Es geschah in Sachsen …

Franziska Steinhauer: Katzmann und das verschwundene Kind (1918)

Uwe Schimunek: Katzmann und die Dämonen des Krieges (1920)

Jan Eik: Katzmann und das schweigende Dorf (1922)

Horst Bosetzky: Der schwarze Witwer (1924)

Uwe Schimunek: Mord auf der Messe (1926)

Katrin Ulbrich: Das Auge des Panthers (1928)

Weitere Titel sind in Vorbereitung

Uwe Schimunek, Leipziger Journalist und Autor, veröffentlichte vor allem Kurzprosa, bevor er 2011 mit «Katzmann und die Dämonen des Krieges» (in der Reihe «Es geschah in Sachsen») seinen ersten Kriminalroman verfasste. Er liest regelmäßig bei den jährlich stattfindenden Ostdeutschen Krimitagen und im Rahmen des Krimi-Kleinkunst-Programms «Killer-Kantate».

Originalausgabe

1. Auflage 2012

© 2012 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 9783955520540

cover

Uwe Schimunek

Mord auf
der Messe

Ein Katzmann-Krimi

Kriminalroman

Jaron Verlag

EINS
Sonnabend, 27. Februar 1926

WILL DER KERL STERBEN? Er kennt die Regeln: auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, Bericht erstatten, keine Fragen stellen, nicht umdrehen. Und bis eben lief alles wie immer. Er öffnete die Tür, setzte sich, zog den Umschlag aus der Tasche seines Smokings, blätterte die Scheine auf den Fahrersitz. Und nun … Klar, die Summe gefällt mir nicht. Aber das ist doch kein Grund für ihn, den Kopf herumzudrehen. Wenn er sich an die Regeln hält, wird nichts passieren. Ich bin kein Unmensch und gebe meinen Leuten eine zweite Chance. Noch nie musste jemand nach einem Fehler ausscheiden, jeder bekam eine angemessene Zeit zur Wiedergutmachung.

Er sitzt also da im Dämmergrau der Straßenbeleuchtung, zittert und sagt: «642, mehr war diesmal nicht drin.» Er spricht mit leichtem Dialekt. So, als sei er selbst wohlhabend und müsste nicht den feinen Herren das Bier bringen. Selbst wenn er wimmert, klingt er wie ein Snob, der Herr Ober.

Stille. Er guckt wieder nach vorn. Gut so. Er schnauft und sagt: «Die Krise. Die Gäste halten sich ewig an einem Getränk fest. Oft wird mit Kleingeld bezahlt. Alle kontrollieren die Rechnungen. Und Trinkgeld gibt es auch kaum noch.»

Ich höre mir die Leier an, überlege mir, ob er glaubt, mich damit beeindrucken zu können. Dabei ist die Sache doch klar, ich liefere erstklassige Ware zu einem festen Satz. Auf Kommission. Also, was gibt es da zu jammern?

Vorn auf dem Beifahrersitz hört der Wortschwall nicht auf – schwere Zeiten und so weiter und so fort. Meine Ohren stehen längst auf Durchgang, bis er sagt: «Können Sie die Beteiligung nicht etwas erhöhen?»

Ich muss die Worte erst einmal wirken lassen … Das ist eine Frage … Was bildet sich der Mann da vorn ein? Und dann will er mir nicht etwa mehr Geld geben, sondern weniger! Das kann nicht sein Ernst sein.

Ich greife zum Halfter, nehme den Schaft meiner Luger in die Hand. Mein Waffenschmied hat mir für das Modell einen zusätzlichen Schalldämpfer angefertigt, seitdem lässt sich die Waffe nicht mehr so flott ziehen. Andererseits muss ich mir damit keine Gedanken um den Lärm machen, kann meine empfindlichen Ohren schonen. Und auch Passanten, die draußen auf der dunklen Seitenstraße laufen, werden durch den Einsatz meiner Pistole nicht aus ihrem Alltag gerissen. Da nehme ich in Kauf, dass der Lauf vom Halfter unter der Achsel bis über den Gürtel hängt.

«Vielleicht müsste man die ganze Sache mal neu kalkulieren …»

Ich ziehe die Waffe, lege den Lauf auf meine linke Hand in den Schoß. Das Metall kühlt meine Handfläche, beruhigt mich. Nein, ich bin immer noch aufgebracht. Der Kerl da vorn muss doch merken, dass ich keine Lust auf sein Gerede habe. Andererseits, er arbeitet schon so lange für mich, da will ich seine Geschwätzigkeit nicht als Fehler zählen. Das ist einer dieser Momente, in denen ich meine Großherzigkeit fühle – zumindest für den Augenblick. Ein paar Minuten will ich ihm noch geben.

Aber dann sagt er: «Das geht so nicht weiter. Das verstehen Sie doch?»

Schon wieder eine Frage.

«Das müssen Sie doch einsehen, oder?» Beim letzten Wort dreht er seinen Kopf zur Rückbank. Guckt zu mir. Schaut mich mit seinen kleinen grauen Augen an, sieht mir direkt ins Gesicht.

Das geht zu weit. Ich hebe die Waffe. Der Lauf berührt beinahe die Stelle zwischen seinen Augenbrauen.

Sein Blick wird panisch. Die Augen scheinen von dem Lauf angezogen zu werden. Er schielt geradezu auf das schwarze Loch im Stahl und sagt: «Aber … nein.»

Jetzt fällt ihm also ein, dass er etwas falsch gemacht hat. Wieso konnte er nicht vorher zur Vernunft kommen? Nun ist der Moment vorbei, an dem das hier alles noch hätte gut enden können. Schade. Sehr schade.

«Nein, bitte …»

Das will ich nicht hören, dieses Gewimmer. Ohne jede Würde! Plopp. Welch erhabenes Geräusch meine Luger macht!

Der Kopf schnippt weg, schlägt mit einem «Plonk» gegen den Rahmen der Frontscheibe.

Dann Stille.

Ich schließe die Augen. Immer nach einem Schuss lehne ich mich einen Moment zurück. Auch dieses Mal genieße ich die Ruhe, das gute Gefühl, ein Problem beseitigt zu haben. Nein, ich schieße nicht gern – nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Aber nun, wo es geschehen ist, gönne ich mir einen Augenblick und überlege, wie sich aus dem Vorfall Kapital schlagen lässt. Vielleicht sollte ich meinen Leuten ein Zeichen senden. Ihnen mitteilen, dass Regeln gelten. Dann hätte der Tod des Kellners da vorn einen Sinn.

Ich öffne die Augen und schaue auf die Schweinerei an der Frontscheibe. Flüssigkeit läuft vom Dach in Richtung der Armaturen meines Automobils. Im Dunkel sieht der Blutbrei beinahe schwarz aus. Ein Klumpen fällt von der Scheibe, kurz darauf höre ich ein schmatzendes Geräusch … Mein schöner neuer Maybach. Hat mich ein Vermögen gekostet, der W3 … Und nun braucht der Wagen eine grundlegende Reinigung, den muss ich in unsere Werkstatt bringen lassen. Aber darüber mache ich mir später Gedanken.

Zuerst brauche ich eine Idee, wie ich die Leiche präsentieren kann, so dass meine Leute es schnell mitkriegen. Herumsprechen wird sich die Sache früher oder später von allein. Aber ein bisschen Tempo kann nicht schaden. Während der Frühjahrsmesse laufen unsere Geschäfte immer besonders gut, und die Messe steht unmittelbar bevor. Also scheint mir Eile geboten.

Ein Artikel in der Zeitung wäre nicht schlecht, ich muss nur sicherstellen, dass der Ober von einem der Schmierfinken gefunden wird. Ich gehe im Kopf die Blätter durch … Natürlich, die Zeitung von den Sozis hat ihre Redaktion um die Ecke, in der Tauchaer Straße – nur ein paar Meter von hier.

Ich ziehe die Taschenuhr aus der Weste: Kurz nach neun. Vielleicht sitzt heute, am Vorabend der Messe, sogar noch jemand in der Redaktion. Aber selbst wenn nicht, kommen die Kriminaler bestimmt alsbald vorbei und fragen, was die Leiche vor der Zentrale der Zeitung zu suchen hat. Ich sollte den Redakteuren noch eine Botschaft hinterlassen. Gerade bei den Sozis neigen die Schreiberlinge dazu, die wichtigen Dinge zu übersehen.

Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Bernadette La Belle stand am Bühnenrand und deutete einen Knicks an. Ihr Kleid hatte einen Schlitz von den Füßen fast bis zur Taille, und schon die kleinste Bewegung erlaubte einen Blick auf das rechte Bein. Die Bewegung dauerte nur einen Augenblick, aber eines wurde klar: Falls die Sängerin überhaupt Unterbekleidung trug, musste diese ausgesprochen knapp sein.

Das Publikum im Varietésaal des Krystall-Palastes feierte weiter, ein neuer Knicks, noch mehr Applaus und so weiter … Konrad Katzmann hörte auf zu klatschen. Bernadette La Belle begeisterte auch ihn, aber nach seinem Geschmack durfte sie nun weitersingen.

An die 1800 Menschen um ihn herum sahen das vorläufig anders. Das Klatschen wurde rhythmisch. Es schien fast, als wollten die Gäste selbst Teil der Vorführung sein, sich vielleicht als gemeinschaftliche Schlagwerker beim Orchester verdingen. Katzmann überlegte, ob das nicht peinlich wurde. Was musste die Frau da oben auf der Bühne denken? Wollte sie nicht ihr Programm fortführen? Oder bereitete ihr der Fanatismus von den Rängen Freude?

Ihr Blick verriet nichts, und das Lächeln konnte eine Frau, die ihre Abende seit Jahren auf der Bühne verbrachte, sicher nach Belieben auf den Mund zaubern.

Bernadette La Belle hob die Hand. Mit einer kurzen Verzögerung ebbte der Applaus ab. Das Lächeln verschwand. Stille.

Der Pianist drückte schwere Moll-Akkorde in die Tasten, nach ein paar Takten schummelten sich weitere Instrumente ins Lied. Es klang, als wollten die Musiker sich hinter ihren Instrumenten verstecken. Bernadette La Belle hob den Kopf und begann zu singen.

Die Sängerin hauchte die Strophe geradezu, Konrad Katzmann verstand Worte über Sehnsucht nach der Ferne. Seine Gedanken schweiften ab. Der Radius seiner Reisen beschränkte sich meist auf Sachsen. Da aber kam er viel herum. Es war das richtige Maß an Sesshaftigkeit – für sein derzeitiges Leben.

Der junge Mann neben ihm schien weitere Wege zu mögen. Heinz Eggebrecht war erst am Nachmittag aus Berlin angereist. In den letzten Jahren hatte er in seiner Korrespondenz von Reisen durch ganz Europa berichtet: Prag, Preßburg, Wien, Mailand, Rom, Paris … Konrad Katzmann konnte sich an die Briefmarken erinnern und daran, wie er sich wunderte, was aus dem Redaktionsstift geworden war.

Er sah hinüber. Eggebrechts Augen schienen Bernadette La Belle zu folgen, als gelte es, am nächsten Tage ein Abbild aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Der Blick des Photographen suchte offenbar nach Details, nach Blickwinkeln, aus denen die Persönlichkeit der Sängerin am besten abzulichten sein würde. Eggebrecht lehnte im Sessel, sein Gesicht zeigte dabei die Art von Gelassenheit, die Menschen durch jahrelange Erfahrung erlangten. Hier war aus der Berufung ein Beruf geworden.

Auch Katzmann sah abermals zur Bühne. Dort setzte Bernadette La Belle zur finalen Wiederholung des Refrains an. Sie hob die Arme, als wolle sie die Weite der Welt andeuten. Die Melodie sauste einen Ton höher als zuvor durch das Lied, Bernadette La Belle sang lauter. Dabei öffnete sie den Mund weiter, was ihre Lippen noch etwas voller aussehen ließ. Ein langer Ton – durch die Anspannung waren Muskeln unter den Wangen zu erahnen –, trotzdem blieben die Züge der Sängerin zart. Das Gesicht unter dem Bubikopfschnitt wirkte noch weiblicher. Das war keine Frau, die sich lange mit Strophen aufhalten sollte, fand Katzmann.

Das Lied endete, und für einen Augenblick herrschte in dem Saal eine Stille, dass sogar die Opfer der Februar-Erkältungswelle den Husten herunterschluckten.

Ein Knicks, und der Beifall setzte ein.

Katzmann klatschte mit und guckte zu Eggebrecht. Auch der schlug die Hände zusammen, ohne dass sein Gesicht den lauernden Ausdruck des Beobachters verloren hätte. Katzmann fühlte sich ein bisschen, als seien sie beide die Insel der Bedächtigkeit im Meer des Fanatismus. Dabei berührten ihn die Lieder und der Vortrag der Sängerin durchaus. Er verspürte nur nicht den Drang, das so extrovertiert zu äußern wie die anderen im Saal. Inzwischen wurde das Klatschen zunehmend von einem Johlen übertönt, es klang fast wie bei einer Sportveranstaltung.

Der Sängerin auf der Bühne gelang es dieses Mal kaum, die tosende Menge zu beruhigen. Das Heben der Hand reichte nicht. Erst als Bernadette La Belle den Zeigefinger der rechten Hand vor den Mund legte, ließ der Lärm auf den Rängen nach. Nach einem Augenblick führte sie die Finger zusammen und hauchte einen Luftkuss in den Saal – das Publikum jubelte.

Bernadette La Belle wiederholte dieses Spiel ein paar Mal. Stille, Beifall, Stille, Beifall. Vor allem die Männer im Publikum schienen Gefallen an der Sache zu finden. Der Lärm wurde mit jedem Durchlauf lauter.

«Komm, weg hier!» Eggebrecht schaffte es, die Worte in einem Moment der Ruhe mit Nachdruck zu flüstern. «Wer auf die Zugabe verzichtet, bekommt die besseren Plätze im Restaurant.»

Heinz Eggebrecht zündete sich eine Zigarette an und trank den letzten Schluck aus seinem Bierglas. Seit er in Restaurants wie diesem verkehrte, glitzerten die Gläser, als seien sie vor dem Ausschank frisch geschliffen, dafür dauerte das mit dem Nachschub ewig.

Die schicken Etablissements boten noch mehr Vorteile: So musste er nicht brüllen, wenn er seinem Gegenüber von den Erfolgen der letzten Jahre berichtete. Die anderen Gäste in der Bierstube im Krystall-Palast sprachen so leise, als gelte es, Geheimnisse vor den Ohren der Tischnachbarn zu bewahren. Und außerdem verhielt sich das Personal in so einem Lokal dezent, beinahe so, als wolle es mit der Einrichtung verschmelzen. Im Augenblick ging Eggebrecht die Unauffälligkeit allerdings zu weit, der Ober war in der ganzen Bierstube nicht zu sehen.

Auch Konrad Benno Katzmanns Durst schien für ein weiteres Bier zu reichen. Der Blick des Reporters sauste zwischen den leeren Biergläsern und dem Gastraum hin und her.

«Vielleicht sollten wir die nächste Runde von deiner Redaktion aus mit dem Fernsprecher bestellen …» Eggebrecht zuckte mit den Schultern, guckte zu Katzmann, der grinste nur. Davon kam natürlich kein neues Bier.

«Vielleicht holst du deine Ausrüstung, und wir machen ein Lichtbild hiervon», Katzmann hob sein leeres Glas wie einen Pokal in die Höhe, «und dann verkaufen wir es an eine Illustrierte mit dem Untertitel: Skandal – In Leipzig bleiben die Kehlen trocken!»

«Kann ich etwas für die Herren tun?» Der Ober stand neben dem Tisch, schaute auf Katzmanns Pose, als müsse er sich beherrschen, den Gast nicht zum Duell nach draußen zu bitten.

Der Mann war aus dem Nichts aufgetaucht und zum ersten Mal hier. Auf keinen Fall hatte er die erste Runde gebracht, da war sich Eggebrecht sicher. Er sagte: «Zwei Bier bitte. Und richten Sie Ihrem Kollegen die besten Grüße zum Feierabend aus.»

«Sehr wohl, der Herr.» Der Tonfall verriet keine Gefühlsregung, allerdings verschwand der Ober in einer Geschwindigkeit, die vermuten ließ, dass er keinen Wert auf Konversation an diesem Tische legte.

«Hui, der hat ja ’ne Laune.» Katzmann grinste, nahm seine Brille ab und putzte die Gläser mit einem Tuch aus der Jacketttasche.

«Na ja, eigentlich soll der nur für Bier sorgen. Und nicht für die Gesprächsthemen.»

«Stimmt … Also weiter im Text. Du bist jetzt ein erfolgreicher Photograph in Berlin. So erfolgreich, dass du mich in diesem Laden zum Bier einladen kannst …» Katzmann setzte die Brille wieder auf, zog ein Zigarettenetui aus der Tasche, bot Eggebrecht eine an. «Und … du bist wegen Bernadette La Belle in Leipzig?»

«Wegen der schönen Frau und wegen des großen Geldes.» Eggebrecht hatte den Spruch vorbereitet, zwei Bier lang auf die Frage gewartet. Er nahm die Zigarette und zündete sie an. Katzmann hob die Augenbrauen, wie jemand, der schon bessere Witze gehört hatte. Eggebrecht fuhr fort: «Ich mache für die Berliner Illustrierte Photos von Fräulein La Belle. Und wenn ich schon einmal hier bin, soll ich auch ein paar Impressionen von der Messe einfangen.»

«Die schöne Frau und die Messe. Die scheinen dich für eine Allzweckwaffe zu halten.» Auch Katzmann zündete sich eine Zigarette an. «An La Belle ist bei uns die Kultur dran. Aber auf die Messe können wir gern zusammen gehen. Der ganze Protz mitten in der Krise wird bei uns sehr kritisch verfolgt. Da können wir zusammen nach schillernden Figuren suchen.» Katzmann zwinkerte.

«Das ist eine gute Idee. Du kennst dich in Leipzig inzwischen besser aus.» Eggebrecht bemerkte erst jetzt, dass er nicht wusste, welchen Posten Katzmann derzeit bei der Leipziger Volkszeitung bekleidete. Er hatte den Reporter in den letzten Jahren nur einmal kurz bei einer Recherche an der polnischen Grenze gesehen. Da war Katzmann noch Dresdenkorrespondent. Ansonsten hatten sie per Post Kontakt gehalten, seit Eggebrecht kurz nach dem Kapp-Putsch sein Glück als Photograph in Berlin gesucht hatte. In Briefen berichtete er Katzmann von seinen beruflichen Erfolgen. In den Antworten ging es um Frauen und Kriminalfälle, beides über ganz Sachsen verteilt.

Eggebrecht fragte: «Hast du eigentlich eine Wohnung hier?»

«Souterrain. In der Querstraße, an der Kreuzung zur Dörrien-Straße und Gellert-Straße, gleich hier um die Ecke. Im Augenblick bin ich da zu Hause. Wenn ich nicht gerade unterwegs bin …»

Aha, der Herr ließ sich bitten. Also gut, Eggebrecht fragte nach: «Hat Leistner dich befördert?»

«Chefreporter. Eigener Fernsprecher. Teilnahme an der erweiterten Chefredaktionskonferenz. Wenn ich keine Termine auswärts habe.» Katzmann grinste, lehnte sich zurück, als habe er die Situation mit der Handvoll Wortfetzen umfassend beschrieben. Und in der Tat machte die Faktenparade Eindruck auf Eggebrecht. Ob er die Rede und die Pose danach genauso souverän hinbekommen hätte? Es war die kleine Geste, die den Reporter nicht wie einen Aufschneider wirken ließ, sondern wie einen, der seinen Titel trug, als wäre es ein maßgeschneiderter Anzug.

Kleine Gesten spielten in der Berliner Photographenszene keine herausragende Rolle, umso mehr fielen sie Eggebrecht auf. Aber gut, vielleicht konnte er Katzmanns Verhalten ja unter Provinzialität verbuchen … Nein, dafür erschien es zu gekonnt. Hier kam wieder der geborene Großbürger durch. Eggebrecht trank einen Schluck Bier.

«Wenn du willst, können wir rüber in die Redaktion gehen und auf die Termine in den nächsten Tagen schauen.» Katzmann hob sein Glas. «Das ist vielleicht besser, als hier an der Tränke zu verdursten.»

Auf der Tauchaer Straße wehte Konrad Katzmann die Kälte der Nacht in den Kragen. Am Februarhimmel leuchteten die Sterne. Die klaren Nächte waren so frostig wie die sonnigen Tage mild. Und diese Stille … Vom Gewimmel der Krystall-Palast-Besucher war schon ein paar Meter stadtauswärts kaum mehr etwas zu hören, auch die Kraftwagen schienen alle schon abgestellt zu sein. Sogar Eggebrecht sagte mal nichts, schritt stumm im Funzellicht der Laternen den Bürgersteig entlang. Sicher machten die Erinnerungen ihn andächtig. Katzmann kannte das Gefühl: Schon wenn er nach ein paar Monaten in die Dresdner Antonstadt zu seinem Haus zurückkehrte, hatte er den Eindruck, alle Gerüche und Geräusche kämen aus einem früheren Leben. Wie musste es Eggebrecht nach fünfeinhalb Jahren gehen! Immerhin führte das zu einer Pause im endlosen Gerede vom tollen Leben als Photograph in der weiten Welt.

Nein, Katzmann wollte nicht ungerecht sein, und er gönnte Eggebrecht seinen Erfolg. Und klar, der alte Freund durfte stolz sein, hatte den Weg vom Stift zum gemachten Mann aus eigener Kraft geschafft. Ohne Eltern, die ihm hier und da etwas zusteckten.

Andererseits musste Katzmann sich selbst weiß Gott nicht vorwerfen, dass er seine Karriere dem Vater zu verdanken hatte. Auf seinen Posten als Chefreporter der Leipziger Volkszeitung war er gegen den ausdrücklichen Wunsch des alten Reaktionärs gekommen. Und wenn er das Elternhaus in Dresden besuchte, gab es bis heute Streit um seinen Arbeitgeber. Dabei verdiente Katzmann sein Geld inzwischen seit fast acht Jahren bei der LVZ.

Acht Jahre, Wahnsinn! Vielleicht gingen ihm Eggebrechts große Worte deswegen auf die Nerven, weil er sich ertappt fühlte – dabei, es sich auf seinem Bureaustuhl bequem gemacht zu haben. Zwischen der Souterrain-Bude hier und dem Häuschen in der Antonstadt, zwischen den Einzelschicksalen in seinen Sozialreportagen, zwischen den Mädchen, die alle paar Jahre kamen und gingen.

Nein, eigentlich fand er diese Mischung ganz in Ordnung. Solange die Mädchen ihm zuliefen, wenn der Schmerz am größten war, solange er immer einen schönen Text schreiben konnte, wenn er im Alltag zu ersaufen drohte. Vielleicht war ihm einfach zu lange kein Mordfall mehr vors Notizbuch gekommen, dachte er und musste lächeln.

«Na, hörst du den Bureaustuhl rufen?» Eggebrecht schien genau wie er seine Bedächtigkeit abgeschüttelt zu haben und grinste ihn an.

«Das Bureau ist noch ein paar Meter hin. Noch kein Grund, derart in Freude auszubrechen!»

«Wird schon nichts mehr schiefgehen auf den letzten paar Metern.»

«Wenn wir gleich nach Terminen schauen … Wann steht ein berühmter Photograph eigentlich so auf?»

«Wie spät ist es jetzt?»

«Wie?» Katzmann guckte Eggebrecht an. Der hatte den Mantel und das Jackett geöffnet. Die Kette der Uhr funkelte an der Tasche der Weste. Vielleicht hatte er die Frage falsch verstanden.

«Meine Uhr ist stehengeblieben … Aber ich pflege, sechs Stunden, nachdem ich schlafen gegangen bin, aufzustehen …»

Der Herr «pflegt» also, dachte Katzmann. Das klang, als hätte sich Eggebrecht nicht nur neue Anzüge zugelegt. Der Reporter zog seine Uhr aus der Tasche und sagte: «Zehn nach halb elf.»

«Na, dann lass mich rechnen …» Eggebrecht zog beim Sprechen seine Taschenuhr auf. «Wir sitzen jetzt noch eine halbe Stunde rum, dann geht es zu meinen Eltern nach Lindenau … Also, wenn alles normal läuft, kann ich morgen gegen halb acht beim Frühstück sitzen und bin ab neun für jeden Spaß zu haben.»

Auf der linken Straßenseite tauchte das Haus 19–21 auf, die Toreinfahrt war vom Schein einer Laterne erleuchtet. Am Fuß der Laterne lag ein Müllsack. Ungewöhnlich für diese Gegend, dachte Katzmann, und dann noch direkt vor dem Bureauhaus. Oder war das wieder ein Gruß von rechten Witzbolden?

«Da vorn liegt ein Sack.» Eggebrecht zeigte auf den Müll. Er klang nicht entsetzt, eher wie einer, der die Wirkung eines Naturgesetzes konstatiert. Er hätte auch sagen können: «Das Ding ist nach unten gefallen.» Wahrscheinlich kamen an den Straßenrand geworfene Müllsäcke in Berlin öfter vor.

«Gott, verdamm mich!» Jetzt hörten sich die Worte an wie ein Ausruf der Empörung. Ganz so dreckig war Berlin vielleicht doch nicht. «Ein Kopp …»

Katzmann sah zum Sack. Je näher er kam, desto deutlicher zeichneten sich die Konturen im fahlen Laternenschein ab. Der Sack hatte nicht nur einen Kopf, sondern auch Arme, Beine, Lackschuhe … Die Gliedmaßen lagen ineinander verdreht, als habe jemand versucht, die Extremitäten zu verknoten. Wenn der Mann an dieser Stelle gestürzt war, dann musste er zuvor gymnastische Übungen durchgeführt haben – nicht besonders wahrscheinlich um diese Uhrzeit, dachte Katzmann.

«Wie liegt der denn rum?», fragte Eggebrecht.

«Sieht nicht gesund aus.»

Eggebrecht beugte sich über den Liegenden, hielt inne und griff dann einen Arm. Er hielt das Handgelenk ein paar Sekunden und sagte: «Kalt. Kein Puls. Tot.» Mit der Spitze seines Schuhs stieß er vor den Kopf – mit Vorsicht, als wolle er der Leiche das Haar nicht durcheinanderbringen. «Erschossen. Kleines Loch in der Stirn, großes im Hinterkopf.»

«Wieso liegt der gerade hier?»

Eggebrecht schien die Frage nicht zu hören. «Den kenn ich.»

«Direkt vor der Redaktion?»

«Unser Kellner.»

«Unser Kellner? Wie kommt denn der hierher?»

Eggebrecht inspizierte weiter den Leichnam. Er fragte: «Und was ist das hier für ein Zettel?»

Heinz Eggebrecht schaute auf die Uhr, es ging auf Mitternacht, und er stand neben einer Leiche. Der Wind pfiff durch die Tauchaer Straße, es klang, als würde ein Gespensterorchester gerade die Instrumente stimmen. Eggebrecht lief ein kalter Schauer über den Rücken. Nein, keine Albereien! Da lag ein toter Mann, der konnte ihm nichts antun. Ansonsten weit und breit nur leere Straßen, und die Polizei musste jeden Augenblick eintreffen.

Es war richtig, dass Katzmann allein ins Bureau gegangen war, um die Kriminaler anzurufen. So lag die Leiche hier unten nicht unbeobachtet herum. Und falls gefährliche Gestalten des Weges kamen, würde er einfach ins Redaktionsgebäude flüchten, Katzmann hatte extra die Tür zum Treppenaufgang in der Durchfahrt offen gelassen.

Nur, wo blieb Katzmann? Der war vor bestimmt zwanzig Minuten nach oben geeilt. So lange konnte der doch nicht mit der Polizei telephonieren …

Zeit totschlagen – irgendwann musste der Herr Redakteur wiederauftauchen. Eggebrecht guckte noch mal zum Zettel. Der klemmte unter der Fliege, es sah ein bisschen aus, als hätte ein wütender Gast dem Ober eine überhöhte Rechnung an den Hals genagelt.

Sollte er das Papier herausziehen und nachschauen? Die Polizei wäre davon sicher nicht begeistert. Andererseits mussten die nicht alles wissen …

Eggebrecht kniete sich neben den Leichnam. Der Zettel stak in der Fliege, zusammengerollt wie ein Blätterteiggebäck. Er beugte sich ganz nah an den Zettel, im innersten Stück des Papiers zeichneten sich die Buchstaben Dr. Bl ab – mehr war nicht zu erkennen, obwohl seine Nase beinahe vor das Papier stieß.

Mit Dr. Bl konnte er nichts anfangen, vielleicht ein Arzt … Wenn er Genaueres wissen wollte, musste er den Zettel aus der Fliege ziehen.

Seine Finger wurden vom Papier angezogen wie ein Trinker vom Zapfhahn. Er wehrte sich, trotzdem schien die Hand geradezu zum Kragen des Obers zu schweben. Nur noch Millimeter …

Kaltes Leder im Genick. Eggebrecht zuckte zusammen, sprang auf, sah Katzmann. «Mann, Konrad!»

«Ich bin wieder da.» Katzmann grinste. Der Mund sah aus, als wolle er vor Freude aus dem Gesicht springen.

«Willst du, dass ich einen Herzinfarkt kriege? Mann!» Eggebrecht guckte auf Katzmanns Hände. «Und was soll der Quatsch mit dem Handschuh?»

«Daktyloskopie.»

«Dakti-was?»

«Fingerabdrücke. Also genauer gesagt, keine Fingerabdrücke … Wir haben noch mindestens eine Viertelstunde, bis die Polizei hier ist.» Katzmann holte eine Pinzette aus dem Jackett, klemmte die Papierrolle zwischen die Spitzen und zog den Zettel aus dem Knoten der Fliege. Er hob die Rolle nach oben, drehte das Papier im Laternenschein und ließ den Zettel zwischen den Handschuhen verschwinden. Katzmann hatte offenkundige Schwierigkeiten, die Papierrolle mit seinen gefütterten Fingerlingen zu öffnen.

«Ist gar nicht so kalt, was?»

Katzmann guckte, als lenke ihn ein lästiges Insekt ab – wohl keine Zeit für Scherze. Der Reporter blickte nochmals auf das Papier. «Rechnungszettel. Signet vom Krystall-Palast.» Dann schüttelte er den Kopf. «Aber was soll das?»

Katzmann hielt das Papier herüber. Eggebrecht las:

Wichtige Mitteilung an alle:

75 für 100 sind das Mindeste. Ausnahmen von dieser Regel sind nicht vorgesehen.

Hochachtungsvoll,
Dr. Blei

«Hm. Doktor Blei? Ein Arzt?» Eggebrecht schaute zu Katzmann, der schüttelte immer noch mit dem Kopf, als habe er eine Stahlfeder im Hals.

«’ne Rechenaufgabe im Text. Vielleicht ein Naturwissenschaftler? Von der Uni?»

«Ich weiß nicht …»

Katzmann drehte den Zettel in alle Richtungen. «Ich hab noch nie was von einem Doktor Blei gehört … und ich bin hier Journalist.»

«Vielleicht ein Auswärtiger …»

«Der kommt von außerhalb und legt eine Leiche mit einem Briefchen vor der LVZ ab. Wieso?»

«Hm, du bist der Journalist … Dinge rauskriegen ist dein Beruf!»

«Also gut, fangen wir am Anfang an. Es ist eine Nachricht für alle. Also wird der Mann vor der Zeitung ermordet.»

«Na, siehst du! Ist doch einfach.»

«75 für 100. Klingt wie ein Tauschkurs. Ich frage morgen in der Wirtschaftsredaktion nach, wozu das passen könnte …» Katzmann ließ die Hand mit dem Papier nach unten sinken. «Dann kommen eine Drohung und ein förmlicher Abschied.»

«Doktor Blei … könnte ein Scherzchen sein. Blei, Pistolenkugel, Loch im Kopf.»

«Hm, das müssen wir klären.» Katzmann kämpfte mit dem Papier. Es sah aus, als hätte er statt Fingern kleine Würste auf den Handballen und versuche nun, damit komplizierte Figuren zu falten. Dabei galt es nur, den Zettel zusammenzurollen.

«Wenn die Polizei vorhin in einer Viertelstunde kommen wollte, hast du noch mindestens fünf Minuten.»

«Danke.» Katzmann blickte nicht auf, fummelte weiter am Papier herum.

«Sag mal, Konrad, war das Papier vorhin nicht geknickt?» Katzmann hielt inne, stellte den Kopf schräg.

Es sah aus, als würde in seinem Kopf ein kleiner Reichstag die kommenden Handlungen und ihre Konsequenzen debattieren. Hoffentlich kommt er zur Abstimmung, bevor es zu spät ist, dachte Eggebrecht.

Der Reporter nickte, faltete den Zettel zu einem dünnen Streifen und schob ihn mit der Pinzette unter den Kragen.

«Und genau so haben Sie die Leiche vorgefunden?» Oberkommissar Bölkes Gesicht sah im Licht der Laterne grau aus, der Schnurrbart hob sich farblich kaum von der Haut ab.

Katzmann nickte, Bölke guckte zu Eggebrecht, der zuckte mit den Schultern. Eine seltsame Art der Bestätigung, fand Katzmann, auch wenn das Schulterzucken voller Unschuld steckte. Der Polizist beugte sich zur Leiche, stellte fest, dass der Mann erschossen worden war. Damit konnte er freilich niemanden überraschen.

«Kaum Blut auf der Straße. Der ist wohl anderswo getötet und dann hier abgelegt worden.» Bölke nuschelte wie einer, der zu sich selbst sprach. Jedenfalls galten die Worte nicht den anderen Polizisten, die am Tatort arbeiteten, denn die fertigten weiter Zeichnungen, nahmen Maß, suchten den Boden ab …

Bölke blickte auf. «Sie wissen sicher nicht, weshalb der Mann hier liegt.»

War das eine Frage? Katzmann schaute Bölke an, im Blick des Polizisten lag ein Lauern, das in einem merkwürdigen Widerspruch zur sonstigen Erscheinung des Mannes lag. Der Oberkommissar quoll aus der Uniform, das Doppelkinn wirkte im Dämmerschein der Straßenbeleuchtung wie ein vorgelagerter zweiter Hals, die Dienstmütze steckte im Nacken und ließ so die Schweißtropfen auf der Speckstirn sichtbar werden – ein Bild der Harmlosigkeit. Katzmann ließ sich davon nicht täuschen, er kannte Bölke von früheren Fällen. Mit dem Oberkommissar ließ es sich arbeiten, zu unterschätzen war er dennoch nicht.

«Also keine Ahnung?» Bölkes Augen schnippten in ihren Höhlen hin und her, blickten abwechselnd Katzmann und Eggebrecht an.

«Vielleicht wollte der Mörder den Herren von der Presse etwas mitteilen …» Eggebrecht sprach, als ginge ihn die Sache nichts an.

Bölke sagte: «Und Herr Katzmann, was wissen Sie über die Leiche?»

«Es ist der Ober aus dem Bierrestaurant im Krystall-Palast. Wir haben dort getrunken und plötzlich nichts mehr bekommen.»

«Und dann haben Sie mal vor der Redaktion geschaut, ob die Bedienung dort wartet?» Bölke lauerte, keine Spur von Humor in der Stimme.

«Wir haben bei einem anderen Ober bezahlt und wollten dann die Messetermine durchgehen. Kollege Eggebrecht ist heute erst in Leipzig ankommen.»

«Im Übrigen könnte es sein, dass Ihnen der Zettel dort mehr Antworten geben kann als wir.» Eggebrecht zeigte auf den Leichnam.

«Und was steht drauf?»

«Ich hatte gehofft, dass Sie fragen, Herr Polizist! Denn wenn Sie das wissen wollen, werden Sie das Papier bestimmt gleich an sich nehmen und etwaige Worte lesen. Und dann können Sie meinem Freund von der Presse sagen, was drinsteht. Ich hatte nämlich einige Mühe, ihn davon abzuhalten, im Vorfeld Ihrer Ermittlungen seiner Chronistenpflicht nachzukommen.» Eggebrecht zwinkerte Bölke zu.

Er war auf dem gefährlichen Weg der Provokation, fand Katzmann. Immerhin ermöglichte das ihm selbst, die Rolle des Geduldigen zu spielen.

«Wie kommen Sie zu der Ansicht, dass ich Ihnen etwaige Informationen mitteile?» Bölkes Schnurrbart schob sich nach vorn, mit diesem Gesichtsausdruck erinnerte der Oberkommissar an eine Robbe im Zoo. Er winkte einen Beamten herbei, befahl, den Zettel zu sichern, und sagte: «Sie entschuldigen mich bitte kurz.»

Bölke, sein Kollege und der Zettel verschwanden am Dienstkraftwagen der Kriminaler.

Die anderen Polizisten schienen mit ihrer Arbeit langsam fertig zu werden. Sie trugen Tütchen mit Dingen, die sie vom Boden aufgelesen hatten, zum Wagen: Krümel, Schmutz, Steinchen. Wahrscheinlich hofften sie, in dem Unrat Hinweise zu finden – worauf, wollte Katzmann nicht so recht klarwerden. Die Polizisten verstauten Beweismittel, Werkzeuge, Taschen und Zeichnungen im Kofferraum. Bölke stand mit dem Zettel neben dem Kollegen an der Beifahrertür. Die beiden sprachen so leise, dass Katzmann nichts verstehen konnte.

«Ob der uns was sagt?» Eggebrecht fragte ebenso leise.

«Hm, keine Ahnung. Sieht aus, als wüsste er es auch nicht so genau …»

Der zweite Beamte stieg in den Kraftwagen. Bölke blieb draußen stehen, zog die Dienstmütze tiefer ins Gesicht. Dann drehte er sich um und kam herüber. Er hatte in den letzten Jahren immer mehr Speck auf die Hüften bekommen. Katzmann hatte das Gefühl, dass der Polizist in zehn Jahren zum Dienst rollen könnte, wenn er es bis dahin nicht in die Rente schaffen würde.

«Kennen Sie die Blei-Bande, Herr Katzmann?»

«Blei-Bande? Hm … Nein, ist mir noch nicht untergekommen.»