Cover

Über dieses Buch

»Mein Markenzeichen ist meine ungeheure Neugier und meine Lust auf das Leben. Meine Leser sind davon stimuliert. An ihren Reaktionen merke ich, dass ich sie glücklich mache, und das ist ja schon etwas. Neulich wollte mir eine Leserin ein Kompliment machen, indem sie sagte, sie sei genauso verrückt wie ich. Ich bin nicht verrückt oder schrill, ich bin natürlich.« Den Beweis dafür liefert dieses Buch. Lotti Huber hat viel zu erzählen …

»Das Faszinosum liegt in ihrer Person, nicht in einer Rolle und deren Verkörperung.« (Frankfurter Rundschau)

Die Autorin

Lotti Huber, am 16. Oktober 1912 als Tochter großbürgerlicher jüdischer Eltern in Kiel geboren, wollte immer zur Bühne, zum Theater. Aber die Nazis schickten sie ins KZ. Sie wurde freigekauft, ging nach Palästina und Ägypten, tanzte in Nachtklubs, heiratete einen englischen Offizier, ging dann nach Zypern, wo sie ein Restaurant eröffnete, nach 1945 mit ihrem zweiten Mann nach London und Anfang der 1960er-Jahre nach Berlin. Sie gab Englischunterricht, übersetzte Trivialliteratur, eröffnete eine Tanzschule, arbeitete als Filmstatistin, lernte Rosa von Praunheim kennen und wurde mit 75 Jahren ein Star. Ihre Autobiografie »Diese Zitrone hat noch viel Saft!« brachte ihr große Popularität. 1994 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Lotti Huber starb am 31. Mai 1998.

Lotti Huber
Jede Zeit ist meine Zeit

Gespräche

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Peter Süß

Edition diá

Inhalt

Erzählung

Lebensgier und Echtheit

Ich lebe einfach drauflos Über Narren, Tabus, Moral, Alter, Tod und Trauer

Ich will fasziniert sein, ich will hypnotisiert sein, ich will verzaubert sein Über Kunst

Gib mir eine Bewegung, die mich besoffen macht Über Tanz und Theater

Manchmal hätte ich Rosa wirklich abmurksen können Über Film, Erfolg, Mode und Egoismus

Bildteil

Im Grunde genommen bin ich sehr schüchtern und zurückhaltend Über Temperament, Schönheit, Jugend und Weisheit

Ich kenne keine Minderheiten, ich kenne nur Menschen Über Emanzipation, Homosexualität, Minderheiten, Religion und Seele

Liebe ist wie eine unvollendete Symphonie Über Liebe

Sex ist Kreativität, Entwicklung und Schöpfung Über Sexualität, Pornografie, Erotik und Lust

Impressum

Aún aprendo.

Noch immer lerne ich.

Francisco Goya

im Alter von achtzig Jahren

Ein Mann schleppt sich müden Schrittes die Landstraße entlang. Keuchend, nach Atem ringend, bleibt er stehen, dann bricht er zusammen unter der Last seines schweren Rucksackes.

Aus dem Morgennebel tritt eine Frau auf ihn zu: »Was hast du? Warum stehst du nicht auf?«

»Ich kann nicht«, stöhnt der Mann, »die Last meines Rucksackes erdrückt mich.«

»Dann lass ihn liegen, und geh weiter.«

»Das kann ich nicht«, jammert der Mann, »in ihm steckt mein Leben, meine Zeit.«

Die Frau schüttelt den Kopf: »Sieh nur, was du dir antust, wie du daliegst, nennst du das Leben? Öffne den Rucksack, und sieh dir deine Zeit an, deren Sklave du geworden bist.«

Der Mann tut, was ihm die Frau befiehlt. Der Rucksack ist voller Pakete, viele schon total zerfleddert, dennoch fest verschnürt. Mit einer großen Schere schneidet die Frau die Schnüre auf: »Schau, schau nur hin, was du mit dir herumschleppst! Lohnt sich diese Last?«

Da liegt es vor dem Mann: vergangenes, gewesenes, vergilbtes Leben. Der frische Morgenwind treibt den zerbröckelten Inhalt des Rucksacks vor sich her, weiter, immer weiter, bis er sich in der Ferne in Staub auflöst.

Der Mann erhebt sich, dehnt seine Schultern und merkt, wie sie breit und stark werden. Und setzt seinen Weg fort.

»Ja«, ruft die Frau, »geh nur – geh weiter! Es gibt noch viel für dich zu tun. Denn jede Zeit ist deine Zeit.«

Lebensgier und Echtheit

»Verrückte Alte.« »Schocker der Nation.« »Mutmacher der Nation.« Viele Klischees sind bemüht worden, ein fast achtzigjähriges Phänomen zu charakterisieren. Das graue Haar als wirre Löwenmähne offen getragen oder in einer verwegenen Konstruktion zu einem Turban aufgetürmt, Wimpern wie Krummsäbel, grellrot bemalte Lippen, die Hände heftig beringt bis zum Zeigefinger, wo der schwarze Topas funkelt; eingehüllt in fließende Stoffe, drapiert um den ein Meter fünfzig großen Körper, der immer in Bewegung scheint – so kennt man sie: Lotti Huber, gefragter Gast auf Bühnen und im Fernsehen und Everybody’s Talkshow-Darling, seit sie im Herbst 1990 mit Autobiografie, Film und Schallplatte zum multimedialen Sprung ansetzte.

Solchen Kometen ist in unserer schnelllebigen Zeit in der Regel nur ein kurzes Dasein beschieden, zumal Lotti Huber auf den ersten Blick wie ein Kunstprodukt anmutet. Analog zu Popgruppen, deren Protagonisten mitnichten selbst die Stimme zu erheben in der Lage sind; den Sternchen gleich, die, zusammenmontiert von Experten für Haar, Schminke und Kostüme, wie Barbiepuppen für ein paar Monate Gazetten und TV bevölkern, ehe man ihrer überdrüssig wird, scheint Lotti Huber die auf dem Reißbrett ersonnene und jetzt fleischgewordene Besetzung der Unterhaltungsmarkt-Nische »Meschugge Oma« zu sein.

Und so wittern Journalisten – zumal die kritischeren – die beflissenen Manager im Hintergrund, angetreten, Lotti Huber auf die Märkte zu treiben. »Frau Huber, waren Sie eigentlich immer so?«, fragen die Profis von Radio, Fernsehen und Printmedien, nach Widersprüchen in ihrer Biografie forschend. Worauf milder Spott sich über die Gesprächspartner ergießt: »Aber, Schätzchen, als ich in den Windeln lag, war ich natürlich nicht so. Es ist eine Frage der Entwicklung.«

Hier merken wir auf, ahnen den Unterschied zu den adretten, synthetischen Nichtskönnern. Lotti Huber hat nicht nur ein Leben gelebt, aus dem »man leicht hätte drei machen können«, wie eine Illustrierte schrieb, sondern sie entwickelt sich noch heute, ist nie stehen geblieben, lässt sich nach wie vor ein auf das Abenteuer Leben und das Abenteuer Mensch, mit großen, neugierig aufgerissenen Augen, die von Güte und Schalkhaftigkeit leuchten und denen nicht viel verborgen bleibt. Da ist nichts Künstliches – mit Ausnahme der langen schwarzen Wimpern, ohne die sie sich, sie gesteht es freimütig, »nackt vorkommt«.

Die Authentizität, mit der Lotti Huber ihr Lebenskonzept verkörpert – öffentliche und private Person sind eins –, mag der Grund sein, warum viele, Zwanzig- bis Achtzigjährige, durch Lotti Huber wieder Lust haben zu leben. Lust, zwanzig zu sein, Lust, achtzig zu sein.

Lotti Huber hat alle Höhen und Tiefen erlebt, gelebt, bis zur Neige ausgekostet. Unabänderlich Problematisches und Kopflastigkeit sind ihre Sache nicht. Erst der Bauch, dann der Kopf. Souverän, oft gepaart mit gut gelaunter Saloppheit, geht sie über die Schattenseiten ihrer Biografie hinweg. Nur durch ein gehöriges Maß an Unbekümmertheit, durch ungeheure Willens- und Kraftanstrengung hat sie vieles überstehen können. Aber Lotti Huber hat nicht nur überlebt, sondern das Leben an sich gerissen, spätestens seit ihrem Jahr im KZ.

Die Nazizeit, Überleben als Nachtklubtänzerin in Palästina, als Barbesitzerin in Zypern – Stationen einer außergewöhnlichen Existenz; glückliche Jahre in London und Berlin folgen, doch dann steht sie mit fast sechzig, nachdem ihr zweiter Mann gestorben ist, ohne Geld da und verbringt sieben Jahre in Kaufhäusern und Markthallen, hinter ihren Verkaufsständen Schnapsproben ausschenkend. Die alten Markthallen faszinieren sie, Orte, an denen sich das von der Gesellschaft abfällig Behandelte versammelt – Penner, karg berentete alte Frauen, die das Markttreiben betrachten, um so am Leben teilzuhaben.

Und die Penner waren ihre besten Kunden, haben Lotti Huber geliebt und wurden wiedergeliebt. Kaputte Füße, endlose Arbeitszeiten, die Chefs, für die nur nackte Verkaufszahlen entscheidend waren, das alles scherte sie wenig. Nicht gramgebeugt dasitzen, sondern das Leben zu nehmen wissen, Enttäuschungen, Trauer, Schmerz und Wut zum Trotze: Dafür steht Lotti Huber. Und jetzt im hohen Alter der späte Triumph. Fast wie eine Anleitung zum Glücklichsein lesen sich daher auch die in diesem Band versammelten Bekenntnisse.

Die Plauderei ist ihr Metier, hier kann sie sich austoben, und kaum ein Interviewer vermag die Fäden in der Hand zu behalten. In barockem Wortschwall erzählt sie uns was – über die Liebe, das Leben, die Lust und das Leid. Die Gespräche in diesem Buch – oder sollte man besser sagen: Monologe, die ab und an von einer Frage unterbrochen werden? – enthalten neben Kitschigem, zu dem sie steht – »Liebling, auch das Leben ist mitunter herrlich kitschig« –, ihre gesammelten Einsichten. Diese können keine abschließenden sein, da Lotti Huber, wissbegierig wie ein Kind, jeden Tag Neues erlebt und erlernt. Und wiewohl es um Kunst, Theater, Tanz, Mode, Erfolg, Liebe und Sexualität, um Tod und Trauer und einiges mehr geht, dreht es sich eigentlich immer nur um eins: um Lotti Huber und ihre Lebensgier.

Lotti Huber ist sperrig und passt mit ihren Ansichten in keine Schublade. Das Anarchische, Bizarre, Unbotmäßige, das nicht zu Disziplinierende, das sie neben ihren schauspielerischen Fähigkeiten zum »Star« gemacht hat, blitzt in den Interviews auf, macht vielfach die Faszination dieser Texte aus.

Solange wir Leute wie Lotti Huber haben, brauchen wir keine Angst vor der »Verhausschweinung« (Konrad Lorenz) des Menschen zu haben. Zu dieser drohenden Vision, dem Schrecklichsten, was der Menschheit widerfahren kann – nämlich aller Leidenschaften beraubt zu sein oder diese bestenfalls fein säuberlich im Lot zu halten, ein Leben ohne Skandale, Abenteuer oder Wagnisse, ohne jegliche Vitalität also –, liefert Lotti Huber noch mit achtundsiebzig das Gegenmodell.

Wir brauchen viele Lotti Huber, die als Künstler den Narren spielen; die als zeitgenössische Eulenspiegel der Gesellschaft hin und wieder eine Nase drehen aus ihrer Rolle des Außenseiters heraus – unberechenbar, nicht rechenschaftspflichtig, deren Wort man nicht auf die Goldwaage legen muss, die aber dennoch in ihrer wilden, ungeprägten Art uns immer wieder sagen: Seht her, es geht auch anders.

Das Sympathische an ihr ist, dass sie dieses Grenzgängertum nicht kalkuliert, sich dessen oft nicht einmal bewusst ist. Wird sie gefragt, warum sie so viele Tabus breche, weiß sie, ohne zu kokettieren, nichts Rechtes zu antworten: »Wieso, welche breche ich denn, nenn mir doch mal ein paar.«

Lotti Huber wird immer hemmungslos, unverdorben und echt bleiben, auch wenn der Tag kommt, da die Medien, die sich heute um sie reißen, in ihrer hastigen Suche nach dem Neuen, Aufsehenerregenden sie für »abgefrühstückt« halten, wie es im Zunftjargon heißt.

So können wir also beruhigt sein. Auch die Bewusstseinsindustrie wird es nicht schaffen, Lotti Huber zu domestizieren. Denn: Jedes Medium ist ihr Medium, jeder Ort ist ihr Ort, jede Zeit ist ihre Zeit.

Peter Süß im Juli 1991

Ich lebe einfach drauflos
Über Narren, Tabus, Moral, Alter, Tod und Trauer

Manche Leute nennen mich eine »ausgeflippte, närrische Alte«. Das ist natürlich Quatsch, aber ich bin gar nicht so unglücklich darüber. Der Narr als Persönlichkeit ist doch etwas Hochinteressantes. Wie ist der Narr entstanden? Der Narr ist eine tragische Figur, eine einsame Figur. Nimm den Narren in Leoncavallos Oper: »Lache, Bajazzo, schneide die tollsten Grimassen.«

Jeder Fürst hatte einen Hofnarren. Meist war er verwachsen, ein Zwerg, sodass die Leute schon von vornherein über ihn lachten. Um sich zu schützen, um nicht vollkommen der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein, wurde er witzig und lachte über sich selbst. Sein Narrentum war ein Schutz, ein Panzer wie bei einer Schildkröte, um überhaupt leben und existieren zu können. Unter diesem Närrischsein verbarg sich oft ein hochphilosophischer und sehr kluger Geist. Er brachte den Leuten seine Weisheit in komischer Form nahe und trat dann lachend ab. Hätte er sie ihnen todernst vermittelt, hätten sie ihn wahrscheinlich erschlagen. Aufgrund seiner augenzwinkernden Art sagten die Leute: »Gott, ist der komisch«, aber wer darüber nachdachte, hatte vielleicht doch das ein oder andere Aha-Erlebnis. Denk an Till Eulenspiegel, der den Menschen ständig in einem Spiegel ihre eigene Dummheit vor Augen gehalten hat. Das ist doch eine ganz großartige Figur voller Philosophie und Weisheit, wie es sie heute kaum noch gibt. Was da alljährlich beim Karneval in »Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht« passiert – was ist das denn eigentlich? Gut, es macht viele Menschen glücklich, aber ich finde, das Bizarre, das Hintergründige, das Tiefsinnige bleiben auf der Strecke: die Menschen berühren, sodass ihnen manchmal auch das Lachen erstirbt, weil sie nachdenken und dann merken: »Das war doch eigentlich gar nicht so komisch.« Das ist das Interessante bei einem Narren, und das ist etwas unglaublich Menschliches.

Lotti, sind Sie …

Sagen wir »du« zueinander. Das ist salopper, quicker und slicker. Ich finde das so herrlich im Englischen, das »you«. Da sagt man zur Queen »you« und zum größten Penner »you«. Damit ist das Problem gelöst. Bei uns tut man sich schwer. Sofort ist mit dem »Sie« eine Einordnung in ein bestimmtes Milieu, in eine gewisse soziale Stellung verbunden. Ich finde das nicht schön. Man könnte doch auch sagen: »Du, mein General«, das klingt doch ganz entzückend. »Du, mein bezaubernder Regisseur« und »Du, mein hinreißender Interviewer«.

Lotti, du, meine Gesprächspartnerin …

Wunderbar!

Bist du vielleicht eine Lebensnärrin? Und wenn ja, was ist dann deine Aufgabe?

Meine Aufgabe als Narr oder als Närrin, wenn du mich schon so nennst, sehe ich darin, mit meiner Fantasie, mit meiner Verspieltheit und mit meiner Unbekümmertheit – ein Narr muss all das haben – Menschen glücklich zu machen. Nachdem sie mich gesehen haben, sagen die Zuschauer: »Ich bin erleichtert. Ich trau mich zwar nicht, aber Lotti Huber zeigt mir, wie man es machen könnte.« Das ist eine ganz großartige Aufgabe. Der Narr ist eben nicht nur ein Vollidiot, der Purzelbäume schlägt und irgendwelchen Blödsinn von sich gibt. Der Narr ist eine soziale Notwendigkeit.

Der Narr sprengt, unter der Schutzmaske seines Narrentums, Normen und Tabus. Hast du in deinem Leben viele Tabus gebrochen?

Ich hab nie auf Tabus geachtet, ich kenn eigentlich gar keine Tabus. Deshalb brauche ich sie nicht zu brechen. Ich lebe einfach drauflos.

Wie hat die Gesellschaft darauf reagiert?

Meine Gesellschaft, die Menschen, mit denen ich im Deutschland der dreißiger Jahre zu tun hatte, existierte nicht mehr, nachdem die Nazis die Macht übernommen hatten. Also bin ich hinausgeflogen in die Welt – ohne Gesellschaft. Das kann übrigens manchmal sehr erholsam sein.

Und die heutige Gesellschaft?

Wunderbar! Rosa von Praunheim stichelt immer, wenn er mich ärgern will: »Du, die Leute halten dich doch sowieso alle für verrückt.« Erst kann er mich nicht verrückt genug kriegen, und dann wirft er mir solche Liebenswürdigkeiten an den Kopf – das ist eben sein Stil. Aber er hat unrecht: Junge Menschen kommen zu mir, und ich erhalte entzückende Fan-Briefe. Ein Siebzehnjähriger, der mich in einer Performance gesehen hatte, schrieb mir: »Ich liebe dich. Dein Parfüm ist noch immer in meinen Nüstern.« Ist das nicht reizend? Viele Jüngere sagen mir: »Du machst mir Mut, alt zu werden. Wenn man so alt werden kann, dann habe ich keine Angst mehr davor.« Und ältere Menschen kommen zu mir und versichern mir, ich gäbe ihnen Mut: Mut, sich zu schminken; Mut, nicht immer diese blöden Krokodiltäschchen zu tragen; Mut, nicht mehr diese fürchterlichen Kleidchen anzuziehen; Mut, mal etwas anderes zu machen. Das beglückt mich. Ich bekomme natürlich auch ganz andere Reaktionen. Morgens um sieben klingelte einmal das Telefon, und eine krächzende alte Frauenstimme fragte: »Wo bleibt die Würde des Alters?« – »Die wohnt nicht bei mir«, hab ich geantwortet, »weeß ick nich.«

Kommt dir nicht doch die Gesellschaft manchmal zu nahe? So nah, dass sie dich vielleicht ärgert?

Mich ärgert die Gesellschaft überhaupt nicht, weil ich keine Notiz von ihr nehme. Ich brauche »die Gesellschaft« eigentlich gar nicht, deshalb kann sie mich nicht ärgern. Außerdem sind die meisten Menschen entzückend. Ich hab mit meinem ersten Buch – ich bin richtig erstaunt darüber – sogar Erfolg in den Schichten, die man »Establishment« nennt. Wahrscheinlich spreche ich Dinge aus, von denen andere nur träumen.

Du hast ein Leben gelebt, das immer unabhängig von allen gängigen Tabus war …

Ja, aber was sind denn »gängige Tabus«? Nenn mir doch mal ein paar!

Zum Beispiel: Du bist jetzt achtundsiebzig und immer noch nicht diese abgehobene Großmutter, die häkelt und Socken stopft …

(entrüstet) Aber, hör mal!

… sondern eine sehr lebendige Frau, die alles genießt. Ist das wirklich so, oder spielst du das nur?

Wenn ich nur spielen würde, wäre es ja nicht echt! Das ist doch lächerlich. Und außerdem: Diese Großmütter, wie du sie nennst, werden in ein Klischee reingesteckt und bleiben da hängen, weil sie sich nicht trauen, etwas selbstständig zu machen. Das ist alles. Ich bin nie in dieses Klischee reingehüpft, und ich habe den Leuten nie eine Gelegenheit gegeben, mich da reinzustecken.

Was waren die wichtigsten Erlebnisse in deinem Leben?

Also: Das größte Erlebnis für eine Frau ist natürlich erst mal, eine Frau zu werden. Das hab ich genossen.

Du meinst den ganz konkreten Akt?

Wie du das sagst, so mit tierischem Ernst: »den ganz konkreten Akt« (lacht). Also, pass mal auf, das ist doch etwas Prägendes für eine Frau. Und ich habe es ausgekostet. Da war ich siebzehn, und das war das richtige Alter. Ich besaß die nötige Reife, es wirklich zu genießen.

Der Einschnitt in meiner Jugend war, dass diese bürgerliche Gesellschaft, in der ich gelebt habe, zusammengebrochen ist. Ich war allein – auf mich selbst angewiesen. Meine Werte konnte ich mir nur aus meinem Bauch, aus mir selbst holen, von niemand anderem. Und das war gut, das war wunderbar.

Du warst nie eine Kostverächterin, gerade in Bezug auf Männer.

Du sagst es!

Ist das so geblieben?

Also, weißt du, wenn man achtundsiebzig ist, dann beruhigt man sich ein bisschen. Das ist eine Frage der Hormone (lacht).

Es ist für dich also keine Frage des Alters, ob man etwas macht oder nicht, auch wenn es unschicklich ist oder als unmoralisch gilt …

Ach, Unsinn. Wenn mein Körper – mein Körper und ich sind sehr befreundet, musst du wissen – Nein sagt, dann halte ich mich dran. Ich hab früher gesoffen, und eines Tages – ich hatte mir gerade einen doppelten Whisky eingegossen – sagte mein Körper, nee, schmeckt mir nicht mehr. Und da sagte ich, okay, wenn du nicht willst, Schatz, dann lassen wir’s. Und genauso war’s in der Liebe, mit den Trieben. Die Hormone wollen nicht mehr so, was aber nicht heißt, dass man jemanden nicht erotisch finden könnte. Weißt du, dich find ich zum Beispiel unheimlich attraktiv (lacht). Aber die Sexualität, also wie der Bulle mit der Kuh und so weiter, das ist es nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei.

Tabus haben ja viel mit geltenden Moralvorstellungen zu tun.

Moral? Ich hasse dieses Wort. »Moral«, das hört sich so warnend an.

Im Lexikon steht, Moral sei das sittliche Verhalten, die Lehre von den Sitten.

Ja, innerhalb der Moral mag das alles stimmen. Aber eine Moral verändert sich im Laufe der Jahrhunderte, das ist das Interessante. Was gestern unmoralisch war, ist heute eine selbstverständliche Umgangsform. Moral ist abhängig von der Zeit, vom Zeitgeist und von der Gesellschaft. Leute machen sie abhängig, und das ist schlecht. Genau wie das Christentum sie benutzt, um Power, um Macht zu haben. Die Moral müsste unabhängig davon sein. Die Moral wird vergewaltigt. Viele, die das Wort »Moral« im Munde führen, benutzen es nur als Mittel, um zu herrschen. Wer bestimmt, was Moral ist? Der Staat – Moral ist nämlich auch Politik – und die Kirchen. Der Koran fordert eine ganz andere Moral als die katholische Kirche. Und die jüdische Moral ist wieder eine andere.

Aber es gibt eine Moral, die übernational, überstaatlich ist, die quer durch die Menschheit geht. Eigentlich sind das die Gesetze von Herrn Mose. Und die sind ewig. »Die Moral«, das heißt die lebenserhaltenden Sittengesetze, wie man miteinander umzugehen hat, das sind die Zehn Gebote. Was man ansonsten als »Moral« bezeichnet, verändert sich. Diese großen Gesetze des Lebens finden wir mehr oder weniger in jeder Religion wieder, und auch unsere Rechtsprechung geht letztlich auf die Zehn Gebote zurück. Die Moral soll eine Gesellschaft zusammenhalten. Die Moral schafft eine gewisse Ordnung, damit nicht alles chaotisch durcheinanderläuft.

Hat Würde etwas mit Moral zu tun?

Nein, denn ein Mann, der Würde ausstrahlt, kann sehr unmoralisch sein.

Wer bestimmt deine Moral?

Ich selbst und sonst keiner! Das ist so, wie es ist, schlicht und ergreifend. Meine Moral deckt sich meist mit den Zehn Geboten.

Ist es möglich, dass jeder seine eigene Moral hat?

Ja, sicher ist das möglich. Dadurch können große Katastrophen entstehen.

In der Praxis ist es mit der Moral oft eine schwierige Sache. Wenn jemand sich zum Beispiel verliebt in einen Mann oder eine Frau, die mit dem besten Freund oder der besten Freundin zusammenlebt, was machst du dann mit deiner Moral?

Ich würde die Moral da raushalten. Denn das Gebot, du sollst nicht begehren deines Nächsten … das gehört für mich nicht zu den Grundgesetzen. Ich muss mich also korrigieren: Meine Grundgesetze beschränken sich auf: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht lügen.

Aber du willst den anderen doch nicht verletzen?

Richtig – soweit das überhaupt möglich ist. Da hänge ich vielleicht einer Illusion nach oder bin einfach weltfremd. Manchmal verletze ich einen Menschen tief, ohne dass ich es verhindern kann. Sagen wir einmal, theoretisch, jemand hätte sich unsterblich in mich verliebt. Ich empfinde aber überhaupt nichts für ihn und weise ihn ab. Er stürzt sich vor lauter Liebeskummer aus dem Fenster, dann habe ich ihn aber doll verletzt, oder was? Was dann? Wo fängt das Verletzen an? Wo hört es auf? Und was ist überhaupt »verletzen«? Wo liegt die Verantwortung für einen anderen Menschen? So einfach ist das nicht.

Was ist unmoralisch für dich?

Unmoralisch war für mich das Hitler-Regime. Unmoralisch ist Saddam Hussein. Unmoralisch sind die Diktatoren. Unmoralisch sind menschenverachtende Handlungen.

Liebe Lotti, du bist ja eine schon etwas ältere Dame …

Das hast du aber sehr schön gesagt!