Das Buch

Was ist bloß mit Tim los? Seit Elenas Rückkehr aus Amerika ist er völlig verändert und sie weiß nicht mehr, woran sie bei ihm ist. Als Elena auf dem letzten Turnier der Saison mit ihrem Pferd stürzt und sich schwer verletzt, ist es nicht Tim, der sie im Krankenhaus besucht, sondern Farid. Doch warum sollte sich der gut aussehende Fußballstar ausgerechnet in sie verlieben? An Elena nagen Selbstzweifel – seit dem Sturz mit Bittersweet weiß sie nicht mehr, ob sie jemals wieder so unbefangen reiten kann wie zuvor. Als eines Abends auch noch Tims kleine Schwester verschwindet, hat Elena keine Wahl und macht sich auf zu einem Ritt auf Leben und Tod …

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für meine Schwester Camilla

1. Kapitel

»Oh mein Gott, ich glaub, ich dreh gleich durch!« Melike hopste auf der Rückbank des großen Lkw herum und rüttelte ungeduldig an der Kopfstütze des Vordersitzes, auf dem ich saß. »Können Sie nicht ein bisschen Gas geben, Herr Weiland?«

»Mit dem Lkw darf ich nur achtzig fahren«, erwiderte Papa geduldig. »Außerdem nützt es wenig, wenn wir früher da sind. Nachdem die Maschine gelandet ist, dauert es nach meiner Erfahrung sowieso mindestens anderthalb Stunden, bis alle Formalitäten erledigt sind.«

Mein Vater hatte schon oft Pferde zum Flughafen gefahren oder dort abgeholt, er kannte sich aus. Unser Amselhof lag nur knapp fünfundzwanzig Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt und nicht selten wurden bei uns Pferde untergebracht, die auf der Durchreise in irgendwelche exotischen Länder waren. Meistens blieben sie nur für eine Nacht, aber manchmal auch für ein paar Tage, bis ihre Reise weiterging.

Ich hatte Papa einmal begleiten dürfen, im vergangenen Jahr, als wir mein Berittpferd Quintano, das dem Schweizer Pferdehändler Nötzli gehört hatte, zum Flughafen gefahren hatten. Herr Nötzli hatte den braunen Wallach, dem ich meine ersten Siege in M-Springen verdankte, an die amerikanische Springreiterin Brenda Murray verkauft, und Quintano war von Frankfurt aus nach Boston geflogen. Brenda hatte das Versprechen, das sie mir damals gegeben und das ich zunächst nicht ernst genommen hatte, tatsächlich wahr gemacht: Sie hatte mich und eine Freundin auf ihre Farm nach Massachusetts eingeladen. Klar, dass Melike mitgekommen war, und wir hatten in den sechs Wochen wahnsinnig viel erlebt. Auf der Oaktree-Farm hatte es nicht nur Brendas Springpferde gegeben, wie wir eigentlich angenommen hatten, sondern auch jede Menge Westernpferde. Brendas Vater, Richard Baxter, war in ganz Amerika bekannt für seine Zucht von hochklassigen Quarter Horses. Es verstand sich von selbst, dass Melike und ich das Westernreiten ausprobiert hatten. Zuerst war uns die herrliche Farm wie das totale Pferde-Paradies erschienen, aber dann waren wir zusammen mit Brendas Kindern, Luke und Joana, einer Bande von üblen Pferdequälern auf die Schliche gekommen, deren Anführer ausgerechnet Brendas zweiter Mann Chris gewesen war. Als Dank für unsere Hilfe hatte uns Richard Baxter zum Abschied zwei seiner Pferde geschenkt: mir die Fuchsstute Mainly Mathilda, mit der ich bei einer Show eine Reiningprüfung gewonnen hatte, und Melike einen jungen Buckskinwallach mit dem komplizierten Namen Dunitwhizasmile. Und seit diesem Augenblick sprach meine beste Freundin von nichts anderem mehr als von ihrem Smiley. Während Melikes Freund Niklas sich geduldig ihre Schwärmereien anhörte, war Tim mittlerweile total genervt und machte einen Bogen um meine Freundin. Das hatte zu einer leichten Verstimmung zwischen uns geführt, denn auch wenn ich es selbst nicht mehr hören konnte, so verstand ich Melikes Aufregung.

Heute sollten die Pferde endlich nach Deutschland kommen und genau deshalb saßen Melike und ich an diesem Mittwochvormittag im September nicht in der Schule, sondern mit Papa im Lkw.

Seitdem wir vor zwanzig Minuten losgefahren waren, quatschte Melike ohne Punkt und Komma. Sie war ohnehin redselig, aber wenn sie aufgeregt war, war sie überhaupt nicht mehr zu bremsen.

»Warum fahren wir eigentlich mit dem großen Lkw?«, fragte sie plötzlich. »Der Pferdehänger hätte doch auch gereicht, oder?«

»In den passen aber nur zwei Pferde rein«, entgegnete Papa.

»Hä?«, wunderte sich Melike. »Hilda und Smiley, das sind doch zwei Pferde!«

»Tja. Diejenige, die die beiden begleitet, bringt aber auch noch zwei Pferde mit«, sagte mein Vater und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Und das sind dann vier, wenn ich mich nicht verrechnet habe.«

»Wie? Was? Wer?« Melike riss die Augen auf. »Davon weiß ich ja gar nichts! Du, Elena?«

»Nein.« Ich war genauso erstaunt wie meine Freundin.

»Wenn du mir in den letzten zwanzig Minuten mal die Gelegenheit gegeben hättest, zu Wort zu kommen, dann hätte ich es euch längst erzählt«, schmunzelte Papa. »Es sollte eine Überraschung sein, und offenbar haben Brendas Kinder wirklich nichts verraten.«

Tatsächlich hatten weder Luke noch Joana in den zahlreichen WhatsApps, die wir uns seit unserer Rückkehr aus Amerika hin- und hergeschrieben hatten, mit keinem Wort erwähnt, dass Hilda und Smiley von irgendwem begleitet werden sollten. Nun bestürmten Melike und ich meinen Vater, damit er uns mehr erzählte.

»Es ist Gloria, stimmt’s?«, vermutete ich und Papa nickte. »Wie cool!«, freute ich mich.

Gloria hatte auf der Oaktree-Farm als working student gearbeitet. Davor war sie in anderen Ställen gewesen, in denen man sie allerdings wie eine Stallarbeiterin behandelt hatte, obwohl sie total gut reiten konnte. Sie stammte aus der Schweiz und hatte Melike und mir viel über das Westernreiten beigebracht. Am Ende war es ihrer mutigen Hilfe zu verdanken, dass wir die brutalen Machenschaften von Chris Murray und J.J. Coleman, dem Trainer, hatten aufdecken können.

»Welche Pferde bringt sie wohl mit?«, überlegte Melike. »Ich wusste gar nicht, dass sie eigene Pferde hat! Ob sie den Baxters welche abgekauft hat? Das ist ja voll geil, noch mehr Westernpferde auf dem Amselhof! Gibt es überhaupt genügend Boxen? Oh Mann, gut, dass ich das nicht vorher wusste, ich wäre voll durchgedreht vor Ungeduld!«

Melikes Wangen glühten und Papa schüttelte belustigt den Kopf.

»Tust du das nicht sowieso schon?«, neckte er meine Freundin. »Oder wie bezeichnet man den Zustand, in dem du dich seit zwei Wochen befindest?«

»Das ist voll gemein von Ihnen, Herr Weiland!« Melike tat so, als sei sie eingeschnappt, aber das hielt sie nicht lange durch, dann strahlte sie wieder. »Ich freu mich halt. Smiley ist schließlich mein allererstes eigenes Pferd. Hach! Und er ist sooo wahnsinnig süüüß! Hab ich Ihnen eigentlich schon mal ein Foto von ihm gezeigt?«

»Ja, das hast du!«, unterbrach Papa sie und hob in gespielter Verzweiflung die Hand. »Du hast mir mindestens dreißig Fotos von diesem Pferd gezeigt. Ich glaube, wenn ich noch einmal den Namen ›Smiley‹ höre, kriege ich nervöse Zuckungen.«

Bei der Vorstellung, wie Papa nervöse Zuckungen bekam, musste ich kichern.

Melike stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ sich nach hinten sinken. »Es tut mir leid, wenn ich euch alle nerve«, sagte sie. »Ich bin einfach nur so glücklich! Ich meine, ich war ja echt nie eine besonders tolle Reiterin und vor dem Springen hatte ich immer voll Schiss, aber beim Westernreiten hatte ich gleich irgendwie das Gefühl, dass ich das lernen kann.«

Papa setzte den Blinker und fuhr auf die A3 Richtung Frankfurt. Unvermittelt stieß Melike einen spitzen Schrei aus.

»Da! Da!«, quiekte sie und deutete auf ein Flugzeug im Landeanflug. »Ich wette, da sind Hilda und mein …«

»Bitte nicht!«, stieß Papa hervor und verzog das Gesicht, als ob er Zahnschmerzen hätte. »Das ist Folter!«

»… Ihr-wisst-schon-Wer drin«, beendete Melike ihren Satz und grinste. »Ach, Herr Weiland, in welche Boxen sollen denn eigentlich die Pferde, die jetzt mit Sie-wissen-schon-Wem kommen?«

Ich musste so sehr lachen, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. So gut gelaunt hatte ich meinen Vater schon lange nicht mehr erlebt. Er mochte meine Freundin sehr und freute sich für sie, das wusste ich. Bisher war Melike immer auf Jasper, dem alten Pferd ihrer Mutter, geritten, und der war nicht unbedingt ein Traumpferd.

»Die Pferde kommen erst mal in Lajos’ Stall«, entgegnete Papa. »Ich hoffe, dass die Paddockboxen nächste Woche fertig werden, dann können sie umziehen.«

In den sechs Wochen, in denen wir in Amerika gewesen waren, hatte sich auf dem Amselhof eine Menge getan. Die finanziellen Probleme, die vor zwei Jahren beinahe für eine Zwangsversteigerung des Hofes gesorgt hatten, gehörten glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Mittlerweile waren meine Eltern wieder in der Lage, notwendige Erneuerungen und Renovierungen vornehmen zu lassen. Seit dem letzten Sommer gab es eine moderne, große Reithalle mit einem neuen Stalltrakt, in dem bereits jede Box vermietet war. Das nächste große Projekt war der Umbau des langen Stalls neben der alten Reithalle gewesen, da die fensterlosen Innenboxen auf der einen Seite der Stallgasse zu klein, zu dunkel und nicht mehr zeitgemäß waren. Stattdessen waren die Fensterboxen vergrößert worden und hatten jeweils einen eigenen Paddock als »Vorgarten« bekommen. Außerdem waren auf der anderen Seite der neuen Reithalle eine Scheune, als Ersatz für die, die im Frühjahr abgebrannt war, und zwanzig weitere Boxen mit einem Paddock davor gebaut worden. Mein Großvater hielt Paddockboxen für unwirtschaftlichen Quatsch, aber viele der Einsteller waren gerne bereit, den höheren Preis zu bezahlen, damit ihre Pferde mehr Licht, Luft und Bewegung hatten.

Endlich passierten wir das Tor, durch das man in den Cargo-Bereich des Flughafens gelangte. Eine ganze Weile fuhren wir an riesigen Hallen vorbei und staunten, wie weitläufig das Gelände war, das sich hinter hohen Sichtschutzzäunen verbarg, sodass man es von außen nie richtig sehen konnte.

Papa parkte den Lkw schließlich vor einer der Wellblechhallen, betätigte die Druckluftbremse und stellte den Motor aus. Wir kletterten aus dem Fahrerhaus und überquerten den Parkplatz.

»Lufthansa Cargo Animal Lounge«, las Melike von dem Schild ab, das über dem Eingang hing.

Papa öffnete die Tür des Abholbüros und wir betraten einen Raum mit einem langen Tresen, vor dem schon ein paar andere Leute warteten. Es sah fast ein bisschen so aus wie in einer Tierklinik, sauber und zweckmäßig.

Nach einer Stunde, die sich anfühlte wie ein halber Tag, war es endlich so weit: Wir wurden durch eine Tür in das Innere der großen Halle geführt. Irgendwo wieherte ein Pferd, Hunde bellten, ein Rolltor rasselte herunter. Wir bogen um eine Ecke und sahen Gloria. Bei ihrem Anblick kam es mir so vor, als seien wir wieder auf der Oaktree-Farm: Gloria trug wie üblich Jeans, eine karierte Bluse, Cowboystiefel und einen weißen Cowboyhut und strahlte, als sie uns sah.

»Hey, Cowgirls!«, rief sie. »Überraschung!«

»Gloria!« Ich fiel ihr um den Hals. »Wie cool, dass du hier bist! Mein Vater hat es uns eben erst verraten.«

Für eine ausgiebigere Begrüßung blieb keine Zeit, denn die Pferde hatten Zoll und Veterinärcheck hinter sich, alle Papiere waren überprüft und in Ordnung und wir durften sie endlich entgegennehmen.

Melike zappelte neben mir herum, als ob sie versehentlich ein Starkstromkabel berührt hätte.

»Was ist denn mit dir los?«, erkundigte sich Gloria.

»Sie freut sich auf Smiley«, antwortete ich an Melikes Stelle und rollte mit den Augen. »Höchste Zeit, dass er kommt. Sie nervt uns allmählich alle.«

»Das ist eben mein südländisches Temperament!« Melike tat beleidigt. »Ich bin ein emotionaler Mensch, im Gegensatz zu euch drögen Deutschen!«

»Auf jeden Fall hat dich das Westernvirus voll erwischt«, bemerkte Gloria grinsend. »Cooles Profilfoto bei Facebook und WhatsApp!«

»Ja, nicht wahr?« Melike kicherte. Kurz nach unserer Landung aus Boston hatte sie ihre Profilfotos durch ein Bild ihrer pinkfarbenen Cowboystiefel ersetzt.

Papa hatte mittlerweile alle Papiere für die Pferde bekommen. Er reichte Gloria zur Begrüßung die Hand und erkundigte sich, ob während des Fluges alles gut verlaufen sei.

»Völlig ohne Probleme«, versicherte Gloria.

Und dann war er endlich da, der große Moment! Wir betraten die Halle, in der sich die Pferdeboxen befanden. Zuerst erblickte ich hinter den Gitterstäben einen hellen Fuchs mit einer breiten Blesse.

»Das ist doch Shiner!«, rief ich erstaunt. Den Fuchswallach mit den hellblauen Augen hatte Melike oft geritten, er war schon zwölf Jahre alt und sehr erfahren.

»Ja, das ist er«, bestätigte Gloria. »Richard hat mir ihn und Gray Jac zu einem echt fairen Preis verkauft.«

Melike war nicht mehr zu halten, als sie ihren Smiley in der vierten Box erspäht hatte.

»Smiley!«, jubelte sie. »Oh, Smiley, da bist du ja endlich!«

Der goldfarbene Buckskinwallach spitzte die Ohren und wieherte tatsächlich, als er seinen Namen hörte. Da brach Melike in Freudentränen aus. Smiley, der merkte, dass er aus der schmalen Box befreit werden sollte, begann ungeduldig herumzutänzeln.

»Melike, lass mich besser Smiley nehmen. Er ist ein bisschen nervös nach dem Flug«, sagte Gloria. »Nimm lieber Shiner.«

»Nein, ich will mein Pferd selbst führen«, widersprach Melike. »Ich schaff das schon.«

Ich öffnete die Box, in der Mainly Mathilda untergebracht war, und begrüßte die hübsche Dunkelfuchsstute, die ich auf der Oaktree-Farm fast jeden Tag geritten hatte. Sie sah mich aus ihren braungoldenen Augen ruhig an und rieb ihre Nase an meinem Arm.

»Willkommen in Deutschland«, sagte ich und streichelte ihren Hals, dann hakte ich den Führstrick in das Halfter.

Melike wollte Smiley aus der Nachbarbox führen, aber der Wallach wartete nicht, bis sie vorgegangen war, sondern quetschte sich gleichzeitig durch die Tür und klemmte Melikes Arm ein. Auf der Stallgasse hatte meine Freundin Mühe, ihn zum Stehen zu bringen.

»Hohooo, mein süßer, kleiner Smiley«, gurrte Melike, doch das ging dem süßen kleinen Smiley, der gar nicht so klein war, ziemlich am Allerwertesten vorbei. Er zerrte sie hinter sich her, tänzelte herum, wieherte nervös und rutschte mit den Hufeisen auf dem Betonboden, sodass die Funken stoben.

»Verdammt, was hat er denn?«, keuchte Melike.

»Temperament«, erwiderte Gloria und grinste gutmütig. »Komm, gib ihn mir.«

Widerstrebend reichte Melike ihr den Strick und übernahm Shiner, der dastand, als ob er Schlaftabletten genommen hätte. Gloria hatte keine Probleme mit Smiley, denn sie hatte ihn auf der Oaktree-Farm häufig geritten und kannte ihn gut.

Papa führte Gray Jac, den Grauschimmel, den Chris Murray bei seiner wilden Flucht durch den Wald fast zu Schanden geritten hatte. Bei der Erinnerung daran, wie Gloria und Joana an jenem Tag beinahe im Kofferraum von Glorias Auto, das Chris in den Saw Mill River gefahren hatte, ertrunken wären, lief mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Wir führten die Pferde durch das Rolltor zum Lkw. Gehorsam trotteten sie neben uns her über den Parkplatz und ließen sich völlig problemlos verladen, obwohl keines der vier Pferde so steile Verladerampen kannte. In Amerika wurden Pferde mit Trailern transportiert, die gar keine Rampen brauchten.

Als alle Pferde angebunden waren, kam ein Gabelstaplerfahrer noch mit mehreren Kisten und Koffern über den Hof getuckert.

»Was ist das denn?«, fragte ich überrascht.

»Mein Gepäck. In anderthalb Jahren sammelt sich ’ne ganze Menge Zeug an«, antwortete Gloria und grinste. »Außerdem schicken Richard, Barbara und Brenda euch noch ein bisschen was mit. Sättel, Kandaren und so was. Das braucht ihr ja alles als richtige Westernreiter.«

2. Kapitel

Wir verstauten die Kisten und Glorias Gepäck in der Wohnkabine und fuhren endlich los Richtung Amselhof. Während der Fahrt richtete Gloria uns Grüße von Brenda, Luke, Joana, Richard und Barbara Baxter, aber auch von Hugh Sinclair und seinem Sohn Brody aus. Dann erzählte sie von dem Flug, der für sie ziemlich aufregend gewesen war, denn sie hatte sich die ganze Zeit um die Pferde kümmern dürfen.

»Nur bei Start und Landung musste ich mich anschnallen«, erzählte sie. »Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Frachtmaschine geflogen und da geht’s völlig anders zu als in einem Passagierflugzeug. Außer mir waren nur noch ein anderer Passagier und zwei Piloten an Bord.«

»Und wie haben sich die Pferde benommen?«, wollte ich wissen.

»Einfach super!«, schwärmte Gloria. »Ich hatte ja erst Bedenken, denn von denen ist keins jemals vorher geflogen, aber sie haben Heu gefressen, getrunken und vor sich hin gedöst, als würden sie in ihren Boxen stehen. Aber so sind die Quarter Horses eben: total cool.«

Ich erkannte Gloria kaum wieder. Auf der Oaktree-Farm war sie zwar freundlich gewesen, aber immer ein wenig bedrückt. Woran das gelegen hatte, wussten wir mittlerweile, sie war einfach total unglücklich gewesen. Jetzt lachte und erzählte sie fast im selben Tempo wie Melike, wenn sie normal drauf war.

»Werden Sie wieder zurück nach Amerika gehen?«, erkundigte Papa sich.

»Ich weiß noch nicht. Vielleicht für ein paar Monate«, antwortete Gloria. »Ich würde nämlich gerne Chad Channings gewaltfreie Ausbildungsmethoden erlernen, damit ich hier in Europa Kurse geben und eine Westernreitschule für Pferde und Reiter aufbauen kann, am liebsten in Deutschland.«

»Wow! Das klingt toll!« Melike war begeistert.

»Ja, aber es ist nicht so einfach.« Gloria machte eine sorgenvolle Miene. »Zwar könnte ich zu meinen Eltern auf den Hof gehen, aber der liegt in einem kleinen Kaff im Berner Oberland und wir haben nicht mal eine Reithalle. Und ich hatte eigentlich auch nicht geplant, zwei Pferde mitzubringen. Richard hat mich regelrecht überrumpelt. Nachdem ich ihm von meiner Idee mit der Westernreitschule erzählt habe, hat er mir Gray Jac und Shiner quasi geschenkt. Aber ich hab kein Geld, um die beiden irgendwo unterzustellen. Wahrscheinlich bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu verkaufen.«

»Oh nein!«, riefen Melike und ich entsetzt. »Das kannst du nicht tun!«

»Was soll ich sonst machen?« Gloria zuckte mit den Schultern. »Ich hab keinen Job, kein Auto und das Geld, das ich mir zusammengespart habe, wollte ich eigentlich in meine berufliche Zukunft investieren.«

»Fürs Erste können die Pferde auf dem Amselhof bleiben«, bot Papa zu meiner Überraschung an. »Wir haben gerade neue Offenställe gebaut und noch ein paar Boxen frei.«

»Echt? Oh, das … das ist großartig!« Gloria sah aus, als ob ihr gerade einen Riesenstein von der Seele geplumpst wäre, doch dann schien ihr etwas einzufallen. »Ich hab aber leider echt nicht viel Geld für Boxenmieten.«

»Darüber können wir später noch reden«, sagte Papa.

Es war kurz nach halb zwei, als wir den Amselhof erreicht hatten und Papa den Lkw auf dem großen Hof zwischen der neuen Reithalle und dem Turnierstall parkte.

»Wow, ist das schön hier!«, rief Gloria begeistert. »Ich hatte mir den Amselhof gar nicht so groß vorgestellt, Elena!«

»Verglichen mit der Oaktree-Farm ist er ja auch winzig«, erwiderte ich.

»Verglichen mit Amerika ist in Europa alles winzig«, behauptete Gloria.

Natürlich wartete schon das Empfangskomitee auf uns. Mama, Oma, Opa und Christian waren neugierig auf die Pferde aus Amerika. Mein Hengst Fritzi streckte den Kopf aus dem Fenster seiner Eckbox und wieherte schrill, als wir die Verladerampe herunterließen. Neue Pferde fand er immer wahnsinnig aufregend.

Wir kletterten aus dem Fahrerhaus und ich stellte Gloria erst Mama, dann meinen Großeltern vor.

»Und das«, sagte ich, »ist mein Bruder.«

»Ha…hallo«, stotterte mein sonst so redegewandter Bruder. »Willkommen auf dem Amselhof.«

»Hallo, Fritzi«, begrüßte Gloria ihn freundlich. »Freut mich, dich kennenzulernen. Elena hat viel von dir erzählt.«

Melike kicherte. Der Aknefrosch, der lässig in der Stalltür lehnte, schnaubte spöttisch, und Christian verzog das Gesicht. Eigentlich hieß der Aknefrosch Jens und war als Bereiter auf dem Amselhof angestellt. Den Spitznamen hatte ich ihm als Revanche für die gemeinen Bezeichnungen, die er für mich auf Lager hatte, verpasst. Genau betrachtet war Jens längst kein Aknefrosch mehr, aber den Spitznamen benutzten Melike und ich zu seiner Verärgerung noch immer.

»Äh, nein, mein Bruder heißt Christian«, beeilte ich mich nun Gloria zu erklären. »Fritzi ist mein Pferd!«

»Oh, da hab ich wohl was verwechselt.« Gloria lachte verlegen. »Tut mir leid.«

»Kein Problem.« Christian grinste etwas gezwungen. »Typisch für meine Schwester, dass sie mehr über ihr Pferd quatscht als über mich.«

Papa stand schon oben auf dem Lkw und band Gray Jac los. Der Grauschimmel zögerte und traute sich zuerst nicht, einen Huf auf die steile Rampe zu setzen. Er schnaubte ängstlich, seine Ohren spielten vor und zurück. Fritzi beobachtete das alles von seinem Boxenfenster aus und wieherte. Smiley, der wohl fürchtete, allein zurückbleiben zu müssen, scharrte aufgeregt mit den Vorderhufen und wieherte ungestüm. Hilda und Shiner hingegen standen ruhig da und sahen sich die ganze Sache neugierig an.

»Oh, mein armer kleiner Smiley!«, sagte Melike.

»Geht zur Seite, falls er versuchen sollte, von hier oben runterzuspringen!«, befahl Papa und wir gehorchten. Es brauchte ein paar Minuten geduldigen Zuredens, bis der Schimmel endlich Schritt für Schritt die Rampe hinunterging.

»Ich will Smiley selbst abladen!« Melike lief zu ihrem Pferd, bevor Papa sie zurückhalten konnte.

»Warte, bis ich wieder oben bin!«, herrschte er meine Freundin an, aber zu spät. Besorgt um ihr Pferd hatte sie schon die Bruststange gelöst. Smiley, der nach der langen Reise nur zu seinem Kumpel Gray Jac wollte, stürmte blindlings los und Melike konnte sich nur mit einem schnellen Satz zur Seite retten, sonst hätte Smiley sie einfach umgerannt. Da er noch an der Kette festgebunden war, wurde er jedoch unsanft zurückgerissen. Panisch stemmte er sich gegen den Druck, den das Halfter plötzlich auf sein Genick ausübte, und Melike war zwischen der Wand und dem Pferd eingeklemmt.

»Easy, Smiley, easy!«, schrie sie, die Stimme schrill vor Angst, aber das Pferd reagierte nicht, sondern warf sich noch heftiger hin und her. Der Lkw begann zu schaukeln. Wir alle hielten erschrocken die Luft an, denn die Lage war äußerst gefährlich. Wenn das Halfter riss, würde sich Smiley rückwärts überschlagen und womöglich die Rampe hinunterstürzen.

»Bleib ruhig, Melike! Nichts tun!«, kommandierte Papa, der in kritischen Situationen nie die Nerven verlor. Er drückte mir den Führstrick von Gray Jac in die Hand, aber bevor er zurück auf den Lkw gehen konnte, war Jens schon oben. Der Aknefrosch versetzte Smiley einen ordentlichen Klaps auf die Kruppe, woraufhin das Pferd einen Satz nach vorne machte. Sofort ließ der Druck nach und der Aknefrosch nutzte den Moment, in dem das Pferd verwirrt innehielt, um den Karabinerhaken der Kette zu öffnen und einen Führstrick ins Halfter einzuhaken. Jens konnte zwar manchmal echt nervig sein, aber er hatte unbestritten Ahnung vom Umgang mit Pferden und keine Angst, wenn es mal brenzlig wurde. Smiley zitterte am ganzen Leib vor Schreck, war aber wieder gehorsam und Jens gelang es, den goldfarbenen Wallach die Rampe hinunterzuführen. Melike taumelte hinter ihnen her, sie war schneeweiß im Gesicht und zitterte nicht weniger als ihr Pferd.

»Was sollte denn das?«, fuhr Papa sie verärgert an. »Du hast doch wirklich schon lange genug mit Pferden zu tun, um zu wissen, dass man die Bruststange niemals aufmacht, bevor die Anbindekette gelöst ist! Er hätte sich das Genick brechen und dich schwer verletzen können!«

»Tut mir leid.« Melike standen die Tränen in den Augen. Sie griff nach dem Führstrick von Smiley, aber Papa hielt sie davon ab.

»Gloria bringt das Pferd in seine Box. Und du beruhigst dich jetzt mal, Melike!«, sagte Papa streng. »Jeder hier hat Verständnis dafür, dass du dich sehr auf dein Pferd freust, aber nun ist es da und du solltest dich wieder vernünftig benehmen und nicht wie ein kleines Kind, okay?«

Melike ließ zerknirscht den Kopf hängen und nickte. »Okay«, murmelte sie geknickt.

Sie tat mir total leid, aber Papa hatte recht und das wusste sie auch. Im Umgang mit Pferden, besonders mit einem jungen Pferd wie Smiley, das von all den neuen Eindrücken verwirrt war, musste man ruhig und besonnen sein, sonst konnte es schnell zu lebensgefährlichen Situationen kommen.

Papa und Jens luden noch Shiner und Hilda ab, dann führten wir die Pferde an der großen Reithalle vorbei zu dem Stalltrakt, der für die vierbeinigen Patienten von Lajos reserviert war. Die Neuankömmlinge bezogen vier der fünf Boxen, die komplett von allen anderen Boxen getrennt waren und als Quarantäneboxen dienten. In ein paar Tagen konnten sie in die neuen Paddockboxen umziehen, die U-förmig um einen frisch gepflasterten Hof gebaut worden waren.

Mama, meine Großeltern, Lajos und Christian waren uns gefolgt und gemeinsam beobachteten wir nun, wie die Pferde ihre neue Heimat in Augenschein nahmen. Sie schnupperten und scharrten im Stroh, Hilda wälzte sich sofort ausgiebig, Gray Jac und Smiley pinkelten erst mal und Shiner stürzte sich auf den Wassereimer und trank.

»Denen geht’s gut.« Gloria war zufrieden und erleichtert, dass alle vier Pferde gesund und munter an ihrem Ziel angekommen waren.

»Wie klein diese Westernpferde sind«, fand Christian, der wie zufällig genau neben Gloria in der Stallgasse stand. »Kaum größer als ein Pony.«

»Das stimmt. Shiner hat gerade mal 1,46 Stockmaß«, bestätigte Gloria. »Aber Quarter Horses sind sehr kräftig. Schau dir nur mal die Hinterhand an, wie stark bemuskelt die ist.«

»Die müssten doch eigentlich auch springen können, oder?« Jens trat an ihre andere Seite, doch statt des Pferdes betrachtete er Gloria, genauso fasziniert wie es Christian tat. Sie schien das aber gar nicht zu bemerken.

»Drüben in der Gaststätte gibt’s für euch alle ein ordentliches Mittagessen!«, verkündete Oma nun. »Gefüllten Spießbraten mit Kartoffelgemüse.«

Der verfressene Aknefrosch verlor bei der Aussicht auf Essen umgehend jegliches Interesse an den neuen Pferden und an Gloria.

»Und was gibt’s als Nachtisch?«, erkundigte er sich.

»Lass dich überraschen«, erwiderte Oma.

»Hoffentlich keinen Obstsalat oder so was Langweiliges«, maulte der Aknefrosch und kassierte dafür einen Schubser von Oma, die es nicht leiden konnte, wenn man ihre Kochkünste kritisierte.

Alle verschwanden, nur Melike und ich blieben im Stall zurück.

»Komm, lass uns auch was essen«, schlug ich vor.

»Ich hab keinen Hunger.« Meine Freundin schüttelte den Kopf. Sie stand vor Smileys Box, hatte die Ellbogen auf die untere Hälfte der Boxentür gelegt und stützte trübsinnig ihr Kinn in die Hände. Ihre ganze Fröhlichkeit war wie weggeblasen, sie sah niedergeschlagen aus und kämpfte mit den Tränen. So traurig hatte ich meine beste Freundin nur einmal erlebt, nämlich damals, als sie erfahren hatte, dass es für Friday keine Rettung gab.

»Hey, was ist denn?«, fragte ich besorgt.

»Ich hab mich wie eine Idiotin benommen!«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Fast hätte Smiley sich verletzt und ich wäre schuld dran gewesen. Wenn Jens nicht so schnell reagiert hätte, hätte das voll ins Auge gehen können. Dein Vater ist jetzt bestimmt total sauer auf mich und das zu Recht!«

»Ach Quatsch! Das hat er sicher schon längst wieder vergessen«, behauptete ich. »Du weißt doch, wie er Christian und mich manchmal anpfeift, wenn wir irgendwas Blödes machen. Aber das ist dann sofort wieder erledigt.«

»Mmh.« Melike seufzte. »Ich hab mich in den letzten Wochen echt voll zum Affen gemacht. Und warum? Wegen ’nem Pferd, das mich eben um ein Haar totgetrampelt hätte!« Sie druckste ein bisschen herum und vermied es noch immer, mich anzuschauen. »Smiley ist … irgendwie ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe«, platzte es schließlich aus ihr heraus. »Ich hab mich so auf ihn gefreut und jetzt hab ich auf einmal richtig Angst vor ihm. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn noch haben will, nachdem er sich so übel aufgeführt hat!«

»Jetzt lass ihm doch erst mal die Zeit, sich hier einzugewöhnen«, riet ich ihr. »Zuerst kann Gloria ihn reiten, sie kann dir ja auch Unterricht geben.«

»Und was mache ich, wenn sie wieder weggeht?« Melike war total deprimiert. »Ich komme doch nie im Leben mit so einem wilden Vieh zurecht!«

»Ich glaube, er ist gar nicht so wild«, widersprach ich ihr.

»Klar, du siehst das natürlich total anders«, entgegnete Melike frustriert und ein bisschen vorwurfsvoll. »Du setzt dich ja eh auf jeden irren Gaul und springst gleich über Riesenhindernisse! Ich … ich bin halt ’ne Schisserin, deshalb war ich ja so glücklich, dass die Westernpferde viel braver sind als unsere Pferde hier. Aber seit gerade eben … hab ich Angst und das ärgert mich.«

Jetzt kapierte ich erst, was in meiner Freundin vorging. Melike hatte noch nie ein eigenes Pferd besessen, sie hatte sich wahnsinnig auf Smiley gefreut und sich in den letzten beiden Wochen regelrecht in diese Vorfreude hineingesteigert. Dabei hatte sie außer Acht gelassen, dass Smiley ein fremdes Pferd für sie war. Auf der Oaktree-Farm hatte sie ihn nie geritten und ich vermutete, dass Richard Baxter ihr dieses Pferd nur deshalb geschenkt hatte, weil es zufällig dieselbe Farbe hatte wie Friday, in den Melike sich so sehr verliebt hatte. Außer der Farbe hatte Smiley jedoch nichts mit Friday gemeinsam: Er war längst nicht so abgeklärt und umgänglich, sondern ein junges, temperamentvolles Pferd, das außerdem einen langen Flug hinter sich hatte und von der fremden Umgebung zusätzlich irritiert war.

Im Gegensatz zu mir, die ich von klein auf daran gewöhnt war, dauernd mit neuen und fremden Pferden umzugehen, deren Eigenarten man erst nach und nach kennenlernte, hatte Melike sich ohne jede Vorsicht auf ihr Pferd gestürzt. In ihrer Vorstellung hatte sich Smiley in eine Art Friday verwandelt, deshalb hatte sein Verhalten ihr einen Riesenschreck eingejagt, ihre Träume platzen lassen und sie vollkommen ernüchtert.

Endlich hob sie den Kopf und blickte mich an. In ihren großen dunklen Augen glänzten zu meiner Bestürzung Tränen.

»Ich dachte, ich könnte jetzt endlich irgendwie mit euch mithalten«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Du und Tim und Niklas, ja, selbst Ariane und Christian – ihr reitet alle göttlich und habt vor keinem Pferd Angst, auch wenn es noch so sehr buckelt oder steigt! Ganz zu schweigen von diesen Hindernissen, die für euch nie ein Problem sind, während mir schon beim bloßen Gedanken, auf so etwas zuzureiten, schlecht wird!« Sie stieß ein kurzes Lachen aus, das aber nicht fröhlich, sondern richtig verzweifelt klang. »Gegen euch komme ich mir immer so … mickrig vor, so … so … zweitklassig. Und ich hab echt gehofft, dass das mit Smiley jetzt anders würde! Aber das wird es nicht. Ich sollte mit dem Reiten ganz aufhören, bevor ich auch mit ’nem Westernpferd total versage und alle heimlich über mich lachen!« Und dann legte sie den Kopf auf ihre Arme und begann hemmungslos zu weinen.

Ratlos blickte ich auf ihre zuckenden Schultern und fragte mich, was ich darauf antworten und wie ich sie trösten konnte. Ihr Geständnis hatte mich erschüttert, denn ich hätte niemals für möglich gehalten, dass ausgerechnet die selbstbewusste, scharfsinnige Melike, meine allerbeste Freundin, die für jedes Problem einen Ratschlag und eine Lösung wusste, insgeheim darunter litt, dass sie nicht so furchtlos reiten konnte wie ich oder einer von den Jungs. In all den Jahren unserer Freundschaft war das nie ein Thema gewesen und ich betrachtete die Tatsache, dass ich besser reiten konnte, als das Einzige, was ich Melike voraushatte. In allen anderen Belangen des Lebens war sie mir weit überlegen, was ich neidlos anerkannte.

»Aber Melike«, begann ich vorsichtig. »Du bist doch in Amerika voll super geritten! Und wenn Smiley sich hier erst mal eingewöhnt hat, dann …«

»Auf der Oaktree-Farm hab ich doch nur die braven, alten Viecher zum Reiten gekriegt!«, unterbrach Melike mich heftig. »Und bei der Show hab ich mich nicht getraut, richtig schnell zu galoppieren, weil ich immer dachte, mein Pferd könnte ausrutschen und hinfallen! Über so was denkst du überhaupt nie nach und das ist der große Unterschied! Ich denke einfach zu viel!«

Bevor ich etwas darauf antworten konnte, begann mein Handy zu klingeln. Mama war dran und wollte wissen, wo wir blieben.

»Wir sind schon auf dem Weg«, erwiderte ich und steckte mein Handy wieder weg. Meine Freundin starrte vor sich hin.

»Kommst du mit?«, fragte ich zaghaft.

»Klar.« Melike straffte die Schultern, warf einen letzten düsteren Blick auf ihr Pferd, das zufrieden an seinem Heu knabberte, und wischte sich dann energisch die Tränen von den Wangen. »Ich hab Hunger wie ein Wolf.«

3. Kapitel

Als wir die Gaststätte durch den Seiteneingang betraten, schoss Twix, mein braun-weiß gescheckter Jack-Russell-Terrier, aus seinem Tagsüber-Körbchen, das im Flur zwischen der Wohnung von Oma und Opa und der Gaststätte stand, und sprang an mir hoch. Seitdem ich sechs Wochen in Amerika gewesen war, fürchtete er ständig, ich könnte wieder für eine so lange Zeit verschwinden, und wäre mir am liebsten bis aufs Klo gefolgt.

Die gesamte Belegschaft des Amselhofes hatte sich um den größten Tisch in der Gaststätte versammelt: Opa, meine Eltern, Christian, Jens, unsere polnischen Stallarbeiter Stani und Heinrich und Srdjan aus Kroatien, der erst seit ein paar Wochen bei uns arbeitete. Gloria saß lächelnd zwischen meinem Bruder und dem Aknefrosch, die von beiden Seiten auf sie einlaberten.

»Na, Melike, hast du es geschafft, dich von deinem Schätzchen zu trennen?«, fragte der Aknefrosch spöttisch.

»Mit größter Mühe«, entgegnete sie und grinste. »Aber nur für höchstens eine halbe Stunde.«

Während des Essens lachte und redete sie, als wäre nichts gewesen, obwohl es in ihrem Innern doch ganz anders aussah, und ich bewunderte ihre schauspielerische Leistung. Sie entschuldigte sich bei Papa für ihr unüberlegtes Verhalten, aber wie ich es mir schon gedacht hatte, war das für meinen Vater längst erledigt.

»Ich hab noch nie auf ’nem Westernpferd gesessen«, sagte Christian gerade zu Gloria. »Aber ich will’s unbedingt probieren.«

»Ich auch«, mischte Mama sich ein. »Elena und Melike haben jetzt so viel davon erzählt, dass ich richtig neugierig geworden bin. Vielleicht ist das ja was für mich.«

»Oh, Mama, das wäre cool!«, rief ich begeistert. »Es wird dir ganz sicher Spaß machen!«

Früher war meine Mutter mal eine ziemlich erfolgreiche Amateur-Springreiterin gewesen, aber sie hatte mit dem Reiten aufgehört, als Christian und ich zur Welt gekommen waren.

Wir hatten oft versucht, sie dazu zu überreden, wieder in den Sattel zu steigen, aber sie hatte jedes Mal abgelehnt. Seit sie Kinder hatte, habe sie die Unbefangenheit beim Reiten verloren, hatte sie mal erklärt. Und heute, mit über vierzig, habe sie einfach Angst, sich zu verletzen, falls sie stürzen sollte.

»Wisst ihr übrigens, dass auch die letzten Einsteller auf dem Sonnenhof gekündigt haben?«, sagte Christian. »Tim hat’s mir vorhin in der Schule erzählt.«

»Weiß ich schon«, entgegnete ich mit vollem Mund. »Mir hat er’s gestern Abend am Telefon gesagt.«

»Aber du weißt noch nicht, dass Herr Teichert den Pachtvertrag aufgelöst hat«, triumphierte mein Bruder. »Und dass Tim mit seiner Mutter und seiner Schwester in den Herbstferien nach Steinau ziehen wird.«

Davon wusste ich allerdings nichts. Und es kränkte mich zutiefst, dass Tim so etwas Wichtiges zuerst meinem Bruder erzählte und nicht mir.

»Herr Teichert hat sich schon erkundigt, ob wir noch zwei Boxen für Arianes Pferde frei hätten«, sagte Mama nun.

»Nach allem, was die sich hier geleistet haben, hast du ihm doch wohl hoffentlich abgesagt.« Ich verzog das Gesicht. »Oder?«

Vor vielen Jahren, zu Grundschulzeiten, waren Ariane und ich gute Freundinnen gewesen, aber dann war sie aus Steinau weggezogen und hatte mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Plötzlich war ich nicht mehr gut genug für sie gewesen und das hatte mir sehr wehgetan. Allerdings war sie weiterhin auf dem Amselhof geritten, bis ihr Vater seine jungen Pferde ausgerechnet auf den Sonnenhof von Tims Vater gestellt hatte. Richard Jungblut war Papas größter Feind und um ein Haar wäre es ihm gelungen, den Amselhof zu ruinieren, denn mit Herrn Teicherts Unterstützung hatte er viele unserer Einsteller auf seinen Sonnenhof gelockt. Um allem die Krone aufzusetzen, hatte Herr Teichert sogar noch versucht, Papa um das Berittgeld und die Boxenmieten für ein paar Monate zu betrügen, aber ich war mutig in sein Büro marschiert und hatte das Geld geholt – immerhin fast siebentausend Euro! Ariane, die in meiner Klasse war, hatte mir daraufhin das Leben schwer gemacht, mich gemobbt und über mich gelästert. Doch auch die Tatsache, dass sie seit den schlimmen Vorfällen auf dem Turnier in Alsfeld plötzlich total nett zu mir war und mir vor den Sommerferien sogar Mathe-Nachhilfe gegeben hatte, konnte mich das alles nicht so einfach vergessen lassen.

»Also, ich hab kein Problem damit.« Mein Bruder zuckte die Achseln.

»Dir hat sie ja auch nie das Leben zur Hölle gemacht!«, fuhr ich ihn an. Dann blickte ich zwischen meinen Eltern hin und her und begriff, dass es längst abgemachte Sache war: Ariane würde mit ihren Pferden also auf den Amselhof zurückkehren!

Das verschlug mir den Appetit. Ich verzichtete auf den Nachtisch und ging hinaus, um Tim anzurufen. Er hatte mir auf keine meiner WhatsApps, die ich ihm heute Morgen geschickt hatte, geantwortet. Dabei hatte er sie bekommen, das konnte ich an den zwei blauen Häkchen unter den Nachrichten erkennen.

»Hey«, meldete Tim sich nach dem zweiten Klingeln. »Bin im Stall. Sorry, ich krieg gerade einen Anruf.«

Und schon hörte ich nur noch das Besetztzeichen.

»Na, danke!«, murmelte ich leicht verärgert und lief durch die Putzhalle zu Lajos’ Stall. Ich mochte es nicht, am Telefon einfach abgewürgt zu werden, und es verletzte mich, dass Tim so wichtige Dinge wie das mit dem Umzug zuerst anderen Leuten als mir erzählte.

Tim hob grüßend die Hand, als er mich sah, aber als ich ihm ein Begrüßungsküsschen geben wollte, legte er einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Okay, okay!« Ich hob die Hände und ging an ihm vorbei in Lajos’ Stall. Mit einem Ohr hörte ich, was Tim am Telefon sagte. Besonders fröhlich klang er nicht, aber das tat er eigentlich nie. Endlich war er fertig.

»Du hast mir gar nicht auf meine WhatsApps geantwortet«, sagte ich und ärgerte mich sofort über den gekränkten Tonfall meiner Stimme.

»Was sollte ich denn darauf antworten?«, erwiderte Tim. »Ich war in der Schule und du hast mir zig Bilder von den Pferden geschickt, die ich ja eh jetzt gleich sehe.« Er schaute flüchtig durch die Gitterstäbe der Boxen. »Gut, dass sie endlich hier sind. Dann kriegt Melike sich hoffentlich wieder ein. War ja echt nicht mehr zu ertragen, der Zirkus wegen diesem Gaul.«

Ich warf ihm einen verwunderten Blick zu. Was war bloß los mit ihm in letzter Zeit? Seit er aus Amerika zurückgekommen war, hatte er sich verändert, war schnell gereizt und genervt.

»Wer war denn das eben am Telefon?«, erkundigte ich mich, weil mir nichts Besseres einfiel.

»Ach, kennst du nicht«, antwortete er ausweichend. »Es ging um den Sonnenhof.«

»Apropos Sonnenhof: Christian hat erzählt, dass der Teichert den Pachtvertrag mit euch gekündigt hat«, sagte ich. »Ariane will ihre Pferde wieder hierher stellen und meine Eltern machen das sogar noch!«

»Warum auch nicht?« Tim zuckte die Schultern.

»Hallo? Wie können meine Eltern vergessen, wie der Teichert sich aufgeführt hat?«, empörte ich mich. »Ich würde dem nicht so leicht verzeihen, dass er versucht hat, uns zu betrügen. Mal ganz abgesehen davon, dass Ariane den Amselhof überall total miesgemacht und sie damals die Hälfte unserer Einsteller zu euch gelockt hat.«

Tims Telefon piepste und er las eine Nachricht.

»Jetzt habt ihr sie ja alle wieder, eure Einsteller. Und der Sonnenhof steht leer«, entgegnete Tim mit diesem bitteren Unterton, der mich daran erinnerte, dass ich mich einem sensiblen Thema näherte.

Hätten Tim und ich uns nicht vor zwei Jahren ineinander verliebt, wären die Jungbluts und die Weilands wahrscheinlich noch bis heute verfeindet und wir hätten nie erfahren, wie es dazu gekommen war, dass aus guten Freunden erbitterte Feinde und Konkurrenten geworden waren. Früher waren meine Eltern und Lajos Kertéczy nämlich ganz dick mit Tims Eltern befreundet und eine Clique gewesen, so wie Niklas, Tim, Christian, Melike und ich heute. Aber dann kam Mamas Schwester bei einem Autounfall ums Leben und Tims Vater, der gefahren war, obwohl er zu viel Alkohol getrunken hatte, hatte die Schuld auf Lajos geschoben. Lajos, der bei dem Unfall das Bewusstsein verloren hatte, konnte nicht beweisen, dass er nicht am Steuer gesessen hatte. Er war wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden und unschuldig ins Gefängnis gewandert. Und während Lajos im Gefängnis saß, hatte seine Freundin Linda Gottschalk ausgerechnet Richard Jungblut geheiratet.