JO NESBØ

Doktor Proktor
im Goldrausch

Aus dem Norwegischen von
Maike Dörries und Günther Frauenlob

Mit Illustrationen von Per Dybvig

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Weitere Bücher von Jo Nesbø im Arena Verlag:
Doktor Proktors Pupspulver
Doktor Proktors Zeitbadewanne
Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang. Oder auch nicht…

Jo Nesbø,
1960 geboren, arbeitete viele Jahre lang erfolgreich als Broker,
aber am bekanntesten ist er als Sänger der ehemals populärsten
norwegischen Band Di Derre und als Schriftsteller für
Kriminalromane. Bereits sein Debütroman wurde zum
Besten skandinavischen Krimi des Jahres gekürt.
Inzwischen ist Jo Nesbø der erfolgreichste Autor Norwegens
und in über 20 Ländern mit seinen Büchern vertreten.

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Die Übersetzung wurde gefördert durch NORLA.

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Doktor Proktor og det store gullrøveriet
bei H. Aschehoug & Co (W. Nygaard), Oslo.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Salomonsson Agency, Svartensgatan 4, 11620 Stockholm.

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1. Auflage 2013
© 2013 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob
Einband- und Innenillustrationen: Per Dybvig
Umschlaggestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80251-0

www.arena-verlag.de

Kapitel 1

Der nicht ganz so große
Goldraub

Es ist Nacht in Oslo, Regen prasselt auf die stille, schlafende Stadt. Aber schläft sie wirklich fest? Einer der Regentropfen fällt auf die Turmuhr des Osloer Rathauses, klammert sich einen Moment lang an die äußerste Spitze des langen Zeigers, ehe er den Halt verliert und zwanzig Etagen nach unten stürzt. Mit einem weichen Klatschen schlägt er auf dem Asphalt auf und beginnt vereint mit anderen Tropfen seine Reise entlang der Straßenbahnschienen. Wären wir diesem Tropfen bis zum nächsten Kanaldeckel durch die Osloer Nacht gefolgt, hätten wir möglicherweise das leise Geräusch wahrgenommen, das von unten durch die Stille drang. Es würde lauter werden, ließen wir uns mit dem Tropfen durch die Löcher des Gullideckels in die stockfinstere Osloer Kanalisation fallen. Gemeinsam mit unserem Tropfen wären wir in dem dreckigen Abwasser durch die Rohre gerauscht, die mal klein und eng oder mal so groß waren, dass man aufrecht darin stehen konnte. Das Netz dieser Rohre verläuft kreuz und quer und tief unter der Erdoberfläche dieser ziemlich bescheidenen, kleinen Großstadt, der Hauptstadt des Landes Norwegen. Und je tiefer uns dieses Darmgeflecht in die Eingeweide Oslos führt, desto lauter wird das Geräusch.

Es ist kein angenehmes Geräusch, denn es klingt, als ob man beim Zahnarzt wäre.

Das Kreischen eines Bohrers, der sich durch den Zahnschmelz frisst, durch Zahnfleisch und empfindliche Nerven fräst, manchmal tief brummend, dann wieder hoch und schrill, je nachdem, auf was der diamantharte, rotierende Bohrkopf trifft.

Aber okay, wenigstens ist es nicht das Zischeln einer meterlangen Anakondazunge, das Knirschen tonnenschwerer Würgemuskeln oder das ohrenbetäubende Krachen eines rettungsringgroßen Kiefers, der gerade sein Opfer packt. Ich erwähne das nur, weil noch immer Gerüchte kursieren, dass es hier unten eine solche Riesenschlange geben soll – und weil da hinten links ein paar leuchtend gelbe Schlangenaugen durch das Dunkel funkeln. Wenn du es also bereits bereust, mit uns hierhergekommen zu sein, hast du jetzt die Chance, das Weite zu suchen. Klapp das Buch leise zu, schleich dich aus dem Zimmer oder kriech unter die Decke und vergiss, was du jemals über die Kanalisation von Oslo gehört hast, über das Zahnarztbohrergeräusch und über die Schlangen, die sich von riesigen Wasserratten ernähren, mittelgroßen Kindern und manchmal auch kleinen Erwachsenen – vorausgesetzt sie haben nicht zu viele Haare oder tragen einen Bart.

Dann leb wohl und mach’s gut. Und mach die Tür hinter dir zu.

So, dann wären wir jetzt unter uns.

Wir folgen dem Abwasserfluss weiter bis zum Herzen der Stadt. Inzwischen ist aus dem leisen Surren ein lautes Kreischen geworden. Durch das schwache Licht können wir erkennen, dass das weder das Paradies noch der Zahnarzt der Hölle ist – sondern etwas ganz anderes.

Vor uns steht eine lärmende Maschine mit allerlei Zahnrädern. Aus ihr heraus ragt ein Stahlarm, der in einem Loch an der Decke des Abflussrohres verschwindet, das er gerade gebohrt zu haben scheint.

»We are almost there, lads!«, ruft der größte der drei Männer, die um die Maschine herumstehen und mit ihren Taschenlampen nach oben zum Loch leuchten. Alle sind gleich angezogen: schwarze Lederstiefel, hochgekrempelte Jeans mit Hosenträgern und weiße T-Shirts. Der größte von ihnen trägt übrigens eine Melone, das ist so ein runder schwarzer Hut, den er im Moment aber abgenommen hat, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die drei Männer haben glatt rasierte Schädel und auf ihre Stirn ist oberhalb der kräftigen, zusammengewachsenen Augenbrauen jeweils ein Buchstabe eintätowiert.

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Ein leises Krachen ist zu hören und dann heult der Bohrer plötzlich wie ein kleines Kind auf.

»We are in«, brummt der mit dem B auf der Stirn und schaltet den Bohrer aus. Der Lärm verebbt und der Kranarm senkt sich nach unten. Dann kommt der Bohrkopf zum Vorschein, dessen Anblick wirklich nicht alltäglich ist: Im Licht der drei Taschenlampen glitzert er wie der größte Diamant der Welt. Nun, ganz einfach weil es der größte Diamant der Welt ist, der vor Kurzem aus einer Grube in Südafrika gestohlen wurde.

Der Typ mit dem C auf der Stirn stellt eine Leiter an das Loch und klettert über die Sprossen nach oben.

Die zwei anderen beobachten ihn gespannt.

Fünf Sekunden lang ist alles still.

»Charlie?«, ruft der mit der Melone.

Drei weitere Sekunden lang ist es still.

Dann kommt Charlie wieder zum Vorschein. Er rackert sich mit einem Backstein ab, nur dass dieser für einen Backstein viel zu golden und viel zu schwer ist. Auf der Seite ist die Prägung NORWEGISCHE NATIONALBANK zu lesen.

Und darunter – mit etwas kleineren Buchstaben: GOLDBARREN NUMMER 101.

»Help me, Betty«, sagt Charlie, worauf das tätowierte B herbeieilt und ihm den Goldbarren abnimmt.

»And the rest?«, fragt der Größte und bläst den Staub von seiner Melone. Auf seiner Stirn steht ein A, doch das ist im Moment kaum zu erkennen, weil eine tiefe Falte den Buchstaben verzerrt.

»That’s all there is, Alfie.«

»What?«

Wie diejenigen von euch, die sich mit Sprachen ein bisschen auskennen, längst bemerkt haben werden, sprechen die drei englisch. Aber tun wir doch jetzt mal so, als hätten wir eine von Doktor Proktors multilinguistischen Sprachpillen genommen, dann würde sich der Rest des Gesprächs so anhören:

»Es gibt nur den einen hier, Alfie, der Rest des Tresorraums ist leer.«

»Das soll der gesamte Goldvorrat dieser verfluchten Bank sein?« Der mittlere der drei, Betty, schimpft und lässt den Goldbarren klirrend in den Kofferraum der Maschine fallen.

»Beruhig dich, Betty«, sagt Alfie. »Der sieht doch gut aus. Auf jeden Fall ist das reines Gold. Sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen, Jungs.«

»Psst!«, platzt Charlie heraus. »Habt ihr das auch gehört?«

»Was?«

»Dieses Zischeln.«

Alfie stöhnt. »In der Kanalisation gibt es kein Zischeln, Charlie. Vielleicht Rattengefiepe oder Froschquaken, aber für Zischeln musst du in den Dschungel.«

»Da!«

»Was denn?«

»Habt ihr das nicht gesehen? Die gelben Augen? Sie haben geblinzelt und dann waren sie weg.«

»Rote Rattenschwänze und grüne Froschschenkel vielleicht«, sagt Alfie. »Aber für gelbe Augen musst du in den Dsch…«

Er wird von einem ohrenbetäubenden Krachen unterbrochen.

»Hm«, sagt Alfie und streicht sich über das Kinn. »Vielleicht sind wir im Dschungel, Jungs, das hat sich verdächtig wie der Kiefer einer Riesenschlange angehört, wenn ihr mich fragt. Ich denke, da solltet ihr euch drum kümmern. Und zwar jetzt.«

»Wie du willst, Alfie«, sagt Charlie. »Waren das wirklich die Kiefer einer Riesenschlange?«

»Oh ja. Fast hätt ich’s vergessen, Mama hat gesagt, wir sollen ihr aus Oslo was Schönes mitbringen. Wie wär’s mit einer Boa?«

»Yippie!«, sagt Betty und zieht ein Ungeheuer aus Stahl aus dem Kofferraum der Maschine. Qualitätsarbeit aus Deutschland. Er lädt das Gerät und feuert wild drauflos. Das Maschinengewehr bringt Licht in das Dunkel der Kanalisation und die Kugeln knallen und pfeifen durch die Rohre.

Die zwei anderen richten ihre Lampen auf die Stelle, an der Charlie die gelben Augen gesehen hat. Aber dort ist nichts zu sehen außer einer zitternden Ratte, die sich auf den Hinterpfoten stehend mit dem Rücken an die Wand presst.

»Mist«, schimpft Betty.

»Wir haben, was wir wollten«, sagt Alfie und setzt die Melone wieder auf. »Packt zusammen, dann hauen wir ab.«

Und während wir dem Wassertropfen bis zur Kläranlage am Oslofjord weiter folgen, hören wir, wie die drei ihre Ausrüstung in der Maschine verstauen und den Motor anlassen.

Aber das Letzte, was wir hören, ist…?

Richtig.

Zsch-zsch-zschlangen-zischeln.

Kapitel 2

Der Secret Garden
übernimmt den Fall

Exakt um acht Uhr morgens machte der Chef der Norwegischen Nationalbank das, was er immer tat, wenn er zur Arbeit kam. Er ging in das tiefste Kellergewölbe Norwegens, vorbei an der Münzprägerei, in der die Kronenmünzen mit dem Bild des Königs geprägt wurden, weiter hinunter an der Druckerei vorbei, in der sie die Geldscheine mit den Porträts der längst verstorbenen norwegischen Berühmtheiten druckten – die meisten mit Bart vorbei am Raucherraum, in dem die Rauchkringel gemacht wurden, und noch weiter hinunter bis zu den Gemächern, in denen die Kunden ihre Bankschließfächer hatten. Dort öffneten er und sein Vizebankchef nacheinander alle drei Stahltüren, bis sie endlich vor dem Gewölbe standen, in dem der Goldvorrat des Landes aufbewahrt wurde.

»Aufschließen!«, kommandierte der Bankchef wie üblich.

»Aber du hast doch den Schlüssel, Tor«, sagte der Vizebankchef wie jeden Tag und gähnte.

»Ach ja, stimmt«, antwortete der Bankchef auch wie immer und schloss auf. Dann betraten sie das Gewölbe.

Exakt um vier Minuten und dreizehn Sekunden nach acht ertönte aus Norwegens tiefstem Kellergewölbe ein verzweifelter Schrei. Und exakt zwei Sekunden später flüsterte der Bankchef seinem Vizebankchef zu: »Kein Wort darüber, zu niemandem, verstanden? Wir dürfen jetzt keine Panik auslösen.«

»Aber… aber nächste Woche Montag ist die Inspektion der Goldvorräte!«, entgegnete der Vizebankchef aufgelöst. »Was wird jetzt aus uns? Was wird aus unserem geliebten Norwegen?«

»Überlass das mir«, sagte der Bankchef Tor.

»Und was willst du tun?«

Bankchef Tor dachte eine ganze Weile nach. »Panik kriegen!«, antwortete er.

Dann schrien beide los.

Es war neun Uhr und der König lag wie üblich in seinem Bett und sah sich im Fernsehen die Sportschau an. Der Reporter rückte seine Brille zurecht und sagte, es gäbe Gerüchte, dass der Besitzer von Chelchester City, Maximov Rublov, noch vor dem Cupfinale seine Finger nach Ibranaldovez ausstrecke, dem derzeit teuersten, besten und verwöhntesten aller Fußballspieler. In Wirklichkeit aber konnte sich Rublov das gar nicht leisten. Er war zwar der reichste Mann der Welt – neben Finnland und Neuseeland besaß er achtzehn Fabriken mit dicken Rauchschwaden und dünnen Kinderarbeitern, vierundzwanzig Politiker, das Stadion von Chelchester, vier Sänftenträger und ein gestohlenes Fahrrad mit vierundzwanzig Gängen –, aber all das nützte ihm gar nichts, wussten doch alle, dass niemand so viel Geld besaß, um sich Ibranaldovez leisten zu können. Die Letzten, die das versucht hatten, haben 1900 Millionen Pfund geboten, plus Tadschikistan, drei Flugzeugträger, ein frisch gewaschenes Hochhaus und zwei gebrauchte Propellermaschinen. Als sie eine Absage bekamen, legten sie noch die Dominikanische Republik, die Rathausstraße, drei fette Reiseschecks und die Insel von Königin Maud drauf – ohne Königin Maud überhaupt gefragt zu haben. Die Antwort war trotzdem ein rüdes »Nein!«.

»Eure Hoheit«, sagte der Diener, der in der Türöffnung stand. »Der Chef der Norwegischen Nationalbank ist hier, er bittet um…«

»Schick ihn rein«, sagte der König, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

Der Bankchef stürmte herein. »Es ist so schrecklich!«

»Ja«, sagte der König. »Das viele Geld.«

Der Bankchef starrte den König überrascht an. »Dann habt Ihr es schon gehört?«

»Ja, natürlich, es kam gerade im Fernsehen. Dabei braucht Rublov Ibranaldovez doch eigentlich gar nicht zu kaufen, um Rotten Ham zu schlagen, diese bitterarme Mannschaft aus der vierten Division.«

»Ähm, also, ich rede eigentlich von dem Diebstahl.«

»Welchem Diebstahl?«

»Heute Nacht wurden unsere gesamten Goldvorräte gestohlen!«

»Was sagst du da, Tor? Unsere gesamten… Na ja, eigentlich war ja nur noch ein Barren da. Haben wir eine Diebstahlversicherung?«

»Ja, aber…«

»Hoffentlich kein zu hoher Eigenanteil?«

»Nein, aber…«

»Dann denke ich, dass du das der Polizei melden solltest, statt mich mitten in der Sportschau zu stören.«

»Aber, aber, das können wir doch nicht machen. Das würde eine Massenpanik auslösen.«

»Wieso das denn?«

»Aus Angst vor einer Wirtschaftskrise.«

Der König legte den Zeigefinger nachdenklich ans Kinn. »Hm, ich glaube, ich war erkältet, als wir auf der Königsschule Volkswirtschaft hatten.«

»Die Menschen müssen glauben, dass all das Geld, das wir drucken, mit dem Gold abgesichert ist, das wir im Bankgewölbe haben. Das ist wichtig. Wenn sie spitzkriegen, dass da gar kein Gold mehr ist, wird eine Panik ausbrechen. Alle werden versuchen, ihr Geld gegen Gold einzutauschen und die norwegische Krone wäre im Handumdrehen nichts mehr wert. Dann wären wir bettelarm«, sagte der Bankchef.

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»So schlimm kann das doch nicht sein, wie bitterarm glaubst du denn?«

»Was meint Ihr damit?«x

»So arm wie Schweden zu werden, wäre schon übel, aber so schlimm wie in Ost-Österreich wird es doch wohl nicht werden, oder?«

»Ost-Österreich?«

»In West-Österreich soll es ja richtig gut laufen, während ich von Ost-Österreich gehört habe, dass es da Leute geben soll, die sich keinen Zweitwagen leisten können, ja nicht mal ein Ferienhaus in den Bergen. Und viele müssen mindestens acht Stunden am Tag arbeiten, um wenigstens einmal im Jahr nach Thailand reisen zu können.«

»Ich fürchte, wir reden hier von einer deutlich schlimmeren Armut, Eure Hoheit.«

»Was? Werde bitte ein bisschen konkreter!«

»Äh… Rotten Ham?«

»Großer Gott!« Der König schlug die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett in seine Fellpantoffeln. »Notfallplan! Ruft das Heer zusammen! Zinsen anheben! Ausgangssperre! Was können wir tun?«

»Wir können… äh, den Goldbarren wiederfinden? Uns bleibt Zeit bis Montag nächste Woche. Da kommt nämlich die Weltbank zur jährlichen Inspektion. Wenn der Goldbarren bis dahin nicht wieder aufgetaucht ist, kommt alles raus und wir sind erledigt.«

Der König marschierte zur Tür, öffnete sie und rief: »Impfung gegen Schweingrippe! Alle Gebirgspässe schließen! Ruf den Geheimdienst zusammen.«

»Wir haben einen Geheimdienst?«, erkundigte sich der Bankchef neugierig.

»Darüber kann ich leider nicht reden, Tor«, erwiderte der König, trat ans Fenster und ließ seinen Blick über Oslo schweifen. Er stellte fest, dass die Menschen wie immer durch die Straßen flanierten und dass anscheinend noch niemand etwas ahnte. »Aber wenn wir einen Geheimdienst haben, muss ich ihn einberufen und du musst dabei sein, um die Situation zu erklären. Verstanden? Mein Gott! Rotten Ham und Ost-Österreich…«

Sechs Minuten vor elf standen zwei Personen stramm im Büro des Königs. Sie trugen lange graue Mäntel mit verwegen nach oben geschlagenen Krägen und dunkle Sonnenbrillen, was sie noch geheimnisvoller aussehen ließ. In diesem Aufzug konnten sie kaum ein Geheimnis aus ihrem Beruf machen. Schon allein wegen der Streifen auf ihren Hosen, die unter den langen Mänteln hervorlugten. Ganz sicher aber, weil sie die schwarzen Gardehüte mit den Büscheln aus Straußenfedern trugen – ein sicheres Zeichen dafür, dass die beiden dem Geheimdienst der Garde angehörten.

»Entspannen Sie sich!«, sagte Bankchef Tor. »Der König kommt erst, wenn er mit dem Frühstück fertig ist.«

Die zwei entspannten sich sofort und fingen an, sich gegenseitig an den Bärten zu ziehen.

»Ich nehme an, Sie sind vom Geheimdienst der Garde?«, fragte der Bankchef.

»Und wie kommen Sie darauf?«, fragte der mit dem Schnurrbart und sah misstrauisch zu ihm herüber.

»Wegen dieser dämli… wegen der Büschel am Hut.«

»Ich denke, wir sollten diesen neunmalklugen Kerl genauer im Auge behalten, oder was meinst du, Helge?«

»Ja, du hast recht, Hallgeir«, sagte der andere und zupfte an seinem Hängebart. »Außerdem heißt das nicht mehr Geheimdienst der Garde, sondern Secret Garden. Ich korrigiere mich: Gäbe es einen Geheimdienst, würde er Secret Garden heißen.«

»Genau«, bestätigte der mit dem Schnurrbart. »Aber das ist geheim, also verraten Sie es niemandem. Und denken Sie dran, dass wir nie gesagt haben, dass wir beim Secret Garden arbeiten, stimmt doch, Helge, oder?«

»Ich habe kein Sterbenswörtchen gehört, Hallgeir.
Schließlich lautet das erste Gebot des Secret Garden: Wir sagen nie, dass wir dort arbeiten. Ich korrigiere mich:
Niemand, der dort arbeitet, sagt, dass er dort arbeitet. Aber auch das ist geheim, verstanden?«

»Verstanden, Helge.«

»Ich rede doch nicht mit dir, sondern mit diesem Zivilisten, Hallgeir!«

»Verstanden«, sagte Bankchef Tor. »Wissen Sie Genaueres über den Tathergang?«

»Das ist geheim«, antwortete Helge. »Sowohl was geschehen ist, als auch das, was wir wissen.«

Im gleichen Moment ging die Tür auf und der König trat ein. Helge und Hallgeir zuckten zusammen und nahmen sofort wieder eine stramme Haltung ein.

»Guten Morgen, Gardisten.«

»Guten Morgen, Eure Königliche Hoheit. Wir hoffen, Euer Frühstück hat Euch gemundet?«

»Na ja, pochierte Eier mit mürbe gebratener Fasanenbrust auf geröstetem Kneippbrot. Zumindest bin ich satt und habe mir die Zähne geputzt. Jetzt bin ich bereit, mir Gedanken darüber zu machen, wer uns helfen kann, unser Gold zurückzuholen.«

Der Schnurrbart schaltete das Licht aus und der andere startete den Projektor. Auf der Leinwand erschien das Bild eines groß gewachsenen Mannes mit einer langen Narbe auf dem Gesicht.

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»Das ist Harry. Er soll ein richtig guter Ermittler sein. Leider ist er zurzeit nicht im Lande.«

»Es heißt, er sei in Hongkong und rauche Opium. Eine hässliche Angewohnheit, Eure Hoheit.«

»Ja, das kann man wohl laut sagen. Dann wäre da diese Frau …«, fuhr der Hängebart fort.

Das Bild zeigte eine hagere schwarzhaarige Frau. An einem ihrer Füße trug sie einen Rollschuh.

»Sie heißt Raspa und kann angeblich in der Zeit reisen. Wir dachten uns, dass sie in die Vergangenheit vor dem Raub reisen und den Goldbarren an einen sichereren Ort bringen könnte.«

»Leider ist sie schon seit Längerem nicht mehr gesehen worden. Scheinbar ist sie irgendwo in der Zeit rund um die Französische Revolution verschwunden.«

»Und dann wäre da dieser Typ…«

Das Bild auf der Leinwand war unscharf. Es zeigte ein hohes Gebäude mit etwas Grünem davor.

»Eine Amateuraufnahme. Aber das ist das einzige Bild, das wir von dem Mann mit diesen Superkräften auftreiben konnten. Er kann sich in eine Art Menschenfrosch verwandeln und zehn Meter hoch springen. Außerdem hat er eine unglaublich lange Zunge. Wir dachten, dass er uns das Gold eventuell wieder zurückholen könnte. Leider wissen wir weder, wie er heißt, noch, wo er zu finden ist.«

»Aber wir können ihn natürlich aufspüren, wenn Eure Hoheit das wünschen.« Stille.

»Eure Hoheit?«

Ein leises Schnarchen war zu hören.

Der mit dem Hängebart schaltete das Licht ein.

Der König wachte mit einem Ruck auf. »Wer bin ich? Wo bin ich? Doch nicht in Österreich, oder? Bitte, bitte nicht in Öst…«

»Eure Hoheit, welcher dieser Kandidaten soll nun unser Reich retten?«

»Norwegen retten! Ja!« Der König reckte den Zeigefinger in die Höhe. »Leute, es gibt in diesem Land nur eine Person, die Norwegen retten kann.«

»Nur eine, Eure Hoheit?«

Der König hob zwei weitere Finger. »Oder nein, drei. Eigentlich sind es drei. Ihr müsst sie noch heute finden.«

»Und was ist an diesen dreien so speziell, dass Eure Hoheit glauben, sie können Norwegen retten?«

»Weil es diese drei waren, die die Welt vor der großen Mondinvasion gerettet haben.«

»Äh… was für eine Invasion?«

»Das ist eine lange Geschichte, aber sie ist wahr, so viel steht fest. Ich habe mit ihnen zusammen die Welt gerettet. Ihr erinnert euch bloß nicht, weil ihr wie der Rest des Landes hypnotisiert wart.«

»Und was sind das für Leute? Geheime Superagenten? Top trainierte Superhelden? Womöglich aus der norwegischen Curling-Männer-Nationalmannschaft?«

Der König stand von seinem Stuhl auf, ging ans Fenster, wippte auf seinen Füßen auf und ab und ließ zum zweiten Mal den Blick über die Hauptstadt seines Landes schweifen. Die Menschen verhielten sich noch immer vollkommen normal. Aber so würde es nicht bleiben. Nicht, wenn der Goldraub bekannt wurde. Und das würde spätestens in der nächsten Woche passieren, wenn die Weltbank ihre Inspektion durchführte. Ost-Österreich. Herrjemine!

»Doktor Victor Proktor«, sagte der König. »Und Lise und Bulle.«

Kapitel 3

Im Dienste des Königs

Es war Punkt sechzehn Minuten nach drei am Nachmittag, als Hallgeir (der Geheimgardist mit dem Schnurrbart) und Helge (der mindestens so geheime Gardist mit dem Hängebart) die Klingel an dem roten Haus in der Kanonenstraße in Oslo drückten. Die Vögel sangen und alles wirkte friedlich. Besser gesagt, alles war friedlich.

Ein Mann mit dickem Bauch öffnete die Tür und polterte in freundlichem Befehlston: »Jesses, was für eine Überraschung, Geheimgardisten zu Besuch. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Der Hängebart knabberte überrumpelt auf seinen Bartspitzen. »Woher wissen Sie…«

»Jetzt nicht, Helge«, sagte Hallgeir. »Ist Ihre Tochter zu Hause, Kommandant?«

»Lise? Die…«

In diesem Augenblick ertönte ein grauenerregender, quietschender Schrei aus dem Innern des Hauses.

»Das muss sie sein!«, rief der Schnurrbart und schubste den Kommandanten zur Seite. »Jemand ist uns zuvorgekommen! Wir müssen sie retten!«

Die zwei Gardisten stürmten ins Haus und die Treppe hinauf, von wo das fürchterliche Quietschen kam. Sie rissen die Tür zu einem, wie sich zeigte, Mädchenzimmer auf und blieben mit schockgeweiteten Augen und ihren Händen auf den Ohren auf der Schwelle stehen.

Auf einem Stuhl mitten im Zimmer saß ein Mädchen. Sie sah überhaupt nicht aus wie ein Superagent, eher wie ein ganz gewöhnliches Mädchen mit braunen Zöpfen, ein paar Sommersprossen auf der Nase und blauen, freundlichen Augen, die erstaunt zu den beiden Gardisten aufsahen. Vor ihr stand ein Notenständer und aus ihrem Mund ragte ein langes schwarzes Rohr, das die grauenvollen Töne ausspuckte.

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»Was… Was ist passiert?«, rief Hallgeir.

Das Mädchen nahm das lange Dingsbums aus dem Mund.

»Was heißt hier passiert? Ich übe Klarinette. Die Schulkapelle spielt morgen beim Elternabend ›Godd säif de Kwien‹. Was wollen Sie überhaupt?«

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»Also«, sagte Hallgeir. »Wenn du Lise bist, dann braucht Norwegen deine Hilfe!«

»Aha«, sagte Lise verdutzt.

»Scheint so«, sagte Helge und sah sich skeptisch in dem ganz normalen Mädchenzimmer um. An den Wänden hingen Poster von Popstars, auf dem Schreibtisch stand ein Globus und die Kuscheltiere, die im Bett saßen, sahen noch weniger heldenhaft aus als das Mädchen. »Jemand Bestimmtes scheint davon überzeugt zu sein.«