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Sophia Anna Csar

Die Lauscherin


Für all jene, deren Zungen und Stimmbänder in den wichtigsten Momenten ihres Lebens versagen.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Die Lauscherin

 

 

 

 

 

 

 

"Selbstvertrauen ist einfach. Vergiss einfach nie, dass du wertvoll bist." - Helen Mengal

Ein Gespräch, das besser ungehört geblieben wäre

 Es gab nicht viele Dinge, die Raffaela lieber tat, als an einem der runden Tische des Starbucks zu sitzen, einen Eiskaffee zu schlürfen und ihre Tischnachbarn zu belauschen.

Meistens ruhte ein Buch auf ihren Oberschenkeln, auch wenn sie es nur selten beachtete, sondern nur ihre dunkelbraunen Augen darauf richtete, um eine Entschuldigung für ihre Anwesenheit zu haben. Selten kam es vor, dass Raffaela sich wirklich auf die Buchstaben konzentrierte – und zwar nur dann, wenn ihre nichts ahnenden Nachbarn einmal doch nicht miteinander redeten, sondern sich hinter ihren Smartphones verkrochen.

„Gone with the Wind“ – Raffaela blätterte eine Seite um und schob ihr Lesezeichen in die Blätter, damit sie ihre letzte Stelle wieder fand. Manchmal schadete es nicht, doch einmal umzublättern, falls jemand sie beobachtete. Der Anschein musste gewahrt bleiben, so sinnlos es vielleicht auch war. Sie hob den Plastikbecher an die Lippen und warf einen Blick unter ihren dichten, schwarzen Wimpern zu dem Nachbartisch, an dem zwei Männer und eine Frau saßen.

Die Frau trug in ein adrettes, cremefarbenes Kostüm, hatte ihre langen Beine überschlagen und wippte mit einem ihrer Füße, die in dunkelblauen Pumps steckten, auf und ab, während sie ihrem Gesprächspartner mit gespitzten, roten Lippen lauschte. Einer der beiden Männer, ein eher schwerer Mann mit kurzgeschorenen Haaren in einem schlecht sitzenden Anzug, hatte die Ellenbögen auf seine Knie gestützt und redete leise, aber eindringlich auf die Frau ein, während der andere, etwas jüngere, lässig in dem niedrigen Sessel zurückgesunken war und die Beine, die in Jeans steckten, weit von sich streckte.

„...öffentlicher Ort“, hörte Raffaela den Mann im hässlichen Anzug sagen und die Frau verdrehte die Augen, als sie ihre eigene Kaffeetasse an den Mund hob. Eleganz und Selbstbewusstsein – sie trug sie wie einen Mantel um sich herum, hob sich vom Einheitsbrei ab und fügte sich trotzdem ein.

Raffaela stellte ihren Becher ab, beugte sich zur Seite um in ihre Handtasche zu greifen, während sie gleichzeitig ein bisschen nach rechts rutschte, die Beine in die Richtung des interessanten Trios richtete und einen Arm auf die Sessellehne stützte. Als sie wieder ruhig saß, konnte sie die drei gemütlich im Blick behalten, das Buch aufrecht auf ihr Knie gestützt um ihr eine Entschuldigung für die Blickrichtung zu bieten.

Die Frau strich sich eine brünette Haarsträhne mit einer ungeduldigen Bewegung aus dem Gesicht und gab ein höchst weibliches Schnauben von sich. Sie gab sich keine Mühe leise zu reden, als sie im fließenden Französisch fortfuhr: „Mon Dieu, jetzt sei nicht so ein Angsthase, Terence. Außerdem kannst du ums Verrecken keinen Kaffee kochen, also ist das hier die einzige Möglichkeit.“

Terence, der bullige Mann, seufzte schwer und wischte sich über die Stirn, während sein Begleiter verwirrt die Stirn runzelte und zwischen den beiden hin und her sah. Vermutlich beherrschte er kein Französisch – nicht so wie Raffaela es beherrschte. Zufrieden lächelnd blätterte sie ein zweites Mal um.

„Ich bezweifle, dass der Kaffee im Gefängnis besonders schmackhaft ist“, konterte Terence und Raffaela hielt verblüfft die Luft an, ohne eine Miene zu verziehen. „Camille, du weißt ebenso gut wie ich, wie vorsichtig wir sein müssen.“

„Dann beeil dich“, forderte Camille ungehalten. „Je schneller wir das hinter uns haben, desto schneller kann ich mich auf den Weg zu meinem Massagetermin machen und desto schneller bist du es los. Ich weiß sowieso nicht, warum wir hier noch lange herumreden müssen. Du hättest mir das blöde Ding auch einfach ins Hotel bringen können.“

Terence gab ein Geräusch von sich, dass sich wie ein Knurren anhörte, dann schob er etwas über den Tisch zu Camille, die dem Gegenstand nur einen gelangweilten Blick schenkte, bevor sie ihre Sonnenbrille vom Tisch nahm und in ihre Haare steckte. „Und dafür war dieses ganze Theater?“ Sie machte eine umfassende Bewegung mit einer sorgfältig manikürten Hand.

„Ich will sicher gehen, dass du alles verstanden hast.“ Terence knallte einen Umschlag auf den kleinen Tisch. „Sobald du in Paris gelandet bist“, Camille hob eine Hand an den Mund und verbarg ein gelangweiltes Gähnen, von dem sich Terence nicht irritieren ließ, „rufst du die Nummer in diesem Umschlag an und machst einen Termin aus. Camille, hast du mich verstanden? Du rufst sofort an, sobald du gelandet bist.“ Terence klopfte nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte und Camille warf ihm einen gelangweilten Blick zu.

Mon Dieu, du tust ja so als wäre das mein erstes Mal. Darf ich dich erinnern, dass ich das schon im Schlaf beherrsche?“ Sie nahm das Kuvert und die kleine flache Schachtel und steckte beides in ihre Handtasche.

„Ich will nur sicher gehen“, Terence beugte sich weiter vor, „dass du keine Fehler machst, Camille. Keine Fehler.“

„Ich habe noch nie Fehler gemacht“, schmollte Camille und holte einen kleinen Handspiegel aus ihrer Handtasche, in dem sie ihren Lippenstift kontrollierte, bevor sie ihn lautstark zu schnappen ließ und Terence ansah. „Wir spielen dieses Spiel seit sechs Jahren. Mittlerweile solltest du schon ein bisschen Vertrauen in mich haben.“

Terence lehnte sich ein bisschen zurück und schüttelte den Kopf. „Mit Vertrauen hat das hier nichts zu tun und das weißt du. Wir brauchen einen Deal.“ Er beugte sich wieder vor und fasste nach Camilles Hand, die in seiner großen fast völlig verschwand, als er sie eindringlich ansah. „Wir brauchen ihn.“

Camille erwiderte seinen Blick, das Gesicht völlig frei von ihrer vorherigen Ungeduld. Stattdessen zeigte sich ehrliche Sorge auf ihrer glatten Stirn. „Will ich wissen, was du dafür getan hast?“

Terence sah Camille nur schweigend an, bis sie seufzte und die Hand aus der seinen wand, sie kurz tätschelte und mit einer schwungvollen Bewegung ihre Kaffeetasse leerte. „Meine Herren.“ Sie erhob sich, nickte dem jüngeren Mann, der nur schweigend daneben gesessen hatte, zu, warf Terence einen vielsagenden Blick zu und nahm einen Koffer in die Hand. „Ich verabschiede mich.“ Damit wandte sie sich der Treppe zu, die ins Erdgeschoss führte, wich zwei jungen Teenager-Mädchen aus, die angeregt schnatterten und verschwand im Gewühl.

„Sie ist nicht gerade die Klügste“, murmelte der junge Mann und verzog verächtlich den Mund. Raffaela brauchte einen Moment um die sprachliche Umstellung zu verarbeiten und verbarg ihr zufriedenes Lächeln. Russisch war eine Sprache, die sie mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

„Unterschätz sie nicht“, erwiderte Terence in schwer akzentuiertem Russisch, trank den letzten Rest aus seiner Tasse und erhob sich. „Sie ist klüger als sie wirkt.“

Der jüngere Mann murmelte etwas, das Raffaela nicht verstand, als sie ihr Buch zu klappte, in ihre Tasche stopfte und mit ihrem Kaffee in der Hand sich auf den Weg Richtung Ausgang machte. Jetzt war vermutlich der Zeitpunkt sich sehr schnell auf den Weg zur Polizei zu machen und zu sagen, was sie gehört hatte.

Ihre Hände zitterten leicht, als sie sich mit gesenktem Kopf durch die Leute vor der Theke drängte und auf die Glastür zusteuerte, hinter der die emsige Betriebsamkeit der Maria-Hilfer-Straße lauerte.

Den Blick fest auf den Boden gerichtet, bemerkte sie die Beine eines Mannes, der ihr die Tür aufhielt und hob kurz den Kopf um ihm ein schmallippiges Lächeln zu schenken. Terence nickte ihr mit der Gelassenheit eines höflichen Mannes zu, als sie durch die Tür trat und der Kaffee in ihrer Hand wirkte plötzlich noch viel kälter. Hatte er mitbekommen, dass sie sie belauscht hatte?

Terence wandte sich ab, der junge Mann folgte ihm und redete leise auf Russisch auf ihn ein, während Raffaelas Beine sie automatisch weitertrugen. Furcht und Erleichterung mixten sich zu einem panischen Gewirr in ihrem Inneren und ihr Herz holperte in einem hektischen Rhythmus in ihrer Brust, als sie in eine der Seitenstraßen abbog, zu erschrocken um darüber nachzudenken, wo sie hinging.

Erst als das Menschengewühl um sie herum versiegte, erfasste sie, wo ihre Beine sie hingetragen hatten und sie blieb stehen, als sie sich unruhig umsah.

Es war nur eine höfliche Geste gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Der Mann, der in irgendwelche illegalen Geschäfte verwickelt war, war einfach nur höflich gewesen, als er ihr die Tür aufgehalten hatte.

Aufatmend lehnte sie sich gegen eine schmutziggraue Hauswand, nippte erneut an ihrem Kaffee und versuchte sich mit dem vertrauten Geschmack zu beruhigen. Es war in Ordnung, dachte sie, sie hatte nur ein Gespräch belauscht. Ein Gespräch, in dem ernsthafte Bemerkungen über Gefängnisse gemacht worden waren.

Sie schloss die Augen und wiederholte es in Gedanken noch einmal. Es war um etwas Illegales gegangen. Dieser Gegenstand war etwas, das wertvoll war und das nach Paris gebracht werden sollte. In einem öffentlichen Flugzeug, also konnte es nichts gefährliches sein.

Oder ihre Fantasie ging mit ihr durch und sie hatte sich das alles nur eingebildet. Raffaela stellte sich vor, wie sie in eine Polizeidienststelle ging und den Polizisten von dem Gespräch erzählte. Vermutlich würden sie sie auslachen. Vermutlich war es besser, wenn sie es einfach vergaß – solche Geschäfte wurden sicher nicht am helllichten Tag im Starbucks behandelt.

Und wo sollten sie sonst behandelt werden? In einer finsteren Kaschemme um Mitternacht? Raffaela lachte sich innerlich selbst aus, als sie sich von der Hauswand löste und die Straße weiter entlang ging.

Egal, wie hoch ihr das Herz bei dem Gedanken daran klopfte, dass sie mit Polizisten reden musste – dass sie überhaupt mit irgendjemanden reden musste – sie würde hingehen, das Gespräch wiederholen und es ihnen überlassen. Wenn man nichts damit anfangen konnte, dann war es verschwendete Zeit und verschwendete Nerven gewesen, aber sie würde zumindest ein ruhiges Gewissen haben.

Oder – sie zögerte für einen Moment, bevor sie in eine weitere Seitenstraße abbog, in die kein Sonnenstrahl vordringen konnte, da die Häuser sich zu hoch erhoben – sie würde sich einfach nur lächerlich machen. Sie könnte ihr Gewissen auch einfach zur Seite schieben und das Gespräch vergessen. Bitte, was hatte sie schon gehört? Wie ein Mann einer Frau ein Kästchen mit etwas wertvollem darin gegeben hatte und ihr gesagt hatte, wann ihr Flieger ging.

Es war vielleicht etwas seltsam formuliert gewesen, aber eigentlich war es nichts Besorgniserregendes gewesen. Sie sollte es einfach vergessen. Ja, sie würde es einfach vergessen und ignorieren und nicht mehr daran denken.

Sich selbst zunickend hob sie den Becher und eine raue, harte Hand legte sich über ihren Mund, während ein Arm sich um ihren Oberkörper schlang und ihre Arme fixierte. Der Kaffee rutschte aus ihren Fingern, klatschte mit Wucht auf den Boden und die braune Flüssigkeit spritzte über ihre nackten Schienbeine und schwarzen Ballerinas.

Vom Schock erstarrt spürte Raffaela, wie sie nach hinten gerissen wurde. Eine offene Autotür klaffte vor ihr auf, dann taumelte sie in das muffige Innere, zerdrückte Papierkartons, griff in schmierige Flüssigkeiten und kratzige Autoteppichfasern. Sie stürzte, lag auf dem Boden zwischen Rückbank und Vordersitzen eingeklemmt.

Die Tür knallte zu, eine zweite flog auf und schlug zu, dann grollte der Motor los und Raffaela wand sich verzweifelt hin und her um in eine aufrechte, sehende Position zu kommen.

„Unten bleiben.“ Die scharfen russischen Worte ließen sie erstarren und sie spürte den Schmerz in ihrem rechten Knie, wo sie sich bei dem schnellen Manöver angeschlagen hatte.

Ihre offenen, dunkelbraunen Haare hingen ihr ins Gesicht, verklemmten sich zwischen Sitz und Schulter, was ihr einen scharfen Schmerz durch die Kopfhaut jagte, als sie den Kopf heben wollte. Endlich konnte sie den Kopf wenden und schielte verkrampft auf den Fahrersitz, die Stirn schmerzhaft gegen die Metallschiene des Beifahrersitzes gedrückt.

„Wo sind die Diamanten?“

Der Wagen ging scharf in eine Kurve und sie wurde nach hinten gepresst, ihr Arm verdreht unter ihrem Magen eingeklemmt, doch ihr Sichtfeld erweiterte sich und enthüllte einen muskulösen Arm, der mit Tätowierungen übersäht war, die unter dem schwarzen Ärmel eines T-Shirts verschwanden.

Etwas Metallisches blitzte auf und Raffaela wurde ganz ruhig. Ihr Herz schien stehen zu bleiben, als sie den Griff der Pistole anstarrte.

Vielleicht hätte sie sofort die Polizei rufen sollen, als sie das Gespräch belauscht hatte. Vielleicht hätte sie ihre Angst vor Telefonaten überwinden sollen. Vielleicht – vielleicht wäre sie dann nicht auf dem Boden eines Autos auf dem besten Weg eine Kugel in den Kopf zu bekommen.

Tat das weh?

Sie schluckte. Betäubende Furcht breitete sich in ihr aus und lähmte all ihre Gedanken, als sie erstarrt auf dem Boden lag und Schmerzen durch ihren verdrehten Körper schossen, den Blick fest auf die Pistole gerichtet.

Es war eine Pistole, versicherte sie sich immer wieder, es war eine Pistole und sie steckte in einem Hosenbund. Die Pistole wurde nicht auf sie gerichtet. Noch nicht.

„Hey“, fuhr die tiefe, raue Stimme sie erneut an und Raffaela zuckte zusammen. „Die Diamanten! Wo sind sie?“

Atemlos schnappte Raffaela nach Luft, versuchte die Worte in ihrem Mund zu artikulieren, doch nur ein heiseres Krächzen drang aus ihrer Kehle. Wieder einmal ließen ihre Stimmbänder sie im Stich. Das machten sie öfters, aber gerade jetzt sollten sie es nicht tun.

Sie öffnete ihren Mund, starrte hilflos den Arm an, die sternförmige Tätowierung mit den kyrillischen Buchstaben darauf und wünschte sich, dass all dies nur ein Alptraum war. Ein simpler Alptraum, aus dem sie jeden Moment wieder aufwachen würde.

„Antworte mir, verdammt!“

Eine weitere Kurve, Raffaela verrutschte, ihre Arme wurde frei und sie riss ihren Oberkörper nach oben, ignorierte den Schmerz, der durch ihre Kopfhaut schoss, als sie ihre Haare unter ihrem Körper heraus riss und stemmte sich mit ihren Füßen gegen die Autotür. Der Schwung der Kurve half ihr, als sie blindlings die Türklinke erwischte und gegen die Tür stieß.

„Was zur…“ Die Tür schwang auf und Bremsen quietschten bei dem unterbrochenen Fluch, als er das Auto zum Stehen brachte. Sie stürzte auf den Asphalt, rau auf ihrer nackten Haut, rappelte sich auf und sie rannte, verlor einen Schuh, der auf der Straße zurückblieb. „Bleib stehen!“

Sie blieb nicht stehen, hetzte über die Straße, verfluchte die Wiener Seitengasse, die menschenleer war. Hilfe. Sie brauchte Hilfe.

Ihr Herz trommelte in einem hektischen, unruhigen Rhythmus in ihrer Brust, ihr Atem ging keuchend, als sie in einen Innenhof taumelte und ohne zu überlegen in ein Haus stürmte, dessen Haustür offen stand. Mit einem verzweifelten Keuchen presste sie die Tür ins Schloss, hoffte, dass das Schloss sie schützen würde und hielt auf die Treppe zu.

Instinktiv rannte sie die Treppe zum dunklen Keller hinunter, in dessen Schatten sie sich Schutz versprach, als sich ihr übrig gebliebener Schuh von ihren Fuß löste und sie den Halt auf den kalten Steintreppen verlor, taumelnd ihr Gleichgewicht suchen wollte, hilflos durch die Luft fuchtelte und sie fiel, stürzte und dann wurde es Schwarz.

 

***

 

In ihren Kopf bohrte sich ein glühendes Messer und schabte hinter ihren Augen herum. Raffaela stöhnte, berührte ihren Kopf und gleißender Schmerz durchbrach die Dunkelheit, der sie wimmernd zusammenzucken ließ.

Sie rollte sich zusammen, was einen zweiten Schmerzblitz aus ihrem Knie nach sich zog, als sie es anwinkelte und über den Boden zog. Kälte hatte sich in ihre Knochen gefressen und Übelkeit revoltierte in ihrem Magen, als sie vorsichtig die Augen öffnete.

Es änderte sich nichts. Es blieb dunkel und die Dunkelheit presste auf sie nieder, als wäre sie eine Mauer, die versuchte ihren Kopf zu zerdrücken. Was war passiert?

Sie schloss die Augen wieder, atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus, versuchte den Brocken der Übelkeit in ihrer Kehle zurück zu drängen, bevor sie vorsichtig ihr Gesicht berührte. Dieses Mal war sie gewappnet vor dem Schmerz, der sie durchzuckte, als sie in die Feuchtigkeit griff, die sich auf ihrer Schläfe gesammelt hatte und ihre Haare zu widerspenstigen Strähnen vertrocknete.

Sie war gefallen. Da war die Treppe gewesen - sie blinzelte, bewegte vorsichtig ihren rechten Arm und biss schmerzerfüllt die Zähne zusammen. Jemand hatte sie verfolgt.

Ein Auto. Die Pistole. Die russischen Worte. Der Mann. Die Diamanten.

Raffaela erstarrte, als die Erinnerungen auf sie einstürmten, dann spürte sie, wie die Übelkeit zu viel wurde und sich bitterer Mageninhalt durch ihre Speiseröhre drängte. Ihr Körper hob sich in einer schmerzhaften Welle als sie sich erbrach. Bunte Sterne tanzten vor ihren Augen, vor Anstrengung und vor Schmerz, bis ihr Magen leer war und sie sich zitternd und erschöpft auf die Seite rollte, weg von ihrem Erbrochenen.

Keuchend schnappte sie nach Luft, spuckte aus und tastete nach ihrer Handtasche. Ihr Handy würde ihr Licht spenden, doch ihre Finger griffen ins Leere. Ihre Tasche war verschwunden und stöhnend strich sie vorsichtig über den kalten, harten Boden, bis sie Stoff berührte. Es war ihr Schuh, den sie in der Hand hielt und frustriert ließ sie ihn fallen.

Ihr Schuh.

Sie griff erneut danach und ein Lächeln breitete sich fast auf ihrem Gesicht aus, als ihr verwirrtes Gehirn die Information daraus zog. Wenn ihr Schuh da war, dann war sie noch immer in dem Haus, in das sie sich geflüchtet hatte. Der Mann hatte sie nicht gefunden.

Mit vorsichtigen Bewegungen tastete sie nach der Treppe, den Schuh umklammert als wäre er eine Rettungsleine, bis sie gegen die Steinstufen stieß und sich langsam auf allen vieren an den Aufstieg machte. Ihr linkes Knie schmerzte und pochte, ihr rechter Arm war so gut wie nutzlos und kalter Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und in ihrem Nacken, als sie keuchend die Treppe erklomm, die genauso gut der Himalaya sein könnte.

Schwaches Licht schien ihr entgegen, als sie höher kam.

Es war das gelbe Licht der Straßenlaternen und mit einem Schaudern erkannte sie, dass es bereits Nacht geworden war. Sie war schweißgebadet, als sie die letzte Stufe hinter sich gebracht hatte und zog sich am Treppengeländer aufrecht hin, bemüht kein Gewicht auf ihr linkes Bein zu verlagern.

Erst als sie die Haustür aufdrückte und im gelben Lichtschein der Laterne stand, stockte sie, ihr Herz begann erneut zu trommeln wie das Herz eines Hasen, dem die Hunde auf den Fersen waren. Was war, wenn er noch auf sie wartete? Wenn er sie noch suchte?

Raffaela schluckte mühsam, ihr Blick aus dunkelbraunen Augen huschte gehetzt durch den begrünten Innenhof, den sie erst jetzt richtig wahrnahm und der still und leer dalag

Ihr Atem klang laut in ihren Ohren, als sie lauschte, angespannter lauschte als je zuvor, die Finger um den Türrahmen gekrampft.

Der Schrei eines Betrunkenen hallte durch die Gassen, gefolgt von lautem, zügellosen Gelächter und ihr Atem stockte, bevor er weiter rasselte. In der Ferne rauschte der Verkehr, ein Auto hupte, ein Hund bellte, eine Tür fiel ins Schloss, ein Fernseher plärrte laut vor sich hin, ein Mann schimpfte in einem unverständlichen Kauderwelsch.

Kein Russe mit Pistole war in den Geräuschen der Stadt zu hören, seine Schritte näherten sich ihr nicht und sie machte einen vorsichtigen Schritt nach draußen, wandte den Kopf immer wieder nach links und rechts, versuchte die Schatten zu durchdringen, als sie sich hinkend über den auskühlenden Asphalt mühte, eine Hand gegen die Mauer gepresst.

Plötzlich hielt sie inne.

Was tat sie überhaupt?

Sie starrte ein hell erleuchtetes Fenster an, beobachtete die zuckenden, bläulichen Schatten des Fernsehers hinter den Spitzenvorhängen, als die kühle Nachtluft ihre verworrenen Gedanken klärte. Sie musste die Polizei rufen. Oder nein. Sie musste ihren Bruder anrufen. Und dann die Polizei. Er würde die Polizei anrufen.

Ihr Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken an Fremde, die sie um Hilfe bitten musste, mit denen sie reden musste und sie presste sich zitternd eine Hand gegen den Mund, schloss die Augen und sammelte den letzten Rest Courage, den sie besaß. Dann wandte sie sich um und klingelte bei der ersten Klingel, die sie erreichte, schnell und schmerzlos, ohne lange darüber nachzudenken.

„Ja?“, raunzte ihr eine Stimme entgegen und sie öffnete den Mund, als ihre Zunge sie erneut im Stich ließ und sie nur mit frustrierten Tränen in den Augen die leuchtenden Klingelschilder anstarren konnte. „Hallo?“, knurrte die Stimme ungeduldiger und sie befeuchtete sich die trockenen Lippen.

„Hilfe“, flüsterte sie, die Lippen gegen die Sprechanlage gepresst, suchte nach Worten. „Überfall“, brachte sie heraus. „Telefon?“

Knisternde Stille antwortete ihr, dann summte der Türöffner und sie presste sich mit der Schulter gegen die Tür, wand sich in das Haus hinein. Licht durchflutete das Stiegenhaus und Raffaela konnte nicht umhin sich wieder in die Dunkelheit zu wünschen, in der sie unsichtbar werden konnte. Oben wurde eine Tür aufgerissen, dann trampelten Füße über die Treppe und sie lehnte sich gegen die Mauer. Müde und kraftlos rutschte sie die Wand hinunter, als eine rundliche Frau im Jogginganzug und Plastikschlapfen die Treppe hinunter kam und abrupt zum Halt kam, als sie sie sah.

„Oh mein Gott“, sagte die Frau und Raffaela sah zu ihr auf, als sich die Welt plötzlich um sie herum zu drehen schien, in einem wirbelnden Wind aus gelben Licht und gepunkteten Stein. Und dann war es erneut dunkel.

Raffaela betrachtete sich im Spiegel - oder vielmehr musterte sie das weiße Pflaster an ihrer Schläfe, das sich wie ein Signallicht von ihrer hellbraunen Haut abhob, die sie ihrem italienischen Vater zu verdanken hatte.

„So schlimm ist das Pflaster doch nicht“, sagte ihr Bruder ungeduldig, der gegen den Türrahmen gelehnt da stand und finster die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu, dann versuchte sie die dunklen Augenringe unter ihren leicht schräggestellten Augen zu verbergen.

Sie war ein Kind des multikulturellen Wandels mit einem italienischen Vater, der zur Hälfte Franzose war und einer russischen Mutter, deren Großmutter Japanerin gewesen war. Sprachen waren ihre Welt - auch wenn sie weder in Deutsch, Russisch, Italienisch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Japanisch besonders wortgewandt war. Und in Spanisch beherrschte sie nur das, was sie in der Schule gelernt hatte und Japanisch konnte sie nur verstehen, wenn ihre halb-japanische Großmutter langsam und deutlich sprach.

„Und die Augenringe würden weggehen, wenn du mal wieder schlafen würdest“, mischte er sich weiter ein und sie schnaufte durch ihre Nase hindurch, was ihn wie immer nicht besonders beeindruckte. „Nimm doch bitte die Schlaftabletten.“

Sie ignorierte ihn, hatte sie diesen Satz doch schon oft genug gehört in der Woche, die seit ihrer kurzen Entführung vergangen war. Eine Woche voller Alpträume. Mit spitzen Fingern trug sie Make-up auf und musterte sich erneut im Spiegel.

Ihr ovales Gesicht wirkte spitz und zerknautscht durch den Schlafmangel, die hohlen Wangen wurden durch ihre hohen Wangenknochen nur noch verstärkt und ihre Lippen, die etwas klein, doch sehr voll waren, schienen in ihrem erschöpften Gesicht seltsam deplatziert.

Frustriert zupfte sie an ihren Haaren herum, versuchte sie über ihr Pflaster zu drapieren, ohne sich dabei die Haare in ihre Augen fallen zu lassen und scheiterte kläglich daran. Stirnfransen. Sie würde sich Stirnfransen schneiden lassen.

Sie stellte ihr Make-up in ihren Badezimmerschrank zurück und verscheuchte ihren Bruder mit ungeduldigen Handbewegungen von der Tür, doch er folgte ihr in ihr Zimmer, als sie ihren Kleiderschrank durchging. „Sie werden ihn schon finden“, sagte er, als er sich auf ihr Schlafsofa fallen ließ und legte die Beine auf ihren Couchtisch.

Das dunkelblaue Kleid mit dem weißen Gürtel oder den schwarzen Bleistiftrock mit einer Bluse? Nur mit welcher Bluse? Sie holte eine lilafarbene und eine cremefarbene heraus und musterte sie nachdenklich, bevor sie sich für die lilafarbene entschied und wieder ins Bad zurückkehrte um sich anzuziehen. Mit etwas Glück würde Giorgio nicht mehr ihr Zimmer belagern, wenn sie zurückkam. Doch - oh Wunder - er belagerte immer noch ihre Couch, die dominanten Augenbrauen über seinen leicht schräggestellten Augen zusammengezogen.

„Bitte nimm die Schlaftabletten“, bat er sie erneut, doch sie nahm nur kopfschüttelnd ihre Handtasche mit dem weißen Muster, prüfte, ob sie ihren Laptop und Ladekabel eingepackt hatte und hauchte ihrem Bruder einen kurzen Kuss zu, bevor sie sich auf den Weg zur Uni machte.

Oder zumindest so tat als ob.

Mit einem Kaffee - brasilianische Bohnen, perfekt geröstet - in einer Hand ließ sie sich wenig später in den Schatten eines Buchsbaumes vor dem naturwissenschaftlichen Museum fallen und sah zur Statue Maria Theresias auf, während sie an dem heißen Getränk nippte. Nächste Woche. Nächste Woche würde sie wieder auf die Uni gehen.

Aber diese Woche konnte sie es noch nicht ertragen, konnte die Angst nicht vergessen, konnte nicht in einem Hörsaal sitzen und lauschen, während sie nicht wusste, ob er nicht vielleicht doch noch kommen und sie finden würde.

Sie zog die Beine an, lehnte ihren Kopf an ihre Knie und starrte das Gänseblümchen zu ihren Füßen an. Sie hatte Angst. Unglaubliche, lähmende Angst.

Giorgio wusste das, woher auch immer, aber ihr älterer Bruder hatte immer schon einen sechsten Sinn gehabt, wenn es um sie gegangen war. Aber jetzt gerade wünschte sie sich, dass er es nicht wissen würde und sie einfach in Ruhe ließ.

Sie hatte Angst zu schlafen, denn im Schlaf kamen die Alpträume. Und sie hatte Angst wach zu bleiben, denn wenn sie wach blieb, begannen die Schatten zu tanzen und das Glitzern ihres Spiegels verwandelte sich in das Blinken einer Pistole, bis sie den Spiegel eines Nachts abgenommen und umgedreht hatte.

Wenn ihre Mutter Russisch sprach, zuckte sie zusammen, bedacht darauf, es sie nicht merken zu lassen, doch alles, was sie hörte, waren die bitteren Flüche, als sie sich aus dem Auto gerollt hatte.

Ihr Blick wanderte durch den Park, verweilte kurz auf einem bulligen Mann und sie schauderte, als sie sich an die Verbrecher erinnerte, die sie belauscht hatte. Man hatte sie nicht gefunden. Es schien, als wären sie spurlos verschwunden, mit den Diamanten in Paris.

Und Raffaela schien nicht mehr als eine Verwechslung gewesen zu sein, da ihr der eine Mann die Tür aufgehalten hatte. Eine Verwechslung - und jetzt hatte Raffaela Angst vor ihrem eigenen Schatten.

Lächerlich, schalt sie sich in Gedanken, doch dennoch spürte sie die Gänsehaut auf ihren Armen. Sie war lächerlich in ihrer Angst und Panik.

Raffaela trank einen weiteren Schluck und legte den Kopf in den Nacken, sah auf zur strahlenden Sonne und prostete ihr zu, ganz leicht nur, damit niemand es sehen konnte. Angst hatte immer schon ihr Leben beherrscht - warum sollte es sich jetzt ändern? Angst vor Fremden, Angst zu reden, Angst vor Menschen, Angst alleine zu sein, Angst nicht alleine zu sein, Angst vor allem und jeden und am Meisten vor der Welt.

Paris. Sie hatte immer schon mal nach Paris gewollt. Oder Berlin. Oder München. Oder Rom. Venedig. Verona. Mailand. Lissabon und Marseille. London. Prag und Moskau. Und St. Petersburg.

Aber da war die Angst. Die Angst, ihre Sachen zu packen und bei der Tür hinauszugehen und plötzlich ganz auf sich alleine gestellt zu sein, ohne ihren Bruder, auf den sie sich immer verlassen konnte, auch wenn er manchmal zu beschützend war.

Raffaela nahm einen weiteren Schluck, erinnerte sich an die Pistole, an die Angst zu sterben. Diese Angst war neu gewesen. Und nun machte diese Angst ihr ganzes Leben kaputt, auch wenn sie kein besonders aufregendes Leben hatte. Bitte - ihr Hobby war es gewesen, Leute in Kaffeehäusern zu belauschen. Sie schnaubte. Wie erbärmlich war das denn?

Nicht so erbärmlich wie das, was sie jetzt tat, gestand sie sich ein. Nicht so erbärmlich wie sich hier zu verstecken und zu hoffen, dass die Angst irgendwann weggehen würde. Die Angst würde nicht weggehen, stellte sie fest, ihr Blick auf sich selbst geschärft durch die Furcht vor der Pistole und dem Sterben. Die Angst würde bleiben, bis sie alt und grau war.

Wollte sie das?

Sie starrte den Kaffee in dem Pappbecher an, spürte das Kitzeln des Grases auf ihren nackten Beinen, die Sonne auf ihren Zehen, die aus dem Schatten ragten und wusste, was sie wollte.

Mit schnellen Zügen leerte sie ihren Becher, sammelte ihre Sachen ein und marschierte über den Rasen zielstrebig davon, stopfte den Becher in den Mistkübel und sah zu Maria Theresia hoch, die mit Doppelkinn und stolzem Blick über Wien hinweg blickte.

Raffaela Irina Vanzetti wollte leben.