Nachwort des Verlages

In dem 2008 erschienen Essay „Kontinent der Gewalt, Europas langer Weg zum Frieden“ zitiert James J. Sheehan aus den Gedanken eines russischen Generals über die Ursache, die sein Land den Angriff der deutschen Kriegsmaschinerie überleben half: „Die Nazi-Ideologie und das diktatorische Regime des Dritten Reiches war den westlichen bürgerlichen Demokratien (zunächst militärisch, d. V.) überlegen, aber im Osten traf es auf ein ähnliches, vielleicht noch besser organisiertes Regime und diese Feuerprobe bestand der Faschismus nicht.” [James J. Sheehan, Kontinent der Gewalt, München 2008, S. 168] Sheehan charakterisiert das oft barbarische Verhalten der deutschen und sowjetischen Kriegsführung als ähnlich „durch ähnliche Terrorinstrumente – Denunziationen, Geheimpolizei und Konzentrationslager“ erzwungen und entsprechend wirkungsvoll.

Welchen Preis hat die junge, mit der russischen Oktoberrevolution so hoffnungsvoll begonnene neue Gesellschaft schon vorher dafür bezahlen müssen? Am Ende verlor das sowjetische Projekt seine Existenz. Die Debatte um den Verlust dieser Chance wird in hundert Jahren nicht zu Ende sein. Es bleibt deswegen wichtig, jede Facette der Geschichte öffentlich zu beleuchten.

Natürlich wirken die von Horst Steigleder beschriebenen Schicksale von 34 Militärs der Rotbannerflotte verschwindend angesichts 22.705 sowjetischer Offiziere, deren Schicksal nach der terroristischen Erneuerung der Armee ungeklärt blieb und die sehr wahrscheinlich alle zu Tode gebracht wurden.

„Vor dem Hintergrund der numerischen Verstärkung und technischen Aufrüstung der Streitkräfte seit 1934, der ideologisch-politischen Konfrontation mit der kapitalistischen und vor allem der faschistischen Außenwelt, der offensichtlichen deutschen Aggressivität, des japanischen Eroberungszuges in China und fraglos nicht nur eingebildeter wachsender internationaler Spannungen bleibt es nach wie vor unbegreiflich, warum der Diktator es für möglich und nötig hielt, die Armee nachgerade zu enthaupten.“ [Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991, München 1998, S. 474]

Bei der Analyse des Zustands der nachzaristischen Gesellschaft dieser Zeit, besonders im russischen Kerngebiet, kommt nur weiter, wer strikt und ständig zwischen der Ergebenheit der neuen sowjetischen Eliten gegenüber Stalin und ihrer grundsätzlicher Loyalität zur neuen Gesellschaft unterscheidet. Das gilt besonders bei einem Urteil über die Anfang der 30er Jahre sogenannten alten Generäle. Sie waren an Lebensjahren noch sehr jung, aber als erfolgreiche Militärs hungernder Truppen im Bürgerkrieg „Helden“, persönlich oft nichtautoritäre Typen und diskussionsfreudige Bolschewiki schon vor der Revolution 1917; solche wie etwa Masljakow, Kommandeur der 1. Brigade der 4. Division von Budjonnys Reiterarmee, der noch 1965 in einer DDR-Ausgabe von Isaak Babels „Die Reiterarmee“ in einer Anmerkung als „ein eigenmächtiger, unbesonnener Draufgänger, der später die Sowjetmacht verriet“, qualifiziert wurde. [Isaak Babel, Erste Hilfe, Sämtliche Erzählungen, Berlin 1965, S. 222]

Dass es um die Vernichtung solcher sozialer Identitäten ging, wurde spätestens im „Zweiten Moskauer Prozess“ 1937 gegen Karl Radek u. a. deutlich. In diesem Verfahren fielen scheinbar beiläufig die Namen von V. K. Putna und M. N. Tuchacevskij. Beide waren weithin bekannte und fähige Offiziere. Tuchacevskij zudem war international als Theoretiker und marxistischer Interpret der Ideen des Carl von Clausewitz anerkannt. [Olaf Rose, Carl von Clausewitz, Wirkungsgeschichte seines Werkes in Rußland und der Sowjetunion, München 1995, S. 168]

Abschließend muss noch auf den traurigen Umstand aufmerksam gemacht werden, dass in der von dem langjährigen Oberbefehlshaber der sowjetischen Seekriegsflotte, Sergej G. Gorschkow, verfassten und kriegstheoretisch immer noch wichtigen Arbeit „Die Seemacht des Staates“ [Sergej G. Gorschkow, Die Seemacht des Staates, Berlin/DDR 1978] wie auch in der für die westliche Klientel abgespeckten Version „Seemacht Sowjetunion“ [Sergej G. Gorschkow, herausgegeben von Eckhardt Opitz, Seemacht Sowjetunion, Hamburg 1978] keine zehn Zeilen über das blutige, nicht durch Krieg bedingte politische Opfer der Marineoffiziere enthalten sind. Dem leistete mit diesem Buch Horst Steigleder Abhilfe.

Christoph Speier

Horst Steigleder

Stalins Terror und
die Rote Flotte

Schicksale sowjetischer Admirale
1936 - 1953

Mit 110 Abbildungen

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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1. Auflage 2009

Copyright © 2009 by Ingo Koch Verlag, Rostock

Satz und Einbandgestaltung: GAMB / Manfred Baierl
Original gesetzt aus der 9,1/12,7 Punkt Stone Serif


ISBN 978-3-938686-90-4 (PRINT)    

ISBN 978-3-86436-035-0 (EPUB)

ISBN 978-3-86436-041-1 (MOBI)  

ISBN 978-3-86436-036-7 (PDF)


Vorwort

Das Buch will einem interessierten Leserkreis die Lebensbilder von vierunddreißig Persönlichkeiten bekannt machen, die in der Geschichte der sowjetischen Seekriegsflotte eine maßgebliche Rolle spielten. Alle wirkten für eine kürzere oder längere Zeit in einem Gesellschaftssystem, das sich in mancher Hinsicht in ein sozialistisches, humanes Erscheinungsbild kleidete, jedoch in Wirklichkeit von einem skrupellosen Diktator wie Stalin und willigen Helfershelfern beherrscht wurde. Die Schicksale der vorgestellten Persönlichkeiten waren ob ihrer exponierten Stellung im Staat und in den Streitkräften mit ihrem obersten Dienstherrn eng verbunden. Für einige von ihnen endete dies tragisch. Wir wissen heute, dass den sogenannten „Säuberungen“ vorsichtigen Angaben zufolge nicht weniger als 25 Millionen Menschen zum Opfer fielen und darin nicht die millionenfachen Verluste enthalten sind, die die ehemalige UdSSR am Ende der deutschen Okkupation zu beklagen hatte.

Neben der anfänglichen Beseitigung ehemaliger, Stalin im Wege stehender Mitkämpfer als „Parteifeinde“ zum Anfang der dreißiger Jahre waren es vor allem führende Persönlichkeiten der Streitkräfte, die als „Umstürzler“ gefürchtet wurden. Aus gesicherten Unterlagen geht hervor, dass ab Mitte bis Ende der dreißiger Jahre drei von fünf Marschällen, fast sämtliche Führungsspitzen der Sowjetflotte, sämtliche Befehlshaber der Militärbezirke, 13 von 15 Armeebefehlshabern, 50 von 57 Korpskommandeuren, 154 von 186 Divisionskommandeuren, sämtliche Politische Kommissare der Armeen, 25 von 28 Korpskommissaren, 58 von 64 Divisionskommissaren, sämtliche 11 Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung und 98 von 108 Mitgliedern des Obersten Militärrates der UdSSR entweder exekutiert wurden oder in Straflagern zugrunde gingen. Nur wenigen gelang es, den Häschern des NKWD zu entkommen, doch sie waren bis zum Ende ihres Lebens gezeichnet. Darüber hinaus wurden bis 1940 über 3.600 Offiziere der Land- und Luftstreitkräfte sowie 3.000 Marineoffiziere wegen „Unzuverlässigkeit“ entweder ganz oder zeitweilig aus den Streitkräften entfernt. Von Roy Medwedjew stammt der Ausspruch: „Keine Armee hat im Krieg je so viele höhere Offiziere verloren wie die Rote Armee in dieser Periode des Friedens.“

Die Beseitigung oder Kaltstellung einer solchen großen Anzahl erfahrener Führungskräfte faktisch im Vorfeld des deutschen Überfalls auf die UdSSR war ohne Zweifel eine der Ursachen für die anfänglichen, überraschenden Erfolge der Wehrmacht. Erst im Verlauf des Krieges konnte der Mangel nach schmerzhaften Erfahrungen behoben werden, als die von den „Alten“ erzogene nachgerückte Generation jüngerer Offiziere die nötige Erfahrung als Befehlshaber besaß. In den Seestreitkräften waren es jene Admirale, die aus der Jugendorganisation des „Komsomol“ in den zwanziger Jahren zur Flotte kamen, in der Regel aber bis zu Anfang des Krieges noch auf der Ebene eines Schiffskommandanten standen. Nunmehr wurden die meisten von ihnen zu Befehlshabern von Flotten und Flottillen oder wirkten in gleichgestellten Stäben. Auch dieser Personenkreis war selbst in Kriegszeiten nicht frei von stalinistischer Repression.

Die vorliegende Arbeit unterteilt sich in vier Abschnitte, die den unterschiedlichen Grad des unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhangs der vorgestellten Schicksale mit dem Wirken Stalins beschreiben. Ursprünglich war es die Absicht des Verfassers, dem Ganzen eine Art Kurzgeschichte der Sowjetflotte voranzustellen. Angesichts der Einbettung der Lebensgeschichten der Admirale in die geschichtlichen Abläufe wurde aber darauf verzichtet.

Mein Dank für das Zustandekommen der Arbeit gebührt Herrn Kapitän 2. Ranges J. K. Lugowoj aus dem Hauptstab der russischen Flotte in Moskau für die Unterstützung mit Informationen und Bildmaterial und Herrn Fregattenkapitän a. D. H. Eberhard Horn, ohne dessen Hilfe das Projekt nicht machbar gewesen wäre.

Horst Steigleder


Kapitel 1

Aufstieg und Ende der alten Garde

„Stalin führte den Begriff ‚Volksfeind‘ ein. Dieser Terminus befreite umgehend von der Notwendigkeit, die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Menschen, gegen die man polemisiert hatte, nachzuweisen; er erlaubte die Anwendung schrecklichster Repressionen, wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit, gegen jeden, der in irgend etwas mit Stalin nicht übereinstimmte, der nur gegnerischer Absichten verdächtigt, der einfach verleumdet wurde.

... Als hauptsächlicher und im Grunde genommen einziger Schuldbeweis wurde, entgegen allen Normen der heutigen Rechtslehre, das ‚Geständnis‘ der Verurteilten betrachtet, wobei dieses ‚Bekenntnis‘ – wie eine spätere Überprüfung ergab – durch physische Mittel der Beeinflussung des Angeklagten erreicht wurde.“

Aus der Geheimrede N. S. Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956