Zsolnay E-Book

 

Qiu Xiaolong

 

Die Frau mit

dem roten Herzen

 

EIN FALL FÜR

OBERINSPEKTOR CHEN

 

Aus dem Amerikanischen von

Susanne Hornfec

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel A Loyal Character Dancer bei Soho Press in New York.

 

 

ISBN 978-3-552-05788-3

© Qiu Xiaolong 2002

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2004/2016

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie von © Sandi Fellmann1982

 

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Für Julia

 

 

 

 

1

 

Oberinspektor Chen Cao von der Shanghaier Polizei ging wieder einmal durch den Morgennebel Richtung Bund-Park.

Obwohl die Anlage mit ihren sieben Hektar eher klein war, machte ihre Lage am Nordende des Bund sie zu einem der beliebtesten Orte Shanghais. Der Vordereingang lag unmittelbar gegenüber dem Hotel Peace, der Hintereingang ging auf die Waibaidu-Brücke hinaus, deren Name sich seit ihrem Bau zu Kolonialzeiten nicht geändert hatte und so viel bedeutete wie: Übergang für weiße Ausländer. Der Park war außerdem berühmt für seine vielfarbig gepflasterte Promenade, die sich in elegantem Bogen entlang der schimmernden Wasserfläche am Zusammenfluß des Huangpu mit dem Suzhou Creek spannte. Vor dem Hintergrund des fernen Wusongkou konnte man von dort aus den Schiffsverkehr vom und zum Ostchinesischen Meer beobachten.

Die Wächterin am Haupteingang, die grauhaarige Frau Zhu mit der roten Armbinde, nickte Chen an diesem Aprilmorgen gähnend zu, während er eine grüne Plastikmarke in das dafür vorgesehene Kästchen warf. Viele der Parkaufseher kannten ihn gut.

An diesem Morgen war er unter den ersten Frühaufstehern, die den Park besuchten. Er ging zu dem von Pappeln und Weiden gesäumten Rondell in der Mitte des Parks. Der weiße, europäische Pavillon mit seiner ausladenden Veranda hob sich vorteilhaft von den frisch gestrichenen grünen Bänken ab. Die Tautropfen, die noch an den Blättern hingen, glitzerten im ersten Morgenlicht wie Myriaden blanker Augen.

Chens Vorliebe für den Park hatte unter anderem mit Erinnerungen an seine Kindheit zu tun. Bereits in der Grundschule hatte man ihm die Geschichte dieses Parks beigebracht. In seinem damaligen Lehrbuch stand, daß der Park um die Jahrhundertwende nur für Westler geöffnet gewesen sei. Damals gab es ein Schild mit der Aufschrift: Für Chinesen und Hunde verboten, und ein Sikh mit rotem Turban versperrte den Zutritt. Nach 1949 galt dies der kommunistischen Regierung als Paradebeispiel für das Auftreten der westlichen Mächte im vorrevolutionären China, das regelmäßig im Rahmen der patriotischen Erziehung angeführt wurde. War es tatsächlich so gewesen? Dies zweifelsfrei festzustellen war heute kaum mehr möglich, denn die Grenze zwischen Realität und Fiktion wurde von den jeweils Mächtigen in deren Sinne konstruiert und dekonstruiert.

Er stieg die Treppe zur Promenade hinauf und sog die frische Seeluft ein. Sturmvögel glitten über die Wellen; ihre Flügel schimmerten im grauen Licht, als flögen sie aus einem halbvergessenen Traum herüber. Die Trennlinie zwischen dem Fluß und dem einmündenden Suzhou Creek wurde sichtbar.

Doch Oberinspektor Chen mochte diesen Park nicht nur wegen seiner Schönheit oder seiner Geschichte; auch persönliche Erinnerungen waren damit verknüpft.

In den frühen siebziger Jahren, als er als Schulabgänger auf die Zuweisung eines Studien- oder Ausbildungsplatzes wartete, war er regelmäßig zum Tai-Chi hierhergekommen. An einem nebligen Morgen zwei oder drei Monate später hatte er, nach einem weiteren halbherzigen Versuch, die uralten Bewegungsabläufe einzuüben, auf einer Bank ein abgegriffenes Englischlehrbuch entdeckt. Wie es dort hingekommen war, blieb rätselhaft. Manchmal legten Leute alte Zeitungen oder Illustrierte auf die Sitze, um sich gegen Nässe zu schützen, niemals jedoch ein Lehrbuch. Mehrere Wochen lang brachte er das Buch immer wieder in den Park mit, in der Hoffnung, jemand vermisse es. Doch nichts geschah. Dann, als eine besonders komplizierte Bewegungsfolge ihn schier zur Verzweiflung brachte, öffnete er das Buch willkürlich und begann zu lesen. Von da an kam er nicht mehr zum Tai-Chi, sondern zum Englischlernen in den Park.

Seine Mutter war über diese Veränderung besorgt gewesen. Es zeugte nicht von guter politischer Gesinnung, Bücher zu lesen, die nicht Worte des Vorsitzenden Mao oder so ähnlich hießen. Sein Vater, ein neokonfuzianischer Gelehrter, war dagegen der Ansicht gewesen, daß das Lernen im Park ihm förderlich sein könnte. Er berief sich dabei auf die ehrwürdige Theorie von den Fünf Elementen – wuxing. Chen, so hatte er diagnostiziert, mangle es am Element Wasser, und so könne der Aufenthalt am Wasser ihm nur guttun. Als Chen sich Jahre später über diesen Aspekt der Theorie informieren wollte, konnte er nirgends etwas darüber finden. Vielleicht war sie ausschließlich zu seinem Nutzen entwickelt worden.

Diese Morgenstunden im Park brachten ihn durch die Jahre der Kulturrevolution. 1977 ging er ans Pekinger Fremdspracheninstitut, nachdem er in der neu eingeführten, zentralen Aufnahmeprüfung Bestnoten in Englisch erzielt hatte. Vier Jahre später landete er dann durch eine weitere Folge von Zufällen bei der Shanghaier Polizei.

Im Rückblick erschien Chens Leben wie ein ironisches Durcheinander aus fehlgeleitetem yin und yang, fehlgeleitet wie jenes Buch im Park oder wie die verlorenen Jahre seiner Jugend. Eines führte zum anderen und dieses zum nächsten, bis das Endergebnis kaum noch zu erkennen war. Eine solche Kette von Kausalitäten war sicherlich komplexer, als westliche Krimiautoren, von denen er in seiner Freizeit einige übersetzt hatte, das zugestehen würden.

Durch die kühle Aprilbrise klang die Melodie der großen Uhr von der Shanghaier Zollverwaltung herüber. Halb sieben. Während der Kulturrevolution hatte sie ein anderes Lied gespielt: »Der Osten ist rot.« Die Zeit verrann wie Wasser.

In den frühen neunziger Jahren, unter Deng Xiaopings Reformpolitik, hatte Shanghai sich dramatisch verändert. In der Zhongshan Lu, einer langen Straßenflucht mit imposanten Bauwerken, die zu Beginn des Jahrhunderts angesehene westliche Unternehmen beherbergt hatten und nach 1950 von der kommunistischen Partei und ihren Institutionen bezogen worden waren, versuchte man nun erneut, westliche Firmen anzusiedeln und den Status des Bund als Wall Street Chinas wiederzubeleben. Auch der Bund-Park hatte sich verändert, und Chen war mit einigen dieser Neuerungen gar nicht einverstanden. So ragte zum Beispiel neben ihm ein postmoderner Pavillon aus Beton auf, der wie ein Ungeheuer im grauen Morgenlicht lauerte. Und er, Chen, hatte sich von einem bettelarmen Studenten in einem prominenten Polizei-Oberinspektor verwandelt.

Trotzdem war es noch immer sein Park. Auch bei starker Arbeitsbelastung kam er mindestens ein- bis zweimal die Woche hierher. Es war nicht weit vom Büro, ein Fußweg von höchstens fünfzehn Minuten.

Ganz in seiner Nähe übte ein Mann in mittlerem Alter Tai-Chi. Er führte ein Folge von Figuren aus: den Schwanz des Vogels erhaschen, der weiße Kranich breitet die Schwingen, das wilde Pferd teilt die Mähne … Oberinspektor Chen überlegte, was aus ihm wohl geworden wäre, wenn er weiter Tai-Chi geübt hätte. Vielleicht wäre er heute einer dieser Enthusiasten, die nur noch in passender weißer Seidenkleidung ihre Übungen machten: Sie trugen Hemden mit weiten Ärmeln und roten, geflochtenen Knöpfen und immer einen friedfertigen Ausdruck im Gesicht. Diesen Mann hier kannte Chen; er arbeitete als Buchhalter in einem nahezu bankrotten Staatsbetrieb, doch augenblicklich war er ein Meister, der sich in perfekter Harmonie mit dem qi des Universums bewegte.

Chen setzte sich auf seinen Stammplatz, eine grüngestrichene Bank unter einer hoch aufragenden Pappel. In die Rückseite der Lehne war mit kleinen Schriftzeichen ein Slogan aus der Kulturrevolution geritzt: Lang lebe die Diktatur des Proletariats. Die Bank war seither schon mehrmals neu gestrichen worden, aber die Botschaft kam immer wieder durch.

Er nahm einen Band mit ci-Gedichten aus seiner Aktentasche und schlug einen Text von Niu Xiji auf: Der Nebel lichtet sich/vor den Frühlingsbergen,/die Sterne, karg und klein/am blassen Himmel,/ein sinkender Mond erhellt ihr Gesicht,/Dämmerung glitzert in ihren Tränen/beim Abschied … Das war zu sentimental für den frühen Morgen. Er übersprang mehrere Zeilen und kam zum letzten Vers:

Ich denke an deinen grünen Rock, und überall/wohin ich trete/setze ich meine Schritte ganz sachte auf das Gras.

Auch wieder so ein Zufall, grübelte er und trommelte mit den Fingern auf die Rückenlehne. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er im Café Riverside am Bund diese Zeilen einer Freundin zitiert, die jetzt weit entfernt von ihm ihre Schritte auf das Gras setzte. Aber Oberinspektor Chen war nicht hergekommen, um nostalgisch zu werden.

Die erfolgreiche Lösung eines wichtigen politischen Falls, in den auch Baoshen, der Zweite Bürgermeister von Peking verwickelt gewesen war, hatte unerwartete Folgen für sein berufliches wie für sein privates Leben gehabt. Die Sache hatte ihn ziemlich mitgenommen, und das spürte er noch immer. In einem Brief, den er unlängst an seine Freundin Ling geschrieben hatte, hatte er es so formuliert: »Wie schon die Alten wußten: ›In acht oder neun von zehn Fällen laufen die Dinge schief in dieser unserer Welt.‹ Trotz seines absichtsvollen Bemühens ist der Mensch nichts als ein Spielball des Schicksals.« Daß sie nicht darauf geantwortet hatte, verwunderte ihn nicht. Auch ihre Beziehung war von besagtem Fall belastet worden.

Eine Gestalt in grauer Mao-Jacke tauchte hinter ihm auf und sprach ihn mit ernster, verhaltener Stimme an: »Genosse Oberinspektor Chen.«

Er erkannte Zhang Hongwei, einen der älteren Parkaufseher. In den siebziger Jahren hatte Zhang einen Mao-Button am Revers getragen und war durch den Park patrouilliert, als hätte er Sprungfedern unter den Sohlen. Immer wieder hatte er dem Englischlehrbuch in Chens Händen mißbilligende Blicke zugeworfen. Jetzt, kahlköpfig, faltig und jenseits der Fünfzig, schlurfte er durch den Park; die graue Jacke war die gleiche, nur der Mao-Button fehlte.

»Kommen Sie bitte mal mit, Genosse Oberinspektor Chen.«

Er folgte Zhang zu einer besonders düsteren Stelle des Parks etwa fünf Meter vom Hintereingang entfernt, die vom Ufer her mit immergrünen Büschen überwachsen war. Dort lag rücklings eine von zahlreichen Wunden entstellte Leiche, um die sich ein surreales Netz aus blutigen Rinnsalen spannte. Eine rote Spur zog sich vom Ufer zu dem Platz, an dem die Leiche lag.

Nie hätte Oberinspektor Chen sich träumen lassen, daß er im Bund-Park ein Mordopfer würde untersuchen müssen.

»Ich habe gerade meine Morgenrunde gemacht, und da habe ich ihn entdeckt, Genosse Oberinspektor Chen. Wir alle wissen, daß sie morgens oft hierherkommen«, erklärte Zhang entschuldigend, »deshalb …«

»Wann haben Sie heute morgen Ihre Runde gemacht?«

»So etwa um sechs. Gleich nachdem der Park geöffnet wurde.«

»Und wann haben Sie gestern abend zum letzten Mal nachgesehen?«

»Das war um halb zwölf. Wir kontrollieren dann immer besonders genau. Niemand ist hier zurückgeblieben.«

»Sie sind also sicher …«

Ihr Gespräch wurde von Gelächter unterbrochen, das vom Ufer nahe des Ausgangs herüberschallte. Dort posierte eine junge Frau mit japanischem Schirm für die Kamera eines jungen Mannes. Sie saß auf der Ufermauer und lehnte den Oberkörper auf den Fluß hinaus. Eine gefährliche Pose. Ihre Wangen glühten, die Kamera blitzte. Vermutlich Neuvermählte auf Hochzeitsreise. Ein romantischer Tag, der mit einem Fototermin im Bund-Park begann.

»Lassen Sie den Park räumen, und halten Sie ihn den Vormittag über geschlossen«, befahl Chen stirnrunzelnd. Dann schrieb er eine Nummer auf den Rand seines Lesezeichens. »Und rufen Sie von Ihrem Büro aus diese Nummer an. Da meldet sich Hauptwachtmeister Yu Guangming. Sagen Sie ihm, er möchte bitte sofort herkommen.«

Nachdem Zhang davongeeilt war, begann Chen, die Leiche zu untersuchen: ein Mann Anfang Vierzig, mittelgroß und von normaler Statur. Er trug einen teuer wirkenden weißen Seidenpyjama. Sein Gesicht war blutverschmiert und wies tiefe Schnittwunden auf, die linke Seite des Schädels war mit einem kraftvollen Schlag eingedrückt worden. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte, doch es bedurfte keines medizinischen Fachwissens, um zu sehen, daß er mehr als ein Dutzend Mal mit einer spitzen Waffe, mit Sicherheit schwerer als ein Messer, traktiert worden war. Die Schnittwunden an der Schulter gingen bis auf den Knochen durch. Angesichts der vielen Verwundungen war erstaunlich wenig Blut auf den Boden geflossen.

Das Pyjamaoberteil hatte nur eine Tasche. Chen griff hinein. Er fand nichts und konnte auch kein Etikett mit einem Markennamen entdecken. Behutsam betastete er Unterkiefer und Hals der Leiche, die nicht mit Blut verschmiert waren. Hier hatte die Starre bereits eingesetzt, aber der übrige Körper war noch relativ weich. Die Beine zeigten eine bläulich-blasse Färbung. Unter dem Druck seines Fingers wurden die violetten Flecken weiß. Der Tod war vermutlich vor vier bis fünf Stunden eingetreten.

Er zog das Augenlid des Mannes hoch – ein blutunterlaufenes Auge starrte in einen Himmel, der mit Wolken gesprenkelt war. Die Hornhaut war noch nicht opak, was ebenfalls dafür sprach, daß der Mann noch nicht lange tot war.

Wie kam eine solche Leiche in den Bund-Park?

Was den Sicherheitsdienst im Park betraf, so war Oberinspektor Chen überzeugt, daß die Beamten und freiwilligen Rentner ihre Abendrunden immer besonders gründlich durchführten. Sie schreckten mit ihren Taschenlampen die Liebespaare in den entlegensten Ecken auf und riefen in ihre Megaphone: »Beeilen Sie sich! Der Park wird gleich geschlossen!« Einmal hatten sie einen Sonderbericht eingereicht, um bessere Bezahlung für die Abendschicht zu fordern. Angesichts der dramatischen Wohnungsnot in Shanghai zog der Park viele Liebespaare an, die zu Hause keinerlei Privatsphäre hatten und leicht einmal die Zeit oder den öffentlichen Charakter des Ortes vergaßen. Aber der Sicherheitsdienst tat zuverlässig seine Arbeit. Zhang hatte darauf beharrt, daß nach der Schließung niemand sich im Park versteckt haben konnte, und Chen glaubte ihm.

Allerdings konnte jemand sich nach der Schließung eingeschlichen haben; über die Mauer zu klettern war nicht weiter schwierig. Jemand konnte einen anderen getötet und dann die Flucht ergriffen haben. Aber in dieser Gegend waren zu allen Nachtzeiten Autos und Fußgänger unterwegs. Ein solcher Vorfall wäre sicher bemerkt und gemeldet worden. Auch der Fundort in den Büschen sprach nicht für diese Vermutung; die Stelle wies keinerlei Kampfspuren auf. Zwei oder drei abgebrochene Äste waren alles, was Oberinspektor Chen entdecken konnte. Auch wies die Tatsache, daß die Leiche einen Pyjama trug, auf eine nächtliche, wohl in einem Zimmer verübte Tat hin, von wo aus man die Leiche in den Park geschafft hatte. Vielleicht war sie vom Fluß aus an Land geworfen worden. Die Ufermauer war an dieser Stelle nicht hoch. Bei hohem Flutpegel nachts konnte ein aus einem Boot geworfener Leichnam durchaus hier gelandet und in die Büsche gerollt sein. Das würde auch die Reihe dunkler Flecken erklären, die am Ufer zurückgeblieben waren.

Doch etwas irritierte Chen. Wer hier eine Leiche zurückließ, mußte mit ihrer unmittelbaren Entdeckung rechnen. Der Park lag im Herzen Shanghais und wurde täglich von Tausenden Menschen besucht. Warum legte man einen Toten ausgerechnet hier ab?

Da sah er die vertraute Gestalt von Hauptwachtmeister Yu, der mit einer Kamera über der Schulter durch den morgendlichen Dunst auf ihn zumarschiert kam. Ein großer, kräftiger Mann mit markanten Gesichtszügen und tiefliegenden Augen. Er war Chens bewährter Assistent, obwohl er einige Jahre älter war als sein Vorgesetzter. Außerdem war er der einzige unter den Kollegen, der nicht hinter Chens Rücken über dessen Karrieresprung lästerte. Dieser war auf Deng Xiaopings neue Kaderpolitik zurückzuführen, die Beamte mit Universitätsausbildung bevorzugte. Seitdem sie gemeinsam den Fall der nationalen Modellarbeiterin gelöst hatten, betrachtete Chen ihn als Freund.

»Hier?« fragte Yu ohne förmliche Begrüßung.

»Ja, hier.«

Yu begann aus verschiedenen Winkeln Fotos zu machen. Er kniete neben der Leiche, machte Nahaufnahmen und betrachtete die Wunden genau. Mit einem Maßband aus seiner Hosentasche maß er die Schnitte auf der Vorderseite der Leiche, bevor er sie umdrehte und die Wunden am Rücken untersuchte. Dann blickte er über die Schulter zu Chen hinauf.

»Irgendein Hinweis auf die Identität?«

»Nein.«

»Ich fürchte, wir haben es mit einem Triaden-Mord zu tun«, sagte Yu.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Schauen Sie sich die Verletzungen an. Das sind Axtwunden. Siebzehn oder achtzehn Stück. So viele wären nicht nötig gewesen. Die Zahl könnte etwas bedeuten. Das ist bei diesen Gangstern nicht unüblich. Der Schlag auf den Kopf war schon mehr als genug.« Yu stand auf und ließ das Maßband zurück in seine Tasche gleiten. »Schnittlänge zwischen sechzig und fünfundsiebzig Millimeter. Das spricht für eine ruhige Hand mit enormer Kraft. Keine Amateurarbeit.«

»Gut beobachtet.« Chen nickte. »Wo glauben Sie, hat der Mord stattgefunden?«

»Überall, bloß nicht hier. Der Typ hat ja noch seinen Schlafanzug an. Der Mörder muß die Leiche hierhergebracht haben. Als besondere Warnung. Auch das ist typisch für die Triaden. Sie hinterlassen eine Botschaft.«

»An wen?«

»Vielleicht an jemanden hier im Park«, sagte Yu. »Oder an einen, der rasch davon erfahren wird. Wenn sich das schnell herumsprechen soll, dann gibt es keinen besseren Ort als diesen Park.«

»Sie meinen also, die Leiche wurde hier abgelegt, damit sie gefunden wird?«

»Genau das.«

»Und womit sollen wir Ihrer Meinung nach anfangen?«

Yu antwortete mit einer Gegenfrage: »Ist das überhaupt unser Fall, Chef? Ich sage nicht, daß wir ihn nicht übernehmen sollten, aber eigentlich ist unsere Abteilung nur für politische Fälle zuständig.«

Chen konnte die Reserviertheit seines Assistenten durchaus verstehen. Normalerweise mußte seine Abteilung einen Fall nur dann übernehmen, wenn er vom Präsidium als »speziell« klassifiziert war, und zwar aus offenkundigen oder verdeckt politischen Gründen. Dieses Etikett wurde einem Fall also immer dann angehängt, wenn sich das Präsidium gezwungen sah, auf politische Notwendigkeiten zu reagieren.

»Na ja, es ist die Rede davon, daß ein Sonderdezernat für Triaden-Morde eingerichtet werden soll. Es kann durchaus sein, daß dieser Fall klassifiziert wird. Schließlich wissen wir noch nicht, ob es sich tatsächlich um einen Triaden-Mord handelt.«

»Wenn es einer ist, dann ist das eine ganz schön heiße Kartoffel. Eine, an der man sich die Finger verbrennt.«

»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Chen und merkte sehr wohl, worauf Yu hinauswollte. Kaum ein Polizist wollte mit einem Fall zu tun haben, in den die Geheimgesellschaften verstrickt waren.

»Mein linkes Augenlid zuckt schon den ganzen Morgen. Das ist kein gutes Zeichen, Chef.«

»Also wirklich, Hauptwachtmeister.« Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, die jedesmal das I Ging befragten, bevor sie einen Fall übernahmen, war Oberinspektor Chen nicht abergläubisch. Und falls er Aberglauben in seine Erwägungen mit einbeziehen würde, dann spräche vieles für diesen Mordfall, denn in diesem Park hatte sein Schicksal einst eine positive Wendung genommen.

»In der Schule habe ich gelernt, daß Chiang Kai-shek mit Hilfe der Shanghaier Gangster an die Macht gekommen ist. Einige seiner Minister waren Mitglieder der Blauen Triade.« Yu machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Nach 1949 wurden die Gangster verfolgt, aber in den achtziger Jahren hatten sie, wie Sie wissen, ihr Comeback.«

»Das ist mir klar.« Die ungewöhnliche Beredsamkeit seines Assistenten überraschte Chen. Normalerweise berief Yu sich nicht auf Bücherwissen oder historische Fakten.

»Diese Gangster sind inzwischen vielleicht sehr viel mächtiger, als wir ahnen. Sie haben ihre Organisationen in Hongkong, Taiwan, Kanada, den Vereinigten Staaten und sonstwo in der Welt. Ganz zu schweigen von den guten Verbindungen, die sie zu den führenden politischen Kreisen hier haben.«

»Ich habe Berichte darüber gelesen«, sagte Chen. »Aber wozu gibt es schließlich die Polizei?«

»Ein Freund von mir hat einen Job als Schuldeneintreiber für einen Staatsbetrieb in der Provinz Anhui bekommen. Er sagt, auf legalem Weg geht da gar nichts mehr; er ist völlig auf die Triaden angewiesen. Heutzutage scheint kaum noch jemand Vertrauen in die Gesetzeshüter zu haben.«

»Aber jetzt, wo mitten im Herzen von Shanghai, im Bund-Park, ein Verbrechen geschehen ist, können wir doch nicht tatenlos zusehen«, sagte Chen. »Ich war zufällig heute morgen hier im Park. Mein Pech. Lassen Sie mich mit Parteisekretär Li darüber reden. Zumindest werden wir einen Bericht machen und eine Meldung mit dem Foto des Toten rausschicken. Er muß identifiziert werden.«

Als die Leiche endlich abtransportiert worden war, gingen Oberinspektor Chen und sein Assistent zum Ufer und lehnten sich an die Mauer. Der entvölkerte Park wirkte befremdlich. Chen holte eine Schachtel Zigaretten heraus, es waren »Kent«. Er steckte eine für Yu an, dann eine für sich selbst.

»›Man weiß, daß es nicht machbar ist, aber man muß es trotzdem tun.‹ Das ist eine der konfuzianischen Maximen meines verstorbenen Vaters.«

Yu erwiderte in verbindlichem Ton: »Was immer Sie entscheiden, ich bin dabei.«

Chen konnte Yus Erwägungen nachvollziehen, wollte seine eigenen jedoch nicht diskutieren. Die emotionale Bedeutung, die der Bund-Park für ihn hatte, war Privatsache. Es gab gewisse politische Gründe, diesen Fall zu übernehmen. Wenn das organisierte Verbrechen an diesem Mord beteiligt war, wie er vermutete, so würde dies das Image der Stadt schädigen. Auf Postkarten, in Filmen, sogar in seinen eigenen Gedichten symbolisierte der Bund-Park das Herz Shanghais, und als Polizei-Oberinspektor hatte er den Ruf seiner Stadt zu schützen. Es lief schlicht und einfach darauf hinaus, daß im Park ein Mord geschehen und er als erster vor Ort gewesen war.

»Danke, Hauptwachtmeister Yu«, antwortete er dem Kollegen. »Ich weiß, was ich an Ihnen habe.«

Als sie den Park verließen, sahen sie, daß sich am Vordereingang eine Menschentraube gebildet hatte. Ein Aushang informierte die Besucher, daß der Park wegen Verschönerungsarbeiten für den Rest des Tages geschlossen bliebe.

Wenn die Wahrheit verschwiegen werden mußte, war jede Entschuldigung recht.

In der Ferne glitt eine weiße Möwe über das gelbliche Wasser. Ihre Silhouette schien die aufgehende Sonne auf den Schwingen zu tragen.

 

 

2

 

»Sie haben es weit gebracht, Genosse Oberinspektor Chen.« Parteisekretär Li Guohua vom Shanghaier Polizeipräsidium begrüßte ihn lächelnd und ließ sich dann in seinen dunkelbraunen Lederdrehstuhl zurücksinken, der am Fenster stand. Von seinem geräumigen Büro aus überblickte man die ganze Shanghaier Innenstadt.

Oberinspektor Chen saß auf der anderen Seite des Mahagonischreibtischs und blies in eine Schale grünen Drachenbrunnentees, ein Genuß, wie er im Büro des einflußreichen Parteisekretärs nur wenigen zuteil wurde.

Als aufstrebender Kader mit Aussicht auf weitere Beförderungen war Chen seinem Mentor in vielfacher Weise verbunden. Li hatte bei Chens Parteieintritt als Bürge fungiert, hatte ihm die internen Machtverhältnisse entschlüsselt und ihn auf seinen derzeitigen Posten gehievt. Als ein mittlerweile fünfzigjähriger Polizist, der seine Arbeit von der Pieke auf gelernt hat, hatte Li im Präsidium alle Ebenen durchlaufen, bevor er seine jetzige leitende Position übernahm. Dabei hatte er viele politische Bewegungen und Parteikämpfe hinter sich gebracht und offenbar immer auf die Sieger gesetzt. Daß er Chen nun als seinen Nachfolger aufbaute, werteten die Kollegen als weiteren klugen Schachzug, zumal nachdem einige Eingeweihte von dessen Beziehung zu Ling, der Tochter eines Pekinger Politbüromitglieds, erfahren hatten. Doch fairerweise mußte man Li zugestehen, daß er selbst erst nach Chens Beförderung davon gehört hatte.

»Vielen Dank, Parteisekretär Li. Wie der Weise sagt: ›Ein Mann ist bereit, sein Leben zu opfern für jemanden, der ihn schätzt; eine Frau dagegen macht sich schön für denjenigen, der sie schätzt.‹«

Nach wie vor galten Konfuzius-Zitate nicht gerade als politisch korrekt, doch Chen vermutete, daß Li durchaus Gefallen daran fand.

»Die Partei hatte immer eine hohe Meinung von Ihnen«, sagte Li in bestem Kaderton. Seine Mao-Jacke war trotz des warmen Wetters bis zum Kinn geknöpft. »Das ist eine Aufgabe für Sie, Oberinspektor Chen, und für keinen anderen.«

»Sie haben also schon davon gehört?« Es überraschte Chen nicht, daß jemand seinem Vorgesetzten den Mordfall des heutigen Morgens bereits gemeldet hatte.

»Sehen Sie sich dieses Foto an.« Li zog einen Abzug aus einem braunen Umschlag auf dem Schreibtisch. »Das ist Inspektor Catherine Rohn, eine Mitarbeiterin des U.S. Marshals Service.«

Das Bild zeigte eine hübsche junge Frau Ende Zwanzig, deren intelligente blaue Augen in die Sonne blitzten.

»Ziemlich jung noch.« Chen betrachtete das Foto mit einiger Verwirrung.

»Inspektor Rohn hat an der Universität Chinesisch gelernt. Sie ist eine Art China-Expertin beim U.S. Marshals Service. Und Sie sind der Gelehrte in unserer Mannschaft.«

»Moment mal, Parteisekretär Li, von welcher Aufgabe sprechen Sie?«

Vor dem Bürofenster war in der Ferne die eine oder andere Sirene zu hören.

»Inspektor Rohn wird Wen Liping in die Vereinigten Staaten begleiten. Und Ihre Aufgabe wird es sein, sie bei dieser Mission zu unterstützen.« Li räusperte sich, bevor er fortfuhr. »Eine überaus wichtige Funktion, Oberinspektor Chen, und wir wissen, daß wir uns auf Sie verlassen können.«

Chen wurde klar, daß Li von etwas völlig anderem sprach. »Wer ist diese Wen Liping? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie von mir wollen, Parteisekretär Li.«

»Wen Liping ist die Frau von Feng Dexiang.«

»Und wer ist Feng Dexiang?«

»Ein Bauer aus Fujian und jetzt wichtiger Zeuge in einem Fall von illegaler Einwanderung in Washington.«

»Was ist denn so Besonderes an diesem Feng?«

Li füllte Chens Teeschale mit heißem Wasser auf. »Haben Sie schon einmal von Jia Xizhi gehört?«

»Jia Xizhi – natürlich, der berüchtigte Triaden-Boß aus Taiwan.«

»Jia ist in eine Reihe internationaler Kriminalfälle verwickelt. Er ist ein sogenannter Schlangenkopf, betreibt also Menschenschmuggel im großen Stil. In New York konnte er im Zusammenhang mit diesen Aktivitäten verhaftet werden. Um ihn verurteilen zu können, brauchen die amerikanischen Behörden einen Zeugen, der seine Verbindung zu dem Flüchtlingsschiff Goldene Hoffnung bestätigt.«

»Ach, ich erinnere mich, vor ein paar Monaten über diesen schrecklichen Vorfall gelesen zu haben. Das Schiff ist mit über dreihundert Chinesen an Bord an der amerikanischen Küste gestrandet. Als die Küstenwache vor Ort ankam, war nur noch eine kranke, schwangere Frau auf dem Schiff. Sie war zu schwach gewesen, um in eines der Fischerboote zu springen, die die Leute an Land bringen sollten. Später wurden die Leichen derer entdeckt, die die Boote verfehlt hatten.«

»Genau, das war das Schiff«, bestätigte Li. »Sie sind also über die Hintergründe im Bilde. Jia ist der Eigner der Goldenen Hoffnung

»Gegen diesen Menschenschmuggel muß etwas unternommen werden«, sagte Chen und stellte seine Schale ab, in der die Teeblätter plötzlich nicht mehr so grün leuchteten. »Die Lage hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr zugespitzt. Besonders in den Küstengebieten. Das ist nicht die Art und Weise, wie sich Chinas Öffnung vollziehen sollte.«

»Feng Dexiang war einer der Passagiere der Goldenen Hoffnung. Er konnte sich in ein Fischerboot retten. Dann hat er in New York Tag und Nacht als Schwarzarbeiter malocht, um die Überfahrt abzubezahlen.«

»Ich habe gehört, wie diese Leute schuften müssen. Den meisten ist nicht klar, was sie dort erwartet. Wir müssen den Schlangenköpfen das Handwerk legen.«

»Jia ist schlüpfriger als ein Aal. Die Amerikaner sind seit Jahren hinter ihm her. Jetzt sehen sie endlich eine Chance, ihn wegen der ertrunkenen Passagiere dranzukriegen«, erklärte Li. »Feng wurde wegen einer Bandenschlägerei in New York verhaftet. Nachdem ihm Verurteilung und Deportation drohten, hat er sich mit den Behörden auf einen Handel eingelassen und will als Zeuge gegen Jia aussagen.«

»War Feng der einzige Passagier der Goldenen Hoffnung, den man gefunden hat?«

»Nein, man hat noch einige andere erwischt.«

»Warum ist man dann bloß mit ihm handelseinig geworden?«

»Illegale Einwanderer aus China ersuchen normalerweise um politisches Asyl, sobald sie geschnappt werden, und zwar mit der Begründung, daß durch die Zwangsabtreibungen im Rahmen der Ein-Kind-Politik ihre Menschenrechte verletzt würden. Da ihnen das in aller Regel gewährt wird, sind sie auf einen solchen Kuhhandel mit den amerikanischen Behörden nicht angewiesen. Feng aber hatte keine Basis für einen Asylantrag. Sein einziger Sohn ist vor einigen Jahren gestorben, daher hat er sich zur Kooperation entschlossen.«

»Was für ein schlauer Fuchs!« sagte Chen. »Aber Jia ist nicht nur ein Schlangenkopf, der mit illegaler Einwanderung Geld verdient, er ist auch ein Drachenkopf – der Boß einer international operierenden Geheimgesellschaft. Sobald Fengs Identität ans Licht kommt, muß Feng mit gnadenloser Vergeltung rechnen.«

»Da seine Zeugenaussage für Jias Verurteilung unerläßlich ist, haben die Amerikaner Feng in ihr Zeugenschutzprogramm aufgenommen, das in Zusammenarbeit mit den U.S. Marshals läuft. Ferner haben sie seinem Antrag auf Familienzusammenführung mit seiner schwangeren Frau Liping stattgegeben. Und deswegen brauchen sie unsere Hilfe.«

»Wenn diese Verurteilung dazu beitragen kann, die Flut illegaler Auswanderer aus China zu stoppen, dann nützt das beiden Staaten.« Chen tastete in seiner Tasche nach der Zigarettenschachtel. »Ich hasse diese westliche Propaganda, die unsere Regierung als Drahtzieher im Hintergrund hinstellt.«

»Es ist unserer Regierung nicht leichtgefallen, diesem Ersuchen nachzukommen.«

»Warum?«

»Nun, einige der alten Genossen mögen die Art nicht, wie die Amerikaner alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen.« Li bot ihm aus seinem Silberetui eine Filterzigarette der Marke »Panda« an, die nur höheren Kadern zugänglich war. »Auch wird es unseren Versuch, die illegale Auswanderung zu stoppen, nicht gerade fördern, wenn wir den Leuten auch noch ihre Familien nachschicken. Daß wir den Nachzug behindert haben, war eine unserer effektivsten Maßnahmen gegen den Menschenschmuggel. Die Leute brauchen Jahre, um dort als Asylanten anerkannt zu werden. Und wenn wir dann Schwierigkeiten mit dem Familiennachzug machen, dauert es noch viel länger.«

»Also müssen sie sich vorher gut überlegen, ob sie eine so lange Trennung in Kauf nehmen wollen.«

»Genau. Könnte Wen ihrem Mann jetzt schon folgen, würde das völlig falsche Signale setzen. Dennoch haben sich unsere Regierungen nach langen Debatten auf höchster Ebene zu dieser Kooperation entschlossen.«

»Sie erfolgt also im Interesse beider Staaten.« Chen wählte seine Worte mit Bedacht. »Wenn wir nicht kooperieren, werden die Amerikaner denken, wir hätten ein Interesse an der Fortführung des illegalen Menschenschmuggels.«

»Das ist genau das, was ich heute morgen bei einer Telekonferenz mit dem Ministerium gesagt habe.«

»Da die Einigung nun mal erzielt wurde, muß Wens Ausreise erfolgen.« Chen griff erneut nach dem Foto. »Aber warum müssen die U.S. Marshals dafür eine Beamtin bis nach Shanghai schicken?«

»Unsere lokale Polizei hat ziemlich lange gebraucht, um die nötigen Dokumente und Genehmigungen einzuholen. Feng seinerseits beteuert, er werde nur aussagen, wenn seine Frau vor dem Verhandlungstermin eintrifft. Die Amerikaner werden langsam nervös. Inspektor Rohns Reise dient angeblich dazu, Wen bei ihrem Visumantrag zu helfen, in Wirklichkeit aber will man uns unter Druck setzen.«

»Wann soll die Verhandlung beginnen?«

»Am vierundzwanzigsten April. Und heute haben wir den achten.«

»Dann müssen wir uns beeilen. In Ausnahmefällen können Visum und Paß doch sicher innerhalb von vierundzwanzig Stunden ausgestellt werden. Warum ist das eine Aufgabe für mich?«

»Weil Fengs Frau verschwunden ist. Das Ministerium in Peking hat erst gestern abend davon erfahren, und Inspektor Rohn ist bereits unterwegs.«

»Aber wie konnte das passieren?«

»Wir haben keine Ahnung. Wie auch immer, ihr Verschwinden bringt uns in eine höchst peinliche Lage. Die Amerikaner werden vermuten, daß wir die Abmachungen unterlaufen wollen.«

Oberinspektor Chen runzelte die Stirn. Für einen Normalbürger konnte die Ausstellung eines Passes Monate dauern, doch da die Zentralregierung grünes Licht gegeben hatte, hätte die lokale Polizeidienststelle sofort aktiv werden können. Und warum war Wen jetzt, nach dieser unerklärlichen Verzögerung, auch noch verschwunden? Womöglich war das Ganze ein abgekartetes Spiel. Wenn es um nationale Interessen ging, war alles möglich. Trotzdem war ein solches Szenario unwahrscheinlich. Peking hätte sich ja von Anfang an weigern können, mit den amerikanischen Behörden zu kooperieren. Ein Rückzieher zum jetzigen Zeitpunkt würde nur Gesichtsverlust bedeuten.

Doch statt Li seine Gedanken mitzuteilen, fragte Chen: »Und was sollen wir jetzt unternehmen, Parteisekretär Li?«

»Wir müssen Wen finden. Die lokale Polizei hat bereits mit der Suche begonnen, und Sie werden die Operation leiten.«

»Soll ich Inspektor Rohn nach Fujian begleiten?«

»Nein, die Ermittlungen werden von den Dienststellen in Shanghai und Fujian gemeinsam durchgeführt. Vorerst werden Sie Inspektor Rohn in Shanghai betreuen.«

»Wie kann ich Ermittlungen in Fujian leiten, wenn ich eine Amerikanerin in Shanghai betreuen soll?«

»Sie ist unser Ehrengast. Dies ist die erste chinesisch-amerikanische Zusammenarbeit in Sachen illegaler Einwanderung«, erläuterte Li. »Was kann sie in Fujian schon ausrichten? Außerdem könnte es dort gefährlich werden. Ihre Sicherheit hat oberste Priorität. Sie werden dafür sorgen, daß ihr Aufenthalt in Shanghai sicher und zu ihrer Zufriedenheit abläuft. Sorgen Sie für gute Unterhaltung, und halten Sie sie auf dem laufenden.«

»Zählt das zu den Aufgaben eines Oberinspektors der chinesischen Polizei?« Chen blickte auf die Fotos, die die Wände von Lis Büro zierten – die steile, ereignisreiche Karriere eines Politikers, der die Hände anderer Politiker schüttelt, Reden auf Parteikongressen hält, für das Polizeipräsidium repräsentiert, einen Termin nach dem anderen wahrnimmt. Li war der führende Parteikader des Präsidiums, dennoch zeigte ihn keines der Bilder bei der Ermittlungsarbeit.

»Aber selbstverständlich. So etwas gehört sogar zu den besonders wichtigen Aufgaben. Die chinesische Regierung ist entschlossen, den Menschenschmuggel zu unterbinden. Amerika darf daran nicht den geringsten Zweifel haben. Wir müssen Inspektor Rohn überzeugen, daß wir unser Bestes tun. Sie wird viele Fragen stellen, und wir werden sie informieren, soweit das möglich ist. Eine solche Aufgabe kann nur einem erfahrenen Beamten wie Ihnen anvertraut werden. Ich brauche wohl nicht extra zu betonen, daß es dabei eine Grenze zwischen innen und außen zu beachten gilt.«

»Und wo verläuft diese Grenze?« unterbrach ihn Chen, der seine Zigarette in einem Kristallaschenbecher in Schwanenform ausdrückte.

»Inspektor Rohn könnte zum Beispiel Zweifel hinsichtlich der Paßbewilligung hegen. Natürlich ist das Vorgehen unserer Behörden manchmal etwas bürokratisch, aber das ist doch überall auf der Welt so. Man sollte das nicht weiter hochspielen. Wir müssen immer den makellosen Ruf unserer Regierung im Auge haben. Sie werden schon wissen, was Sie sagen müssen, Oberinspektor Chen.«

Er wußte keineswegs, was er sagen sollte. Es würde nicht leicht sein, eine amerikanische Kollegin zu überzeugen, wenn selbst er seine Zweifel hatte. Das Eis unter seinen Füßen war dünn. Politik – Oberinspektor Chen hatte langsam genug davon. Entschieden stellte er seine Teeschale ab.

»Tut mir leid, Parteisekretär Li, aber ich kann diese Aufgabe nicht übernehmen. Ich bin nämlich gekommen, um über einen anderen Fall mit Ihnen zu sprechen. Heute morgen wurde im Bund-Park eine Leiche gefunden. Die Verletzungen weisen auf einen Triaden-Mord hin.«

»Ein Triaden-Mord im Bund-Park?«

»Ja, Hauptwachtmeister Yu und ich sind zu demselben Schluß gekommen. Wir haben allerdings noch keinen Hinweis, welche der Banden für den Mord verantwortlich sein könnte. Ich muß mich auf diesen Mordfall konzentrieren. Er könnte dem Ruf unseres neuen Shanghai schweren Schaden zufügen …«

»Da haben Sie recht«, unterbrach ihn Li. »Das dürfte ein Fall für Ihre Spezialabteilung sein, aber die Sache mit Wen ist dringlicher. Der Mord im Bund-Park kann warten, bis Inspektor Rohn wieder abgereist ist. Das würde keine allzu lange Verzögerung bedeuten.«

»Ich glaube nicht, daß ich der richtige Mann für die Ermittlungen im Fall Wen bin. Ein Beamter der Inneren Sicherheit oder des Auswärtigen Amtes wäre da bestimmt geeigneter.«

»Lassen Sie mich offen sprechen, Oberinspektor Chen. Es handelt sich um eine Entscheidung des Ministeriums in Peking. Minister Huang persönlich hat während der Telekonferenz Ihren Namen ins Spiel gebracht.«

»Aber warum, Parteisekretär Li?«

»Inspektor Rohn spricht Chinesisch. Daher legt Minister Huang größten Wert darauf, daß ihr Ansprechpartner nicht nur politisch verläßlich ist, sondern auch gut Englisch kann. Und Sie sind ein junger Kader mit hervorragenden Englischkenntnissen, der außerdem Erfahrung mit der Betreuung westlicher Gäste hat.«

»Wenn sie Chinesisch spricht, dann sehe ich nicht, warum ihr Partner auf unserer Seite Englisch können muß. Und was meine Erfahrungen als Betreuer angeht, so beschränken sie sich auf den Schriftstellerverband. Das ist etwas völlig anderes; da haben wir über Literatur diskutiert. Für diese Aufgabe wäre ein intelligenter Polizeibeamter bestens geeignet.«

»Inspektor Rohns Chinesischkenntnisse sind begrenzt. Einige unserer Leute hatten in Washington mit ihr zu tun. Sie hat sie bestens betreut, aber für Pressekonferenzen und ähnliches mußte ein professioneller Dolmetscher engagiert werden. Wir gehen davon aus, daß Sie die meiste Zeit Englisch sprechen werden.«

»Es ehrt mich, daß Minister Huang an mich gedacht hat«, sagte Chen langsam, während er nach einer offiziell klingenden Ausrede suchte. »Aber ich bin viel zu jung und unerfahren für eine solche Aufgabe.«

»Wollen Sie damit sagen, das sei ein Job für einen alten Hasen wie mich?« Li seufzte, im Morgenlicht wirkten seine Tränensäcke noch größer. »Lassen Sie die Jahre nicht ungenutzt verstreichen. Vor vierzig Jahren habe auch ich mich für Poesie interessiert. Erinnern Sie sich an die Zeilen von General Yue Fei? ›Verschwende deine Jugend nicht mit Müßiggang/ist dein Haupt erst weiß,/so bereust du es umsonst.‹«

Chen war verblüfft. Noch nie hatte Li mit ihm über Poesie gesprochen, geschweige denn ein Gedicht zitiert.

»Im Ministerium kam noch ein anderes Kriterium zur Sprache«, fuhr Li fort. »Der Kandidat soll ein positives Bild unserer Polizeikräfte vermitteln.«

»Was genau soll das heißen?«

»Finden Sie nicht auch, daß Inspektor Rohn ausgesprochen vorzeigbar ist?« Li warf einen Blick auf das Foto. »Und Sie werden auf ideale Weise die chinesische Polizei repräsentieren. Ein modernistischer Dichter und Übersetzer, der mit westlicher Literatur vertraut ist.«

Das Ganze wurde allmählich immer absurder. Was erwartete man eigentlich von ihm? Er sollte Schauspieler, Touristenführer, Dressman, PR-Experte sein – nur nicht Polizist.

»Das genau ist der Grund, warum ich diese Aufgabe nicht übernehmen sollte, Parteisekretär Li. Man zerreißt sich über meine Beschäftigung mit westlicher Literatur ohnehin bereits das Maul, spricht von bürgerlicher Dekadenz und schlechten Einflüssen. Wenn ich jetzt eine amerikanische Kollegin betreue, mit ihr essen gehe und sie zum Einkaufen und zu Besichtigungen begleite, anstatt meine Arbeit zu tun, was wird man dann erst von mir sagen?«

»Oh, Sie werden genug zu tun haben.«

»Was denn?«

»Wen Liping stammt ursprünglich aus Shanghai. In den frühen siebziger Jahren war sie eine jugendliche Intellektuelle, die aufs Land verschickt wurde. Sie hätte nach Shanghai zurückkehren können. Sie werden also auch hier einiges zu ermitteln haben.«

Das klang wenig überzeugend. Es bedurfte keines Oberinspektors, um Wens mögliche Kontaktpersonen zu überprüfen, allenfalls wenn man eine Amerikanerin damit beeindrucken wollte, überlegte Chen.

Li erhob sich und legte eine Hand auf Chens Schulter. »Das ist ein Auftrag, dem Sie sich nicht entziehen können, Genosse Chen Cao. Er liegt im Interesse der Partei.«

»Im Interesse der Partei!« Chen erhob sich ebenfalls. Unten auf der Fuzhou Lu war der Verkehr fast zum Erliegen gekommen.

Weiteres Argumentieren war zwecklos. »Sie haben wie immer das letzte Wort, Parteisekretär Li.«

»Das liegt wohl eher bei Minister Huang. In all den Jahren hat die Partei Ihnen immer vertraut. Wie lautete gleich das Konfuzius-Zitat, das Sie eingangs zitierten?«

»Ja schon, aber …« Er wußte nicht, wie er fortfahren sollte.

»Wir sehen ein, daß Sie den Fall zu einem kritischen Zeitpunkt übernehmen. Das Ministerium wird Sie daher mit Sondermitteln ausstatten. Ihr Budget ist unbegrenzt. Führen Sie Inspektor Rohn in die besten Restaurants, besuchen Sie Theater, machen Sie Bootsfahrten – was immer Sie für richtig halten. Geben Sie aus, soviel Sie können. Die Amerikaner sollen merken, daß hier nicht alle Leute arme boat people sind. Auch das ist internationale Verbindungsarbeit.«

Die meisten würden sich um eine solche Aufgabe reißen. Erstklassige Hotels, Unterhaltung, Bankette. China muß vor westlichen Besuchern sein Gesicht wahren, diese Maxime war Chen beim Training für auswärtige Zusammenarbeit immer wieder eingebleut worden. Doch eine solche Aufgabe hatte auch ihre Schattenseiten. Die Innere Sicherheit würde im Hintergrund über ihn wachen.

»Ich werde mein Bestes tun, Parteisekretär Li, aber ich habe noch eine Bitte.«

»Nur zu.«

»Ich möchte Hauptwachtmeister Yu Guangming als Partner.«

»Hauptwachtmeister Yu ist ein erfahrener Polizist, aber er spricht kein Englisch. Falls Sie Hilfe brauchen sollten, würde ich jemand anderen vorschlagen.«

»Ich möchte Hauptwachtmeister Yu nach Fujian schicken. Ich bin nicht unterrichtet, was die dortige Polizei bislang unternommen hat. Wir müssen herausfinden, weshalb Wen verschwunden ist«, sagte Chen und versuchte, Lis Gesichtsausdruck zu deuten. »Hauptwachtmeister Yu kann mich über die neuesten Entwicklungen dort auf dem laufenden halten.«

»Was werden die Kollegen in Fujian davon halten?«

»Sagten Sie nicht, daß ich die Ermittlungen leite?«

»Aber natürlich. Sie koordinieren die Operation. Es wurden bereits entsprechende Schritte veranlaßt.«

»Dann soll Yu heute nachmittag nach Fujian fliegen.«

»Wenn Sie darauf bestehen«, lenkte Li ein. »Brauchen Sie hier nicht auch Unterstützung? Sie werden Ihre gesamte Zeit Inspektor Rohn widmen müssen.«

»Doch. Außerdem habe ich noch andere Dinge auf dem Schreibtisch liegen. Und dann wäre da die Leiche im Park.«

»Wollen Sie sich diesen Mord im Bund-Park tatsächlich aufbürden? Ich glaube nicht, daß Ihnen dazu Zeit bleibt, Oberinspektor.«

»Zumindest müssen die Ermittlungen anlaufen. Das kann nicht warten.«

»Was halten Sie von Wachtmeister Qian Jun? Er könnte vorübergehend Ihr Assistent sein.«

Chen mochte Qian, einen jungen Polizeischulabgänger mit politischer Spürnase, nicht besonders. Doch konnte er Lis Vorschlag nicht schon wieder zurückweisen. »Gut. Ich werde die meiste Zeit mit Inspektor Rohn unterwegs sein. Wenn sich Hauptwachtmeister Yu aus Fujian meldet, kann Qian die Informationen an mich weiterleiten.«

»Außerdem kann er Ihnen mit dem Papierkram zur Hand gehen«, fügte Li hinzu und fuhr dann grinsend fort: »Ach, und für diesen Auftrag gibt es einen Bekleidungszuschuß. Vergessen Sie nicht, bei der Zahlstelle vorbeizugehen.«

»Ich dachte, so was gibt es bloß bei Auslandseinsätzen?«

»Auch für Besucher, die aus dem Ausland kommen, muß man seinen besten Anzug aus dem Schrank holen. Vergessen Sie nicht, daß Sie unser Aushängeschild sind. Wir werden Ihnen ein Zimmer im Hotel Peace besorgen. Dort wird auch Inspektor Rohn absteigen. Das ist praktischer für Sie.«

»Na ja …« Die Aussicht, in diesem berühmten Hotel zu wohnen, war verlockend. Und ein Zimmer mit Blick auf den Bund würde nicht nur ihm zugute kommen. Als man ihn einmal im Hotel Jinjiang einquartiert hatte, hatte er Yu und seine Familie zu einem heißen Bad eingeladen. Die meisten Familien in Shanghai besaßen kein eigenes Badezimmer, geschweige denn fließend heißes Wasser. Dennoch würde es keinen guten Eindruck machen, wenn er im selben Hotel wohnte wie die amerikanische Kollegin. »Das wird nicht nötig sein, Parteisekretär Li. Ich wohne nur zehn Minuten von dort. Das Geld kann das Präsidium sich sparen.«

»Recht so. Wir sollten immer der bewährten Parteimaxime folgen: Lebe einfach und arbeite hart.«

Als er Lis Büro verließ, überkam ihn eine flüchtige Erinnerung daran, was er vor nicht allzu langer Zeit in einem anderen Hotel erlebt hatte.

Wie kann Erinnerung wiederbringen,/was damals längst verloren ging?

Er hämmerte gegen den Aufzugknopf. Wieder einmal war der Aufzug steckengeblieben.