Jo Nesbø

Doktor Proktors Pupspulver

Aus dem Norwegischen
von Hinrich Schmidt-Henkel

Mit Illustrationen von Per Dybvig

 

Jo Nesbø,
1960 geboren, arbeitete viele Jahre lang erfolgreich als Broker, aber am bekanntesten ist er als Sänger der damals populärsten norwegischen Band »Di Derre« und als Schriftsteller für Kriminalromane. Bereits sein Debütroman wurde zum »Besten skandinavischen Krimi des Jahres« gekürt. Inzwischen ist Jo Nesbø der erfolgreichste Autor Norwegens und in über 20 Ländern mit seinen Büchern vertreten.
Doktor Proktors Pupspulver ist sein erstes Kinderbuch.

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel
Doktor Proktors Prompepulver
bei H. Aschehoug & Co (W. Nygaard), Oslo.
Text © Jo Nesbø 2007
Illustrationen © Per Dybvig 2007
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Salomonsson Agency,
Stora Nygatan 20, 11127 Stockholm.

Veröffentlicht als E-Book 2010
© 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Einband und Innenillustrationen: Per Dybvig
ISBN 978-3-401-80081-3

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

1. Kapitel

Der neue Nachbar

s war Mai und die Sonne schien schon eine Weile auf Japan, dann Russland und Schweden. Jetzt ging sie auch über Oslo auf. Oslo ist die nicht besonders große Hauptstadt eines nicht besonders großen Landes namens Norwegen. Die Sonne schien sogleich auf das gelbe, eher kleine Schloss in Oslo. Hier lebt ein König, der so wenig zu bestimmen hat, dass es kaum auffällt.

Die Sonne schien auch auf die Festung Akershus unten am Oslofjord. Sie schien auf die alten Kanonen, die über den Fjord gerichtet waren, sie schien durchs Fenster ins Büro des Kommandanten und auf die letzte Tür ganz, ganz hinten, die zur gefürchtetsten Gefängniszelle der ganzen Stadt führte, zum Totenmannsloch, in der nur die allerschlimmsten und gefährlichsten Verbrecher eingekerkert wurden. Die Zelle war leer, abgesehen von einem Rattus norvegicus, einer kleinen norwegischen Wanderratte, die gerade in der Kloschüssel ihr Morgenbad nahm.

Dann stieg die Sonne noch ein klein bisschen höher und schien auf die Kinder einer Schulkapelle, die schon geübt hatten, sehr früh aufzustehen und kratzende Uniformen anzuziehen. Und gerade jetzt übten sie, zu marschieren und beinahe im Takt Musik zu spielen. Denn bald kam der 17. Mai, der norwegische Nationalfeiertag, an dem überall in dem ganzen kleinen Land alle Schulkapellen sehr früh aufstehen, kratzende Uniformen anziehen und beinahe im Takt Musik spielen.

Wieder stieg die Sonne etwas höher und schien auf die hölzernen Kaianlagen am Oslofjord, wo gerade ein Schiff aus Schanghai in China angelegt hatte. Die Planken des Kais schwankten knirschend unter eiligen Füßen, die hin und her liefen und die Waren aus dem Schiff luden.

Ein paar wenige Sonnenstrahlen fielen sogar durch die Planken in ein Kanalrohr, das unter dem Kai ins Wasser des Fjords führte. Und ein einziger Sonnenstrahl drang in die Dunkelheit des Abwasserkanals hinein, wo er etwas aufblitzen ließ. Etwas Weißes, Feuchtes und extrem Scharfes. Etwas, das ganz unheimlich einem großen Gebiss ähnelte. Wer sich mit Kriechtieren auskannte, aber sonst einigermaßen dumm war, konnte meinen, es würde sich hier um die achtzehn Fangzähne im Maul der gefährlichsten und größten Würgeschlange der Welt handeln, der Anakonda. Aber so dumm ist wohl niemand. Schließlich leben Anakondas im Dschungel, in Flüssen wie dem Amazonas in Brasilien und nicht etwa in Abwasserkanälen, die kreuz und quer unter einer friedlichen kleinen Stadt namens Oslo verlaufen. Eine Anakonda in der Kanalisation? Achtzehn Meter nichts als Würgemuskeln, ein Maul, so groß wie ein Schwimmreifen, und Zähne wie Eiszapfen? Haha! Das glaubt ja im Leben niemand!

Und jetzt ging die Sonne allmählich auch über einer ruhigen Straße namens Kanonenstraße auf. Hier trafen ihre Strahlen ein rotes Haus, in dem der Kommandant der Festung Akershus gerade mit seiner Frau und seiner Tochter Lise beim Frühstück saß. Und auf der anderen Seite der Straße trafen sie auf das gelbe Haus, in dem Lises beste Freundin gewohnt hatte. Leider war Lises beste Freundin gerade in eine Stadt namens Sarpsborg umgezogen und wegen des leeren gelben Hauses fühlte Lise sich noch etwas einsamer, als sie gewesen war, bevor ihre Freundin wegzog. Denn jetzt gab es keine Kinder mehr in der Kanonenstraße, mit denen Lise spielen konnte.

Die einzigen anderen Kinder in der Nachbarschaft waren Truls und Trym Thrane. Diese beiden Zwillinge wohnten ganz unten in der Straße in einer protzigen Villa mit drei Garagen und waren zwei Jahre älter als Lise. Im Winter warfen sie steinharte Schneebälle nach ihrem kleinen rothaarigen Kopf. Und wenn sie fragte, ob sie nicht zusammen spielen sollten, drückten sie ihr das Gesicht in den Schnee. Mit harten, eiskalten Fausthandschuhen rieben sie ihr Schnee ins Gesicht und nannten sie fiese Lise, Piesel-Lise oder Tante Kommandante. Du denkst jetzt vielleicht, Lise hätte mal den Eltern von Truls und Trym erzählen sollen, wie ungezogen die Zwillinge waren. Aber da kennst du Herrn Thrane schlecht, den Vater von Truls und Trym. Herr Thrane war ein fetter, bösartiger Kerl, noch dicker als Lises Vater und viel, viel böser. Und mindestens zehn Mal so reich wie er. Und weil er dermaßen reich war, fand Herr Thrane, niemand hätte das Recht, anzukommen und ihm irgendwas zu sagen, schon gar nicht, wie er seine Söhne zu erziehen hätte!

Herr Thrane war dermaßen stinkreich, weil er früher mal einem armen Erfinder eine Erfindung geklaut hatte. Diese Erfindung war ein sehr hartes, sehr rätselhaftes und sehr geheimes Material, das unter anderem für Gefängnistüren verwendet wurde, um die Gefängnisse so gut wie restlos ausbruchssicher zu machen. Mit dem Geld, das er dank dieser Erfindung verdiente, hatte Herr Thrane unter anderem das protzige Haus mit den drei Garagen gebaut und sich einen Hummer gekauft. Ein Hummer ist ein fettes, hässliches Auto, das ursprünglich für Kriegszwecke gebaut worden war und das fast die gesamte Straße einnahm, wenn Herr Thrane durch die Kanonenstraße fuhr. Außerdem spuckt so ein Hummer ganz fürchterlich viele Abgase aus. Aber das war Herrn Thrane egal, denn er mochte fette, hässliche Autos ziemlich gern.

Außerdem wusste er ja, wenn er nicht aufpasste und einen Unfall baute, dann war sein Auto viel größer als das der anderen, da hatten die anderen dann Pech gehabt.

Zum Glück würde es wieder einige Zeit dauern, bis Truls und Trym Lise in den Schnee werfen konnten, denn die Sonne hatte längst allen Schnee geschmolzen, der in der Kanonenstraße lag, und jetzt schien sie auf die Gärten, die alle grün und gut gepflegt waren. Alle – bis auf einen. Dieser Garten war zugewuchert, grau und struppig, aber er lächelte dennoch, denn in ihm standen zwei Birnbäume und ein kleines, schiefes Häuschen, das vielleicht früher einmal blau gewesen war und an dem ganz sicher ziemlich viele Dachziegel fehlten. Dort lebte ein Mann, den die Bewohner der Kanonenstraße nur selten zu sehen bekamen. Lise war ihm nur zwei, drei Mal begegnet und dann hatte er gelächelt und eigentlich ausgesehen wie sein eigener Garten: zugewuchert, grau und struppig.

»Was ist denn das?«, brummte der Kommandant. Auf einmal wurde die morgendliche Stille von lautem Motorengedröhn gestört. »Ist das etwa der verflixte Hummer von Herrn Thrane?«

Seine Frau reckte den Hals und sah aus dem Küchenfenster. »Nein. Das sieht aus wie ein Umzugswagen.«

Lise, die sonst ein sehr wohlerzogenes Mädchen war, stand vom Tisch auf, ganz ohne zu fragen, obwohl sie ihren Teller noch nicht leer gegessen hatte, und rannte hinaus auf die Eingangstreppe. Tatsächlich. Vor dem leeren gelben Haus stand ein Laster mit der Aufschrift SCHNELL & VERRÜCKT. Und jetzt wurden Pappkartons ausgeladen.

Lise ging die Treppe hinunter zu dem sogenannten Apfelbaum beim Zaun, um sich das genauer anzusehen. Träger in blauen Latzhosen schleppten Möbel, Lampen und große, hässliche Bilder ins Haus. Sie sah, wie ein Möbelpacker einen anderen auf eine Trompete aufmerksam machte, die auf einem Umzugskarton lag, und beide lachten. Leider sah sie nicht, was sie so gern gesehen hätte: Puppen, kleine Fahrräder und kurze Skier. Das konnte nur bedeuten, dass die Leute, die da einzogen, keine Kinder hatten, jedenfalls keine Mädchen in ihrem Alter. Lise seufzte.

Und in genau diesem Augenblick hörte sie eine Stimme: »Hallo!« Sie schaute sich verwundert um, sah aber niemanden. »Hallöchen!« Sie sah in den Baum hinauf, den Papa als einen Apfelbaum bezeichnete, an dem aber noch niemals jemand einen Apfel gesehen hatte. Aber jetzt hatte der Baum im merhin angefangen zu reden.

 

»Nicht da oben«, sagte die Stimme. »Hier.«

Lise stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute auf die andere Seite des Zauns. Und da stand ein kleiner Junge mit roten Haaren. Übrigens waren seine Haare nicht nur rot, sondern ritzeratzerot. Und er war nicht nur klein, sondern winzig klein. Mit einem winzigen Gesicht mit zwei winzigen blauen Augen und dazwischen einer winzigen Himmelfahrtsnase.

»Ich heiße Bulle«, sagte er. »Was sagt man dazu?«

»Wozu?«, fragte Lise.

»Zu so einem Namen. Der ist nicht gerade üblich.«

Lise dachte nach. »Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Schön«, lächelte der Junge. »Der Name reimt sich unter anderem auf Pulle, aber damit lassen wir’s dann auch gut sein. Einverstanden?«

Lise nickte. Der Junge steckte sich den rechten Zeigefinger ins linke Ohr. »Und wie heißt du?«

»Lise«, sagte Lise.

Bulles Zeigefinger popelte hingebungsvoll in seinem Ohr herum, während der Junge Lise anblickte. Schließlich zog er den Finger wieder aus dem Ohr, sah ihn an, nickte zufrieden und wischte ihn sich am Hosenbein ab.

»Mir fällt gerade nichts Lustiges ein, das sich auf Lise reimt«, sagte er. »Hast Glück gehabt.«

»Ziehst du in Annas Haus ein?«

»Ich kenne keine Anna, aber wir ziehen in diese gelbe Bude hier.« Bulle deutete mit dem Daumen nach hinten über die Schulter.

»Anna ist meine beste Freundin«, erklärte Lise. »Sie ist nach Sarpsborg gezogen.«

»Ui, das ist weit weg«, sagte Bulle. »Vor allem, wenn es um eine beste Freundin geht.«

»Ach?«, meinte Lise. »Anna sagt, es ist gar nicht so weit. Sie sagt, ich brauche nur auf der Autobahn nach Süden zu fahren, dann komme ich automatisch zu ihr.«

Bulle schüttelte mit düsterer Miene den Kopf. »Nach Süden stimmt schon, aber die Frage ist, ob die Autobahn so lang ist. Sarpsborg liegt nämlich auf der Südhalbkugel.«

»Der Süd. . . was?«, fragte Lise erschrocken.

»Halbkugel«, sagte Bulle. »Das bedeutet, es liegt auf der anderen Seite der Erde.«

»Ui«, sagte Lise betrübt, und nachdem sie ein bisschen nachgedacht hatte, sagte sie: »Papa sagt, im Süden ist es das ganze Jahr über schön warm, da kann Anna jetzt wahrscheinlich im Sommer und im Winter baden gehen.«

»Nix da«, sagte Bulle. »Sarpsborg liegt sehr weit im Süden, fast am Südpol. Da ist es hundekalt. Da unten sitzen Pinguine auf den Dächern.«

»Heißt das, in Sarpsborg liegt das ganze Jahr über Schnee?«, fragte Lise erschrocken.

Bulle nickte und Lise fröstelte. Er drückte die Lippen aufeinander und presste Luft hindurch. Es klang wie ein Pups.

»Was machst du da?«, fragte Lise.

»Ich übe«, sagte Bulle. »Ich spiele Trompete. Da muss man ständig üben. Sogar ohne Trompete.«

Lise legte den Kopf schief und sah ihn an. Sie war nicht mehr ganz sicher, ob alles stimmte, was dieser Junge so erzählte.

»Lise, du musst dir noch die Zähne putzen, bevor du zur Schule gehst«, hörte sie eine polternde Stimme. Das war ihr Vater, der jetzt seine blaue Kommandantenuniform angezogen hatte und hinter seinem dicken Bauch her zum Gartentor ging. »Heute früh hat das Schiff mit unserem Kanonenschießpulver aus Schanghai angelegt, ich komme also spät nach Hause. Und du musst heute lieb und nett sein.«

»Jaja, Papa«, sagte Lise, die immer lieb und nett war. Aber sie wusste, es war ein ganz besonderer Tag, wenn das Kanonenschießpulver kam. Es war um den halben Erdball gefahren und musste sehr, sehr vorsichtig und ehrfürchtig behandelt werden, denn es wurde benutzt, um am 17. Mai, dem Nationalfeiertag, auf der Festung Akershus den Großen Und Fast Weltberühmten Königssalut abzufeuern.

»Papa, hast du gewusst, dass Sarpsborg auf der Süd. . . ähh, der Südhalbkugel liegt?«

Der Kommandant blieb stehen und runzelte die Stirn. »Wer sagt das?«

»Bulle.«

»Wer?«

Sie deutete mit dem Finger. »Bulle . . .«, wollte sie sagen, aber sie sagte nichts, als sie sah, dass sie auf eine Stelle der Kanonenstraße zeigte, wo nur die Kanonenstraße war und sonst nichts, schon gar kein Bulle.

2. Kapitel

Seekranke Ziegen

ls Bulle hörte, wie Lises Vater, der Kommandant, sagte, sie müsse zur Schule, fiel ihm ein, dass er ja selbst auch zur Schule musste. Wo immer die auch sein mochte. Und wenn er jetzt ganz schnell war, dann konnte er frühstücken, seine Schultasche suchen und sich zur Not auch noch die Zähne putzen und doch noch mit jemandem mitgehen, der den Weg zu seiner neuen Schule schon kannte.

Er wuselte zwischen den Beinen der Möbelpacker hindurch in das neue Haus. Da entdeckte er auf einem Umzugskarton im Flur seine Trompete. Er atmete erleichtert auf und schnappte sie sich. Bulle, seine Schwester und seine Mutter waren am Abend zuvor mit der ersten Ladung gekommen und seine einzige Sorge war, dass die Umzugsleute bloß nicht den Karton mit seiner Trompete vergaßen.

Er legte die Lippen vorsichtig ans Mundstück.

»Eine Trompete muss man küssen wie eine Frau«, hatte sein Großvater immer gesagt. Bulle hatte in seinem ganzen Leben noch keine Frau geküsst, jedenfalls nicht so, nicht mitten auf den Mund. In Wahrheit hoffte er auch, dass er das nie würde tun müssen. Er blies Luft in die Trompete. Sie blökte wie eine seekranke Ziege. Kaum ein Mensch hat je eine seekranke Ziege gehört, aber so klingt sie.

Er hörte es an die Wand klopfen und wusste, das war seine Mutter, die noch nicht aufgestanden war. »Noch nicht, Bulle!«, rief sie. »Es ist erst acht. Wir schlafen.«

Sie sagte immer »wir«, obwohl sie allein im Schlafzimmer war. Jetzt wollen »wir« schlafen, jetzt kochen »wir« uns eine schöne Tasse Kaffee. Als wäre Papa gar nicht weg, als hätte sie ihn immer noch da drinnen, in einer kleinen Schachtel, die sie manchmal hervorholte, wenn Bulle gerade nicht da war. Einen winzig kleinen Miniaturpapa, der so aussah wie der Papa auf den Bildern, die sie Bulle gezeigt hatte. »Miniatur« bedeutet, dass etwas sehr klein ist, und es passte ja, dass Bulle einen Miniaturpapa hatte, weil Bulle der kleinste Junge war, den er selbst je gesehen hatte.

Er ging in die Küche und machte sich Frühstück. Obwohl sie erst am Tag zuvor eingezogen waren, fand er alles, was er brauchte, denn er war schon so oft umgezogen, dass er mehr oder weniger wusste, wo seine Mutter die Sachen verstaute. Die Teller im Schrank links, das Besteck in der obersten Schublade, das Brot in der Schublade darunter.

Er wollte gerade in ein dickes Salamibrot beißen, da wurde es ihm aus der Hand gerissen.

»Na, Zwerg, wie geht’s?«, fragte Eva und biss genau in die Stelle, in die Bulle eigentlich selbst hatte reinbeißen wollen. Eva war Bulles Schwester. Sie war fünfzehn. Entweder sie langweilte sich oder sie war böse.

»Hast du gewusst, dass Bluthunde die dümmsten Hunde der Welt sind?«, fragte Bulle. »Wenn ein Bluthund einem Zwergpudel, dem klügsten Hund der Welt, etwas wegnimmt, dann merkt er nicht, dass er ausgetrickst wird.«

»Halt den Mund«, sagte Eva.

Aber Bulle hielt den Mund nicht. »Wenn der Zwergpudel weiß, dass der Bluthund das Salamibrot gerochen hat und gleich kommt, um es ihm wegzunehmen, dann schmiert er immer Elefantenschneckenschleim mit aufs Brot.«

»Elefantenschnecken?«, schnaufte Eva mit einem misstrauischen Blick. Ihr Pech war, dass Bulle Bücher las und darum allerlei Dinge wusste, von denen sie keine Ahnung hatte, und darum konnte sie nie ganz sicher sein, ob etwas nur Bulle-Erfindung war oder nicht doch aus diesen blöden Büchern. Es konnte zum Beispiel aus dem Buch stam-men, in dem Bulle am häufigsten las, einem alten, dicken, verstaubten Buch, das er vom Großvater geerbt hatte, es hieß »TIERE, DENEN DU NIE BEGEGNEN MÖCHTEST«.

»Hast du etwa noch nie eine Elefantenschnecke gesehen?«, rief Bulle. »Schau mal aus dem Fenster, das Gras ist voll von denen. Dicke, schleimige Dinger. Wenn man sie zwischen zwei Buchdeckeln presst, kommt was raus, das sieht aus wie der grüngelbe Schnodder, der Leuten mit Peking-Grippe dritten Grades aus der Nase tropft. Es gibt keinen schlimmeren Schnodder als echten Peking-Grippen-Schnodder dritten Grades. Also abgesehen von Elefantenschneckenschleim.«

»Wenn du mich anlügst, kommst du in die Hölle«, sagte Eva und schaute sicherheitshalber zwischen Salami und Brot nach.

Bulle hüpfte schnell vom Stuhl. »Ich hoffe, die haben da eine Schulkapelle«, sagte er. »Und ich darf Trompete spielen.«

»Du darfst nie in irgendeiner Kapelle spielen!«, rief Eva ihm hinterher. »Kein Mensch will einen Trompeter haben, der so klein ist, dass er nicht mal hinter der Pauke hervorschaut. Und keine Kapelle hat so kleine Uniformen!«

Bulle zog im Flur seine winzigen Schuhe an und ging auf die Treppe hinaus, stellte sich stramm in Habtachtstellung hin, presste die Lippen aufeinander, setzte die Trompete an und spielte eine kleine Melodie, die sein Großvater ihm beigebracht hatte. Es war ein morgendlicher Weckruf, der dazu gedacht war, die Langschläfer aus dem Bett zu jagen. »Alle Matrosen zur Aufstellung!«, rief Bulle, als er fertig war, denn auch das hatte sein Großvater ihn gelehrt. »Sofort alle mit zwei Beinen an Deck und einen klaren Blick! Macht euch bereit zur Morgeninspektion, klar zur Königshymne. Habt... acht!«

Die Möbelpacker gehorchten, blieben stocksteif auf dem Kiesweg im Garten stehen, Mamas fünfsitziges Eichenholzsofa fest im Griff. Einige Sekunden lang war es so still, dass man nichts hörte außer vorsichtigem Vogelgezwitscher und dem Müllwagen, der langsam die Kanonenstraße heraufkam.

»Interessant«, hörte Bulle eine freundliche, etwas scheppernde Stimme sagen. »Ein neuer Kommandant in unserer Straße.«

Er drehte sich um. Ein großer, dünner Mann lehnte am Holzzaun zum Nachbarhaus. Sein weißes Haar war genauso lang und ungepflegt wie das Gras in seinem Garten. Sein blauer Kittel sah aus wie der des Werklehrers in Bulles alter Schule und er trug etwas im Gesicht, das aus sah wie eine Schwimmbrille. Bulle dachte, entweder ist das der Weihnachtsmann nach einer Schlankheitskur oder ein verrückter Professor.

 

»Habe ich Sie gestört?«, fragte Bulle.

»Im Gegenteil«, lächelte der Strubbelkopf. »Ich musste unbedingt gleich nachschauen, wer hier so schön spielt. Diese Töne haben wunderbare Erinnerungen geweckt, Erinnerungen an eine Bootstour auf einem Fluss in Frankreich vor vielen, vielen Jahren.«

»Eine Bootstour?«, fragte Bulle.

»Genau.« Der Mann wandte sein Gesicht mit geschlossenen Augen verträumt der Sonne zu. »Ein Boot, auf dem ich, meine Liebste, mein Motorrad und jede Menge Ziegen fuhren. Die Sonne ging gerade unter, Wind kam auf, die Wellen wurden höher und da begannen die Ziegen so herrlich zu blöken. Das Geräusch vergesse ich nie!«

»Hallo«, sagte Bulle. »Ich bin Bulle. Was sagt man dazu?«

»Nichts Besonderes«, schepperte der Mann. »Es sei denn natürlich, du willst selbst etwas sagen.«

So also lernte Bulle Doktor Proktor kennen. Doktor Proktor war nicht der Weihnachtsmann. Aber er war ein verrückter Professor. Na ja, beinahe.

3. Kapitel

Der erste Pulvertest

ch bin Doktor Proktor«, sagte der Professor. Seine Stimme schepperte wie ein schlecht geölter Rasenmäher. »Ich bin ein verrückter Professor. Na ja, beinahe.« Er lachte herzlich und begoss das wild wuchernde Gras aus einer grünen Gießkanne.

Bulle, der nie etwas gegen ein interessantes Gespräch einzuwenden hatte, stellte die Trompete ab, lief die Außentreppe hinunter zum Gartenzaun: »Und was macht Sie so sicher, dass sie beinahe verrückt sind, Herr Proktor?«