Impressum

Christa Johannsen

Suche nach Einstein oder im Prüfstand des Gewissens

 

ISBN 978-3-95655-619-7 (E-Book)

 

Herausgeber: Albrecht Franke

Albrecht Franke hat 2015 das Manuskript von Christa Johannsen lektoriert und für die Herausgabe vorbereitet, aber nicht vollendet.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Vorwort

Ich kriege dich, darauf – so endet der letzte Roman Christa Johannsens. Natürlich sollte man nicht verraten, wie ein Roman endet, auch wenn er hier abbricht. In diesem Falle muss man jedoch den unvollendeten Schlusssatz nicht nur zitieren, sondern man muss ihn voranstellen in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Warum? Weil es höchstwahrscheinlich die allerletzten Worte sind, welche Christa Johannsen schrieb.

Im April 1981 setzte sie in ihrer Magdeburger Wohnung, hoch über der Elbe, ihrem Leben ein Ende. Ihr damaliger Lektor sagte mir am Telefon, das war am 15. April 1981 – und schon begann die Geheimniskrämerei: Sie ist am Bad umgefallen, mitten in der Arbeit an ihrem „Einstein“, mit dem sie uns seit Jahren schon nervte. Im Raum aufgeschlagene Bücher, Mappen, eine Unzahl von Zetteln und Papierfetzen mit Notizen, verstreut auf Tisch und Teppich. In der Schreibmaschine der Bogen 330, Zigaretten lagen bereit, die Kaffeetasse war noch fast voll. Er fügte noch etwas an von Herzversagen, leichtem Schlaganfall, Aufzehrung an großer Aufgabe und so weiter. So habe ich es auch jahrelang kolportiert, ich wusste es nicht besser, und es klang so gut, es passte so gut. An ihrer Beisetzung konnte ich nicht teilnehmen, ich war mit Schülern anlässlich der bevorstehenden Jugendweihe im Harz unterwegs – es war in jenen Jahren nicht daran zu denken, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Und doch: Es wäre meine Pflicht gewesen, denn sie war meine „Schreiblehrerin“, jahrelang gehörte ich einer Gruppe „Junger Prosaisten“ ( hervorgegangen aus einem „Poetenseminar“ der FDJ) an, die, von ihr betreut, erste Schritte in die Literatur wagten.

Wie wichtig sie für uns gewesen war, wurde uns im November 2014 klar, als wir uns anlässlich einer Gedenklesung zu ihrem hundertsten Geburtstag im Literaturhaus Magdeburg wieder trafen. Dort findet man auch ihren literarischen Nachlass, der von ihren Testamentsvollstreckern später dem Archiv des Literaturhauses geschenkt wurde. Besonders wertvoll sind die Briefe, die sie über viele Jahre an ihre im Westen wohnende Freundin und Vertraute Lore Häfner schrieb. Und neben vielen Manuskripten findet sich dort auch „Suche nach Einstein oder Im Prüfstand des Gewissens“, der Roman, mit dem sie (siehe oben!) den Berliner Union Verlag genervt hatte.

Und bei der Vorbereitung dieser Edition wehte mich so etwas wie Verständnis für das Lektorat jenes Hauses an.

Denn in der DDR wäre dieser Roman nicht zu veröffentlichen gewesen. Wer jenes Land kannte und diesen Roman liest, wird dem zustimmen. Und das wiederum wäre einer Christa Johannsen nicht zu vermitteln gewesen. Immer verletzlicher wurde sie im Alter, die gefürchteten Donnerwetter und Schimpfkanonaden häuften sich. Und davon zeugt auch dieses Buch, das immer dann fasziniert, wenn die Verwünschungen beginnen. Und kurios: Nicht wenige von ihnen sind wohl auch heute einer political correctness nicht angemessen. Vielleicht ist es sogar die Stärke des Romans, den eigenen (auch manchmal schrägen) Blick auf Geschichte, Wissenschaftshistorie, Wissenschaftszukunft, DDR der achtziger Jahre, die Autobiografie zu wagen. Wie geschmackvoll es ist, im Gewande einer Professorin der psychiatrischen Wissenschaften selbst aufzutreten und die derbsten Sentenzen zu verkünden, das mag der Leser selbst entscheiden. Mit Vergnügen wird er manches lesen und sich vielleicht erinnern … an die Jahre des Pontifikats eines Papstes aus Polen, an die Aufregungen über die Streikbewegung in Polen, über die Zustände in Berlin, Hauptstadt der DDR. Freilich ist der Blick auf die Geschichte mitunter problematisch, und das wird deutlich bei den häufigen Rekursen auf weiter zurückliegende Perioden, etwa das Nazireich oder den Ersten und Zweiten Weltkrieg oder gar noch weiter Zurückliegendes. Nicht immer entgeht die Autorin dabei der Gefahr der Predigt. Andererseits: Dass in der Vergangenheit unsere Gegenwart zu suchen, zu begründen ist, das hat sie uns damals Junge gelehrt vor fast vierzig Jahren. Von fast unheimlicher Aktualität sind die Passagen des Romans, in denen sie sich, „Einstein suchend“, mit den Mitteln und Möglichkeiten moderner Wissenschaft, der Ethik des Wissenschaftlers, aber auch dem Missbrauch der Erkenntnis befasst.

Und darum ist es auch nicht von so großer Bedeutung, dass der Roman unvollendet blieb – seine Geschichte rundet sich dennoch. Ich kriege dich, darauf – großartige Worte wie „Vermächtnis“ und „Gabe“ passen nicht recht zu Christa Johannsen, nicht zum Roman und zu seinem Inhalt. Dass er dennoch etwas in dieser Art ist, das liegt an Christa Johannsens Stoffwahl und der zupackenden Art ihres Schreibens, das weder den philosophischen Traktat scheut noch die Klamotte in Wild-West-Manier.

Es übersteige eines Autors guten Willen, schrieb Christa Johannsen, falls er keinen Zugang zu den Quellen habe, einen Kosmos zu gestalten mit dem sehr engen Horizont vor seinem tumben Blick. Ein Manöver der Dialektik sei es, dass Einstein, nach dem im Buch gefahndet werden solle, gleichfalls tumb in allen übergreifenden Dingen gewesen sei. Und sie setzt in diesem Brief (23.6.1975) an Lore Häfner fort: „Ich glaube, ich kann „Auf der Suche nach Einstein“ nur machen, weil Einsteins sagenhafte Naivität in politici und seine Intoleranz,  seine Gutgläubigkeit und sein Beharren auf Dingen, von denen er nun wirklich nichts verstand, tief meiner Natur entsprechen.“

Wahrscheinlich darum lässt einen der Roman nicht unberührt zurück.

Albrecht Franke

 

Zur Edition

Das Manuskript des Romans wird aufbewahrt im Archiv des Literaturhauses Magdeburg. Der Herausgeber dankt Dr. Gisela Zander und Ute Berger (Literaturhaus Magdeburg) für ihre Unterstützung und Hilfsbereitschaft. Wenn aus Briefen an Lore Häfner zitiert wird, so befinden sich die Originale im Archiv des Literaturhauses Magdeburg.

Ich habe mich bemüht, so viele „Eigenheiten“ der Schreibweise Christa Johannsens wie möglich für diese Edition zu bewahren. Dazu gehören etwa die Vorliebe für Gedankenstriche, mit denen Sätze abbrechen oder wieder aufgenommen werden, nachlässig, saloppe oder schnoddrige Umgangssprache, Dialekte, aber auch selten gebrauchte Fremdwörter und Wissenschaftsvokabular. Christa Johannsen liebte auch Formen des modernen Erzählens, etwa den stream of consciousness. Doch hat sie in diesem Manuskript dabei keine Konsequenz walten lassen, im Teil IV des Typoskriptes gibt es einige ganz kurze Passagen, die konsequent ohne Interpunktion und in durchgehender Kleinschreibung gestaltet sind. Da diese Gestaltungsweise dort willkürlich ist, überhaupt nicht aus dem Text hervorgeht und verwirrend wirkt, habe ich mich zur Umwandlung entschlossen. Beibehalten habe ich die Gestaltung dieses Kapitels ohne Absätze, auch manche eigenwillige Zeichensetzung der Autorin im gesamten Text. Korrigiert habe ich sonst nur offensichtliche Irrtümer Christa Johannsens, besonders bei den Namen des „Personals“ des Romans.

Albrecht Franke

 

Biografischer Hinweis

Christa Johannsen wurde 1914 in Halberstadt geboren. Über ihr Leben berichtet sie in dem nicht unproblematischen Buch „Zeitverschiebungen“. Das Buch „Suche nach Einstein oder Im Prüfstand des Gewissens“ zeigt, dass ihre Biografie, besonders zwischen 1933 und dem Ende der vierziger Jahre, genauer erforscht und beschrieben werden müsste. Christa Johannsen lebte in Magdeburg, war dort auch einige Jahre Vorsitzende des Bezirksverbandes der Schriftsteller. Sie schrieb Romane, Erzählungen und Reportagen. Wichtig und faszinierend ist ihr Roman „Leibniz“, für den sie 1974 den Lion-Feuchtwanger-Preis der Akademie der Künste (der DDR) erhielt. Große Bedeutung maß sie der Förderung und Betreuung des literarischen Nachwuchses bei. Sie starb am 9.4.1981 in Magdeburg.

Albrecht Franke

Einführung

Es ist nicht wenig, was man über ihn weiß oder zu wissen glaubt. Er war kein Anonymus. Seine zahlreichen Biografien in Ost und West scheinen vom Gegenteil überzeugt gewesen zu sein. Durchaus hat er, was wir ihm gleich zu Anfang attestieren möchten, die Welt in Bewegung – sagen wir besser: in Aufruhr versetzt.

Zum Phänomen Albert Einstein fällt der Zugang nicht schwer – für wen? Das bleibt die Frage. War er ein Phänomen?

Er hat nichts erfunden, er hat entdeckt, wie beispielsweise Röntgen die nach ihm benannten Strahlen nicht erfunden, sondern entdeckt hat. Albert Einstein, halten wir’s fest, war auf seinem Gebiet – die der theoretischen Physik – ein großartiger Entdecker, weil ihm ein eingeborenes Talent eignete: Einstein war neugierig. Er beklopfte gleichsam die Natur, er befragte sie einfältig, und sie gab ihm Antwort. Er war ein Stück Natur. Dieser Umstand machte ihm den Zugang zu den so genannten exakten Wissenschaften (und zu deren Vertretern) außerordentlich schwer.

Albert Einstein war ein miserabler Mathematiker, das begriff er in Zürich, nachdem er als Gymnasiast in München ohnehin Schiffbruch erlitten hatte – und nicht wegen der Mathematik. Ganz gewiss nicht. In autoritär geleiteten Gymnasien zu seiner Zeit, zumal in Bayern, konnte man mit aus dem Rahmen des Gebotenen herausfallenden Existenzen nichts, aber auch gar nichts anfangen. Einstein, sagte denn auch ein Professor des Instituts, den wir uns vollbärtig vorstellen müssen, aus Ihnen wird ein Lump. Und sonst gar nichts, fügen wir hinzu. Es sind nicht immer die Braven, die es zu etwas bringen. Die Straßen unseres minimen Planeten wären bequem befahrbar, wenn sie nur mit Bravheit, mit Dummheit, mit Feigheit bepflastert wären. Der Planet ließe sich leichter in den Griff bekommen.

Albert Einstein erregte Anstoß, das müssen wir zu Buche schlagen. Er war anders. Aber warum?

Im Tierreich gibt es diese Fälle, wo ein Tier aus der Art schlägt. Es hat – vielleicht – ein paar weiße Federn, die es zum Outsider stempeln, weil man eben als Spatz im grauen Gefieder keine weißen Federn haben darf. Was tut die Gattung? Der Vogel oder Hund wird zu Tode strapaziert. Die Gattung Mensch, alles in allem genommen, kennt diesbezüglich auch kein Mitleid.

Wir sehen den Schüler Albert Einstein in einer muffigen Klasse seines Münchner Gymnasiums sitzen, er nimmt ja wohl sogar am katholischen Religionsunterricht teil, doch ist er seinen Lehrern suspekt – keine sonderliche Reputation, die Eltern, ziemlich windige Personen, in Italien neuerdings, Juden, natürlich, außerdem hört der Bursche nie richtig zu, er ist mit anderem befasst. Er verfügt über etwas, das deutsche Oberlehrer seit eh und je verabscheuen: Fantasie. Wo kämen wir hin, nicht wahr, wenn wir jedem Spinner seine Spinnereien zubilligten. Wo kämen wir denn hin, nicht wahr?

Heute.

Bayern ist Bayern geblieben, und Bayern ist, leider, immer noch überall. Um der Gerechtigkeit willen fügen wir sogleich hinzu: Preußen ist Preußen geblieben, und Preußen hat Revolutionen verhindert, auch Preußen – ein Anachronismus – wirkt in den Geistern munter fort. Historische Prozesse sind lang dauernde Gärungsprozesse. Man pflegt das gern zu vergessen.

Er hatte es seinerzeit gut in Preußen, also in Berlin. Der Einstein. Doch davon später.

Uns interessiert der Mensch, der irgendwann einmal (wie er selber gestand) auf den Knopf drückte. Dieser Knopfdruck bewirkte grünes Licht für das so genannte Manhattan Programm, führte nach Los Alamos und zu einschlägigen Forschungszentren. Das Ergebnis war die Bombe. Wir wissen es.

Noch gestatten wir uns nicht, vom Eiland der Physiker zu reden, der großen Familie, die, mehr oder minder im Abseits befindlich, Glasperlenspiele betrieb.

Unser Mann bleibt in gewisser Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Er war weltfremd. Das waren viele seiner Kollegen auch. Im Gegensatz zu manchen aus der Physiker-Provinz mischte er sich in Dinge ein, von denen er absolut gar nichts verstand. Ich entschloss mich, Politiker zu werden, äußerte einst Adolf Hitler, der Anstreicher und Gefreite des Ersten Weltkrieges. Einstein hätte es nicht nötig gehabt, direkt ins politische Geschehen einzugreifen. Er tat es. Der Mann, der zu Recht befand, der Euklidische Raum sei leer, der ein Beziehungsgefüge ohnegleichen herstellte mit seiner simpel erscheinenden Formel, dass Energie gleich Masse wäre, multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit (E=mc2), zerstörte ein vorgefasstes Weltbild. Er hatte tief geschürft bei seinen Vorgängern. Aus der Sicht des späteren Augenblicks könnte man sagen: Er hat verdichtet, was bereits vorhanden war. Das war eine geniale Leistung. Der junge Mann in Zürich und Bern muss besessen gewesen sein von seiner Theorie, es gehe durchaus nicht mehr an, eine Denkart innerhalb bloß eines einzigen festen Koordinatensystems festhalten zu wollen. Die neue Mathematik, die er sich mithilfe von Freunden zu eigen machte, indem er sie zu eigenem Gebrauch zu nutzen verstand, lehrte die Gültigkeit nebeneinander bestehender Gegensätze und selbst die Aufhebung der überkommenen Logik in bestimmten Fällen. Einstein fragte, das war 1905, und es war eine Frage an sich selbst: Kann man die Masse eines Körpers definieren, ohne seine Bewegung und damit seine Energie zu berücksichtigen?

Die Antwort lautete: Nein.

Der Euklidische Raum wäre leer? Das müssen wir zu begründen versuchen: Einsteins Raum-Zeit-Welt war ein reales Gebilde, in welchem physikalische Prozesse ablaufen und beobachtet werden. Ihre Struktur wird durch die in ihr enthaltene Materie bestimmt, und die Materie krümmt und schließt diese Welt, weil das Wesen von Raum und Zeit eben darin besteht, Materie einzuschließen. Das sind die Ideen, mit denen Einstein die Makro- und Mikrowelt revolutionierte. Wir können nicht umhin einzugestehen, dass ihr Einfluss weit über die Naturwissenschaft hinausgegriffen hat. Es waren in der Tat umwälzende Ideen, deren Gültigkeit sich über Mathematik und Physik bis zur Frage der Beziehungen zwischen Mensch und Welt erstreckte.

Es waren unruhige Zeiten – damals. Preußen-Deutschland steuerte den ersten Weltkrieg an. Es blieben unruhige Zeiten – nach der Niederlage. Und wir müssen doch einmal rigoros aussprechen, dass dem neuen Herrn im Kreml dieser Art von Dialektik überhaupt nicht schmeckte. Er war kein Philosoph und tolerant dazu aufgrund fundierten Wissens, er hieß Stalin.

Inzwischen sieht man in Einstein da drüben in Moskau den Propheten. Er hat ja alles im Gesellschaftlichen mit seiner Lehre wohl bedacht.

Lassen wir auch dieses einstweilen dahingestellt sein. Wichtiger erscheint uns, ihn abzubilden mit unseren Mitteln. Die sind beschränkt. Zugegeben.

Wir fragen uns, warum es Max Planck, um nur einen aus dem illustren Kreis zu nennen, nie gelang, populär zu werden. Und haben eine vorläufige Antwort bereit: Planck war soigniert, zurückhaltend, außerordentlich diszipliniert. Davon, meinen wir, konnte bei Einstein die Rede niemals sein. Man muss wohl viele Demütigungen ertragen haben, um sich anders zu benehmen und zu bewegen.

Gewiss – auch Madame Curie genoss Weltruhm, doch schätzte sie es wenig sich bei jeder Gelegenheit zu präsentieren. Sie war eine Scheuerfrau, und leistete des ungeachtet – Ungeheures an Mitmenschlichkeit im Krieg und im Frieden. Wäre ihre jüngere Tochter Eve nicht gewesen, die das Leben der Mutter liebevoll aufzeichnete, wir hätten kaum Kenntnis davon. Wir wollen nicht werten, das stünde uns schlecht zu Gesicht. Wir sagen lediglich: Einstein war anders. War Einstein der letzte Clown des ausgehenden Jahrtausends?

Er galt als das Enfant terrible unter seinesgleichen, doch nahm man ihn ernst, vielleicht zu ernst. Immer aus der Sicht des späteren Augenblicks. Er setzte sich in Szene, welcher Umstand ihm selber unbewusst geblieben sein mag. Er war eine interessante Type – im Gegensatz zu seinen Fachkollegen. Und er hasste die Deutschen. An dieser folgenschweren Verallgemeinerung gingen – im Endeffekt – Hunderttausende unschuldiger Japaner zugrunde.

Er war ein Physiker von hohen Graden und ein Politiker ohne Verantwortung. Die Klammer, die beide zusammenhielt, war der Ruhm. Ohne den spektakulären Ruhm nicht die Wirkungsmöglichkeiten dieses Gelehrten, ohne seine politische Unschuld und Unkenntnis der Wirklichkeit nicht seine Entgleisungen. Diese sind zahllos.

Hat er je bedacht, dass es ein Sprichwort im deutschen Sprachraum gibt von dem Schuster, der gefälligst bei seinem Leisten zu bleiben habe? Er hat es bedacht, doch lebte er in einem Universum eigener Schöpfung. Er hatte drei Ideale: Internationalismus, Pazifismus, Sozialismus. Und der Leisten für den Schuh dehnte sich etwas aus. Wie denn auch nicht in einem Universum eigener Schöpfung. Zweifelsohne: der Mann hat für seine Irrtümer bitter bezahlen müssen. Man kann nicht leben mit Ressentiments und einem großen Namen, man kann wohl nur Leben unter dem Zeichen von Verantwortung und Liebe.

Hat er je geliebt?

Wir wagen diese Frage an den Rand seiner Existenz zu rücken.

Hat er je Verantwortung gespürt – nämlich für die Lebenden? Wir können das nicht annehmen.

Man gibt einen großen Namen nicht her für wertlose Dinge, die dann in ihr Gegenteil umschlagen, also bedeutsam werden. Man bleibt nicht ungestraft ein Kind, das Manifeste unterschreibt, von denen es nichts versteht.

Wir postulieren: Einstein wurde nicht umsonst zum Petrefakt in der Abgeschiedenheit von Princeton, seinem Refugium.

Gott spielt nicht Würfel – wie stolz das klingt.

War Einstein gottgleich?

Er war ein armer Teufel – und sonst nichts.

Wir kommen darauf zurück.

1. Kapitel

Erde zu Erde, sagte der Pfarrer. Er stand zu Füßen des Sarges, der eben zwischen Lehmwällen verschwunden war, und die Erde ließ sich schwer abheben aus der Schale, deren in den Boden gerammter Schaft bedenklich schwankte. Der Pfarrer bemühte sich, die erste Handvoll, die zweite, die dritte zu zerbröseln. Es gab jedes Mal einen dumpfen Laut in der Tiefe. Oben in den Wipfeln der Bäume rauschte noch immer der Sturm. In der Nacht hatte es Windbrüche gegeben in den Wäldern, hier hatte der scharfe Ostwind nicht viel anrichten können – wegen der Harzwälder. Sie überschirmten den stillen Ort, diesen Friedhof der großen Namen, sie bewahrten ihn vor der Zerstörung, weil es jenseits den Harz gab.

Erde zu Erde, wiederholte der Pfarrer, und er bedachte alles und hielt sich, obgleich es ihm schwerfiel, an die strikten Anweisungen der Toten.

Es war ein Begängnis besonderer Art, denn die da unten, er erwog es in seinem Herzen, hatte so gar nicht dem verdorrten Gras geglichen, das dahingeht am Abend, denn niemals war ihr Leben Geschwätz gewesen.

Im Halbkreis vorn nahm sich die Trauergemeinde stattlich aus. Die in den hinteren Reihen trugen weniger elegantes Zeug. Einige junge Leute waren in zerrupften Schafspelzen erschienen, deren Herkunft auf polnische Flohmärkte hinwies. Es war rührend zu sehen, dass die jungen Leute billige kleine Sträuße mitgebracht hatten: Schneeglocken, Märzbecher, Krokus und Zwergtulpen.

Als die Reihe an sie kam, warfen sie diese Vorboten des Frühlings in die Gruft. Und es kam eine junge Frau, die sich in einem gar nicht schäbigen Mantel präsentierte, sie trat dicht an die Grube heran. Und zielte. Behutsam. Und ihr Mimosenzweig landete genau dort, wo er hingehörte, links, über dem Herzen Marias.

Eine Geste. Nicht mehr. Aber die junge Frau wusste, was die Geste bedeutete. Sie hatte einen Auftrag erfüllt. Mit dem Mimosenzweig. Sie wusste: wir sind hier nicht in römischen Gärten, aber ihr seid nun wieder zusammen mit eurer Liebe für Zypressen und Olivenhaine und für den Deutschen Friedhof in Rom. Ihr beide. Was kommt‘s drauf an, wir sind hier nicht in römischen Gärten, hier ist allenfalls der Ort, von dem man ablesen kann, wie alles gekommen ist. Rom oder Göttingen, Denkmäler dort wie hier. Und du hast ja ein Erbbegräbnis, liebe Maria, dein Großvater Hilffert an deiner Seite. Planck nicht weit entfernt von euch, und Otto Hahn gleich nebenan. Was kommt‘s drauf an.

Sie hatte unverhältnismäßig lange an diesem Grab verweilt, nun kehrte sie sich ab. Windbruch, dachte sie, was kommt‘s drauf an. Ich bin ja nur in Stellvertretung hier. Ich werde weiter meinem Job nachgehen und Karriere machen. Was kommt‘s drauf an. Ich muss für meinen Sohn sorgen, und alles ist eitel. Alles ist egal.

Vermutlich war dies meine letzte gute Tat. Man soll guten Taten nicht nachtrauern.

Hälloh – Lore – wart doch bitte!

Ach, sagte sie, du bist das, Jon.

In diesem Augenblick geschah Entscheidendes. Es mochte an der Dame im Zobel liegen, die kurz die Brauen hob, was ihr gut zu Gesicht stand, und sich bündig ins Gespräch mischte. Sie verfügte über ein sonores Organ, die Gräfin Knipphoff, und das setzte sie nun ein.

Meine Liebe, sagte sie, es ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie an Abreise denken. Eine ehrenvolle Berufung, falls ich recht unterrichtet bin. Berkeley – nicht wahr?

Du gehst nach Berkeley, fragte Jon, und er sah so verloren aus, dass sie Mitleid mit ihm hatte.

Du musst nicht trauern, sagte sie, es gibt keinen Grund.

Unwillkürlich schaute sie sich nach den schäbig gekleideten jungen Leuten um, aber die waren verschwunden. Ja, Gräfin, fuhr sie fort, ich folge einer Berufung, aber nicht nach Berkeley.

Interessant, erwiderte die Gräfin. Darf man wissen, warum Sie aus Frankfurt gekommen sind, um Maria Klausing die letzte Ehre zu erweisen?

Was geht Sie das an? Sie entschuldigen mich wohl. Ich will zurück – nach Frankfurt. Die Autobahn in Richtung Frankfurt ist nicht so sehr gut abgestreut, und gegen den Abend zu wird es wieder schneien. Adieu.

Halt, Lore – das war die Stimme des Pfarrers.

Ja, bitte?

Ich lasse Sie nicht abfahren, ich habe mit Ihnen zu reden. Sie sind uns eine Erklärung schuldig – bitte, Lore.

Was für eine Erklärung?

Warum ist Frau Haien nicht hier, warum haben Sie den Mimosenzweig geworfen – ich kenne die Zusammenhänge –

Wirklich?

– meine die Zusammenhänge zu kennen.

Wirklich?

Der Pfarrer gab auf. Besuchen Sie mich, sagte er. Sein Talar wehte, als er sich entfernte.

Sie würde ihn besuchen, den Pfarrer Berger, sonst band sie nichts mehr an Göttingen, Lore Manz, die einen Sohn hatte, der der illegitime Enkel der Gräfin Knipphoff war, Doktor Eleonore Manz, bis zum nächsten Ersten beschäftigt in den Laboratorien jenes Chemiekonzerns, der Weltruf genoss und weltweit engagiert war.

Sie wäre gern in einer billigen Studentenkneipe untergetaucht, sie hätte gern mit jungem Volk ein paar Gläser geleert auf Maria Klausings Wohl. Aber die Studentenkneipen waren gar nicht mehr nach ihrem Geschmack. Und nun kamen ihr endlich Tränen. Sie hätte so sehr gern Bier und Köm getrunken.

Meine Liebe, hörte sie die Gräfin sagen, mein Mann und ich würden uns freuen, wenn Sie im Gästehaus übernachten würden. Wir empfangen die nächsten Angehörigen, Sie verstehen. Also – neunzehn Uhr im Schloss. Oh, ich vergaß: Sie werden Professor Klausing kaum kennen, er ist ja noch nicht lange wieder in Deutschland.

Der Mann, der groß und schlank und grauhaarig war, verbeugte sich. Ich bin, sagte er, ich war der Sohn. Und dies, setzte er fort, ist meine Nichte –

Professor Boström, erklärte die Gräfin, und unverhohlener Stolz schwang in ihrer Stimme mit.

Professor Boström, groß, und schlank und blond, war wunderbar angezogen und trug eine attraktive Brille. Ich heiße Juliane, sagte sie schlicht, und ich habe Großmutter geliebt. Die legendäre Enkelin Maria Klausings. Tochter eines legendären Vaters und einer nicht minder legendären Mutter. Sie war ja wohl sogar in der Sowjetunion aufgewachsen.

Fahr nicht, Lore, sagte Jon Dodge, es wäre Wahnsinn. Jonathan Fitzgerald Hermann Dodge, der jetzt einen Backenbart hatte (sie kannte ihn glattrasiert) und ihre Schultern umfasste, kurz nur, sie befreite sich sanft von seinen Händen.

Fahr nicht, wiederholte er, du gerätst in die Nacht, und es gibt so viel zu besprechen.

Danke, sagte sie, du musst nicht traurig sein, sie war gesegnet, unsere alte Freundin. Lebt wohl, John.

Sie ging zwischen Gräberreihen davon, sie ähnelte sehr den standhaften Zinnsoldaten aus Andersens Märchen, ihre Augen waren trocken, aber als sie in ihrem Auto saß, kam neuerdings ein Tränenstrom, so dass sie blind war und ihre Stirn sekundenlang auf das Lenkrad legen musste. Aber dann – aufrechter Zinnsoldat – drehte sie den Zündschlüssel und preschte davon.

Sie hatte Hunger. Sie parkte ihren BMW und befand sich in der Fußgängerzone, und sie fand auch eine Kneipe, in die sie nicht mehr so recht hineingehörte. Diese Kneipe. Ausgestattet wie eh und je, nur dass es keinen gemütlichen Wirt hinter der Tonbank mehr gab. Der Wirt von damals hatte jedem Studenten Kredit eingeräumt. Warum gehörte sie hier nicht mehr dazu?

Bitte, gnädige Frau, sagte ein Kellner in blütenweißem Hemd mit grüner Latzschürze.

Dunkler Schlauch. Der Kellner lotste sie in eine Nische. Früher war sie niemals gnädige Frau gewesen, bloß eine Studentin in Jeans, die auf Pump billigen Rotwein bekam. Diese Kneipe. Sie hatten stundenlang debattiert – damals. Das war vergessen und vorbei. Sie hatten Aufstand gespielt, und der Wirt hatte sie mit Wohlgefallen betrachtet. Der Wirt. Nicht zu viel denken, hatte er gesagt, glaubt mir, Kinnings, auch ihr werdet euch anpassen, das ist nun mal so, da könnt ihr gar nicht gegen anstinken. Ich bin ein alter Mann, hatte er gesagt, und ich kenne mich aus. Die oben, Kinnings, lassen euch einstweilen auf euren Spielwiesen. Dabei denken sie fortwährend: Was für ein Glück, dass die Menschen nicht denken wollen. Spätestens dann, wenn ihr eure Examen hinter euch haben werdet, glaubt mir, ändert euer Elan. Ihr hört auf zu denken und jagt nach gut dotierten Positionen. Und er hatte Brötchen vor sie hingestellt, kostenlose, und Sie hatten gefunden, dass der gutmütige Wirt mit seinem Mondgesicht die politische Lage nicht begriffen hatte.

Was für ein Fehlschluss!

Was darf‘s sein, gnädige Frau?

Löffelerbsen, sagte sie, und ein kleines Helles.

Wie Sie wünschen, sagte der Kellner, und er verbarg seine Enttäuschung schlecht. Liebe Güte – eine Terrine Löffelerbsen und ein kleines Helles. Er hatte sich verschätzt. Immer diese Sentimentalitäten ehemaliger Studenten. Es war zum Kotzen. Ich hätte Hasenpfeffer anzubieten, sagte er, oder Rehragout, wir haben auch zarten Wildschweinbraten.

Ich möchte Löffelerbsen, wiederholte sie, und ein kleines Helles.

Selbstverständlich, Frau Doktor, sagte der Kellner, sofort.

Die Kneipe gehörte zu einer Kette ähnlicher Kneipen, die Bier und Schnaps ausschenkten und Löffelerbsen mit Speck feilhielten. Der Korn kam aus den Brennereien vom Grafen Knipphoff. Graf Knipphoff war der Besitzer der Kneipen, eine Art Wohltäter wegen der billigen Erbsensuppe. Und er hatte ja auch wacker mitgeholfen, der alten Alma Mater ein anderes, ein neues, angepasstes Gesicht aufzuprägen.

Wie hatte Maria Klausing formuliert?

Ich wohne nun jetzt in dieser komfortablen Wohnung, und ich sehe zu, wie sie alte Bäume fällen und mit ihren Bulldozern alte Villen wegschaufeln. Auch unser altes Haus ist nun bald an der Reihe. Hier im Souterrain wird demnächst etwas frei, Lore. Ziehen Sie ein, bevor es zu spät ist. Ich werde mit dem Grafen reden, er wird Verständnis dafür haben, dass ich Ihrer Unterstützung bedarf. Ihren Jungen versorge ich, aber das bleibt unter uns. Und heulen Sie nicht, Lore, das nützt überhaupt nichts. Habilitieren Sie sich; ich werde dafür sorgen, dass das alte Göttingen – in gewisser Hinsicht – unsterblich bleibt.

Lore Manz aß, lustlos, Löffelerbsen mit Speck. Sie schmeckten irgendwie fad, nicht mehr so wie beim ehemaligen Wirt mit dem Vollmondgesicht, dessen resolute Gattin Wert gelegt hatte auf solider Hausmannskost. Sie bezahlte einen verhältnismäßig geringen Betrag, und der Kellner sah ihr kopfschüttelnd nach. Ein kleines Helles, halb geleert. Und nicht mal die Löffelerbsen hatte die Dame aufgegessen. Zweifellos – Sie war eine Dame.

Ein paar Studenten blickten ihr hinterher. Einer sagte: Das war doch die mit dem Mimosenzweig. Komisch. Ein anderer sagte: He, Willy, noch mal dasselbe. N‘ Kurzen und n‘ großes Pils. Wer war’n die Mieze? Mieze, sagte ein dritter, ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Kellner Willy zuckte die Schultern. Keine Ahnung, sagte er.

Der Pfarrer kam selbst zur Haustür, und er trug Jeans und einen Rollkragenpullover, und er brachte sie gleich in seinem bücherumstellten Refugium unter. Heute, sagte er, trinken wir Tee mit viel Rum drin. Meine Frau ist in Kopenhagen, auf einem Kongress, Sie müssen mit mir vorlieb nehmen. Was ist mit Biggy – ich meine Frau Haien? Der Kachelofen strahlte wärmer aus, und der Pfarrer zelebrierte seinen Tee. Ostfriesische Mischung. Doch kam nicht Milch hinein, sondern Alkohol, hochprozentiger. Und kubanischer Zucker. Und es gab Friesenkuchen. Andere Leute nannten so etwas Heidesand. Aber der Pfarrer war gebürtiger Ostfriese und hielt an Traditionen fest.

Ach, Padre mio, sagte Lore Manz, das müssten Sie doch nun wirklich wissen. Wie sollte sie denn zum Begräbnis zurechtkommen, wenn dieser Klausing telefoniert, und dann – zu spät – sein Telegramm aufgibt. Sie war doch nicht mit Maria verwandt, und da gibt es eben diese Windbrüche zwischen Ost und West.

Der Pfarrer strich seinen Schnurrbart, fuhr auch über seine Wangen und sann dem eben Gehörten eine Weile nach. Es ist, sagte er, eigentlich nicht zu fassen. Aber erzählen Sie mir, warum sie rechtzeitig eingetroffen sind mit ihren Mimosen.

Ich hatte einen Auftrag, erwiderte sein Gegenüber.

Ich weiß, sagte der Pfarrer, ich weiß. Und da er redlich war, fügte er hinzu: Ich glaube zu wissen. Sie sind ja nicht von ungefähr von Göttingen weggegangen. Sie haben ja nicht von ungefähr Umwege eingeschlagen. Man kann an solchen wie Ihnen nicht vorbei. Immerhin haben Sie eine Vergangenheit. Es ist die Vergangenheit Ihres Vaters. Und nun sind Sie gekommen, und ich darf mir die Frage gestatten: Wer betreut indessen Ihren kleinen Sohn?

Ich lebe mit einer Freundin, entgegnete Lore kurz. Sie ist Dolmetscherin, fünfsprachig, falls Ihnen das etwas sagt. Dolmetscherin im engsten Direktionsbereich von Hoechst – wenn Ihnen das etwas sagt.

Einiges, entgegnete der Pfarrer. Ich will nicht neugierig sein, fuhr er fort, Sie brauchen nicht zu antworten. Warum haben Sie Ihre akademische Laufbahn aufgegeben, um nun – in Kalifornien – eine akademische Laufbahn zu beginnen?

Ich bin kein Immigrant.

Darüber bin ich mir im Klaren, Lore. Zigarette?

Danke, ich rauche nicht mehr.

Sie musterte ihn, während er sich seine Pfeife stopfte. In zwei Stunden würde er aufbrechen müssen, um zum Empfang im Schloss Knipphoff zurechtzukommen. Er würde seinen VW in Gang setzen, der natürlich nicht gleich anspringen würde, und er würde seinen guten schwarzen Anzug tragen. Hoffentlich, dachte sie, wählt er die richtige Krawatte. Hoffentlich hat er halbwegs saubere Hände und ist ordentlich gekämmt, bevor er die Halle betritt. Eigentlich müsste ich ihm ein bisschen behilflich sein, dachte sie, wo doch seine Frau wieder einmal an einem Kongress teilnimmt. Diese beflissenen Frauen. Mischten sich in alles ein, und es ging nichts vorwärts. Leider.

Wo ist Oda, fragte sie. Oda war seine Jüngste, aufsässig, wie sie selber einst gewesen war, und er hing an ihr, der Pfarrer Berger.

Entwicklungshilfe, entgegnete er vage.

Aha.

Sie hat ihr Studium geschmissen, setzte er fort, wir Alten im alten Europa sind krumme Typen für sie, aber sie schreibt jetzt öfter, und jeder Satz, den sie zu Papier bringt, enthält eine Anklage. Nein, wehrte er mit einer Handbewegung ab, nicht, was Sie denken. Neuerdings richten sich ihre Anklagen gegen den Papst, den sie reisewütig nennt, gegen den Clan um Mistress Gandhi und – er pausierte – gegen Mutter Theresa. Sie erinnern sich: diese Ordensfrau, die vor einigen Jahren den Friedensnobelpreis empfing. Sie meint, Frau Gandhi sollte endlich aufhören, heilige Kühe zu schonen, und Mutter Theresa sollte endlich anfangen, mehr Krankenbetten zu installieren. Dieser Subkontinent, nicht wahr, ich begreife nicht, warum sie sich da herumtreibt, solche wie sie ändern doch nichts.

Da bin ich nicht Ihrer Meinung, Padre, wenn junge Leute unterwegs Dummheiten machen, so stehen sie doch dafür. Zumindest sammeln sie Erfahrungen – oder irre ich?

Haben Sie Erfahrungen gesammelt?

Durchaus. Geben Sie mir doch eine Zigarette und gehen sie sparsamer mit Ihrem vorzüglichen Rum um. Diese neue Generation ist verdammt ehrlich, ehrlicher als wir – damals. Sie quatscht nicht blöd herum, die Besten dieser Generation tun etwas. Mitunter am falschen Fleck – das sei eingeräumt. Ihre Oda handelt, so wie ich sie kenne. Und Ihre Frau redet. Das ist der Unterschied.

Und Sie gehen nach Berkeley.

Richtig – ich gehe nach Berkeley. Sie müssen diesen Hergang richtig begreifen, und ich will Ihnen auch jetzt eine Antwort auf Ihre Frage von vorhin zu geben versuchen. Die Vergangenheit meines Vaters hat mir nie geschadet, eher genützt. Mein guter Vater hatte sich ja eine neue Frau genommen, und mit dieser Frau hat er eine stattliche Zahl von Kindern – Stiefgeschwistern – in die Welt gesetzt. Ich musste die Buben und die Mädchen hüten, wir wohnten in einem kleinen Haus, das dem Grubenkonsortium gehörte, eng beisammen. Ich hasste die Nachgeborenen. Und ich begann meinen Vater zu hassen, der bieder ins Bergwerk einfuhr und überhaupt nicht begriff, dass er allmählich zum Opportunisten wurde. Als die Hütte ihn dann trotzdem feuerte, war‘s zu spät. Dann war er Bauhilfsarbeiter. Sagt Ihnen das etwas?

Nein, bekannte der Pfarrer.

Er war fleißig, und er qualifizierte sich, bis er ein richtiger Maurer wurde. Aber da hatte er unser kleines Haus längst verlassen müssen. Ich weiß nicht, wie ich alles geschafft habe als Tochter eines Ruhrkumpels und Kommunisten und Kriegsdienstverweigerers, den die Nazis beinahe zu Tode gequält hatten. Vielleicht war‘s Heimweh.

Heimweh, fragte der Pfarrer.

Ja, Heimweh nach meiner Mutter, die ich kaum gekannt habe. Der Steiger Manz, Opfer des Faschismus, heiratete sie, und ich war das Glück einer späten Ehe. Sie starb an einer perfiden Form von Krebs. Was sollte der Witwer tun? Wieder heiraten. Und das tat er ja denn auch. Nur hatten sie nicht mit meinem Ehrgeiz gerechnet. Nein, mein Vater hat mir nicht geschadet. Ich kam ja als Stipendiatin nach den Wisconsin, und dort habe ich das College absolviert, betreut von sehr gütigen Pflegeeltern. Mir ging eine neue Welt auf. Kennen Sie übrigens die Geschichte von den komischen schwarzen Sternen?

Nein, sagte der Pfarrer.

Auch gut, sagte sie, diese schwarzen Sterne sind unter anderem Professor Klausings Metier, er ist ja Astrophysiker. Und ich, sagte sie, befasse mich mit Mikrobiologie. Der Unterschied ist gar nicht so groß, wie man gemeinhin annimmt. Alles ist, im Grunde genommen, eine Gewissensfrage. Wissen Sie, was man draußen im Max-Planck-Institut macht? Sie hatten mich da eingegliedert, hatten mir meinen Arbeitsplatz zugewiesen. Wissen Sie, worum es in jenem Institut geht? Um die Umwälzung biologischer Strukturen. Sie nennen es die Entdeckung des Lebens. Ich hatte – verzeihen Sie, Padre – die Schnauze voll. Und ich begab mich zur Industrie, so töricht bin ich gewesen – damals. Ich wollte Geld verdienen, und das hab ich ja auch, ich habe sehr viel Geld verdient. Göttingen war für mich zum Durchgang geworden, außerdem hatte ich die Sippe der Knipphoffs vor der Nase. Die verfolgten nämlich meinen Lebenslauf – und ob! Der Vater meines Jungen ist bis zum heutigen Tage kinderlos geblieben, wiewohl er eine Frau von Geblüt geehelicht hat. Ich kann meinen Jungen selber ernähren, ich brauche keine Alimente.

Wie viel Hochmut, sagte der Pfarrer, und wie viel Bitterkeit.

Sei‘s drum, sagte sie, und ich muss nun wohl endlich aufbrechen.

Was würde Frau Haien sagen, fragte der Pfarrer.

Sie würde mich verstehen, Padre, denn sie verachtet die Menschen – wie ich. Ich denke, man kann die Menschen erst zu lieben beginnen, wenn man sie verachtet. Oder verachten gelernt hat, fügte sie nach einer Pause hinzu.

Draußen im Max-Planck-Institut, sagte der Pfarrer, ich bin durch meine beiden Söhne einigermaßen unterrichtet; es handelt sich dort ja nicht bloß um Biologie. Soll ich uns was Ordentliches auftischen? Sie sehen verhärmt aus, Lore. Vielleicht ein Schinkenbrot? Katenschinken. Und kümmern Sie sich bitte nicht ums Schloss. Wenn ich komme, bin ich da, basta. Und selbstverständlich fahren Sie heute nicht nach Frankfurt. Sie können hier übernachten. Beim Bettenbeziehen dürfen Sie mir helfen. Aber zunächst mal Schinkenstulle. Ich mach das ausgezeichnet. Ruhen Sie sich aus inzwischen –

Sie ließ sich in ihren Sessel zurückfallen, gar nicht mehr der standhafte Zinnsoldat, sie schniefte ein bisschen und fühlte sich gut aufgehoben. Bei diesen Protestanten. Und gut lutherisch dazu. Der Pfarrer Dienegott Berger. Wie konnte man so heißen: Dienegott. Liebe Güte.

Er kam nach geraumer Weile mit einem Tablett zurück, das er sorgsam abstellte. Auf zwei Tellern lagen, hübsch angerichtet, Schinkenbrote, der Schinken zu Würfeln geschnitten, mit Spiegeleiern darüber.

Sie langte herzhaft zu. Und fragte zwischen zwei Bissen: Wie ist es denn nun passiert?

Der Pfarrer, hilflos, erwiderte: Eigentlich war ihr Tod folgerichtig, nur hätte ich ihr gewünscht, gleich zu sterben. Stellen Sie sich vor, sie geht da mit ihrer abgelederten Arzttasche, um einem kranken Kleinkind zu helfen, und beim Überqueren des Fahrdamms – sie handelte durchaus verkehrswidrig – wird sie vom Feuerstuhl irgendeines Blödheinis umgerissen. Der Blödheini war der Vater, er wollte lediglich einem telefonisch durchgegebenen Hilferuf Nachdruck verleihen. Nach dem Gesetz war er unschuldig, de jure und de facto. Beim Bremsen in der vermaledeiten Kurve sind ihm die Räder weggerutscht. Maria hat ihn zusätzlich entlastet. Er hat an ihrem Krankenbett gesessen, tagelang, nächtelang. Dieser Famulus in der Chirurgischen Universitätsklinik. Ich schätze, es wird dereinst ein guter Arzt aus ihm. Aber was heißt das – guter Arzt.

Was heißt das, warf Lore ein, guter Seelsorger?

Der Pfarrer erhob sich und legte Briketts nach. Sie merkte, ihre Frage war ihm an die Nieren gegangen. Und er tat ihr leid. Des guten Pfarrers Zweifel waren nicht ihre Zweifel – gewiss nicht. Dennoch meinte sie, diesen stabilen Mittfünfziger trösten zu müssen. Maria, sagte sie, my dearest Father, stellen Sie sich vor, sie säße dort drüben im Ohrenstuhl. Sie würde Rauchringe blasen und auf ihre vertrackte Art lächeln. Und sagen würde sie: Ich habe so viel erlebt, und ihr sollt nicht um mich trauern, ich befinde mich durchaus wohl. Schön, dass ihr mir meinen Schubert so ausgiebig präsentiert habt. Es war meine Sache nicht, ein Standbild zu errichten. Und es lag mir auch nicht, das Gestrüpp der Fakten zu durchackern. Da müsst ihr euch an jemanden wenden, der nicht zugegen sein kann, weil nämlich nicht sein kann, was nicht sein darf. Und damit bin ich beim Thema.

Brigitte Haien – verstehe, sagte der Pfarrer.

Nicht so ganz, setzte Lore dagegen. Da käme denn doch, setzte sie fort, Makabres ins Spiel, Erinnerung beispielsweise, Vergangenheit, und doch auch Zukunft. Sie hätte telefoniert, Biggy Haien, und ihre, Lores Freundin, also Ingrid, hätte das Telefonat entgegengenommen. Und da gäbe es nun auch Zusammenhänge. Ingrid jedenfalls hätte sofort begriffen, Biggy hätte gesagt, sag Lore, sie soll nach Göttingen fahren, ich bin in großer Sorge, und ich komme nicht raus. Und da haben Sie das Desaster, Padre mio. Es war ein Notruf von jenseits.

Sie meinen, Professor Klausing hätte Entscheidendes versäumt?

Ich bin überzeugt davon, entgegnete Lore. Denn was wissen die denn, setzte sie fort, sie wissen überhaupt nichts. Und nun wollen wir mal eben zu unseren Ausgangspositionen zurückkehren. Max-Planck-Institut in Göttingen. Mein Chef pflegte wunderbar Klavier zu spielen, und vielleicht ahnte er gar nicht, was er ins Werk setzen half. Ich denke manchmal, große Wissenschaftler sind manchen großen Schriftstellern eng verwandt.

Warum sperren Sie die bildenden Künstler aus? Und die großen Komponisten?

Lore macht da eine wegwerfende Gebärde. Ach – die, sagte sie, die betrachten sich doch nicht als Weltgewissen.

Grobe Verallgemeinerung, beste Lore. Wer unter den Schriftstellern erhebt den Anspruch auf Weltgewissen? Schriftsteller schreiben, das ist nun einmal ihr Metier.

Der Pfarrer sann den Worten hinterher, dann begriff er. Er sagte: Sie denken an Thomas Mann, und Sie denken daran, dass Maria Klausing diesen Mann nie mochte. Aber sein Werk ist überwältigend, das müssen Sie einräumen.

Natürlich, sagte Lore Manz.

Wie ist es, wollen wir nun das Gastzimmer richten gehen?

Ach, Padre, wir werden das Gastzimmer nicht richten gehen. Denn ich muss nach Hause, ich will auch nach Hause. Ihre Pfarrei ist so gemütlich, dass ich den Boden unter meinen Füßen verliere. Lassen Sie uns gemeinsam aussuchen, was Sie anziehen müssen.

So nicht, meine tapfere Lore, so nicht, liebes Kind. Maria scheint wirklich im Ohrenstuhl drüben zu sitzen, und ich versuche zu tun, was sie mir rät.

Und was rät sie Ihnen?

Ich höre sie sagen: Lassen Sie das gute Kind nicht allein in der Nacht, mein Hinscheiden hat sie verstört, aber ich hab ihr ja noch einen Brief geschrieben, den hab ich Ihnen anvertraut, händigen Sie ihn ihr gütigst aus.

Gibt es den Brief wirklich?

Ja, erwiderte der Pfarrer. Übrigens, fuhr er fort, hatte ich strikte Anweisung, Sie über den Unfall nicht zu informieren. Und es gab noch eine Anweisung: Wenn das Kind – auf Ihre Einladung hin – nicht in Ihr Haus kommt, lassen Sie es fortgehen. Dieses Kind, mag es sich verirren, wohin es will, ist gefeit. Es hat Beleidigungen erfahren und Demütigungen hingenommen –

Nein, rief Lore, nicht weiter, bitte!

Wie Sie wünschen, Frau Dr. Manz –

Weiter, Herr Pfarrer, bitte – weiter!

Thomas Mann, sagte der Pfarrer, um zunächst auf ihn zurückzukommen, war ganz gewiss kein angenehmer Zeitgenosse. Da müssen Sie mal die Querelen zwischen ihm und Brecht studieren, und Brecht, Bertolt, war auch kein angenehmer Zeitgenosse, nur verfügte er über etwas, das den Mann-Clan enervierte, um es in der Sprache der Manz auszudrücken: er verfügte über historischen Verstand, er war – kurzum – ein Dialektiker par exellence. Und damit sind wir wieder beim Thema. Wenn Thomas Mann, der Zauberer, WIR sagte, meinte er sich. Und nur sich. Allenfalls die Nordamerikaner. Er sprach dann ja auch nicht mehr für Deutschland, nachdem er in schöner Unbefangenheit geäußert hatte, wo er wäre, wäre die deutsche Kultur. Er sprach von WIR und identifizierte die USA mit sich. Wer liest seine Schwarten in unseren Tagen?

Padre, mahnte Lore.

, zitierte Jon, der nun Bärtige. Und nun, sagte er, bring ich dich zu Bett.

Er saß an ihrem Bett, und er war sehr fürsorglich, kein mutmaßlicher Liebhaber, einfach ein Freund, ein väterlicher Freund.

Gib mir den Brief, sagte sie.

Ach, erwiderte er, der Brief, davon hat mir der Pfarrer gesprochen.

Mach ihn auf, sagte sie.

Er tat es.

Lies, bat sie.

Die vielen Seiten sind an Maria gerichtet, ich weiß ja nicht. Wart mal, da ist ein Zusatz von Marias Hand. Ein Mensch hat viele Gesichter, las er, aber das letzte Gesicht ist vorgebildet lange vor der Zeit. Was Jon anbetrifft – er stockte – so muss er Kraft in sich selber finden, nicht beim Partner suchen. Das ist Biggys Erkenntnis, nicht meine. Sie erhält dafür, dass ein Mensch niemals als isoliertes Geschöpf existieren kann, sondern dass jede Person ein Konglomerat von anderen Personen und der ganzen Welt ist. Das dürfte das Nonplusultra einer erfahrenen Seelenärztin sein. Ich bin sehr in Sorge – nicht um dich, Lore, nicht einmal um Jon. Ich bin in Sorge um Biggy, die niemals und in keiner Weise eine seelische Analphabetin gewesen ist. Das macht die Sache so schwer, mein Mann und ich –

Kohlepapier, dachte Lore, und Farbbänder, und ich kann nicht zu ihr, da müssten ja erst Anträge gestellt werden. Ich kann nicht zu ihr. Die Großwetterlage steht dem entgegen.

Sie war so erschöpft von allem, dass sie einschlief – mit diesem Homo an ihrer Seite, der sie zärtlich im Arm hielt. Ein Mensch hat viele Gesichter, dachte sie, aber das letzte Gesicht ist vorgebildet lange vor der Zeit. Farbbänder schicken, dachte sie, und Kohlepapier. Aber sie ist nicht verloren, denn sie ist aufgehoben – woher dieser Anruf? – In ihrer eigenen Schöpfung.