Das Leben eines Verbrechers in der

Edition BoD

hrsg. von Vito von Eichborn

Dennis Bauers und

Carl ‚Cowboy‘ Johnson

Denn ihr

könnt mich

nur einmal töten

Bericht aus einer fremden Welt:

Drogendeal und Auftragsmord,

der alltägliche Wahnsinn im Knast

und mein Überleben in der Aryan Brotherhood

Dennis Bauers ist ein deutscher Werbegrafiker und Schriftsteller. Er hat im Jahr 2000 seinen Abschluss im Fach Mediengestaltung gemacht und seitdem als Freelancer für diverse Projekte gearbeitet. Sein Hauptinteresse liegt im Bereich der „True Crime Stories“.

Während seiner Recherchen in europäischen, mittel- und nordamerikanischen Krisengebieten wie Guatemala, El Salvador, bestimmten Regionen der USA und Europa hat er umfassendes Wissen über das internationale organisierte Verbrechen und die Gangkultur diverser Länder gesammelt.

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch/Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD. Weitere Informationen unter www.vitolibri.de.

Meine Buchhändlerin sagte mir,
»ja«, sagte sie …

Ja, autobiografische Schilderungen vom Leben am Rand der Gesellschaft haben immer gute Chancen. Es ist nur immer auch eine Gratwanderung, wenn für Gewalttäter zu viel Verständnis aufgebracht wird; das kann Leser ja mit gutem Grund empören. Denn unser Mitgefühl muss doch immer mit den Opfern sein. Wie steht das hier?“

Meine Buchhändlerin hatte das Problem auf den Punkt gebracht. „Ja, es wird versucht, diesen Verbrecher, Carl ‚Cowboy‘ Johnson zu verstehen. Er lebt in einer Parallelwelt, in der gilt: ‚Im Knast ist dein Ansehen alles, was du hast.‘ Wer nicht härter ist als die anderen, hat keine Chance zu überleben. Es gab mal einen durchaus umstrittenen Bestseller über den Hell’s Angel Sonny Barger; der war sogar entschieden zivilisierter als dieser hemmungslose Mörder. Aber braucht nicht eine Gesellschaft geradezu die Extreme, um sich nach innen zu verständigen? Ohne Außenseiter keine Mitte. Wie wollen wir uns verstehen, wenn wir nicht …“

„Das reicht an Überbau“, unterbrach mich meine Buchhändlerin, wie sie das immer tut, „worum geht’s eigentlich, wie ist die Geschichte?“

„Also gut: Mutter Hure, Vater Alkoholiker, Kind in der Pflegefamilie, Jugendgangs, Erziehungsheim, Drogen, Sex und Gewalt. Das kennen wir irgendwie: Wie wird so einer, was er ist? Autodiebstahl, Überfälle, Dealen, dann Staatsgefängnis. Das ganze Geschehen hat eine geradezu logische, unheimliche Konsequenz. Johnson lernt es, immer als Erster zuzuschlagen, bevor andere ihn ‚ficken‘ wollen. Es folgt sein erstes Mordattentat, das ihm im Knast die höchste Anerkennung und Respekt bringt. Und es beginnt seine Reise durch die härtesten Gefängnisse der USA.

Zwischen Schwarzen, Latinos und Weißen gelten unausgesprochene Regeln, deren Übertretung unmittelbar bestraft wird. Ohne selbst Rassist zu sein, wird ‚Cowboy‘ zunächst Mitglied bei den ‚Nazi Low Riders‘, später in der härtesten Verbrecherorganisation hinter Gittern, der weißen ‚Aryan Brotherhood‘, wo ein Auftragsmord zum Aufnahmeritual gehört. Sie beherrschen die Zuchthäuser und halten buchstäblich auf Leben und Tod zusammen; in dieser Welt der Gesetzlosen gilt als einziges Recht das des Stärkeren.“

„Ist das Ganze denn wirklich echt oder, sagen wir, fantasievolles Nachempfinden?“, fragte meine skeptische Buchhändlerin. Sie versucht immer, für ihre Kunden die Kernsätze herauszuarbeiten: Was ist das für ein Buch? Warum kann ich es empfehlen? „Also ist es authentisches Leben oder eher Roman?“

„Das Buch ist in Ich-Form geschrieben und buchstäblich aus dem Leben gegriffen, die Schilderungen aus dem brutalen amerikanischen Knastalltag sind detailliert und authentisch. Der Autor hat Carl Johnson kennengelernt und lange mit ihm korrespondiert. Das liest sich fesselnd wie ein Roman aus einer Parallelwelt und geschieht doch alles gewissermaßen nebenan. Und es ist ein tiefer Blick in die Seele eines Schwerkriminellen. Nein, er wird uns Lesern nicht sympathisch, aber seine Motive, seine Konsequenzen im Leben werden …“

Ich brach ab, denn meine Buchhändlerin hatte mich stehenlassen und war davongeeilt, wie sie das immer macht, wenn ein Kunde den Laden betritt. Als ich ihr hinterherschlenderte, hörte ich auf dem Weg zum Ausgang, wie sie dem Kunden sagte: „Dieses authentische Buch von einem Verbrecher kann einen dazu bringen, über die Fragen von Gut und Böse und ihre Verteilung in unserer westlichen Welt einmal neu nachzudenken.“

Stimmt. Ich verspreche spannende Lektüre und Zweifel am Umgang mit Recht und Gerechtigkeit.

Wer wirft den ersten Stein?

Vito von Eichborn

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Buch, das Sie jetzt lesen werden, ist ein Tabubruch von der ersten bis zur letzten Zeile. Sein Inhalt verstößt gegen eine Vielzahl gesellschaftlicher Konventionen, und doch schildert es eine Realität, in der nicht wenige Menschen leben. Dieses Buch verleiht einem dieser Menschen ihre Stimme.

Die Rede ist von Carl Johnson, einem Mitglied der Aryan Brotherhood, einer gefürchteten Gefängnisbande in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Ich habe Carl während meiner Recherchen für mein erstes Buch „Crime Land“ kennengelernt. Seitdem stehen wir in ständigem Briefkontakt und auf diesem Weg ist auch das Buch entstanden, das Sie in den Händen halten.

Die Art und Weise, in der mir Carl sein Leben und die Ereignisse schilderte, die zu seinem Lebenswandel führten, war schockierend und faszinierend zugleich. Ebendiese Tatsache hat mich dazu bewegt, dieses Buch mit seinen Worten zu schreiben. Obwohl ich durchaus die wenigsten seiner Standpunkte teile, kann ich mich nicht davon freisprechen, dass seine Worte eine gewisse Faszination auf mich ausgeübt haben.

Glauben Sie mir, dass ich Rassismus und Gewalt auf das Tiefste ablehne. Doch seien Sie auch versichert, dass Sie dieses Buch fesseln, schockieren und vielleicht sogar verstören wird. Es schildert eine Wahrheit, die nicht wahr sein sollte. Und doch liegt die Wahrheit immer im Auge des Betrachters. Begleiten Sie Carl Johnson auf seiner Reise und sehen Sie die Welt aus seinen Augen. Aber seien Sie gewarnt; es ist eine Geschichte, die niemals besser wird, egal wie sehr man sich danach sehnt.

Faktisch gesehen ist diese Geschichte eine Tragödie, die Sie fesseln und tief in den Bann des Wahnsinns einer der größten Dramen der amerikanischen Geschichte ziehen wird: den US-amerikanischen Strafvollzug.

Einige Namen und Daten sind zum Schutz der betreffenden Personen geändert worden. Sei es, um sie vor Strafverfolgung oder vor der Gewalt anderer Menschen zu schützen. Doch alle Personen und Ereignisse sind echt und sie passierten genau so, wie sie Ihnen von Carl Johnson geschildert werden.

Dennis Bauers, im Oktober 2011

Prolog

Schwarzer Rassismus ist viel bösartiger als weißer Rassismus. Wenn wir rassistisch sind, wollen wir einfach nicht mit denen zusammenleben. Aber wenn sie rassistisch sind, dann wollen sie uns umbringen. Und weißt du auch warum? Schwarze wollen Rache, Weiße wollen einfach nur Rassentrennung.“

John kaute auf einem Zahnstocher, hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und machte eine kurze Pause.

Während ich auf einem Stuhl in seiner Zelle saß, dachte ich über seine Worte nach. John hatte Recht. Jeder Knast ist ein Spiegel der Gesellschaft, sagt man. Und das, was sich in den 1960er Jahren auf den Straßen großer amerikanischer Städte ereignete, spielte sich auch im Knast ab. Nachdem John F. Kennedy 1963 erschossen wurde, versank in San Quentin der gesamte Gefängnishof in Trauer. Männern, die seit ihrer Kindheit nicht geweint hatten, liefen Tränen über die Wangen. Selbst den härtesten schwarzen Jungs.

Fünf Jahre später, als man Bobby Kennedy in den Kopf geschossen hatte, war die Reaktion eine andere. Die Schwarzen jubelten. „Zehn für einen“ war ihre Parole. Töte zehn Weiße für einen toten Schwarzen und und du erringst den Sieg, so glaubten es viele. Die Rhetorik der Black Panther wurde von einigen Schwarzen mit in den Knast gebracht.

In Soledad schoss ein Wärter in einen Mob von Schwarzen, die zwei Weiße zusammenschlugen. Drei der fünf Angreifer waren auf der Stelle tot. Am selben Abend warfen drei schwarze Gefangene einen weißen Gefängniswärter von der dritten Etage ihres Zellenblocks. Die Wache war sofort tot. Bei den drei Tätern handelte es sich um George Jackson, Fleeta Drumgo und John Clutchette. Jackson und seine Mittäter wurden später durch dessen Buch als die „Soledad-Brüder“ bekannt.

Die drei Schwarzen kamen daraufhin nach San Quentin. Hier ging dann alles erst richtig los. Ein junger Schwarzer, der gegen Jackson aussagen wollte, wurde im Gefängniskrankenhaus behandelt. Ein weißer Schließer bewachte die verschlossene Tür. Albert Johnson und ein weiterer Gefangener schlichen sich über die zweite Etage ins Krankenhaus und ermordeten den Aufseher. Allerdings kamen sie nicht auf die Idee, dass der Wärter den Schlüssel eventuell gar nicht bei sich haben könnte. Schlecht geplant, könnte man sagen.

Yogi Pinelli, ein weiterer schwarzer Häftling, rollte mehrere Zeitungen zusammen und formte daraus einen Speer. Es gelang ihm so, durch die Gitterstäbe seiner Zelle hindurch einen weißen Wärter zu töten.

Seit fast zwei Jahrzehnten war kein Schließer in Kalifornien getötet worden und damals hatten es die Schwarzen geschafft, in einigen Monaten ein ganzes Dutzend zu ermorden. Die engstirnigen, konservativen Wärter wiederum sahen das als persönlichen Angriff und als direkte Bedrohung. Wenn sie es vorher nicht gewesen sind, dann waren sie spätestens zu diesem Zeitpunkt glühende Rassisten.

Bevor die Wachen in diesen Krieg hineingezogen wurden, tobte er nur zwischen den Black Muslims und einigen weißen Neonazis. Die Schwarzen hatten Stan Owens, den Anführer der Neonazis, in einen Hinterhalt gelockt und ihn als Schaschlik serviert. Die Nazis schlugen innerhalb einer Woche dreimal zurück. Eines ihrer Opfer starb und ein anderes war nach dem Angriff querschnittsgelähmt.

Das alles war zu viel für George Jackson. Er war zwar kein Black Muslim, aber dafür ein militanter schwarzer Rassist. Er stellte eine Crew von drei oder vier Leuten zusammen und schlich sich nach dem Abendessen auf die zweite Etage des südlichen Zellenblocks. Dort wurden alle weißen Häftlinge untergebracht, die am selben Tag als Frischlinge nach Quentin gekommen waren. Keiner von ihnen wusste, was passieren würde, als das Killerkommando über sie herfiel. Wie durch ein Wunder starb nur eines ihrer Opfer, die anderen überlebten schwer verletzt.

„Wir Weiße sind hier drinnen jedermanns Feind. Die ganzen Minderheiten halten wie Pech und Schwefel zusammen, aber wir sind allesamt Einzelgänger. Ich habe damals gesehen, wie ein Haufen Weißer tatenlos zusah, als ein weißer Junge von einer Horde Niggern in seiner eigenen Zelle ermordet wurde. Die anderen saßen da und dachten: ‚Zum Glück hat es mich nicht erwischt.‘ Aber wenn nur ein Einziger von uns die Eier hat, sich denen entgegenzustellen, dann ziehen diese Nigger den Schwanz ein. Menschen, die sich zusammenrotten müssen, um Stärke zu zeigen, sind tief in ihrem Inneren verängstigt und fürchten den Starken.“

Wieder machte John eine kurze Pause. „Ich will nicht behaupten, dass man dir nicht die Birne einschlägt, nur weil du die Eier hast, dich denen zu stellen. Aber wichtiger ist, dass du ein Zeichen setzt. Dass du alles bereit bist zu geben, sogar dein eigenes Leben, um denen klarzumachen, dass sie mit dir nicht rumficken werden. Die Schwarzen haben sich aufgespielt und behauptet, den ganzen Laden zu kontrollieren. Also haben wir uns zusammengetan, um ihnen deutlich zu machen, dass sie alles kontrollieren könnten, aber uns nicht.“

John beugte sich zu mir rüber und guckte mir direkt in die Augen. „Damals konntest du das Adrenalin in der Luft förmlich riechen. Das hier war ein einziger Dschungel. Du musstest dich jeden Morgen bereit machen. Wenn die Zellen sich öffneten, dann ging es los. Da war keine Zeit, nachzudenken. Du hast dir dein Messer geschnappt und bist in den Krieg gezogen. Tag für Tag, jeden verfluchten Morgen.“

Die Anspannung packte mich. Ich zündete mir eine Zigarette an und hörte John weiter zu.

„Wir haben hier in unserem Land absolute Meinungs- und Religionsfreiheit. Ich glaube an Separatismus, das ist meine Religion. Genau wie es damals war, du weißt schon: ‚Für Schwarze ist hier der Zutritt verboten.‘“

Er hatte Recht damit, das muss ich ganz ehrlich sagen. Nichts anderes passierte hier im Knast. Du konntest nicht einfach so zu den Schwarzen rübergehen und ihr Freund werden. Du konntest ihnen noch nicht mal eine Zigarette geben, ohne dass man dich dafür abgestochen hätte. Allerdings war es umgekehrt genauso. Für die Schwarzen waren wir die Teufel und wer sich mit uns einließ, der musste zur Hölle fahren.

„Wir sind die Aryan Brotherhood und wir machen hier drin, was wir wollen. Wir saufen, wann wir wollen, wir kämpfen, wann wir wollen und wir töten, wann und wen wir wollen. Wir sind die übelste Brut, die diese Nigger je gesehen haben. Wir sind nicht feige und schleichen uns an unsere Opfer von hinten an. Wir kommen direkt auf dich zu und dann töten wir dich. Wir haben vor nichts Angst und wir verstecken uns nicht. Wir sind wie die Musketiere: ‚Einer für alle und alle für einen.‘“

Tatsächlich räumte man der Bruderschaft extrem viel Freiraum ein. Sogar die Schwarzen. Man stellte sich nicht gegen die Bruderschaft. Wo immer ihre Mitglieder waren, erhielten sie Drogen zu Billigpreisen. Sie nahmen sich ihren Anteil an allen Geschäften, die die weißen Häftlinge machten. Die Aryan Brotherhood war gefürchtet und respektiert.

Scheiße, ich wollte auch in die Bruderschaft.

Kapitel I

Guess I needed some time to get away
I needed some peace of mind, some peace of mind that’ll stay
So I thumbed it down to sixth and L.A.

Maybe your Greyhound could be my way
Police and niggers – that’s right – get out of my Way
Don’t need to buy none of your goldchains today
I don’t need no bracelets clamped in front of my back
Just need my ticket till then won’t you cut me some slack

You’re one in a Million! Yeah, that’s what you are!

You’re one in a Million, Babe, you are a shooting star!

Maybe someday we’ll see you before you make us cry
You know we tried to reach you, but you were much too high
Much too high …

Guns N’ Roses, „One in a Million“

White Trash

Als sich die Aryan Brotherhood 1963 gründete, war ich erst ein Jahr alt. Damals wusste ich noch nichts von all den Morden, den Folterungen, den Drogen, den Jahren in Einzelhaft und den Misshandlungen durch den Staat. Nein, damals glaubte ich vor einer glänzenden Zukunft zu stehen; jedenfalls für die nächsten fünf Jahre.

Aufgewachsen bin ich in einem verkommenen Trailer-Park namens „Fisherman’s Creek“ in der Nähe von Huntington Beach, Kalifornien. Meine Eltern waren Paul und Linda Johnson, Kinder der Unterschicht, aber auf dem aufsteigenden Ast. Dad hatte einen Job in einem Abrissunternehmen und Mum entwickelte sich zur Vorzeige-Mutter der amerikanischen Mittelschicht. Beide arbeiteten hart dafür, aus dem Trailer-Park in einen netten, kleinen Vorort zu ziehen. Verstehen Sie, als weißer Angehöriger der amerikanischen Unterschicht steht man fast noch unter den Niggern, den Mexikanern, den Schlitzaugen, sogar unter den Indianern. Selbst andere Weiße verachten einen. Jeder, wirklich jeder nennt einen „white trash“, „weißen Abschaum“. Irgendwann kam jemand auf die Idee, dass es viel zu rassistisch wäre, jemanden „weißen Abschaum“ zu nennen. Seitdem existiert die politisch korrekte Bezeichnung „trailer park trash“. Mein Gott, man beurteilt uns jetzt nicht mehr nach der Hautfarbe, sondern nach sozialer Abstammung. Vielleicht sollte sich jemand bei diesem System bedanken, wir fühlen uns jetzt viel besser.

Jedenfalls arbeiteten meine Eltern hart für das, was man im Allgemeinen den Amerikanischen Traum nennt. In den ersten Jahren meines Lebens spielte Dad kaum eine Rolle, denn er machte Überstunden wie ein Verrückter. Oft kam er erst nach Hause, wenn ich schon lange eingeschlafen war. Meine ersten Erinnerungen an ihn waren die, in denen ich nachts weinend aufwachte und mein Dad mich aus dem Bett nahm, um mich zu beruhigen.

Aber ganz genau kann ich mich an den Tag erinnern, an dem er unseren ersten kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher mit nach Hause brachte. Damals muss ich etwa drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Wenn ich nicht mit den Nachbarskindern durch den Park tobte, belagerten wir unseren Fernseher. Meine Familie war die einzige im ganzen Park, die sich einen Fernseher leisten konnte, was mich zu einem der beliebtesten Kinder der Nachbarschaft machte. Wir alle liebten „The Wild Wild West“, die Western-Serie mit Robert Conrad und Ross Martin. Das Leben war toll und das Einzige, um das ich (und Mum) uns kümmern mussten, waren Weihnachten, Ostern, Halloween, der 4. Juli und mein Geburtstag. Ich erinnere mich auch daran, dass Mum und Dad kurz davor waren, ein kleines Haus zu kaufen und dass alles bald noch besser werden sollte. Doch in Wahrheit sollte alles viel schlimmer kommen.

Die Firma, in der mein Dad arbeitete, wurde von einem anderen Unternehmen aufgekauft und er verlor seinen Job. So kurz und schmerzlos diese Tatsache auch ist, für uns hatte sie fundamentale Konsequenzen. Zunächst rauften sich meine Eltern zusammen, bemühten sich redlich um Arbeit, doch nirgends schien ein Lichtblick in Sicht. Und schließlich war es meine Mutter, die als Erste wieder Arbeit fand. Damals begriff ich noch nicht wirklich, was sie tat. Ich bemerkte lediglich, dass sich die Abläufe zu Hause geändert hatten. Mum schlief bis mittags, Dad kümmerte sich um mich und abends verabschiedete sich Mum bei mir, bevor sie von Dad zur Arbeit gebracht wurde. Damit ich in dieser Zeit nicht alleine wäre, passte Karen, die Nachbarstochter, auf mich auf. Karen war 14 Jahre alt und im Nachhinein betrachtet mindestens genauso ein mieses Dreckstück, wie es meine Mutter war.

Eines Abends, als meine Eltern unterwegs waren, saß sie neben mir und fragte mich ganz nebenbei, ob ich denn wüsste, was meine Mutter nachts bei der Arbeit tun würde. „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß und Karen grinste mich an. „Sie lutscht reihenweise große schwarze Niggerpimmel. Das macht deine Mum grade.“

Sie können sich nicht vorstellen, wie verstörend diese Aussage im Gehirn eines Fünfjährigen ankommt. Karen saß da, grinste mich provozierend an und schwieg. Wir redeten gar nicht mehr, den ganzen Abend lang nicht. Das Schlimme daran war nicht, dass sie mir Dinge gesagt hatte, die nicht für meine Ohren bestimmt waren, sondern dass sie damit auch noch Recht hatte. Es hatte im Park die Runde gemacht. Meine Mutter arbeitete in „Rogers’ Gentlemens Club“, einem Strip-Schuppen in Huntington. Der Besitzer Roger Dixon war ein berüchtigter Lude, der etliche Weiber für sich laufen hatte. Angeblich, so hatte sie es Dad versprochen, arbeitete Mum dort nur als Bardame. Doch an meinem sechsten Geburtstag stellte sich das alles als eine dicke, fette Lüge heraus. Meine Mutter war in der Nacht zuvor mit dem nächstbesten Nigger-Luden davongelaufen, der ihr das Blaue vom Himmel versprach. Das hört sich jetzt vielleicht etwas hart an, aber in meiner Welt ist ein Schwarzer, über den man nichts Positives sagen kann, nun mal ein Nigger. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Rassist, aber dieser Nigger hatte mir meine Mutter genommen und sie auf den Strich geschickt. Wenn es Sie also anpisst, wie ich rede, dann sei es Ihnen versichert, dass ich über die Art und Weise, wie ich aufwachsen musste, angepisst bin.

Von da an ging alles den Bach runter. Dad fing an zu saufen und entwickelte darin den gleichen Ehrgeiz, den er in seinem Job gezeigt hatte. Erst trank er nur abends, als ich eingeschlafen war, dann schon am frühen Nachmittag und schließlich war er der ungekrönte Säuferkönig vom „Fisherman’s Creek“. Und ich kann Ihnen sagen, dazu gehört einiges, wenn man bedenkt, dass unser Park zu den verlottertsten in ganz Kalifornien gehörte. Die meisten Typen hier waren schon lange da angekommen, wo mein Dad grade mit Vollgas hin wollte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie sich mein geliebter Vater im Handumdrehen in ein unzurechnungsfähiges Monster verwandelte. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen; er liebte mich immer noch, aber noch mehr liebte er den Wodka. Oft schlief er den ganzen Tag lang und fing am Nachmittag an, sich mit seinen Freunden zu betrinken, während ich mit den anderen Jungs durch die Umgebung zog. Ich will Ihnen hier die Details ersparen. Sie können sich sicher denken, auf welche Ideen ein sechsjähriger Junge kommt, dem jegliche elterliche Autorität und Zuwendung fehlt. So kam es, dass am 30. Juli 1969 der Wohnwagen von Robert Ward abbrannte, als mein Vater mit dem Gesicht in seiner eigenen Kotze schlief. Mister Wards Leiche wurde später völlig verkohlt in den abgebrannten Überresten des Wagens gefunden. Ich glaube, mir war nicht wirklich klar, was es für Konsequenzen haben sollte, als wir den Pinselreiniger unter der Tür des Wohnwagens ausschütteten und die brennenden Zigaretten in die Pfütze warfen. Das sollte mir erst da klar werden, als wir die Schreie von Mister Ward hörten, den das Feuer im Schlaf erwischte. Das war der Moment, in dem wir alle wegrannten.

Ob es mir leidtut, was mit dem alten Mister Ward passiert ist? Ganz ehrlich? Damals war das Einzige, was mich beschäftigte, mein schlechtes Gewissen, weil ich etwas begangen hatte, was ich nicht mehr rückgängig machen konnte. Heute ist es mir völlig egal. Vielleicht hätte der alte Ward nicht so viel saufen sollen, dann wäre er rechtzeitig aufgewacht und hätte sich in Sicherheit bringen können. Vielleicht hätte auch mein Vater nicht so viel saufen sollen oder vielleicht hätte meine Mutter uns gar nicht erst verlassen sollen. Fakt ist, dass ich in meinem Leben schlimmere Dinge getan habe, und das bei vollem Bewusstsein der Konsequenzen.

Ich glaube, es sind die Buddhisten, die behaupten, man würde im nächsten Leben die Strafe für die Dinge kriegen, die man in diesem Leben verbrochen hat. Scheiße, wer war ich dann in meinem vorherigen Leben? Hitler? Oder Stalin? Viel interessanter ist aber die Frage, was mich in meinem nächsten Leben erwartet –

Am Tag nach dem Vorfall mit Mister Wards Wohnwagen wimmelte es im Park von Bullen. Sie können sich sicher vorstellen, dass eine Gruppe von fünf- bis siebenjährigen Jungs eine solche Tat nicht lange geheim halten konnte. Eine Woche später hatte mein alter Herr Besuch vom Huntington Beach Police Department. Die Zeit bis dahin war für mich die Hölle. Ich kam mir vor wie ein Kaninchen, das zitternd vor der Schlange sitzt und nur darauf wartet, dass die Schlange zupackt. Mein Dad hatte den Vorfall zwar mitbekommen und mich dazu auch befragt, aber ich war schon damals ein guter Schauspieler und so glaubte er mir, dass ich mit der ganzen Sache nichts zu tun hätte. Schnell widmete sich Dad wieder der Sauferei und Mister Ward war für ihn vergessen. Als dann die Cops vor unserer Tür standen, konfrontierten sie ihn mit den Zeugenaussagen der anderen Eltern. In seinem völlig besoffenen Zustand musste er zunächst kotzen und fiel dann der Länge nach besinnungslos auf den Boden. Am nächsten Tag stand dann die Jugendfürsorge in unserem Wohnwagen und nahm mich mit. Dad hat von all dem nichts mitbekommen, er schlief noch seinen Rausch aus. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich meinen leiblichen Vater gesehen habe, und die Gedanken an ihn als Alkoholiker, der sein und mein Leben nicht im Griff hatte, verflogen schnell. Für mich blieb er immer der Mann, der alles für seine Familie tat, mich in den Arm nahm, wenn ich traurig war und der eine falsche Schlange zur Frau genommen hatte.

Nachdem ich einige Tage in der Obhut der Fürsorge verbracht hatte, eröffneten die Beamten mir, dass ich von nun an bei Pflegeeltern in Costa Mesa leben würde. Meine neuen Eltern waren Alfred und Elise Shepherd, Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA gekommen waren und hier eine Bäckerei betrieben. Sie waren ganz in Ordnung, aber mehr auch nicht. Ich meine, ich war acht Jahre alt und sollte plötzlich zu wildfremden Menschen „Mum“ und „Dad“ sagen? Scheiße, das konnten die vergessen. Na ja, jedenfalls verlief mein Leben jetzt wieder in geordneten Bahnen. Meine Ziehmutter Elise war die Person, mit der ich den meisten Kontakt hatte. Mister Shepherd arbeitete nachts in der Bäckerei, kam morgens, wenn ich zur Schule ging, nach Hause, sagte „Hallo“ und das war alles, was ich bis zum nächsten Morgen von ihm sah. Der Mann hatte keine Vorbildfunktion für einen Jungen in meinem Alter. An den Wochenenden bekam ich ihn etwas länger zu Gesicht, aber irgendwie wurde ich nicht warm mit ihm. Ständig erzählte er mir Geschichten aus Deutschland, von der Flucht vor den Russen und von der harten Zeit, die er hier in Amerika gehabt hatte. Ganz ehrlich, sollte mich das beeindrucken? Nein, geistig hatte ich diesen Typen schon abgehakt. Irgendwann schien das auch bei ihm angekommen zu sein und unser Verhältnis kühlte sich deutlich ab.

Das Verhältnis zu Elise war auch nicht grade liebevoll, aber immerhin etwas, was man als herzlich bezeichnen konnte. Ich glaube, Mister Shepherd hat das gestört. Als ich zehn oder elf Jahre alt geworden war, verschlechterte sich die Stimmung im Hause meiner Zieheltern deutlich. Alfred beschuldigte seine Frau immer wieder, mich viel zu lasch zu erziehen und gab ihr die Schuld, wenn es Ärger in der Schule oder mit den Nachbarskindern gab. Ich habe sie in den Jahren, die ich bei ihnen verbrachte, nicht einmal sich küssen oder umarmen sehen, sie gingen nie Arm in Arm oder Hand in Hand. Ich lernte schnell, das alles auszunutzen. Wenn ich etwas haben wollte und es von Mister Shepherd nicht bekam, fragte ich Elise am nächsten Tag hinter seinem Rücken danach. Von ihr sollte ich es bekommen. Als Gegenleistung dafür gab ich ihr das Gefühl zurück, sie als Mutter zu lieben. Keines dieser Gefühle von mir war jemals echt. Aber wer kann es mir verdenken? Ich war ein Kind, verstehen Sie? Es gehörte zu meinem Lernprozess, zu meinem Weg des Erwachsenwerdens.

In meiner Nachbarschaft gab es nicht viele gleichaltrige Kinder und mit den wenigen, denen ich über den Weg lief, gab es oft Raufereien. Ich lernte, auf mich selbst aufzupassen, nahm den Ärger hin, der auf mich zukam und lernte dabei, meine Gefühle auszuschalten. Durch manche Dinge muss man einfach durch, auch als Kind. In der Schule lief es nicht besonders, vor allem Mathe machte mir Schwierigkeiten. Kurz und bündig, ich konnte mich in meiner neuen Umgebung nicht wirklich gut anpassen, gab mir aber auch nur wenig Mühe.

Mit elf Jahren brach ich in das Haus eines Nachbarn ein und klaute Knaller und Feuerwerkskörper. Das war mein zweiter Kontakt mit der Polizei. Ein Richter ordnete an, dass ich den Wert der Beute bezahlen müsse und wieder einmal war es Elise, die dafür zahlen musste. Mister Shepherd war außer sich vor Zorn und tobte zu Hause. Mit hochrotem Kopf brüllte er Elise an, redete irgendeinen Nazi-Mist darüber, wie man mich am besten hätte erziehen sollen. Wenn Sie mich fragen, dann ist das alles nicht meine Schuld. Was kann ich dafür, dass ich bei diesen beschissenen Ausländern leben musste, die den 4. Juli nicht feiern und ich deshalb kein Feuerwerk bekommen sollte? Scheiße, das war nicht mein Problem, aber in Momenten wie diesen stellte ich mir immer wieder diese „Was wäre wenn?“-Frage. Und sie endete immer wieder an der gleichen Stelle. Hätte meine Mutter uns nicht mit diesem dreckigen Zuhälter verlassen, wäre mir das alles nicht passiert. Meine Mutter war eine Schlampe und Elise eine unterkühlte, verweichlichte Kuh, die in Selbstmitleid versank. Mein Frauenbild war nicht grade mit starken Vorbildern gesegnet. Ob ich langsam zum Frauenhasser mutierte? Ich weiß es nicht, aber es spielt auch keine große Rolle. All zu viele Frauen sollte ich in meinem Leben nicht kennenlernen.

In der sechsten Klasse schwänzte ich oft die Schule. Ich hatte keinen Bock mehr auf dieses Leben, auf meine Zieheltern, auf die Schule, auf Costa Mesa und auch nicht auf die reichen Mittelklassekinder. Immer wieder versuchte ich, mit dem Bus zurück nach Huntington zu kommen, was aber meistens daran scheiterte, dass ich nicht genug Geld hatte oder schlichtweg den Weg nicht wusste. Mindestens einmal in der Woche brachten mich die Cops nach Hause, weil ich beim Schwarzfahren oder Klauen erwischt worden war. Manchmal blieb ich auch über Nacht weg und wurde erst am nächsten Tag zurück zu den Shepherds gebracht. Während Elise in Tränen ausbrach, tobte Mister Shepherd (dessen wirklicher Familienname übrigens Schäfer war) vor Wut. Immer und immer wieder drohte er mir damit, dass er mich ins Kinderheim stecken würde, da wäre dann Endstation für mich. Wenn ich heute an diese Drohung zurückdenke, muss ich immer noch herzhaft lachen. Der alte Mann wusste nie, was Endstation bedeutet. Scheiße, ich wünschte, er wäre hier bei mir in meiner Zelle und könnte miterleben, was ihm 1944 im russischen Gulag erspart geblieben ist.

Wie dem auch sei, einmal ist es mir tatsächlich gelungen, nach Fisherman’s Creek zurückzukehren, nur um festzustellen, dass mein Vater von dort weggezogen war. Ich hörte, dass mein Dad vergeblich versucht hatte, mit mir Kontakt aufzunehmen und ihm die Jugendfürsorge meinen Aufenthaltsort nicht nennen wollte. Das war das einzige Mal in der ganzen Zeit, dass ich hemmungslos weinte. Zwar konnte ich die neue Adresse meines Vaters von einem der Nachbarn bekommen, aber auf dem Weg dahin wurde ich nachts von einer Polizeistreife aufgegriffen und zurück nach Costa Mesa gebracht.

Als ich 14 Jahre alt war, war es dann so weit. Der alte Mister Shepherd machte seine Drohung wahr und wollte mich ins Jugendheim schicken. Der Grund dafür war nicht wirklich dramatisch, aber das Maß war voll. Ich hatte mir 200 Dollar aus der Haushaltskasse der Shepherds genommen und mir dafür Pott gekauft. Kiffen war eines meiner neuen Hobbys, um der Realität zu entfliehen. Eigentlich hatte mir Gras nie gefallen, aber nach dem ersten Joint rauchte ich das Zeug beinahe täglich. Als Alfred den Diebstahl bemerkte, rief er das Jugendamt an und schilderte ihnen jede Kleinigkeit meiner Verfehlungen. Ich hatte danach noch die Möglichkeit, mit einem Psychologen zu sprechen und die Dinge aus meiner Sicht zu schildern. Scheiße, wenn ich gewusst hätte, dass sich die Dinge auch durch dieses Gespräch nicht ändern würden, hätte ich ihm direkt den Mittelfinger gezeigt und meine Zeit nicht mit ihm vergeudet. So aber redeten wir etwa eine Stunde über mein Leben und das, was ich für meine Zukunft plante. Danach beschloss ein Gericht, dass eine gewisse Zeit in einer staatlichen Einrichtung das Richtige für mich und die Shepherds wäre. 1978 stand also eine neue Station auf meinem Weg fest: die Staatliche Erziehungsanstalt für Jungen in Newport Beach, Kalifornien. Das sollte das letzte Mal gewesen sein, dass ich die Shepherds sah. Falls ihr diese Zeilen wider Erwarten einmal lesen solltet, möchte ich euch noch eine letzte Botschaft zukommen lassen: „Fuck you! Das waren neun verschwendete Jahre für euch und für mich!“

Fuck you!

Der zuständige Psychologe vom Jugendamt hatte damals einen Bericht über mich angefertigt. Jahre später sollte ich das Werk über meinen Anwalt zu Gesicht bekommen. Darin schrieb er:

„Carl Johnson leidet seit seiner frühen Kindheit unter einer gefährlichen Soziopathie und antisozialen Persönlichkeitsstörungen, die sich durch Missachtung sozialer Verpflichtungen und mangelnde Empathie äußern.“

Ich kann mich noch genau an dieses Gespräch erinnern, nachdem dieser Bericht entstanden ist. Der Typ fing damit an, mir meine Rechte vorzulesen, was ich irgendwie sehr merkwürdig fand. Danach schaltete er ein Tonbandgerät ein und fing an, mich zu verhören. Ja, Sie haben richtig gelesen. Er verhörte mich, als ob er nach Beweisen und Indizien suchen würde, fragte mich nach meinen Verbrechen, die ich begangen hätte. Wie einer dieser verdammten Bullen. Ich antwortete ihm: „Fick dich, du beschissene Schwuchtel. Was soll dieser Schwachsinn? Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Mann!“ Das war alles, was er von mir hörte – und nach diesem kurzen Gespräch schrieb er den Bericht, der heute noch in meinen Akten steht.

Ich denke, ich war damals schon ein Staatsfeind und habe jede Autorität, die über mich richten und entscheiden wollte, verabscheut. Ich habe mich schon immer mit Außenseitern und Kriminellen identifiziert. Wenn ich diese Hochglanzmagazine lese und die Anzeigen sehe, in denen Ford und General Motors für ihre Familienkutschen werben, Sie wissen schon – Mum und Dad vor ihrem Kombi, der Hund und die Kinder auf den Rücksitzen, das alles vor dem Panorama eines typisch amerikanischen Vororts – ich will diesen Schwachsinn nicht. Mich kotzt es an. Meine Vorbilder waren eher Männer, die ich aus Filmen kannte: James Cagney, Humphrey Bogart, James Dean. Typen, die sich nicht anpassen konnten.

Na ja, das alles passierte, nachdem ich vom Jugendamt nach Newport Beach gebracht worden war. Der Mini-Van passierte das Tor der Erziehungsanstalt und ich konnte schon hier sehen, was mich erwarten würde. Eine lange Straße führte zwischen Baumwollplantagen hinauf zum Hauptgebäude der Anstalt. Schätzungsweise 500 Jungs in meinem Alter waren damit beschäftigt, die Sträucher abzuernten und blickten nur kurz auf, als unser Wagen sie passierte. Nachdem wir den letzten Kontrollpunkt hinter uns gelassen hatten, parkten wir direkt vor dem „Institut“, wie es meine Begleiter nannten. Das alles sah eher aus wie das College oder eine Universität – jedenfalls stellte ich mir das damals so vor. Neben dem Gebäude befanden sich ein Baseball-Feld, umgeben von einer Laufbahn, daneben eine Sporthalle und ein Fitnessraum. Aber überall standen Wachen herum, die wohl grade wenig zu tun hatten, denn alle Insassen waren auf den Feldern beschäftigt.

Aber der schöne Schein trog. Innen drin war die Staatliche Erziehungsanstalt für Jungen verfault wie eine schimmelnde Frucht. Das war alles nur eine Fassade, gebaut, um zu brechen und zu korrumpieren. Ich sollte bald lernen, dass hier nur Begehrlichkeiten geweckt werden sollten. Die Realität bestand aus zehn Stunden täglicher Arbeit auf den Plantagen. Lediglich der Sonntag stand uns zur freien Verfügung offen. Im Jahre 1978 waren hier 1.200 Jugendliche untergebracht, die alle nicht länger als ein Jahr bleiben sollten. Die ganze Anstalt war aufgeteilt in ein Hauptgebäude, in dem die Leitung residierte, und drei Nebengebäude, die jeweils vier Etagen hatten. Jeder Insasse hatte ein eigenes kleines Zimmer, das nicht mehr als ein spartanisches Bett, einen Schrank und ein Waschbecken enthielt. Gemeinschaftsduschen waren auf jeder Etage zu finden. Außerdem gab es in jedem Gebäude einen Gemeinschaftsraum, der einen Billardtisch und anderen Kram enthielt. Die Nutzung der Sportanlagen musste man sich verdienen. Dazu gehörten regelmäßige Gespräche mit den Psychologen, die es in jedem Gebäude gab, vorbildliche Arbeit auf den Baumwollplantagen und darüber hinaus selbstverständlich ein striktes Befolgen der Anstaltsregeln. Dazu gehörten Bettruhe um 21 Uhr, kein lautes Rennen auf den Fluren und so weiter – Schwachsinn, an den ich mich nicht halten würde.

Daneben gab es aber auch noch eine andere Seite. Jungs, die sich immer wieder gegen die Regeln verhielten, wurden in einen kleinen Bunker gesperrt, den die Wachen „Zwinger“ nannten. Ein extrem kleiner Raum mit nur einem Oberlicht und einer Pritsche. Je nach Verfehlung musste man hier bis zu vier Tage verbringen. Wir nannten das Teil nur den „Kuhstall“, denn es stank dort bestialisch. Sie erinnern sich vielleicht: Pritsche und Oberlicht, von einer Toilette war nicht die Rede.

Nun ja, der Samstag, an dem man mich nach Newport Beach gebracht hatte, war nach dem kurzen Eingangsgespräch mit dem Psychologen und einer Einweisung in das System schnell vorüber. Am Sonntag hatte ich genügend Zeit, mich mit meinen Leidensgenossen bekanntzumachen. Nach dem Frühstück warf ich einen Blick in den Gemeinschaftsraum. Als ich in der Tür stand und mich umsah, hatte ich alle Aufmerksamkeit für mich. Alle 50 Jungs unterbrachen ihre Beschäftigung und starrten mich an. Ein älterer Junge, der etwa doppelt so groß war wie ich, sprach mich an.

„Hey Neuer, welche Schuhgröße hast du?“, fragte er mich.

„Keine Ahnung, Mann!“, war meine Antwort.

Sein Name war Bobby Rice und ich sollte ihn in einigen Jahren wieder treffen. Doch dazu später.

Höflich fragte er mich, ob er mal einen Schuh anprobieren könne.