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Christina Didszun

Rendezvous mit dem Leben

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Christina Didszun

Rendezvous
mit dem Leben

Das Aussöhnen mit Bulimie, anderen
Essstörungen und dem Leben an sich

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Bibliografische Information der Deutschen

ISBN 978-3-937717-49-4

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2010

www.dittrich-verlag.de

Heilende Erfahrungen

Was geschieht bei Bulimie

Die Trauer überwinden

Beim Körper bleiben

Beobachtung der Gedanken

Beobachtung der Gefühle

Persönlicher Nutzen bei Essstörungen

Persönliche Motive bei Essstörungen

Sexualität als Spiegel unseres Selbstbildes

Vom Akzeptieren zur Liebe

Vertrauen und Kommunikation

Dankbarkeit lernen

Konsequenzen für die Beziehungen

Die Konsequenzen für das Verhältnis zu den Eltern

Die Angst verlieren vor dem Rückfall

Was die Seele erfahren will

Zwei Fallbeispiele: Anna aus Heidelberg, Dorothee aus Salzburg

Für all die lieben Menschen,
die meine Seele berührt haben.
Meinen Freundinnen Regina, Sabine, Annemarie,
meinen Eltern, die ich sehr liebe,
all den mutigen Klienten,
die mir ihr Vertrauen schenken,
meinem Verleger und seinen Mitarbeitern
und meinem Freund Jury
.

»Das Wunder bin ich« – lautet der letzte Satz meiner Biografie »Als der Schmerz aufhörte die Seele zu essen«. Dies war die Erkenntnis, die ich aus zwanzig Jahren Bulimieerkrankung gewonnen hatte. Und sie sollte nicht meine letzte Erkenntnis bleiben, denn der Weg in die Freiheit hatte mit dieser Einsicht erst begonnen. Seitdem hat sich mein Leben von Grund auf verändert. Seine Vielfalt ist ein Geschenk, das ich sowohl beruflich wie auch privat täglich neu erlebe. Diese Erfahrung wünsche ich jedem Menschen, insbesondere den Lesern meiner Bücher.

Seit dem Erscheinen meines ersten Buches haben viele Leser, Männer wie Frauen, Kontakt mit mir aufgenommen und sich aufrichtig dafür bedankt, dass ich so offen, frei und radikal mein Leben mit der Sucht beschreibe. Es habe ihnen Mut gemacht und ließe sie hoffen, selbst einmal geheilt zu werden. In zahlreichen Interviews und Lesungen durfte ich meine Erfahrungen über Bulimie weitergeben.

Viele Fragen wurden mir gestellt, die mich anspornten, mein Wissen über die Sucht zu erweitern. Die Erkenntnisse, die ich durch die Krankheitsgeschichten meiner Klienten gewann, bestätigten meine persönlichen Erfahrungen. Ich kann heute mit Überzeugung sagen, dass niemand Bulimie haben muss, wenn er sich für einen bewussten Lebensweg entscheidet und sich seinen Angst machenden Gefühlen stellt; wenn er beginnt, liebevollen Kontakt zu seinem Körper aufzunehmen, seine in der Kindheit entstandenen Muster und Handlungsmotive betrachtet, sie hinterfragt, akzeptiert und so die Voraussetzung dafür schafft, dass sie sich auflösen können. Nicht nur der Bulimie ist so zu begegnen. Viele andere Krankheiten, Ängste und Süchte können auf diese Weise behandelt werden.

Aus meiner Sicht ist unser Körper von Natur aus heil, und was uns krank macht, ist in vielen Fällen nur unser Denken. Es ist der Verstand, der durch erlernte Verhaltensmuster an seiner Sucht festhalten möchte. Zusätzlich gibt das Unbewusste in uns, alte Verhaltens- und Denkmuster nur ungern auf. Meistens kennen wir sie nicht und drehen uns deshalb gedanklich im Kreis. Was wir nicht wollen, ist uns bekannt, denn es bereitet Schmerzen. Aber was wir wirklich suchen, was uns glücklich macht und frei, was uns erfüllt, davon haben wir nur eine begrenzte Vorstellung. Weshalb dies so ist und welche Rolle dabei die Gefühle spielen, das ist der Inhalt dieses Buches.

Meine Ausführungen erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch. Sie resultieren allein aus meinen persönlichen Erlebnissen als ehemals Essgestörte und aus den Erfahrungen, die ich als Coach in der Arbeit mit vielen Betroffenen gemacht habe, die sich nach der Lektüre meines Buches an mich gewandt haben. Im Laufe meiner Ausbildung als Coach bin ich mit Therapieansätzen in Berührung gekommen, die sicherlich ebenfalls in meine Heilmethode mit eingeflossen sind.

Es geht mir nicht darum, den sich süchtig fühlenden Menschen verändern zu wollen, ihm zu erklären, wie er etwas richtig und besser machen kann. Ich will keine Rezepte und Anweisungen geben, wie er seine Sucht in den Griff bekommt, sie überwindet, kontrolliert und beherrscht. Das unterscheidet mich von den meisten Therapeuten. Auf den folgenden Seiten will ich anhand vieler Beispiele zeigen, wie man lernen kann, sich mit der Sucht und allen damit zusammenhängenden Problemen zu akzeptieren. Wie man zu dem Bewusstsein gelangen kann, auch mit der Sucht vollständig und liebenswert zu sein.

HEILENDE ERFAHRUNGEN

Bei meiner Arbeit als Coach und Hypnosetherapeutin bin ich vielen wunderbaren Menschen begegnet. Ihre Schicksale und Geschichten, die ich mit Ihnen teilen durfte, die mich oft sehr berührt und mein Leben bereichert haben, sind in dieses Buch mit einflossen. Ich habe sie ausgewählt, um den von Bulimie und anderen Essstörungen betroffenen Lesern Mut zu machen, ihren eigenen Weg in die Freiheit zu finden.

Im März 2007 hatte ich in meinem digitalen Postfach folgende E-Mail:

»Sehr geehrte Frau Didszun,

ich habe Ihr Buch »Als der Schmerz aufhörte die Seele zu essen« gelesen und bin sehr von Ihrer Heilmethode begeistert. Ich leide seit zwei Jahren an Bulimie und habe meinen Körper schon so sehr belastet, dass ich meine Periode seit ein paar Monaten nicht mehr habe. Egal, was ich esse und trinke, ich hole mir alles raus. Seit November letzten Jahres bin ich bei einer Psychologin, die mir rät, in eine Klinik zu gehen. Dafür bin ich aber noch nicht bereit, da ich auch meinen Job nicht riskieren möchte. Auch dass man mich einsperrt und ich zur Außenwelt keinen Kontakt mehr habe, finde ich nicht gerade gut. Einmal in der Woche habe ich Kinesiologie und mein Körper sagt mir, dass er nicht in eine Klinik möchte. Vielleicht können Sie mir einen Rat geben, oder mir sagen, ob ich ihr Seminar besuchen darf. Über eine Rückantwort würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Sarah«

Nach kurzem schriftlichen Austausch und einem Telefonat war sich Sarah sicher, dass sie nach Berlin reisen und mich kennenlernen wollte. Zwei Wochen später stand sie vor meiner Tür und begrüßte mich mit einem bezaubernd strahlenden Lächeln. Eigens zu einem ersten Kennenlerngespräch war sie aus Hannover angereist. Nun stand sie vor mir, eine 27-jährige, 1,65 Meter große Chefsekretärin, mit funkelnden braunen Augen und einer roten Wuschelmähne. Voller Hoffnung und Vertrauen begegnete sie mir in unserem ersten Gespräch. Ungewöhnlich offen schilderte sie ihre Suchtgeschichte.

Zum Schluss erzählte Sie mir dann etwas verschämt, warum sie, ohne mich zu kennen, ein solches Vertrauen zu mir hatte. Sie war bei einer Kartenlegerin gewesen, die ihr gesagt hatte, dass sie die Autorin aufsuchen solle, deren Buch sie vor kurzem gelesen habe. Die würde ihr dabei helfen, ihre Probleme bis zum Ende des Jahres zu überwinden. Während sie dies erzählte, müssen mir meine Gesichtszüge etwas entglitten sein. Sarah lachte hell auf und sagte, sie hätte damals wohl ebenso geschaut. Doch sie sei davon überzeugt, dass die Kartenlegerin die Wahrheit gesagt habe. Ich verstand, was sie meinte. Sarah hatte in diesem Moment das Gefühl gehabt, geführt zu werden, und das hatte ihr den Mut gegeben, sich auf einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Weg einzulassen. Dieses Vertrauen gab ihr die Kraft, Neues zu wagen und sich nicht von ihrem Verstand und ihren Ängsten leiten zu lassen. Sarah entschied sich nach dem Gespräch sofort für ein siebentägiges Intensiv-Coaching. Wir verabredeten einen Termin in zwei Wochen.

Bereits nach wenigen Sitzungen begriff Sarah, dass sie weder ihre Gefühle noch ihren Körper kannte, und dass sie nicht in der Lage war, ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren. Doch ihr Wunsch nach Freiheit war derart stark, dass sie sich mutig ihren Gefühlen stellte. Sie überwand Ängste, die für sie früher eine unüberwindbare Hürde dargestellt hätten. Ich ermunterte sie, ihrem Leben gegenüber aufmerksamer zu sein und alles, was ihr begegnete, bewusst zu beobachten und wahrzunehmen. Was dies im Einzelnen bedeutet, schildere ich im Verlauf dieses Buches. Schließlich konnte sie erkennen, dass nichts an ihr falsch ist, und dass die Bulimie ihr nur aufzeigt, dass sie sich selbst nicht akzeptiert, dass sie sich selbst ablehnt und nicht liebt. Bereits nach wenigen Tagen erlebte Sarah während der Sitzungen die ganze Fülle ihrer Gefühlswelt. Langsam schwanden ihre Ängste. Ihre alten Verhaltensmuster lösten sich auf. Und nach einer siebentägigen Reise in ihr Inneres verabschiedete sich eine kraftvolle junge Frau, die ab sofort entschlossen und mutig dem Leben entgegentreten wollte. Im Verlauf der Sitzungen war ihr deutlich geworden, wodurch sie zum Opfer ihrer Sucht wurde. Nun war sie bereit, Neues auszuprobieren und sich selbstverantwortlich dem Leben zu stellen.

Vier Wochen später erschien Sarah zu einer Einzelsitzung. Kaum hatte sie Platz genommen, konnte sie die Neuigkeiten, die sie mir mitteilen wollte, nicht mehr zurückhalten. Voller Begeisterung erzählte sie mir, dass sie seit unseren Sitzungen nicht mehr erbrochen habe. Ein Leben in Leichtigkeit und Freude habe für sie begonnen. Sie sei ein neuer Mensch. Die Welt sei plötzlich so ganz anders. Viel schöner. Trotz ihres neuen Lebensgefühls wollte sie weiterhin regelmäßig an Sitzungen teilnehmen. Zum einen zur Stabilisierung und zum anderen, um noch tiefer und bewusster in ihre Gefühlswelt einzutauchen.

Sie erkannte, dass ihre Ängste dafür verantwortlich waren, dass sie ihre Umwelt, ihre Arbeit, ihre Familie und ihre Freunde, ja ihr gesamtes Leben verzerrt wahrgenommen hatte. Das diese Ängste sie jetzt nicht mehr bedrohten, erschien ihr wie ein Wunder. Ihr Leben war leichter und entspannter geworden. Aber nicht die äußeren Umstände hatten sich verändert, die waren gleich geblieben. Noch immer lebte sie in derselben Wohnung, übte denselben Beruf aus, hatte dieselben Freunde und dieselbe Familie mit denselben Problemen. Die Veränderung, die dieses ganz neue Lebensgefühl hervorgerufen hatte, war in ihr selbst geschehen – während ihrer Reise nach Innen hatte sich ihr Selbstbild verändert.

Eine geführte Meditation ermöglicht es den Klienten, frei von Angst, Schuld und Moral, sich in Kindheitssituationen oder generell in Lebenssituationen zu begeben, die ausschlaggebend für ihre Süchte und Krankheiten sind. In diesem geschützten Rahmen erleben sie all die Gefühle noch einmal, die sie damals auf Grund ihrer Ängste und gedanklichen Verwicklungen nicht wahrnehmen konnten. Viele meiner Klienten erleben in einer geführten Meditation erstmals ihre Gefühle pur, ohne dass störende Gedanken sie an der Wahrnehmung hindern. Hier erkennen sie den Unterschied zwischen ursprünglichen Gefühlen und »gedachten« Gefühlen, d.h. von Gedanken, Glaubenssätzenund Moralvorstellungen manipulierten Gefühlen. Sie erleben, welche direkten körperlichen Empfindungen Einsamkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Minderwertigkeit, Schuld, Scham und Trauer auslösen.

Während einer geführten Meditation wird der Klient mittels beruhigender Worte in eine leichte Trance versetzt. Dabei kann er sitzen oder auch liegen, wie es für ihn angenehm ist. Normalerweise schwingt das Nervensystem des Menschen in einem großen Spektrum von Frequenzen. Jede Erregung, Anspannung oder Entspannung hat dabei ihre eigenen Schwingungen. Der normale ruhige Wachzustand beträgt etwa 21 Hz. Beginnt sich der Mensch zu entspannen, sinken die Schwingungen der Gehirnwellen von 21 Hz auf 13 Hz. Diesen Zustand zwischen Wachbewusstsein und Schlaf bezeichnet man als Alpha-Zustand. Er wird täglich beim Einschlafen und Aufwachen erlebt und während so genannter Tagträume. Der Mensch ist noch wach, jedoch verschwinden aus seiner Wahrnehmung Zeit und Raum. Er verliert mehr und mehr die Fähigkeit mit seinen fünf Sinnen wahrzunehmen und erhält stattdessen Zugang zu seiner Intuition. Mit dem Absinken der Gehirnwellen verlagert sich die Gehirntätigkeit von der linken zur rechten Gehirnhälfte. Während in der linken Gehirnhälfte das rationale Denken, die Logik, das Begreifen in kausalen Zusammenhängen verankert ist, liegt in der rechten Gehirnhälfte das Denken in Metaphern, Bildern, Gefühlen und die Intuition. Erinnerungen oder Gewissheiten können in der Trance wertfrei wahrgenommen werden.

Dieser Entspannungszustand kann später, mit etwas Übung, auch in einer selbstständig durchgeführten Meditation erreicht werden. Mit einer meditativen Lebenshaltung verändert sich die Wahrnehmung, und was zuvor bedrohlich und unüberwindbar erschien, verliert durch die veränderte Perspektive seinen Schrecken und man erfährt eine neue Lebensqualität.

Bei Sarah vollzogen sich Bewusstwerdung und eine radikale Verhaltensänderung, in deren Folge sie schließlich ihre Sucht vergaß, sehr rasch. Dies ist nicht bei jedem meiner Klienten der Fall. Meist kommt bei ihnen nach den ersten Besuchen bei mir ein Prozess in Gang, während dessen sie in kleinen Schritten ihre wahren Gefühle kennenlernen, diese langsam akzeptieren und sich anschließend mit ihnen aussöhnen. Ob dieser Entwicklungsgang sich leicht oder mühsam gestaltet, hängt davon ab, wie offen und bereit der Betroffene ist, sich von seinen alten Verhaltensmustern zu lösen und sich auf Neues einzulassen.

Jeder Mensch bringt seine persönliche Geschichte mit, empfindet auf seine eigene Weise, hat individuelle Vorlieben und Abneigungen, Ängste und Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen. So vollzieht sich auch der Genesungsprozess bei jedem in seinem eigenen Tempo und auf seine eigene Art. Dabei ist es für mich wichtig, dass die Klienten möglichst schnell beginnen, nicht länger unter ihrer Sucht zu leiden.

WAS GESCHIEHT BEI BULIMIE?

Zwanzig Jahre kämpfte ich vergeblich gegen meine Sucht an. Ich lebte in einem selbst erschaffenen Gefängnis; ich führte ein Doppelleben zwischen äußerem Schein und innerer Wirklichkeit. Nach außen hin war ich die strahlende, perfekte Geschäftsfrau, Ehefrau, Geliebte, Freundin und Tochter, der beruflich alles leicht von der Hand ging. Kompetent und sachlich trat ich als Marketingberaterin auf und verhandelte mit Vorständen und Aufsichtsräten. Und gleichzeitig war da eine innere Welt, in der ich verzweifelt, panisch und völlig verängstigt mit Suizidgedanken vor dem Klo kauerte, mich minderwertig, hilflos und einsam fühlte, unfähig, mich von dem Schmerz zu befreien. Verwickelt in ein Opferdasein wusste ich nicht, wie ich die Ursache meines Leidens finden konnte. Noch heute, nach neunjähriger Freiheit, frage ich mich, wie ich damals überhaupt funktionieren und diesen Spagat zwischen Außen und Innen über zwanzig Jahre lang aushalten konnte. Nach außen schick, adrett und sorgsam gepflegt für die Familie und die Geschäftswelt. Nach innen verlottert, zerfahren, zermürbt von dem jahrelang in mir schwelenden Selbstzweifel, auf der Suche nach einem Mindestmaß an Liebe, Glück und innerem Frieden.

Was bringt Menschen, Männer wie Frauen, so weit, dass sie sich mit Hass, Selbstzweifel, Selbstverurteilungen und Suizidgedanken quälen, die sie täglich aufs Neue fast in den Wahnsinn treiben? Was bringt sie dazu, sich dieser Selbstbestrafung auszusetzen? Was ist der Grund dafür, dass sie so ein menschenunwürdiges Dasein fristen? Manche Erkrankte leben im sozialen Abseits, fern von Freunden und Familie, unfähig, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Andere wiederum funktionieren, so wie ich, nach außen perfekt, so dass ihnen niemand die Erkrankung ansieht. Was ist die Gemeinsamkeit, die alle Bulimieerkrankten verbindet? Gibt es Gemeinsamkeiten, und wenn ja, welche?

Ärzte, Therapeuten und Psychologen versuchen seit einiger Zeit, die Ursache der Sucht wissenschaftlich zu erforschen, kommen aber mit ihren Untersuchungen kaum voran. Gilt für die Bulimie, was man auch in Bezug auf die Alkoholsucht sagt: Einmal süchtig, immer süchtig? Ich, die ich mich seit neun Jahren als vollständig geheilt ansehe, treffe bei meinen Lesungen auf Menschen, die nicht glauben können, ja, es mir absprechen wollen, dass ich die Sucht überwunden habe. Im Gespräch mit ihnen wird mir klar, dass sie es sich gar nicht vorstellen können, ohne Sucht zu leben. Sie argumentieren mit Begriffen aus Chemie und Biologie, mit Botenstoffen und chemischen Reaktionen im Körper. Als tragisch empfinde ich Aussagen wie: Die Sucht ist vererbt, ist von den Genen bedingt oder unheilbar. Solche oder ähnliche Glaubenssätze sind in den Köpfen der Menschen so verankert, dass die Möglichkeit der Heilung für sie überhaupt nicht mehr vorstellbar ist. Dass durch ein grundlegendes Umdenken ganz neue Perspektiven jenseits aller bisherigen Erklärungsansätze entstehen können, erscheint ihnen unmöglich. Doch gerade eine neue Sichtweise und Offenheit für andere Wege sind bei der Sucht Bulimie und allen andern Essstörungen notwendig.

Für mich als Marketingberaterin war immer klar, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Es wurden solange neue Wege ausprobiert und Kreativtechniken eingesetzt, bis sie gefunden war. Auch für meine Erkrankung wollte ich eine Lösung finden. Eine Lösung für ein Problem. Und das Problem war ich selbst. Mit 28 Jahren fiel mir ein Buch in die Hände, das sich mit Psychosomatik beschäftigte. Ich begriff, dass ich kein körperliches Problem, sondern ein geistig-mentales hatte. Je mehr ich innerlich begann, gegen die Sucht zu kämpfen, desto mehr verschlimmerte sich mein seelischer Zustand. Heute weiß ich, dass mein Problemlösungsansatz in die falsche Richtung führte. Ich suchte nach einer Lösung außerhalb meiner selbst. Jemand anderes sollte mir das geben, was mir fehlte. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass eine Ursache für mein Leid in fehlender Liebe bestand und suchte diese bei einem Mann und in beruflicher Anerkennung. Doch es gelang mir nicht, die Leere zu füllen. Ich wollte normal leben, einen normalen Alltag haben wie alle anderen Menschen auch. Und weil mir das nicht gelang, glaubte ich tief in mir, falsch zu sein. Falsches muss korrigiert, ausgemerzt, verändert, umprogrammiert, oder auf jeden Fall unter Kontrolle gebracht werden. Und dann war da noch dieses unbeschreibliche Verlassenheitsgefühl. Eine Mischung aus Minderwertigkeit, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Schuld und Einsamkeit, das Tag und Nacht an mir nagte. Wenn der Schmerz genug genagt hat, dann entsteht das Gefühl der Sinnlosigkeit und man stellt sich die Frage nach dem Wert des Lebens. In diesem inneren Stadium hatte ich mich über Jahre befunden, ohne zu wissen, weshalb mir mein Leben so sinnlos erschien. In mir stieg ein Gefühl auf, von dem ich heute weiß, dass es Trauer war. Damals wusste ich nicht einmal, was es heißt, sich selbst zu spüren, geschweige denn, was Trauer überhaupt ist. Dieses diffuse Gefühl erzeugte einen solchen Druck in mir, dass es den Wunsch weckte, sterben zu wollen.

DIE TRAUER ÜBERWINDEN

Je stärker mich die Krankheit im Griff hatte, desto quälender wurde für mich das Gefühl der Verlassenheit. Warum fühlte ich diese Einsamkeit in mir? War ich doch, objektiv gesehen, weder verlassen noch allein. Im Gegenteil. Damals lebte ich in einer Beziehung, hatte einen guten Job, meine Familie und Freunde, mit denen ich mich regelmäßig traf. Nach außen hin ein völlig normales Leben. Je mehr ich mich mit der Frage nach dem Grund für mein Verlassenheitsgefühl beschäftigte, desto verwirrter und verzweifelter wurde ich.

Immer lebte ich in der Polarität von Freude und Schmerz. Wobei der Schmerz, den ich nicht wahrnehmen wollte, überwog. Von Kindheit an bin ich ein starker Gefühlsmensch. Im Streit schrie mein Verlobter oft: »Ja, du mit deinen Gefühlen! Kannst du nicht mal richtig nachdenken?!« Auch Freunde und Familienmitglieder vermittelten mir immer wieder den Eindruck, falsch zu sein. Daher hatte ich es mir angewöhnt, nicht mehr auf meine Gefühle zu achten, sondern das zu tun, was andere von mir erwarteten. Selbstzweifel und Selbstverachtung beschäftigten mich tagtäglich, und irgendwann war ich gänzlich durchdrungen von quälendem Schmerz. Abgeschnitten von mir selbst lebte ich in einer selbst konstruierten Gedanken- und Scheinwelt, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hatte. Ich versank in Leid und erkannte das Gefühl, das mich ständig begleitete, nicht als das, was es eigentlich war: die tiefe Trauer eines kleinen Mädchens.

Mit dieser Traurigkeit gilt es sich auseinanderzusetzen. Ich habe bei mir selbst und vielen Klienten erfahren, dass es für die Gesundung von Bulimie, allgemeinen Essstörungen sowie anderen Krankheiten körperlicher oder seelischer Art sehr wichtig ist, die Trauer der Kindheit zu überwinden.

Stelle ich meinen Klienten zu Beginn der Sitzung die Frage, wie sie ihre Kindheit erlebt haben, versichern mir fast 75 Prozent, dass sie auf eine glückliche Kindheit zurückblicken können. Probleme mit den Eltern habe es nie gegeben oder wenn, dann seien sie nur von geringer Bedeutung. Aus ihrer Sicht haben sie mit ihrer Erkrankung nichts zu tun, im Gegenteil, das sei völlig abwegig. Oft wird gleich angefügt, dass die Eltern sich aufopferungsvoll um sie bemühen und man sie daher von eigenen Problemen lieber verschonen wolle. Darüber hinaus versichern mir fast alle, sie seien auch niemals geschlagen worden, und das sei doch viel wert. Aus diesen Gesprächen gewinne ich den Eindruck, dass wir es scheinbar als Tabu empfinden, die eigene Kindheit und damit die Eltern kritisch zu betrachten. Eltern muss man lieben, schließlich haben sie einem das Leben geschenkt, und dafür muss man dankbar sein. Im Laufe ihres Lebens haben sie viele Opfer für uns gebracht.

Auch ich war bis zu meinem 40. Lebensjahr der festen Meinung, dass meine Kindheit überaus glücklich war und konnte genügend Beispiele dafür anführen. Allein der Gedanke, am Bild meiner heilen Kindheit zu rütteln, versetzte mich in Panik. Den Zweifel an einem intakten Elternhaus konnte ich nicht zulassen; er hätte weitere Zweifel nach sich gezogen. Das, was mir im Leben wichtig war, wollte ich nicht in Frage stellen. Das wäre Verrat gewesen. Verrat an meinen Eltern, an meiner Familie und auch an mir. So zog ich es vor, mich selbst als die Schuldige zu sehen und nicht nach den wahren Gründen zu suchen, warum ich stets traurig war und mich einsam fühlte. Mit dieser Haltung, sich selbst für alles zu verurteilen, alles in sich reinzufressen, sinnlos in sich hineinzustopfen, ohne den Grund dafür zu kennen, kann langfristig keine Heilung erfolgen.

Dass meine Kindheit letztlich doch nicht so in Ordnung war, wie ich es gern glauben wollte, ahnte ich zum ersten Mal im Alter von 30 Jahren. Einer Therapeutin gegenüber öffnete ich mich und vertraute ihr an, dass ich keine Wut in mir spürte. Rein intuitiv wusste ich, dass diese Wut für etwas wichtig war, dass ihr Fehlen mich auf etwas aufmerksam machen wollte. Heute weiß ich, dass ich damals auf dem richtigen Weg war: Dass ich meine natürliche Aggression vermisste und mir überhaupt auffiel, dass ich nicht wütend werden konnte, war ein erster Schritt zu der Erkenntnis, dass ich etwas verdrängte, dass ich die schmerzvollen Aspekte in meiner Kindheit nicht wahrhaben wollte. Doch die Therapeutin schickte mich nach wenigen Sitzungen nach Hause mit den Worten, dass ich irgendwann meine Wut finden würde. Schließlich wäre ich eine überaus starke und intelligente Frau. Ich fühlte mich vor die Tür gesetzt; ein Gefühl, das ich kannte. Allein die Tatsache, dass ich einem anderen Menschen meine Probleme anvertraut hatte – wenn ich auch die Bulimie aus Schamgefühl nicht thematisierte – war für mich schon ein großer Schritt gewesen. Das hatte die Therapeutin nicht erkannt.

Heute weiß ich, welche Bedeutung dem Gefühl der Wut zukommt, dass man an ihm viel erkennen kann, auch wenn es manchmal für den Betreffenden nicht vorhanden zu sein scheint. Aus diesem Grund freue ich mich, wenn meine Klienten selbst bemerken, dass sie nicht wütend sein können. Aber dazu später.

Mit knapp 39 Jahren war ich in der Erforschung meiner Krankheit soweit, dass mir klar war, dass eine wirkliche Heilung nur durch mich allein geschehen konnte. Eines Tages fragte ich mich plötzlich: »Warum verhindere ich meinen Erfolg immer selbst?« Diese Frage überraschte mich – es war eine Umkehr im Denken. Ich suchte den Grund für mein Scheitern nicht in den äußeren Umständen wie bisher, sondern bei mir selbst. Ich verließ die Opferrolle und übernahm die Verantwortung für mein Leben. Damals erbrach ich bis zu dreimal täglich, hatte gerade eine Trennung hinter mir und wusste überhaupt nicht, wie ich mein Haus, das ich zur Miete bewohnte, halten sollte. Über Monate verfolgte mich diese Frage: »Warum verhindere ich meinen Erfolg immer selbst?« Aber ich hatte keine Lösung. So sehr ich meine Situation auch analysierte, keine Antwort erschien mir plausibel. In dieser Zeit lernte ich einen Coach kennen, der mit geführten Meditationen, Hypnose und Rückführungen arbeitete. Ich begegnete ihm bei einem seiner Vorträge zum Thema »Wiedergeburt zwischen Wissenschaft und Spiritualität« und entschied mich rasch dazu, mich mit Rückführung und Spiritualität stärker auseinanderzusetzen – ohne zu ahnen, wie sich dadurch mein Leben verändern würde. Dem Coach stellte ich in einer Sitzung gleich zu Anfang die Frage, die mich umtrieb. Vergnügt entgegnete er, dass er es auch nicht wisse, mir aber helfen könne, die Antwort darauf zu finden.

In der zweiten Sitzung bei ihm wurde ich in einer geführten Meditation mit entscheidenden Momenten meiner Kindheit konfrontiert, und nach weiteren zwei Sitzungen war die Bulimie, ohne dass ich es überhaupt bemerkt hatte, verschwunden. Ich hatte sie, und dies war für mich unverständlich und kaum nachvollziehbar, schlichtweg vergessen. Aus medizinischer Sicht war es unmöglich und nicht erklärbar.

Heute, nach acht Jahren Arbeit mit den Techniken der geführten Meditation und Rückführung, weiß ich, dass es kein Wunder war. Es war die Konsequenz aus der Entscheidung, mir alle schmerzhaften Gefühle und Ängste in ihrem Ursprung anzusehen. Alles Wissenswerte wollte ich über sie in Erfahrung bringen, wobei ich bereit war, mich meinen Empfindungen von Minderwertigkeit, Hilflosigkeit und Einsamkeit auszuliefern. Sie sollten Schritt für Schritt genauestens betrachtet, untersucht und bis ins Detail für mich verständlich werden. Es war die Entscheidung, Meister meines eigenen Lebens zu werden. Mich allen Lebenssituationen zu stellen und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Vorrangig schien es mir, zu erforschen, welche Gefühle positiver und negativer Art ich erlebe und warum ich mich durch manche bedroht und hilflos fühle. Warum mich manche Situationen in Angst versetzen und andere nicht. Und ich wollte wissen, wo sich Ängste im Körper äußern, wo sie sitzen und wie sie sich anfühlen. Was mit ihnen geschieht, wenn sie über Jahre nicht wahrgenommen werden, wie sie meine Persönlichkeit beeinflussen und welche Auswirkungen sie auf mein Leben insgesamt haben.

In einer der ersten Sitzungen ging mein Coach in einer geführten Meditation mit mir in eine glückliche Situation aus der unmittelbaren Vergangenheit. Ich wählte einen Augenblick des Glücks, der mir nach kurzem Nachdenken einfiel. Innerhalb weniger Sekunden befand ich mich gedanklich auf Kreta, wo ich im Jahr 2000 Urlaub gemacht hatte. Die Sonne stand hoch über mir am Himmel. Es war wolkenlos und klar. Noch einmal erlebte ich, wie ich lachend und in freudiger Erregung gemeinsam mit meinem damaligen Freund Patrick die vielen Stufen unseres Hotels zum Strand hinunterlief. Vor uns der sonnengelbe Strand mit Schirmen, Liegen und das kristallklare, azurblaue Meer. Wir hielten uns an den Händen und lachten wie kleine Kinder. Patrick war nach wenigen Stufen einfach losgelaufen und zog mich mit sich. Jetzt gelang es mir, mit ihm Schritt zu halten. Zuerst achteten wir noch auf die Stufen, die wir aber schnell über unserem Lachen vergaßen. Wir kreischten vor Freude, während uns, fast wie im Fluge, unsere Füße die Stufen hinuntertrugen. Ausgelöst durch das Lachen bebte mein Körper vor Lebendigkeit. Was für ein glücklicher Moment! Jetzt erlebte ich ihn noch intensiver und stärker als damals. Es schien mir, als ob mein Geist sich schneller bewegte als meine Beine. Als ob mein Körper mit seinen Empfindungen hinter mir her liefe. Irgendwie fühlte ich eine Trennung, und kurze Zeit später glaubte ich mich fast in Auflösung zu befinden. Die körperlichen Empfindungen von Glück und Lebensfreude durchzogen mich wie eine Meereswelle. Von den Fußsohlen bis zum Kopf wurde jeder Körperteil von dieser Welle, die eine aquamaringrüne Farbe angenommen hatte, durchtränkt. Meine eigene Lebendigkeit wurde mir bewusst. Dies löste ein unbeschreibliches Glücksgefühl aus, das ich in einer solch starken Intensität nie zuvor in meinem Körper gespürt hatte. Bis heute kann ich mir diese Momente des Glücks bewusst in Erinnerung rufen und sie erneut erleben.

Anschließend gingen wir in der Meditation in eine Situation aus meiner Kindheit, in der ich erstmals dieses Gefühl von Glück und Lebendigkeit erfahren hatte. Ich sah mich als Säugling auf einem Wickeltisch liegend. Dabei veränderte sich nach kurzer Zeit meine Wahrnehmung so, als ob ich die Situation in diesem Moment real erleben würde. Ich war tatsächlich die kleine Christina, die vergnügt mit ihren Fingerchen spielte. Voller Aufmerksamkeit und Neugier betrachtete ich die Teile meines Körpers, die in der Lage waren, alle möglichen Dinge zu sich heranzuziehen. Ich konnte greifen und festhalten, ich erfühlte und erkundete die Welt. Durch meine Hände erfuhr ich Wärme und Kälte, fühlte Weiches und Hartes, Angenehmes und Unangenehmes. Während ich meinen Körper neugierig erforschte, strampelte ich mit den Beinchen und trat meiner Mutter lustvoll brabbelnd gegen den Bauch. Wie in der vergangenen Szene erlebte ich, wie mein Inneres in Bewegung geriet. Spürte ähnlich deutlich, dass sich in mir eine mächtige Energie aufbaute, die sich wie eine Welle aus Glück, Kraft und Lebendigkeit durch meinen Körper zog. Ich gluckste und lachte, wobei sich mein kleiner Körper freudig aufbäumte.

Nachdem ich diese Momente des Glücks eine Weile genossen hatte, gingen wir in eine Situation, in der ich das erste Mal Ohnmacht, Hilflosigkeit und Einsamkeit gespürt hatte. Ich sitze auf dem Fußboden und baue mit Bauklötzen einen kleinen Turm. Ich bin in einem Alter, in dem ich noch nicht laufen und sprechen kann. Meine Mutter hat mich zum Spielen auf eine Decke im Wohnzimmer gesetzt. Sie selbst sitzt mit meiner Großmutter am Wohnzimmertisch, beide trinken Kaffee und unterhalten sich angeregt. Ganz in mein Spiel versunken, setze ich einen Holzklotz auf den anderen. Dabei erlebe ich, wie meine Freude mit jedem weiteren Klötzchen ansteigt, bis alle verbraucht und der Turm fertig ist. Entzückt über mein Werk klatsche ich mehrmals hintereinander in die Hände und gebe ein paar Laute von mir, die meiner Mutter signalisieren sollen, dass ich fertig bin. Für meinen Turm will ich Bestätigung und Anerkennung. Doch nichts geschieht. Ich warte. Fuchtele mit den Armen und gebe einen lauteren Ton von mir. Meine Augen wenden sich von dem Turm ab und ich schaue zu meiner Mutter, die angeregt mit meiner Großmutter spricht und mich nicht wahrnimmt. Daraufhin schaue ich zu meiner Großmutter. Auch sie sieht mich und meinen Turm nicht. Hilflos wandern meine Augen zurück zum Turm. Ein kleiner Schmerz in der Brust verändert meine Stimmung. Lebendigkeit und Freude lösen sich auf. Ich spüre, dass ich allein bin. In meinem Bauch rumort es. Lauthals schreiend fuchtele ich nun mit den Armen. Dabei stoße ich gegen meinen Turm, der krachend einstürzt. Für einen kurzen Moment herrscht Stille. Dann höre ich eine schrille Stimme. Es ist die meiner Großmutter. Sie macht meiner Mutter Vorwürfe. Man könne ja sehen, wohin ihre Erziehung führen würde. Sicherlich würde aus dem Kind nichts Gescheites werden. Zwischen den beiden beginnt ein heftiger Streit, bei dem meine Großmutter die Oberhand behält. Ihre Stimme ist laut, durchdringend, klingt manchmal schrill, schmerzt in meinen Ohren und macht mir Angst. Mich überkommt Panik. Um mich zu schützen, reiße ich schnell meine Hände hoch und versuche, mein Gesicht zu verdecken. Das Gezeter der beiden Frauen geht weiter, und weder meine Mutter noch meine Großmutter bekommen meine Angst mit. Ich habe Druck im Bauch und im Herzen. Es schnürt mir die Kehle zu und droht mich zu ersticken. Dann plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, als der innere Schmerz für mich fast nicht mehr auszuhalten ist, setzt eine Erstarrung ein, die meinen Körper bis in den letzten Winkel lähmt. Es ist wie sterben. Ich sehe, höre und fühle nichts mehr. Ich bin wie abgeschnitten von mir und meiner Umwelt. Erstarrt und mit leerem Blick sehe ich gerade noch schemenhaft die vor mir liegenden Bauklötze. Mutter und Großmutter sowie das ganze Wohnzimmer entziehen sich meiner Wahrnehmung. Ich versuche, meine Arme und Hände zu bewegen. Vergeblich. Die Angst steigt in mir hoch. Ich versuche, mich gegen sie zu wehren. Doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nicht mehr rühren. Ohnmacht und Hilflosigkeit steigen in mir auf und ein Gefühl der Einsamkeit. Mir wird übel und es dreht sich alles in mir. Ich wehre mich, merke, dass es sinnlos ist. Dann noch einmal ein kurzes Aufbäumen. Ein innerer Schrei, Tränen, die aus meinen Augen hervorschießen und mir über das Gesicht rinnen. In dieser erneut erlebten Situation von damals spüre ich meine Einsamkeit in voller Stärke. Es ist ein schwerer Moment, als sie mir bewusst wird, ich sie körperlich und ungefiltert fühle. So hatte ich sie noch nie zuvor wahrgenommen. Wieder fühle ich mich hilflos, weiß nicht, wie es weitergehen soll. Mein Coach fordert mich auf, mir innerlich zu sagen: »Du darfst dich einsam, hilflos und ohnmächtig fühlen und ich habe dich damit lieb.« Bei diesen Worten geraten mein Verstand und mein Körper erneut in helle Aufregung. Es fällt mir sehr schwer. Ich spüre, dass ich mich nicht erreiche. Dann sage ich den Satz noch einmal und noch einmal. Dabei merke ich, wie die inneren Schmerzen und der Druck allmählich nachlassen. Ich habe meinen Kampf aufgegeben und erlebe, wie ich mir mit diesen Worten die Liebe und Anerkennung, die ich damals vermisste, selbst gebe. Mein Körper lockert und entspannt sich.

Nach dieser Sitzung erschienen mir meine Verhaltensweisen und Muster in einem anderen Licht. Die Frage »Warum verhindere ich meinen Erfolg immer selbst?«, bekam eine neue Dimension. Zwanzig Jahre lang habe ich mit meinen Handlungen um Aufmerksamkeit und Anerkennung gerungen. Ich war gut, ich war erfolgreich. Kaum hatte ich ein Ziel erreicht, war ich in Gedanken bereits beim nächsten. Doch unbewusst war ich gleichzeitig der Überzeugung, dass niemand meine Erfolge bemerken und wertschätzen würde. Ich glaubte, dass nichts von dem, was ich tat, wirklich bedeutsam sei, weil Ich nichts bedeutete. Mir wurde klar, dass ich mit immer neuen Erfolgen versuchte, mein tief eingegrabenes Minderwertigkeitsgefühl zu verdrängen. Das gelang mir aber nicht, da ich unbewusst Angst vor Erfolg hatte. Denn jeder Erfolg, jeder errungene Sieg war begleitet von dem Gefühl, trotzdem nicht zu genügen. Hatte ich ein Ziel erreicht, musste ich danach erkennen, dass ich mich dennoch leer und ungeliebt fühlte. Also verhinderte ich den Erfolg lieber im Vorhinein, um diesem Gefühl nicht begegnen zu müssen. Jene Kindheitsszene, in der meine Mutter und meine Großmutter den Klötzchenturm nicht beachteten, war wie ein Schlüssel und hatte den Kern in einem treffenden Bild erfasst: Für das, was ich schuf, bekam ich keine Anerkennung und keine Liebe. Erst durch das Einstürzen meines Werkes erhielt ich Aufmerksamkeit, allerdings in negativer Form, wodurch ich ein ausgeprägtes Scham- und Schuldgefühl entwickelt hatte. Der Wunsch nach Anerkennung war in mir negativ besetzt; ich wertete ihn nicht als natürliches Bedürfnis, sondern als Schwäche und akzeptierte ihn nicht. Also zerstörte ich unbewusst alles, was mir lieb und teuer war: meine Liebesbeziehungen, indem ich mir von Beginn an Männer wählte, die mir nicht geben konnten, was ich suchte; meinen Beruf, indem ich mir immer höhere Ziele steckte, und meinen Körper, den ich nach Belieben beherrschen und kontrollieren wollte. Dies alles ließ mein Leben vergeblich und sinnlos erscheinen. Ich fühlte mich in meinem Körper nicht zu Hause. Seit Jahren lebte ich das Leben einer Getriebenen, ohne dafür einen plausiblen Grund zu wissen. Nach der geführten Meditation mit dem Coach jedoch verstand ich viele Zusammenhänge. Ich brachte den Mut auf, mich meinen Ängsten zu stellen. Und ich konnte zu weiteren, tiefer gehenden Fragen vordringen: Warum saß meine Einsamkeit derart tief, und wieso hatte sie so viel Macht über mich, dass ich zwei Jahrzehnte lang immer wieder in alte Muster verfiel und keine Chance hatte, neue Wege zu gehen?

Auf der Suche nach Antworten habe ich herausgefunden, dass, ebenso wie ich, viele Menschen in sich den Glauben verankert haben, dass sie nicht erwünscht sind oder dass ihr Leben, so wie sie es derzeit führen, sinnlos und hoffnungslos ist. Dass sie auf dieser Welt nicht willkommen sind. Dies äußert sich meist nicht in vordergründigen Gedanken, sondern in einem dumpfen Gefühl, das sie ein Leben lang begleitet und gegen das sie sich nicht wehren können. Diese Grundstimmung kommt in bestimmten Momenten zum Vorschein und ist den Betroffenen nicht bewusst. Oftmals nehmen wir sie erst dann wahr, wenn es uns besonders schlecht geht, und wir glauben, dass wir wieder einmal dem Leben hilflos ausgeliefert sind. Nach schmerzhaften Trennungen beispielsweise, beim Verlust geliebter Menschen oder im Zusammenhang mit Krankheiten, zu denen auch Süchte zählen.

Ich spreche hier nicht nur von Menschen, die nicht von ihren Eltern gewollt waren und weggegeben wurden. Betroffen sind auch solche, die von ihren Eltern in Liebe und Freude empfangen wurden. Es ist das Gefühl, trotz aller Liebe und Fürsorge verlassen zu sein. Aus diesem Grundgefühl erwachsen Gedanken wie: »Egal was ich mache, es ist alles sinnlos, ich bin sowieso allein.«

Eine meiner Klientinnen, Paula, eine dreißigjährige Schauspielerin, trug seit ihrer Kindheit den tiefen Glauben in sich, ein schlimmes Mädchen zu sein. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie beschrieb es so: »Ich habe das Gefühl, dass ich etwas in mir habe, was ich verbergen muss und weswegen meine Eltern mich nicht lieben. Ich schäme mich dafür.« Je bewusster dieses Grundgefühl wahrgenommen wird, desto klarer kommt es zum Ausdruck. Und je häufiger dieses Gefühl beobachtet wird, desto leichter kann es sich zeigen und es verlieren sich der Schrecken und die Angst davor.