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Nr. 2669

 

Wettstreit der Konstrukteure

 

Er ist ein Poet und Kriegsversehrter – seine Bestimmung macht ihn zum überragenden Konstrukteur

 

Marc A. Herren

 

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In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1470 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5057 christlicher Zeitrechnung. Das heimatliche Solsystem ist vor mehr als drei Monaten spurlos von seinem angestammten Platz im Orionarm der Milchstraße verschwunden.

Damit die Liga Freier Terraner nicht ins Chaos sinkt, werden eine neue Regierung und ein neuer Zentralplanet gewählt. Neuer Erster Terraner wird Arun Joschannan – und er muss sich gegen die Infiltrationen durch die Truppen der negativen Superintelligenz QIN SHI zur Wehr setzen.

In der weit entfernten Galaxis Escalian, dem »Reich der Harmonie«, ist QIN SHI ebenfalls am Werk und versucht dort eine Invasion. TANEDRAR, die in Escalian heimische Superintelligenz, hat die Gefahr erkannt. Sie beauftragt den Terraner Alaska Saedelaere damit, ihr zu helfen.

Gemeinsam mit dem Zwergandroiden Eroin Blitzer begibt sich Alaska auf die Suche nach dem geheimnisvollen Konstrukteur Sholoubwa. Als er ihn endlich erreicht, wird er davongeschleudert – aber Blitzer kann noch die Lebensdaten Sholoubwas extrahieren. Am Anfang seiner Geschichte steht ein WETTSTREIT DER KONSTRUKTEURE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Cholaquin Port'aldonar – Der junge Mowener ist Herrscher und Beherrschter seiner Genialität.

Emhochzehn – Die Medodrohne zeigt sich ausbaufähig.

Husen – Der Kybernetiker forscht an den Robotern der Zukunft.

Alaska Saedelaere – Der Maskenträger erfährt von Sholoubwas Geburt.

Prolog

 

Du schleppst dich durch die Ebene. Ziehst das Konstrukt, auf dem der kleine Zwergandroide liegt, ein Schatten seiner selbst. Du hörst die mit zittriger Stimme vorgetragene Erklärung, wie er es geschafft hatte, Sholoubwas Wissen anzuzapfen.

Du hörst und ziehst und gehst.

Und blickst ab und zu auf das kleine schwarze Kästchen, das Eroin Blitzer in seinen Händen hält, siehst, wie sich sein verhutzeltes Gesicht verzieht vor Anstrengung, vor Schmerzen. Du fragst dich wie schon so oft, welche Überraschungen das Wesen noch bereithält. Der Androide, der so viel mehr ist als das Kunstwesen, das für eine einzige Aufgabe geschaffen worden ist.

Der dir ein Freund geworden ist, so seltsam dies auch klingen mag.

Du siehst das Holo, das vor dir entsteht, geschaffen durch die Kosmokratentechnologie, die in dem kleinen schwarzen Kästchen verbaut ist.

Und du siehst die ersten Bilder und begreifst, dass es eine Lebensgeschichte ist.

Du hörst und siehst und ziehst und gehst.

1.

Blut und Chrom

4235 NRG

 

Der Anblick hatte etwas Absurdes.

Cholaquin Port'aldonar blickte auf das breiige Rot, das einmal sein Bauch gewesen war.

Bei seinen vielen Studiengängen und Schulungen hatte er die Themen Medizin und Biologie stets gemieden. So wusste er nun nicht, welche Organe er gerade betrachtete, obwohl ihm das Benennen sinnvoll vorgekommen wäre.

Cholaquin schluckte mühsam, brachte es nicht fertig, den Blick von seinem Bauch zu nehmen. Die Eingeweide zuckten und ringelten sich, als wären sie eklige Lebewesen, die zuvor unter seiner Bauchdecke gehaust hatten und sich nun dampfend in den kühlen Morgen reckten.

Wie seltsam.

Genauso seltsam wie dieser im Grunde seiner Existenz unsinnige Krieg und diese Schlacht um einen strategisch unbedeutenden Planeten.

Nunngar würde in den Annalen der Mowener höchstens am Rande erwähnt werden, wenn ihn nicht beide Imperien als nationales Heiligtum beanspruchen würden. Sechs Standardjahre dauerte der Kampf um Nunngar bereits, der längst in einen erbarmungslosen Grabenkampf zerfallen war. Millionen junger Mowener und Orfenar hatten ihr Leben für eine Sache gegeben, die sie höchstwahrscheinlich nicht einmal im Ansatz begriffen.

Seltsam war auch der Zeitpunkt, an dem er sich darüber Gedanken machte: während er ebenso bemüht wie ungeschickt versuchte, mit schmutzstarrenden Fingern seine Eingeweide zusammenzuhalten.

Er kam aus gutem Hause, das Letzte, was er benötigt hatte, war der schmale Sold eines Reichskämpfers gewesen. Aber nein, der patriotische Rausch hatte ihn beseelt. Der entrüstete Widerstand des Vaters gegen seine Pläne hatte Cholaquin dazu bewogen, sich bei den Bodentruppen zu melden anstelle bei den Technikeinheiten, die ein nachgesagtes Junggenie wie ihn nur allzu gut hätten gebrauchen können.

Aber nein, er hatte sich und der Welt etwas beweisen müssen. Und nun lag er da und starrte auf seinen Bauch.

Der Irrsinn hatte drei Tage und Nächte gedauert. Das war zwei Tage und drei Nächte länger, als der überforderte Suhabwe-Kommandant vorausgeplant hatte.

Der Fehler war – wie Cholaquin rasch festgestellt hatte – durch einen simplen Kommunikationsfehler zwischen der Aufklärungs- und der Nachrichteneinheit zustande gekommen. Nicht knapp einhundert, sondern mehr als zehntausend Kämpfer der Orfenar hatten sie in der Stellung 87.456 überrascht. Denn bei diesem Kampfplatz hatte es sich mitnichten um ein Waffenlager gehandelt. Die Stellung 87.456 war nichts anderes gewesen als das geheime Haupt-Truppenlager der Orfenar auf Nunngar.

Mit ihrem Kommandounternehmen hatten Cholaquin und seine Kameraden buchstäblich in ein Karr-Nest gestochen. Aber das hatten sie erst bemerkt, als sie die Wachen überrumpelt hatten und mitten in der unterirdischen Anlage standen.

Als Ersten hatte es ausgerechnet ihren Suhabwe-Kommandanten erwischt. Der Mann hatte unter den Rangabzeichen den Intellekt einer Zimmerpflanze verborgen gehalten, sodass Cholaquin sich nie die Zeit genommen hatte, auch nur seinen Namen zu memorieren.

Als er von einem blitzartig reagierenden Orfenar mit einer Explosivwaffe getötet wurde, zerfiel die Suhabwe mit ihren exakt 144 Kämpfern in die Einzelteile.

Die einen hatten sich sofort in die Kämpfe gestürzt und innerhalb weniger Dutzend Atemzüge ein Viertel ihrer Munition verschwendet. Die einzelnen Zugführer hatten daraufhin versucht, einen gemeinsamen Plan zu entwickeln, aber die Dynamik der sich ausweitenden Schlacht hatte ihre Pläne schneller zunichtegemacht, als dass sie Befehle an ihre Untergebenen hatten weitergeben können.

In den chaotischen Szenen hatte niemand bemerkt, wie Cholaquin ihren Zugführer mit einem gezielten Schuss aus dem Elektroschocker handlungsunfähig machte. Er übernahm das Kommando über seinen Zug und befahl ein Rückzugsgefecht. Sobald sie den nächstgelegenen Ausstieg erreichten, forderte er Luftunterstützung an. Es dauerte nicht lange, bis die Kriegsbarken eintrafen und die ebenfalls in Stellung gefahrenen Bodenpanzer der Orfenar mit Brandteppichen zudeckten.

Ab diesem Zeitpunkt zersplitterten Cholaquins Erinnerungen zu unzähligen Fragmenten. Jedes für sich gestochen scharf, aber ungeordnet und chaotisch wie die sich ständig verändernden Muster in einem Kaleidoskop.

Er sah Hunderte, nein, Tausende von Kriegern, die durch die Ausstiege an die Oberfläche krabbelten wie Käfer bei einem Kontinentalbeben. Mowener, Orfenar, alles wild durcheinander, sich gegenseitig helfend oder erschießend.

Im Untergrund gingen die Bomben hoch, die seine Leute gezündet hatten. Sie rissen kegelförmige Krater in den Boden, verschlangen Kämpfer, die sich erst gerade mühsam gerettet hatten.

Schreie. Blut, das sich über das Chrom der kugelförmigen Kampfdrohnen ergoss.

Und noch mehr Schreie. Tausendfacher Tod.

Die leer geschossene Waffe, die er achtlos fallen ließ. An ihrer Stelle riss er eine Laserlanze aus den Händen eines toten Orfenar.

Das Loch, das er mit seinem Schanzwerkzeug in der ersten Nacht in den Boden trieb, um vor den Wärmebildgeräten der Gegner geschützt zu sein.

Die eisige Kälte, die ihn ergriff, während er in einen unruhigen Halbschlaf fiel. Die Erschütterungen, die ihn immer wieder hochschrecken ließen.

Das furchtbare Gefühl des Eingesperrtseins in absoluter Dunkelheit.

Der Durst, die Angst, der erwachende Hass auf beide Seiten dieses unsinnigen Krieges.

Der zweite Tag. Ein junger Mowener, der ihn aus dem Loch zog, das ihm beinahe zur Todesfalle geworden war, als er seine Beine nicht mehr bewegen konnte.

Chiwa'oko hatte er sich genannt. Oder Scivaolo, es hatte ihn im Grunde nicht interessiert. Der Junge hatte ihm sein Wasser und von seinen Energieriegeln gegeben, bevor er von einem scheinbar gefallenen Orfenar für seine Leichtfertigkeit bestraft wurde und mit zerborstenen Knien und eingeschlagenem Schädel vor Cholaquins Füßen starb.

Wie er den Orfenar getötet hatte, wusste er nicht mehr. Es waren so viele zu töten gewesen in den letzten Tagen. Das Blut der Toten hatte sie in seiner Erinnerung zusammengebacken wie zerstückelte Dwingos in einem Ofentopf.

Dann die zweite Nacht, bei der er sich nicht mehr eingegraben hatte, sondern in einem Schützengraben unter mehreren Leichen Schutz gesucht hatte.

Keine Albträume in der zweiten Nacht. Kein Hochschrecken. Als hätte sich sein Geist komplett abgeschaltet. Er fühlte sich wie tot, als er zu sich kam. Der Tag brachte keine Erholung, keine Ruhe. Das Kampfgebiet hatte sich über das gesamte Planquadrat ausgebreitet.

Manchmal suchte er Schutz vor anfliegenden Luftpanzern der Orfenar, manchmal auch nicht. Einmal winkten ihm drei Mowener – eine Frau und zwei Männer – von einer gelandeten Kriegsbarke aus zu.

Vielleicht war es nur ein Traumbild gewesen, das ihn getäuscht hatte. Auf jeden Fall hatte er sich irgendwann später in der Nacht wiedergefunden. Er suchte keinen Schutz mehr, lag einfach nur da, während in seinem Kopf Verszeile um Verszeile entstand und ihm wieder entglitt.

Irgendwann hatte die Sonne ihren Platz im Himmelszelt zurückerkämpft und er sich mit letzter Kraft auf eine Hügelkuppe geschleppt, als ein dunkles Etwas auf ihn zugeflogen kam.

Wahrscheinlich hatte er die Arme in die Höhe gerissen. Er wusste es nicht mehr. Aber er erinnerte sich an den furchtbaren Schlag und den Knall in den Ohren und den Geruch nach gebratenem Fleisch.

Dann – und erst dann – war der Schleier gerissen, der seine Wirklichkeit überlagert hatte, die Klarheit zurückgekehrt. Die Kaleidoskopsplitter fügten sich zu einem stimmigen Bild zusammen. Er hörte wieder die Schreie der Verwundeten, das Rattern der Artilleriegeschütze, spürte die Druckwellen von Explosionen, roch den unglaublichen Gestank, der sich über das Kampfgebiet gelegt hatte wie ein altes ungewaschenes Handtuch.

Cholaquin Port'aldonar zwang sich, den Blick von seinen dampfenden Eingeweiden zu nehmen und den Kopf zu recken. Nach links, nach rechts.

Wenn er sich nicht täuschte, lag er nicht so weit von der Stelle entfernt, von der aus sie vor drei Tagen den Stützpunkt der Orfenar erstürmt hatten.

Bin ich drei Tage lang nur im Kreis gegangen?, fragte er sich. Habe ich all dies wirklich erlebt, oder waren es nur Fieberphantastereien?

Er erinnerte sich an Verszeilen in der Nacht.

An Worte, die seine gepeinigte Seele gewärmt und den Hass gekühlt hatten. Die sein Leben auf wunderbare Art und Weise verlängert hatten, die zu diesem Zeitpunkt aber nicht ahnen konnten, dass das Schicksal mit seinem Bauch und ihm andere Pläne hatte.

Wenige Schritte neben Cholaquin schlug etwas in den Boden und zerbarst mit ohrenbetäubendem Knall. Steine und Dreck regneten auf ihn mit seinem offenen Bauch herab. Er lachte, weil er kurz überlegt hatte, ob er Gefahr liefe, an einer Blutvergiftung zu sterben.

Es wäre sein einziges, verdammtes Glück, wenn er tatsächlich einmal auch nur in die Nähe einer Blutvergiftung geraten würde. Denn so schnell, wie das Blut gerade aus seinem Körper lief, würde schon bald kein Tropfen mehr davon übrig sein.

»Und wenn ich gehen muss, dann nur ins Licht und nicht in die Dunkelheit«, murmelte er müde. »Denn das Licht ist Wissen, ist Größe, ist Macht. Die Dunkelheit hingegen ist das Vergessen, des Nichtseins ewige Tracht.«

Mit klammen Fingern griff er in seine Uniformjacke und zog das zerfledderte Exemplar von »Liebe in Zeiten des Überflusses« hervor. Vor wenigen Tagen hatte es noch druckfrisch ausgesehen.

Mit der Kraft seiner Worte hatte er den Mädchen der Kampfeinheit reihenweise weiche Knie beschert. Einige davon – insofern sie ihn optisch interessierten und nicht nur dem eigenen Geschlecht zugetan waren – hatten es ihm mit kurzen, heftigen Liebesakten vergütet.

Nun glich das Buch einem graublutroten aufgequollenen Etwas, das manchmal am Wegesrand lag. Getötetes Wild. Opfer der Industrialisierung.

Wie sagte man so schön? Das erste Opfer im Krieg war das Wort? Oder war der Krieg das letzte Opfer des Wortes? Cholaquin Port'aldonar verzog das Gesicht. Das Denken fiel ihm zunehmend schwerer.

Mit tränenverklebten Augen starrte er auf das Buch, das er selbst geschrieben hatte. Das Werk, das ihm 4231 nach Reichsgründung mit bloß achtzehn Jahren über den Heimatplaneten Mowen hinaus zu Berühmtheit verholfen hatte.

Mit dem Daumen seiner rechten Hand strich er zärtlich über die Figur, die auf dem Einband gerade noch zu erkennen war: die Nymphe Mowena, Inkarnation des mowischen Patriotismus.

Sein Versepos, in dem er die bedingungslose Hingabe an die Liebe zur Heimat zelebrierte, hatte eine ganze Generation inspiriert. Und das Letzte, das absolut Letzte, was er wissen wollte, war die Anzahl derer, die sich nach der Lektüre von »Liebe in Zeiten des Überflusses« bei den Heimatstreitkräften gemeldet hatten.

Hätte Cholaquin Port'aldonar an höhere Wesenheiten geglaubt, wäre es ihm vielleicht als gerechte Strafe vorgekommen, dass er im Begriff stand, zusammen mit seinem Versepos im Niemandsland eines unbedeutenden Planeten im Dreck zu verrecken.

So sah er nur die Parallelen und wunderte sich, während das Buch immer schwerer und seine Gedanken leerer wurden.

Einmal noch öffnete er die Augen, als ihm eine passende Verszeile einfiel. Aber er sah die Sinnlosigkeit seiner Bemühung ein und wehrte sich nicht mehr gegen die Dunkelheit.

 

*

 

Die medizinische Erste-Hilfe-Drohne M10 flog über der Anhöhe im ihr zugewiesenen Planquadrat. Körper um Körper scannte sie und verglich die Werte mit ihren Referenztabellen, teilte in Mowener, Orfenar und Söldner ein und bestimmte den Grad der Verletzung sowie die Wahrscheinlichkeit auf Heilung.

Nur bei Mowenern mit einer Heilungschance von über zehn Prozent wurde die Drohne aktiv. An diesem Tag war es noch nie der Fall gewesen.

Plötzlich kam sie zum Stillstand. Die Rechnereinheit identifizierte einen jungen Mowener mit einer zwölfprozentigen Heilungswahrscheinlichkeit.

M10 senkte ihren kugelförmigen Körper mit den Greif- und Medizinaltentakeln auf den Verletzten, stoppte die Blutungen mit Gewebeschaum, stabilisierte den Kreislauf und hob ihn hoch. Dabei entglitt dem Mowener ein Objekt und fiel auf den Boden.

Die Drohne ergriff das Objekt mit einem ihrer Arme, tastete es mit den optischen Sensoren ab. Die Rechnereinheit stufte das Objekt als »analogen Informationsträger auf teilorganischer Basis« ein. Und: »Begrifflichkeit in der Sprache der Mowener: Buch (kommerziell). Militärisch-strategische Bedeutung: keine«.

M10 ließ das Buch fallen, stabilisierte die Lage des Verletzten und beschleunigte ihre Schwebeeinheit auf den maximalen Faktor.

Regen setzte ein und wusch den Dreck und das Blut vom Einband. Zeichen für Zeichen kam der Name des Verfassers zum Vorschein.

Sholoubwa.

2.

Bogen und Pfeil

4236 NRG

 

Cholaquin Port'aldonar setzte sich kerzengerade in seinem Bett auf.

Ein furchtbarer Schmerz raste ihm durch den Unterleib. Schwärze flutete das spartanisch eingerichtete Zimmer im Lazarett von Zarim. Cholaquin hielt die Luft an, lauschte dem Hämmern des Blutes in seinen Ohren, konzentrierte sich auf die letzten Verszeilen aus Gesänge des Untergangs, an denen er gerade gefeilt hatte.

Aber der Gedanke an den soeben angekündigten Besucher verdrängte die Worte des Geistes, war stärker als der Schmerz, bohrender als die Selbstzweifel.

»Soll ich die Nervenbahnen dimmen?«, erkundigte sich M10.

»Untersteh dich!«

Die Mediziner hatten, um die Organe zu retten, neue Wege beschreiten müssen. Da sein Körper selbst nachgezüchtetes Eigengewebe größtenteils abstieß, hatten sie Lunge, Niere, Skovum, Terram und Leber mit halb organischen Zellgittern in Dutzenden von Operationen zusammengesetzt. Genäht, geklebt, teilweise sogar ineinander verschraubt.

Cholaquin Port'aldonar hatte die mowische Medizin verflucht, die in den vergangenen Jahrdutzenden kaum Fortschritte gemacht hatte. Selbst der verdammte Krieg mit seinen Millionen Opfern hatte offenbar nicht zu der Erkenntnis geführt, dass es beiden Seiten besser gehen würde, wenn mehr Forschungsgelder in die Medizin als in die Entwicklung neuer Waffensysteme gesteckt würden.

Lieber zwei Gegner zusätzlich töten als fünf eigene Soldaten heilen. So schien die Losung sowohl bei den Orfenar wie auch bei den Mowenern zu lauten.

Ein Thema, dem Cholaquin in den Gesängen des Untergangs ein ganzes Kapitel gewidmet hatte.

»Soll ich die Tür öffnen?«, fragte M10. »Martun ist eingetroffen.«

»Warte!«

Cholaquin wischte sich Schweiß aus dem Gesicht, strich das Krankenhemd glatt. Er wusste, dass er fürchterlich aussah, aber je weniger Angriffsfläche er ihm bot, desto kürzer würde der Besuch ausfallen. Nur keine endlosen Diskussionen, die hatte er in seiner Jugend nur zu oft gehabt.

»Martun sagt, dass er das Zimmer von der Direktion öffnen lassen wird, falls die Tür nicht sofort aufginge«, informierte ihn die alte Medodrohne.

Cholaquin atmete ein. »Lass ihn herein.«

Die Tür schob sich zur Seite, und er trat ein.

Der einzige Mowener, auf dessen Meinung Cholaquin Port'aldonar tatsächlich etwas gab, auch wenn er dies ihm gegenüber nie eingestanden hätte.

Martun ignorierte den Besuchersessel, baute sich wie ein Feldherr vor dem Bett auf. Er nahm sich Zeit, viel Zeit, erst das papierne Chaos in sich aufzunehmen, um danach den Blick auf ihn zu legen.

Minuten vergingen. Für Cholaquin dehnten sie sich zu Stunden.

Er versuchte in Martuns malvenfarbenen Augen zu lesen, aber wie immer verriet die Miene seines Gegenübers nichts von den Gedanken, die sich hinter der tief gefurchten Stirn abspielten.

Martun Port'aldonar war eine beeindruckende Erscheinung. Cholaquin hatte ihn über zwei Jahre nicht gesehen. Sein Vater schien zwar älter, aber keineswegs schwächer geworden zu sein. Hoch aufgerichtet stand er da, den Rücken gestreckt, die Schultern zurückgebogen, die kräftigen Arme über dem Brustkorb verschränkt.

Das Haar war zwar eine Spur spärlicher geworden, und auf der grafitgrauen Haut hatten sich zahlreiche neue Falten gebildet. Aber der Blick in seine Augen verriet Cholaquin, dass sein Erzeuger nichts an Kraft und Willen eingebüßt hatte.

Böse Zungen hatten behauptet, dass Martun Port'aldonars Erfolgsgeheimnis nur zu einem Drittel auf dem Genie und der Schaffenskraft als Konstrukteur beruhte. Zwei Drittel seines Industrieimperiums fußten auf seinem Charisma und seiner Überzeugungskraft.

Cholaquin gab den Stimmen uneingeschränkt recht. Aus diesem Grund waren Treffen wie dieses für Vater wie Sohn seit langer Zeit eine Tortur: Kein Raum war groß genug, damit ihre beiden Egos darin Platz hatten.

Cholaquin ärgerte sich, dass er dem Medoroboter nicht erlaubt hatte, seine Nervenbahnen zu dimmen. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft, dem prüfenden Blick des Vaters standzuhalten, während der Schmerz in seiner Bauchhöhle wütete, als tobten sich darin eine Schar Sowunratten aus.