Bleib liegen, Ronar, es sind nur die Elthen«, grunzte Setah verschlafen.

Ronar hörte nicht auf ihn. Durch die Butzenscheiben sah er draußen in der morgendlichen Dunkelheit des Winters verzerrte Gestalten: Männer mit scharlachroten Umhängen auf edlen Rappen. Sie hatten Schwerter in edelsteinbesetzten Scheiden umgegürtet, aber in den Händen trugen sie grobe Stöcke und Peitschen. Dazwischen stand eine Gruppe von aneinander geketteten Wesen in schäbigen Umhängen. Ihre Größe und ihre Gesichter mit den geschlitzten Nasen und den leuchtenden pupillenlosen Augen ließen ihre Fremdartigkeit auf den ersten Blick erkennen.

Ronar blinzelte. Warum schien ihm dies hier so neu?

Er wusste doch, dass jedes Jahr im Winter die Elthen zum Bäumefällen durch die Dörfer getrieben wurden, sobald den Menschen das Feuerholz knapp zu werden drohte.

Das war schon immer so gewesen.

Die scharlachroten Reiter des Schwarzen Königs führten ihre Gefangenen dorthin, wo sie am dringendsten benötigt wurden.

Die Menschen in den Dörfern waren froh über die geleistete Arbeit, aber sie fürchteten die Elthen auch. Niemand hatte vergessen, dass die Elthen ein Zaubervolk waren, und obwohl ihre Bewacher sorgfältig darauf achteten, ihnen keinen Zugang zu ihrer Magie zu erlauben, konnte man sich trotzdem nie ganz sicher sein, ob sie vielleicht nicht doch am Ende einen Weg fanden, ihre magischen Kräfte zurückzugewinnen.

»Ich bin froh, dass diese Verrückten endlich da sind«, schnaubte Setah und richtete sich auf. »Endlich mal Abwechslung vom täglichen Einerlei. Es ist doch immer wieder witzig anzusehen, was für ein Theater sie machen, wenn sie die Bäume abholzen sollen. Keine Ahnung, warum sie sich dabei so anstellen. Erst legen sie die Hand an die Rinde und dann fangen sie an zu weinen. Ich lach mich jedes Mal schlapp. Als ob sie mit den Bäumen reden und die sie verstehen könnten und ihnen verzeihen würden!«

Ein unerklärlicher Schauer lief Ronar über den Rücken.

Bisher hatten ihm die Elthen nur leid getan, wenn sie so unter ihrer Aufgabe litten, aber jetzt war da noch ein anderes, schmerzliches Gefühl.

Setah schlug die Decke zurück und kam zu Ronar ans Fenster.

»Ach, das wird diesmal besonders lustig«, sagte er vergnügt. »Das ist eine andere Gruppe als in den letzten Jahren. Guck mal, der ganz Große in dem weißen Umhang da drüben. Den habe ich noch nie gesehen. Der war bestimmt mal was ganz Besonderes, so gerade wie er sich hält und wie er angezogen ist.«

Setah drückte sich die Nase an der Scheibe platt, um genauer sehen zu können.

»Vielleicht kann man diese Elthen mehr ärgern als die anderen«, meinte er hoffnungsfroh. »Die waren schon zu sehr an unsere Spielchen gewöhnt.«

Ronar folgte mit den Augen der Richtung, die Setahs Zeigefinger wies.

Tatsächlich, dort stand ein Elthe, der die anderen überragte. Er trug Gewänder, die wohl irgendwann einmal eine weißgoldene Farbe gehabt haben mussten. Nun waren sie schmutzig und zerrissen.

Er hatte die Kapuze seines Umhangs tief über den Kopf gezogen, sodass man sein Gesicht nicht sehen konnte.

Ronar spürte ein heftiges Ziehen im Bauch. Er konnte es sich nicht erklären, aber er wollte das Gesicht dieses Elthen sehen. Er wusste, dass das schwierig werden würde, weil die Scharlachroten ihre Gefangenen gut abschirmten, aber vielleicht ergab sich doch eine Gelegenheit. Er musste es unbedingt versuchen.

»Du liebe Zeit, wo willst du denn hin, du Irrer?«, schnaufte Setah, als Ronar nach seinen Sachen griff, und wühlte sich wieder ins Bett. »Es ist bestimmt noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen. Wir können die Elthen nachher immer noch ärgern. Wehe, du machst Vater wütend!«

Ronar schloss leise die Tür und warf sich seinen Umhang über, während er die Treppe hinunterschlich. Unten hörte er die Mutter in der Küche bereits mit Geschirr klappern.

Er huschte durch die Diele an der geöffneten Küchentür vorbei und zwängte sich durch einen winzigen Spalt im Eingangstor. Er lauschte: Kein Ruf von drinnen. Sie hatte ihn nicht bemerkt.

Inzwischen hatten sich die meisten der scharlachroten Reiter im Gasthof einquartiert, um ein Frühstück einzunehmen. Ihre Pferde ließen sie im Stall des Gastwirts versorgen, Ronar hörte von dort die aufgeregten Rufe der völlig überforderten Stallburschen. Nur noch zwei Wachen waren für die Gefangenen abgestellt, aber sie konnten ohnehin nicht fliehen, denn ihre Ketten waren am Pferdegatter festgemacht.

Ronar spürte Zorn in sich aufkochen, ohne zu wissen, warum.

Er ging auf die Gruppe zu.

Einer der Soldaten, die die Elthen auf ihren Pferden umkreisten, sah ihn kommen und begann breit zu grinsen.

»Guck mal, Gerod, da ist schon einer«, sagte er. »Der kann den Spaß wohl gar nicht erwarten!«

Der Angesprochene, ein rothaariger Mann mit nach allen Seiten abstehenden Haaren und einem ebenso struppigen Vollbart, wendete seinen Rappen und ritt auf Ronar zu.

»Ihr Burschen habt wohl gar kein Mitleid mit den Ärmsten«, grinste er. Seiner Stimme war anzuhören, dass auch er kein Mitleid hatte.

Ronar biss die Zähne zusammen und beschloss, das Spiel mitzuspielen.

»Ich möchte sie mir nur mal ansehen«, sagte er schmeichelnd. »Es sind andere als in den letzten Jahren, das wird lustig.«

Gerod lachte beifällig. Er hatte anscheinend kein Problem damit, dass man seine Gefangenen quälte.

»Dann sei mein Gast, junger Freund«, erwiderte er. »Einzige Bedingung ist, dass du sie beim Spielen nicht allzu sehr beschädigst. Und lass sie nach Möglichkeit am Leben, wenn es geht.«

Beide Männer lachten grölend. Ronar ballte die Hände zu Fäusten, aber er zwang sich, mitzulachen.

Mehrere der angeketteten Elthen hoben die Köpfe und sahen ihn an, als er zu ihnen trat. Nur der große weißgekleidete Mann, den sie in ihre Mitte genommen hatten, stand reglos da.

»Es tut mir so leid«, sagte Ronar sehr leise. Die Worte kamen aus tiefstem Herzen. Er wunderte sich, dass er sie auf einmal aussprach, denn die Empfindung war auch in den vergangenen Jahren immer da gewesen. Aber jetzt drängte sie über seine Lippen.

Etliche der leuchtenden großen Augenpaare wandten sich ihm zu und sahen ihn verwundert an. Die Elthen schienen sofort zu verstehen, dass er andere Absichten hatte als die Menschenkinder sonst.

Die Abwehr auf den Gesichtern um ihn herum schwand.

Eine junge schwarzhaarige Elthenfrau in einem braunen Gewand musterte Ronar aufmerksam.

»Was willst du denn?«, fragte sie flüsternd.

Ronar sah den großen Elthen in seinem dreckigen weißen Umhang an. Sein Herz hämmerte, er wollte auf ihn zurennen und ihn in die Arme schließen. Was, um alles in der Welt, war mit ihm los?

»Ich möchte mit ihm sprechen«, murmelte er.

Das Gesicht der jungen Elthin verdunkelte sich. Sie sah auf einmal sehr müde und sehr traurig aus.

»Er spricht nicht«, antwortete sie. »Er ist nicht mehr bei sich. Seit damals hat er kein Wort mehr gesagt.«

»Seit damals?«, fragte Ronar, und er hatte Angst vor ihrer Antwort.

»Seit ihm der Schwarze König die Elthenkrone entrissen hat«, antwortete die junge Frau. »Fünfzehn Jahre sind seitdem vergangen.«

Vor Ronars Augen schwankte der Boden. Sein Kopf war leer, ihm war speiübel und er fühlte sich so schwindelig, als werde er jeden Moment umfallen.

Eine Fußspitze bohrte sich in Ronars Rücken.

Der Soldat namens Gerod war hinter ihn geritten und packte ihn an seinem Umhang.

»Nun, das ging ja sehr sanft vonstatten«, sagte er. »Ich hatte mir mehr von dir erhofft. Aber jetzt ist es genug. – Mach, dass du nach Hause kommst, Bürschchen, und bring nachher ein paar richtige Jungs mit, damit wir auch unseren Spaß haben!«

Ronar taumelte und fiel vornüber auf die Knie. Er schrammte sich die Hände im hartgefrorenen Schnee auf.

»Verdammt nochmal, sie haben ihn verzaubert«, hörte er den Scharlachroten fluchen. Neben ihm knallten zwei Stiefel aufs Pflaster, und er wurde unsanft am Kragen hochgerissen.

Der Mann fuchtelte ihm mit der Peitsche vor der Nase herum und in seinen Augen war ein panisches Flackern zu sehen.

»Haben sie dich verzaubert?«, brüllte er Ronar an. »Sag es mir! Ich prügle den Elthendämon schon aus dir raus, das kannst du mir glauben!«