Cover




Holly Bourne

Mein total spontanes Makeover
und die Folgen

Roman

Aus dem Englischen
von Nina Frey

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Holly Bourne

© Jonny Donovan

Holly Bourne, 1986 in England geboren, studierte Journalismus an der University of Sheffield. Sie arbeitete einige Jahre lang erfolgreich als Journalistin. Mit den Wünschen und Sehnsüchten von Jugendlichen kennt sie sich gut aus, da sie seit Jahren auf einer Ratgeber-Webseite Beziehungstipps für junge Leute gibt. Holly Bourne lebt zurzeit in London, träumt aber von einem Haus im Grünen.

 

 

Nina Frey, geboren in Heidelberg, studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel in Hamburg, London und Berlin. Heute lebt sie als freie Übersetzerin in Wien.

Über das Buch

Bree beschließt, ihr Leben zu ändern. Von einem auf den anderen Tag gibt sie sich ein Makeover und versucht, mit völlig neuem Aussehen und Auftreten Anschluss an die angesagte Clique zu bekommen – um diese dann in einem anonymen Blog bloßzustellen. Und es klappt! Nur hat Bree nicht damit gerechnet, dass sie 1. einige der verhassten Girlies richtig ins Herz schließt und sich 2. ausgerechnet in die Reihe derer einreiht, die für den beliebtesten Jungen der Schule schwärmen …

Impressum

Diese Übersetzung wurde mit einem Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

 

 

 

Deutsche Erstausgabe

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2014 Holly Bourne

Titel der englischen Originalausgabe: ›The Manifesto on how to be interesting‹

2014 erschienen bei Usborne Publishing Ltd. London

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagbild und -gestaltung: buxdesign, München, und Carla Nagel

Illustration: Carla Nagel

Lektorat: Birgit Niehaus

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42942-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74017-3

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423429429

Für Owen – hiermit sei dir feierlich verziehen, dass du in der Schule beliebt warst …

Erstes Kapitel

Eigentlich auch eine Leistung, dachte Bree – gerade mal siebzehn und schon eine gescheiterte Romanschriftstellerin.

Das konnten bestimmt nicht viele von sich behaupten. Die meisten ihrer Altersgenossen hatten nicht mal eine vage Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen wollten, geschweige denn ein konkretes Ziel, das sie mit aller Kraft verfolgten – um dabei kläglich zu versagen. Was die Erkenntnis anbelangte, dass das Leben eine einzige große Mogelpackung war, war Bree ihren Altersgenossen wirklich meilenweit voraus. Den meisten ging das erst irgendwann zwischen zwanzig und vierzig auf.

Aber Bree war nicht wie die anderen. Also, zumindest glaubte sie das nicht.

Sie betrachtete das Ablehnungsschreiben in ihrer Hand, in der vagen Hoffnung, ihre Sehnsucht würde die Druckertinte zu einem »Ja« umschmelzen, wenn sie nur angestrengt genug draufstarrte.

Liebe Bree!

Vielen Dank für Ihre Einreichung. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir für Ihren Roman bei uns leider BLA BLA BLA.

Ein standardisierter Serienbrief. Die hatten sich noch nicht mal die Mühe gemacht, sie persönlich anzuschreiben. Solch eine Versagerin war sie.

Vier Jahre war es her, dass Bree beschlossen hatte, Romane zu veröffentlichen, und sie war es angegangen wie alles andere auch – mit einem bis ins letzte Detail durchdachten und ausgefeilten Schlachtplan, der einfach wasserdicht war. Sie hatte alles übers Schreiben verschlungen, einschließlich eines Buchs von Stephen King, auch bekannt unter dem Namen GOTT. Der hatte anscheinend kübelweise Ablehnungsbriefe bekommen, so viele, dass er über seinem Schreibtisch einen Nagel in die Wand gehämmert hatte, um all die »Nein«-Schreiben dran aufzuhängen. Derartige Selbstzerfleischung war ganz nach Brees Geschmack, und so hatte sie ebenfalls einen fetten Nagel in den Putz ihrer Zimmerwand getrieben. Und jeden Monat, jedes Jahr versank der Nagel immer tiefer in der Flut von Ablehnungsschreiben.

Haha, genau wie bei Stephen King, hatte sie gedacht, als sie ihren ersten »Nein«-Brief dran aufgespießt und ihm den Stinkefinger gezeigt hatte.

Dann kamen noch mehr. Und mehr.

»Ich kann’s kaum erwarten, im Guardian über diesen gefühlsmäßig herausfordernden Abschnitt meiner Entwicklung zu sprechen, wenn die mich zu meinem Bestseller interviewen«, erklärte sie dem überlasteten Nagel, als sie wieder einmal eine Absage auf ihm pfählte. Ja, sie war jetzt so weit, dass sie sich mit ihm unterhielt.

Inzwischen schien dieses Guardian-Interview in etwa so wahrscheinlich wie eine Anfrage von J. K. Rowling, ob Bree nicht ihre allerbeste Freundin werden wolle. Ihr erster Roman war von sämtlichen Agenturen und Verlagen in ganz Großbritannien abgelehnt worden.

Und nun ihr zweiter.

Was zum Teufel sollte sie jetzt tun?

»Bree?« Die Stimme ihrer Mutter schallte die Treppe hinauf. »Du kommst zu spät.«

Sie spießte den neuen Brief auf den Nagel und drückte fest dagegen, damit er noch Platz hatte.

»Bin gleich so weit«, rief sie zurück.

»Ich kann dich nicht fahren. Die Mädels und ich haben heute früh Bikram-Yoga.«

Wann hatten sie das nicht? Und was für eine Ironie, dass ihre Mutter sich und ihre Freundinnen immer noch als »Mädels« bezeichnet, dachte Bree.

Hastig wühlte sie in ihrer Schublade und förderte eine pink-schwarz gestreifte Strumpfhose zutage. Sie zog sie hoch und zuckte zusammen, als der Stoff über die Oberschenkel-Schnittwunden vom vergangenen Abend glitt. Das hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr gemacht. Jetzt würde sie dafür Schmerzensgeld zahlen, und zwar jedes Mal, wenn sie sich in den kommenden zwei Tagen hinsetzte oder aufstand.

Ihr Telefon meldete sich. Textnachricht von Holdo. Zweifellos wollte er sich mal wieder doppelt vergewissern, dass sie noch zusammen zur Schule gingen, ungeachtet der Tatsache, dass sie das jeden Tag machten.

Tatsächlich:

Guten Morgen, Bree. Treffen wir uns zur üblichen Zeit an der üblichen Ecke? Gib mir bitte Bescheid. Dein Holdo.

Kürzel waren für Holdo tabu, eine Sprachschusterei schlimmster Art. Er schrieb alles vollständig aus, samt Satzzeichen und allem. Einmal hatte er ein Komma vergessen und Bree eine Entschuldigung biblischen Ausmaßes hinterhergeschickt.

Sie schoss eine Antwort zurück. OK. Bb. Das »Bis bald« wählte sie extra, um ihn zu quälen. Warum, war ihr nicht ganz klar. Bree zog ihren Schulblazer über und wollte gerade aus dem Zimmer eilen, als ihr die Liste von gestern Abend ins Auge fiel.

Die hatte sie völlig vergessen, so verloren, wie sie auf dem Teppich herumlag. Sie hatte in ihrem Leben schon so viele Listen erstellt, dass sie nicht jede einzelne immer auf dem Schirm hatte. Die hier hatte sie aufgestellt, als das Adrenalin verebbt war. Das vertraute Gefühl der Ruhe hatte sie daran erinnert, dass gar nicht alles so schrecklich war, und die Liste war dazu da, ihrer Erinnerung das nächste Mal auf die Sprünge zu helfen – in der Hoffnung, dadurch ein nächstes Mal zu verhindern.

Gründe, weshalb ich nicht ständig so verdammt unglücklich sein sollte:

  1. Ich lebe in einem Riesenhaus, einem von denen, um das Fremde einen beneiden.

  2. Meine Eltern lieben mich, auf ihre ganz spezielle Art, denk ich zumindest mal.

  3. Wenn ich wollte, könnte ich hübsch sein …

  4. Ich bin viel gescheiter als die meisten anderen.

  5. Ich weiß, was ich mit meinem Leben anfangen will.

  6. Ich habe Holdo.

 

Das war’s auch schon. Eigentlich hatte sie auf zehn kommen wollen – das wär eine runde Sache gewesen. Aber mehr Gründe waren ihr partout nicht eingefallen. Das wiederum, dachte Bree, könnte der erste Punkt einer ganz neuen Liste sein.

Gründe, weshalb ich ständig so verdammt unglücklich bin:

  1. Mein Leben ist derart beschissen, dass mir noch nicht mal zehn beknackte Gründe einfallen, weswegen ich NICHT unglücklich sein sollte.

 

Aber für diese Liste hatte sie jetzt keine Zeit. Sie war spät dran.

Bree rannte die Treppe runter in die Küche. Die Schale mit Müsli, Obst und Biojoghurt, die ihre Mutter ihr bereitgestellt hatte, ließ sie links liegen und holte sich stattdessen eine Pop-Tart aus dem Schrank. Erdbeer. Genau danach war ihr jetzt. Sie schob sie sich in den Mund und beließ sie dort, während sie die Schultasche packte. Dann schaltete sie die Alarmanlage ein und verließ eiligen Schritts das Haus.

Während sie darauf wartete, dass das Sicherheitstor aufglitt, ging sie die Liste noch mal im Kopf durch. Wie naiv sie doch manchmal sein konnte – zu glauben, dass ihr Leben gar nicht so grauenhaft war. Ja, sie konnte sechs Gründe aufzählen, weshalb es gar nicht so trübe aussah. Aber wenn man diese Gründe erst mal zu Ende dachte, dann fielen sie völlig in sich zusammen.

So zum Beispiel Punkt eins.

Ich lebe in einem Riesenhaus, einem von denen, um das Fremde einen beneiden.

Daran gab es, oberflächlich betrachtet, nichts zu rütteln. Ihr Haus war riesig. Sogar an einer Privatstraße lag es. Ashdown Drive war die Art von Straße, für die die weniger Betuchten extra einen Umweg einlegten, um die Villen anzustarren. Und ihre gehörte zu den eindrucksvollsten. Sie hatte ein Sicherheitstor samt Gegensprechanlage, durch das man auf die gewundene, ringförmige Zufahrt gelangte. Einen Garten als solchen hatten sie nicht – »Außenanlagen« traf es wohl besser. Man brauchte an die fünf Minuten, um an ihrem Grundstück vorbeizugehen. Die ausgedehnten dunkelgrün-hellgrün-dunkelgrün-hellgrünen Rasenstreifen lagen hinter sorgsam gestutzten Sichtschutzhecken verborgen. Es war die Art von Haus, die jedermann verstohlen betrachtete, um vielleicht einen Blick auf die glücklichen Bewohner zu erhaschen, und dabei dachte: Wow. Die Leute da drinnen führen sicher das absolut perfekte Leben. Die wissen doch noch nicht mal, wie Probleme aussehen. Wenn ich da leben würde, wäre alles in Butter. Und zwar für immer.

Die Wahrheit? Bree hasste das Haus. Was einem nämlich keiner sagt: Ein großes Haus hat die unangenehme Eigenschaft, schlimme Verlorenheitsgefühle zu erzeugen. Unentwegt. Sie konnte dort drinnen brüllen, ohne dass jemand sie hörte. Das wusste sie, denn sie hatte es einmal probiert (an einem besonders schlechten Tag). Und die einzige Antwort war das Echo ihrer eigenen Schreie geblieben, das endlos im marmorverkleideten Eingangsbereich herumgetobt war.

Das Sicherheitstor fühlte sich an wie ein Gefängnistor. Oft fragte sie sich, wie es wohl wäre, nicht so reich zu sein. Deutlich lustiger wahrscheinlich.

»Spar’s dir, Bree«, ermahnte sie sich selbst.

Das Tor glitt hinter ihr zu und sie zog los zum Treffpunkt mit Holdo. Es war Oktober und kalt. Hätte sie doch nur die grellen Strumpfhosen in Doppelschicht gewählt. Ihre Mutter rang stets die Hände über Brees modische Vorstellungen, was sie gleich zu Punkt zwei führte …

Meine Eltern lieben mich, auf ihre ganz spezielle Art, denk ich zumindest mal.

Kommt drauf an, wie man Liebe definiert, oder? Bree hatte es nie an irgendwas gefehlt. Bedeutete das, dass sie geliebt wurde? Ihr Dad riss sich mehr oder weniger rund um die Uhr den Arsch auf, damit sie in besagter Gefängnisriesenvilla wohnen konnte. Er verließ morgens das Haus, bevor sie aufwachte, sogar samstags, und kehrte gewöhnlich erst nach Mitternacht zurück. Was er genau tat, war ihr nicht ganz klar. Im Gegenzug wusste ihr Vater kaum mal, wie alt sie war. Das Ausmaß ihrer Kommunikation belief sich auf Folgendes:

Dad (in einem der seltenen Momente, in denen sie einander auf der Treppe über den Weg liefen): Und, in der Schule, benimmst du dich?

Bree: Ja.

Dad: Gut.

Oder, damals an Weihnachten …

Dad (am Truthahn rumsäbelnd): Brust oder Keule?

Bree: Ich bin Vegetarierin, schon vergessen?

Dad: Sei nicht albern. (Schnitt ein Stück Keule ab und ließ es auf ihren Teller fallen.)

Und dann war da noch Mum. Sie war immerhin anwesend – körperlich zumindest. Ihre Mutter war eine Vollzeit-Yummy-Mummy, wie sie sich selbst gerne bezeichnete. Brees unbescheidener Meinung nach sollte das Wort »yummy«, lecker, mit niemandem in Verbindung gebracht werden, der die Vierzig überschritten hatte.

Ihre Mutter verbrachte ihre Tage mit verschiedensten, immer abstruser titulierten Sportkursen sowie mit Gesichtsbehandlungen, Faltenauffüllungen und Botoxinjektionen, die sie bei ihren regelmäßigen Ausflügen zu den Harley-Street-Ärzten machen ließ. Außerdem inhalierte sie Promiklatsch aus grellbunten Heften, die überall im Haus herumflogen. Ihre Liebe zu Bree äußerte sie durch einen nie versiegenden Strom an Geschenken, der sich über Brees Bett ergoss. Tiffany-Ketten, Hollister-Sweatshirts – einmal hatte ihre Mutter ihr sogar Spitzenunterwäsche gekauft. Volltreffer, was? Aber Bree war das alles ungefähr so willkommen, wie wenn ihr eine Katze eine kopflose, blutige Maus auf die Türschwelle gelegt hätte. Ihr war klar, dass niemand das begreifen würde. Wer würde keine Mutter wollen, die einen mit Geschenken überhäuft? Insbesondere mit solchen Erste-Sahne-Geschenken, von denen die meisten ihrer Altersgenossinnen nur träumen konnten. Aber Bree wollte keine Ketten, überteuerten Strickpullover oder Nobelhöschen. Sie wollte eine Mutter, die ihr bei den Hausaufgaben half. Eine, die ihr nach der Schule einen Tee machte und nach dem Aufsatzthema fragte, anstatt sie auszuquetschen, ob sie vielleicht irgendwelche neuen Freundinnen habe. Ständig. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als beliebt zu sein.

Aber sie hörte nur:

»Warum trägst du nie diesen Pulli, den ich dir geschenkt habe?«

Oder:

»Kommt Holdo schon wieder vorbei? Hast du denn keine Freundinnen?«

Oder:

»Du bist doch so hübsch. Warum machst du denn so gar nichts aus dir? Du lässt dich völlig verlottern!«

Was Bree darauf brachte …

Wenn ich wollte, könnte ich hübsch sein 

Könnte sie. Jederzeit. Wollte sie aber nicht. Sie hatte es schon mal mit Hübschsein versucht, an ihrem ersten Schultag in der Mittelstufe, aus dem naiven Irrglauben heraus, dass das vielleicht etwas ändern könnte. Ihrem hartnäckigen Babyspeck zum Trotz hatte sie ihren Rock hochgeschoppt, sich sorgfältig dunkle Drogeriemarktsträhnchen gemacht, das Gesicht mit blauem Lidschatten und rosa Lippenstift zugekleistert und sich zwei Socken in den BH gestopft. Das Ergebnis war der entsetzlichste erste Mittelstufenschultag gewesen, den die Welt je gesehen hatte. Jassmine Dallington und ihre Kumpaninnen hatten sich bei ihrem Anblick regelrecht angesabbert vor Verzückung, sich beim Lachen verschluckt und Bree im Nu mit brandneuen, noch fieseren Spottnamen überschüttet.

Wie blöd von ihr, dass sie überhaupt einen Versuch gestartet hatte. Und jetzt, mittlerweile babyspeckfrei und mit ebenmäßigen Gesichtszügen, würde sie einen Teufel tun, es noch mal zu probieren.

Welche hübsche Person erreichte schon etwas aus eigener Kraft? Wer scherte sich darum, wie ein Autor aussah, solange seine Sprache schön war?

Und so machte sich Bree, sehr zur Verzweiflung ihrer Mutter, so unattraktiv wie möglich.

Wenn man bewusst steuerte, weswegen sie einen auslachten, ihnen etwas lieferte, an dem sie sich abreagieren konnten … nun, dann hörten sie Brees Erfahrung nach gewöhnlich mit dem Lachen auf.

Nicht, dass sie sich nicht gelegentlich die Haare wusch. Die waren momentan lang, platt und straßenköterblond, hatten aber schon allerhand abstruse Farbwechsel hinter sich – zuletzt rosa, was immer noch nicht ganz rausgewaschen war. Ihre Klamotten waren die einer frustrierten Mittvierzigerin, die gerade ihre Midlife-Crisis durchlebt, mit viel Neon und innovativen Haargummis. Sie aß, was sie wollte, was bedeutete, dass sie fast ständig mit Pickeln übersät war und ihre Oberschenkel beim Gehen aneinanderrieben. Doch all das war völlig egal, denn …

Ich bin viel gescheiter als die meisten anderen.

Hübsch sein war nur in der Schule von Belang. Und für ihre Entwicklung, dachte Bree, spielte dieser Teil ihrer Biografie überhaupt keine Rolle. Schule war Zeit, die abgesessen werden musste, bis die wunderbare Welt des Erwachsenseins sie mit offenen Armen und einem Verlagsvertrag für zwei Romane empfing. Im Ozean eines menschlichen Lebens war die Schule nur ein winziges Tröpfchen. Und was die hübschen Mädchen in der Schule anging – deren große Zeit würde bald abgelaufen sein. Die hatten den Höhepunkt ihres persönlichen Glückslevels viel zu früh erreicht. Was eben der Grund war, weshalb Bree hässlich blieb: um ihren Glücksgipfel auf ein nützlicheres Alter zu verschieben. Ein weiterer Beweis dafür, dass Bree sehr viel schlauer war als die meisten anderen.

Jetzt musste sie sich allerdings etwas sputen. Bree war schlau, aber besonders pünktlich war sie nicht. Eigentlich nie, wenn man’s genau nahm. Während Holdo gerade das Gegenteil war. Sie wickelte sich enger in ihren Blazer, um die Kälte draußen zu halten, und gestattete sich nur ganz am Rande einen Gedanken an den vorletzten Eintrag auf der Liste von gestern Abend.

Ich weiß, was ich mit meinem Leben anfangen will.

Aber was, wenn das Leben nichts mit ihr anfangen wollte? Alles, was sie je gewollt hatte, war: schreiben. Na ja, zumindest die letzten vier Jahre. Und natürlich wollte sie, dass Leute lasen, was sie schrieb. Wollte jedem Menschen, der ihre Texte las, etwas von sich mitgeben. Gab es eine bessere Art, dem Leben einen Sinn zu verleihen, einen Beweis für die eigene Existenz zu liefern? Aber vielleicht sollte es nicht sein.

Nur, sich damit abfinden, das konnte sie noch nicht.

Obwohl, bis dahin hatte sie Holdo.

Da stand er und wartete auf sie, genau wie immer. Auf den Ohren sein Markenzeichen, die gelben Kopfhörer, und über seinem Schulpulli das gelbe Bananen-T-Shirt von Velvet Underground, die textile Grundausstattung jedes Indie-Liebhabers. Da hatte Holdo sie schon entdeckt und die Kopfhörer abgezogen, um auf seine Uhr zu tippen.

»Schon wieder zu spät.«

»Ich komm immer zu spät.«

»Es ist respektlos, andere warten zu lassen.«

»Das waren doch nur fünf Minuten.«

Sie zogen los Richtung Schule, alle beide zu stur, um das Schweigen zu brechen. Wer es dann doch brach, war natürlich Holdo. Ganze fünf Minuten hatte er durchgehalten. Rekord.

»Und, was hast du gestern Abend so gemacht?«

Bree starrte aufs Pflaster. »Schon wieder eine Absage bekommen. Hat schon auf der Fußmatte auf mich gewartet, als ich nach Hause gekommen bin.«

Sie konnte regelrecht zusehen, wie Holdo ihr das Zuspätkommen verzieh, sein Blick schmolz sofort dahin. Er war ihr nie lange böse.

»Tut mit leid, Bree. Ich kapier’s einfach nicht. Du hast so ein Talent.«

»Ich weiß«, sagte sie und lächelte ihn schief an, wie zur Entschuldigung. »Ich kapier’s auch nicht.«

»Willst du drüber sprechen?«

»Eigentlich nicht.« Zumindest nicht mit Holdo. Wenn sie derart aufgewühlt war, nervten sie seine wohlmeinenden Ratschläge eher, als dass sie ihr halfen.

Das Herbstlaub knirschte unter ihren Doc Martens, und sie stampfte auf, damit es noch lauter knirschte.

»Und, was hast du letzten Abend so gemacht?«, fragte sie, kickte in einen gelb-orangenen Blätterhaufen und sah zu, wie alles wieder auf den Gehsteig segelte. In ihrer Straße gab es keine Blätter. Die wurden jeden Morgen mit einem speziellen Laubbläser weggepustet, von dem Hauswart, den alle Anwohner gemeinsam angeheuert hatten.

»Ich hab mir Apocalypse Now Redux angeschaut. Die Dreistunden-Version. Unglaublich packend. Schon gesehen?«

»Na klar.«

»Aber kennst du auch den Rohschnitt mit den Extraszenen?«

»Ja.« Glatt gelogen. Bree hatte nur die normale Kinofassung gesehen und das Ganze eher verwirrend als packend gefunden. Aber das würde sie Holdo gegenüber niemals zugeben. Lieber sterben.

»Also, damit befinden wir uns in der Minderheit. Die meisten Leute haben schon mit der Normalfassung Schwierigkeiten, weil sie länger als neunzig Minuten dauert. Echt, die Aufmerksamkeitsspanne von Kinobesuchern heutzutage ist der reinste Irrsinn. Wenn nicht alle fünf Sekunden eine Monsterexplosion kommt oder irgendeine unnötige Sexszene, dann wollen die Leute einfach nicht …«

Bree ließ Holdos Hasspredigt über sich ergehen. Die hatte sie schon mindestens zwanzig Mal gehört. Es war eine seiner liebsten. Gemeinsam mit seinen Schimpftiraden darüber, wie Reality-TV die Musikindustrie kaputt machte, wie man Dan Brown auf kleiner Flamme rösten sollte für seine Da-Vinci-Code-Verbrechen an der Literatur, und darüber, dass die Filmindustrie keine richtigen Drehbuchautoren mehr hatte, weil sie ständig nur Bestselleradaptionen machte, statt in junge Talente zu investieren.

Sie seufzte. Holdo war ihr bester Freund. Ihr einziger Freund, wenn sie ehrlich war. Bree wusste, dass sich ihre Beliebtheit stark in Grenzen hielt, aber meistens störte sie das nicht. Klar, da gab es natürlich Momente lähmender Einsamkeit. Und klar, natürlich wäre es ab und zu schön, auch mal ein Mädchen zum Reden zu haben. Aber grundsätzlich war sie sehr glücklich mit Holdo.

»… und es macht mich einfach so sauer, dass es überhaupt zum Vietnamkrieg kommen konnte, kapierst du? Der war einfach nur komplett unmoralisch, und dass die Amerikaner was draus gelernt hätten, kann ja auch keiner behaupten. Man sollte doch meinen …«

Aaaah. Der Krieg. Sie hatte sich schon gefragt, wann er mit dem Krieg loslegen würde.

Holdo war der typische Fall eines Jugendlichen, der sein privilegiertes Elternhaus verachtete. Einer von der Indie-Variante, die aufrichtig daran glaubte, im Falle einer Spontanbegegnung mit Morrissey sofort dessen bester Freund zu werden. Sein echter Name war gar nicht Holdo, er hieß Jeremy Smythe. Er hatte sich selbst umbenannt, und zwar – ja, genau – nach Holden aus Der Fänger im Roggen. Die o-Endung sollte dem Ganzen noch zusätzliche »Originalität« verleihen. Doch Bree liebte Holdo (rein freundschaftlich natürlich). Er war der Einzige in ihrem Umfeld, der ihren Grad an Intellektualität teilte, ihre Sehnsucht, aus ihren Privilegien etwas zu MACHEN, anstatt sich auf ihren finanzgepolsterten Lorbeeren auszuruhen. Holdo war gerade dabei, ein Computerspiel zu entwickeln. Er konnte tatsächlich richtig programmieren und alles. Es war eine Art Kreuzung zwischen Grand Theft Auto und Bugsy Malone. Wie Bree es verstand, drehte sich das Spiel um einen von Mitschülern gemobbten Geek, der mit Bugsys Frostkanone in der Schule Amok lief und seine Peiniger mit Sahnetorten abschoss. Irgendwann würde Holdo es aus eigener Kraft zum Millionär bringen. Der Gute. Vorher musste er es nur heil durch die Schule schaffen.

Sie unterbrach ihn mitten im Kriegsmonolog.

»Holdo?«

Der geriet ins Stottern und brach ab. »Was?«

»Ich schreibe doch gut, oder?«

Sie wusste, dass sie das tat. Natürlich tat sie das. Aber jetzt gerade konnte sie etwas Zuspruch gebrauchen.

Holdo ergriff ihre Hand und drückte sie. »Na klar tust du das. Ich lese alles, was du schreibst, und ich liebe jedes einzelne Wort.«

Sie blickte auf seine Hand und fragte sich, wie rasch sie wieder loslassen konnte. Das war das Problem mit Holdo: Rein-freundschaftlich-natürlich war nicht ganz seine Sicht der Dinge.

»Danke.« Sie ließ seine Hand fallen und schob ihre zurück in die Sicherheit ihrer Tasche.

»Warum redest du nicht mal mit Mr Fellows drüber?«

Daran hatte sie auch schon gedacht. Mr Fellows war ihr Englischlehrer und der einzige Erwachsene auf Erden, der sie wahrnahm.

»Heut hab ich Englisch. Da könnte ich.«

»Der schafft’s doch irgendwie immer, dich aufzumuntern.«

Bree lächelte in sich hinein.

Holdo hatte ja keine Ahnung.

Zweites Kapitel

Sie erreichten das Schultor und reihten sich in die Schlange ein, die sich vor dem Sicherheitscheck am Haupteingang gebildet hatte. Während Holdo irgendwie durchrutschte und mit einem Abschiedswinken in Richtung seines Kursraumes verschwand, wartete Bree ungeduldig darauf, dass man ihre Personalien überprüfte. Die Schulgebühren an Queen’s Hall betrugen zwölftausend Pfund jährlich, und die Hälfte davon schien man dafür aufzuwenden, Otto Normalverbraucher am Reinschleichen zu hindern. Als würden vom »gemeinen Volk« irgendwelche ansteckenden Krankheiten ausgehen oder so.

Bree stand direkt hinter Jassmine Dallington und ihrer Meute der Makellosen, den sauberen Erdbeergeruch von Jassmines frisch geföhntem Haar in der Nase. Im Geschubse und Gerempel der Schülerschlange trat Bree versehentlich etwas zu weit nach vorn, direkt auf Jassmines Hacke. Jassmine warf ihren Kopf herum, um zu sehen, wer es da gewagt hatte, sie zu berühren. Als sie erkannte, dass es Bree gewesen war, rümpfte sie die Nase.

»Pass bloß auf«, sagte sie mit abscheutriefender Stimme.

»Tut mir leid«, murmelte Bree und senkte den Blick auf ihre gestreiften Beine.

Jassmine wandte sich ab und dürfte eine Grimasse gezogen haben, denn die anderen Mädchen lachten. Nicht richtig – ein echtes Lachen hätte ihre Gesichter zu sehr entstellt –, aber sie feixten auf attraktive Art. Gemma Rhinestone flüsterte Jassmine etwas ins Ohr, und eine weitere Kicherwelle schäumte auf.

Bree schützte ein unnatürliches Interesse an ihrer Strumpfhose vor und verfluchte sich dafür, auch noch rot zu werden. War ihr doch völlig egal! Die Meute der Makellosen waren Idioten! Aber, na ja, peinlich war es trotzdem.

Sie reichte dem Typen ihre Sicherheitskarte. Während sie wartete, spielte sie nach Kräften unsichtbar. Das war nicht weiter schwer: Hier war sie ein Niemand. Als sie Tasche und Karte endlich wiederhatte, fädelte sie sich durch das Labyrinth der Gänge zu ihrem Kurszimmer. Dort würde sie eine Stunde lang sinnlos rumsitzen und das Gelaber ihres Lehrers über die Wichtigkeit des Erfolgs über sich ergehen lassen müssen.

In der Tür standen Hugo und seine Kumpel und versperrten ihr den Weg.

»Verzeihung«, sagte sie und drehte sich zur Seite, um sich hindurchzuquetschen.

Keine Reaktion, Hugo redete einfach weiter.

»Mensch, Leute, die Weiberjagd am Wochenende war echt gediegen … Diese Mädchenschulweiber sind ja so was von dankbar. Ich schwör, ohne Scheiß, die eine ist ganz von selbst zu mir gekommen und hat sich mir angeboten, einfach so.«

Seine Freunde lachten wie die Hyänen und klatschten ihn ab.

»Und, haste?«, fragte einer. Sein Gesicht war eindeutig zu rot. Entweder miese Gene oder übereifriges Pseudogelache von Kerl zu Kerl. Seth hieß er, glaubte Bree sich zu erinnern.

Hugo hob eine Augenbraue. »Ein Gentleman genießt und schweigt.«

»Ha! Seit wann bist du ein Gentleman?«

»Gut gegeben, Alter, gut gegeben.« Erneute Abklatschrunde. »Mal ehrlich, nix ist passiert. Ich hab dem Mädel gesagt, sie muss dringend an ihrer Selbstachtung arbeiten, und da hat sie losgeflennt.«

Noch mehr Gewieher. Vielleicht-Seth schaute drein, als würde er gleich explodieren.

»Aber trotzdem geile Party«, sagte das Rotgesicht mit Lachtränen in den Augen. »Ich war so was von dermaßen besoffen. Ich schwör, zwischendurch war ich buchstäblich blind.« Er blickte in die Runde und wartete auf die Lacher. Die blieben aus.

Hugo verzog das Gesicht. »Himmel, Seth. Das waren höchstens ein paar Schnäpse, die du getrunken hast.«

»Waren es nicht! Ich hab fast die ganze Wodkaflasche gekippt. Du hast es nur nicht mitgekriegt, weil du dir die ganzen Chickas vom Leib halten musstest.«

Hugo verdrehte die Augen. »Egal jetzt.«

Bree nutzte das peinliche Schweigen zu einem neuen Anlauf. Sie räusperte sich. »’tschuldigung.«

Jetzt lagen die Augen aller Jungs auf ihr.

»Kann ich mal eben durch?«

Hugo hob die Arme und rückte minimal nach hinten. Die anderen Jungs taten es ihm nach, wodurch insgesamt vielleicht gerade mal zwei Zentimeter gewonnen waren. Bree musterte die Lücke, seufzte innerlich und manövrierte sich im Krebsgang ins Kurszimmer. Die Vorderseite ihres Körpers streifte die von Hugo.

»Igitt, hör auf, dich an mir zu reiben«, sagte er. »So früh am Morgen lass ich mich ungern befummeln.«

Die Jungs brachen in hysterisches Lachen aus. Bree lief zum zweiten Mal an diesem Tag rot an und rannte schon fast zu ihrem Tisch. In ihren Beinen ziepte es schmerzhaft, als sie sich setzte und ihr Lieblingsnotizbuch hervorzog. Sie spürte, wie ihr Gesicht brannte, und verbarg es hinter strähnigem Haar.

Blöde Schule. Blöde Schule. Blöde Schule.

Die Sache war nur: So ungern sie es zugab und so wenig sie es wollte, sie stand auf Hugo. Lächerlich, das war ihr klar. Grotesk. Absurd. Und auch so was von grundfalsch, wenn man bedachte, was für ein unfassbar arschiges ARSCHloch er doch war. Er vereinte einfach alles in sich, was sie hasste:

 

  1. an Jungs

  2. an dieser Schule

  3. am Leben als solchem.

 

Und trotzdem sah er so frustrierend gut aus und erfüllte auch noch sämtliche damit einhergehenden Klischees: Kapitän des pokalgekrönten Schulrugbyteams, Sportlerpersönlichkeit, die alle Spielpositionen beherrschte (und dies auch noch cool rauszuhängen pflegte), und Inbegriff des Alphatiers mit seinem muskelgestählten Wahnsinnskörper. Er war ein Jahr älter als der Rest; seine Eltern hatten ihn ein Jahr aus der Schule genommen, damit er in Paris leben und dort fließend Französisch lernen konnte. Ach ja – und seine Eltern waren befreundet mit Mark Zuckerberg oder sonst wem. Er war derart reich, dass er jeden anderen an der Schule arm aussehen ließ.

Klar, dass er und Jassmine eine turbulente On-Off-Beziehung führten. Sogar Bree kannte jedes Detail der ewigen Saga ihrer »Liebe«. Wie bei einer verdammt traurigen Flüsterpost-Variante wurde jedes Update umgehend durch die Klassenzimmer weitergeleitet. Bree hoffte, dass sie irgendwann endgültig durch sein würde mit dieser dämlichen Schwärmerei, und gestattete sich keinen Gedanken daran, wie es wäre, mit ihm zusammenzukommen. Nicht nur, weil das NIEMALS passieren würde – er wusste ja noch nicht mal, dass sie existierte –, sondern auch, weil er eben ein ARSCHloch war.

Ihr Klassenbetreuer, Mr Phillips, kam in den Raum geschlendert, und sofort setzte sich jeder auf seinen Platz. So war das auf Privatschulen – die Leute konnten sich benehmen.

»Alles klar bei euch?«, fragte er, stellte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und ließ ihn aufschnappen.

Keine Antwort.

»Ich hab gesagt, ALLES KLAR BEI EUCH

Reg dich ab, dachte Bree. Du bist kein Rockstar.

»Morgen«, sagte die Klasse im Chor.

»Gut. Studienplatzvergabe, Studienplatzvergabe, Studienplatzvergabe. Ich weiß, jetzt denkt ihr: ›Was? Wir haben doch noch ein Jahr!‹, aber eure Eltern investieren einen Batzen Geld, um sicherzugehen, dass ich euch in die Universität eurer Wahl reinbekomme. Und das heißt, dass ihr euch rechtzeitig mit einem Motivationsschreiben bewerbt, an dem wir das ganze Jahr herumfeilen werden, bis es perfekt ist. Also, wissen hier alle, welches Fach sie wollen und welche fünf Unis auf die Wunschliste kommen? Oxford- und Cambridge-Kandidaten, wisst ihr, auf welches College ihr es schaffen wollt?«

Bree kritzelte in ihrem Heft herum. Sie plante ihren Ausbruch nach Cambridge schon seit Pubertätstagen, und abgespeichert auf ihrem Laptop lagen seit Monaten ein tadelloses Anschreiben und ein ausgefülltes Übungsformular für die Studienplatzvergabe, die nur auf den Tag warteten, an dem Bree auf Senden klicken konnte. Also brauchte sie Mr Phillips gerade nicht besonders dringend zuzuhören. Was ganz praktisch war, denn sie bastelte gerade an einer neuen Liste.

Gründe, weshalb es komplett widersinnig ist, auf Hugo d’Felance zu stehen:

  1. Ich habe ihn noch nie vom weiblichen Geschlecht sprechen hören, ohne dass er eines der folgenden Worte benutzt hätte: Schlitz, Möse, Ritze, Muschi, Loch, Windsack oder das F-Wort, das definitiv total tabu ist. Total.

  2. Er ist ein völlig ungenierter Rassist, Homophobiker, Frauenhasser und ein absolut engstirniger Kotzbrocken.

  3. Ich weiß, allerdings nur vom Hörensagen, dass er schon mindestens eine Geschlechtskrankheit hatte.

  4. Er hat Shakespeare mal als »diesen Langweilertypen« bezeichnet.

  5. Wenn Jassmine es jemals rauskriegte, würde sie mich mit ihrer Nagelfeile ausnehmen, meine Innereien verbrennen und meine Augäpfel auslöffeln …

  6. Ich habe Selbstachtung. Ich habe Selbstachtung. Ich habe Selbstachtung.

 

Brees unermüdliche Listenerstellerei hatte sich zur persönlichen Bewältigungsstrategie entwickelt. Mit eigenem Notizbuch und allem. Die Listen hatten keinen eigentlichen Zweck – sie enthielten nur ihre Gedanken zur Welt in einem bestimmten Augenblick.

Manchmal fantasierte sie sich zusammen, wie ihre Listen in ein paar hundert Jahren in irgendeinem Museum der Zukunft lägen, ausgestellt hinter Vitrinenglas, in einer restlos ausverkauften Ausstellung über ihre »frühen Jahre«. Auf einem Schildchen neben ihrem Notizbuch stünde dann: Brees außergewöhnliche Einsichten in ihre betrübliche Teenagerzeit, festgehalten in Listenform. Schon hier ist ihre kraftvolle Erzählstimme deutlich zu erkennen. Wenig später sollte sie zur Stimme ihrer Generation werden, die sich weit über ihre Lebenszeit hinaus ungebrochener Wertschätzung erfreut.

Mr Phillips schwadronierte noch immer.

»Weiter im Text. Bewerbungsgespräche für die Unis. Richtung Sommer veranstalten wir Trainingsmodule für Gesprächskompetenz, damit ihr über die Sommerferien üben könnt. Die Anmeldezettel hängen nach Weihnachten aus. Tragt euch nicht alle auf einmal ein, es gibt genug Termine. Aber bis dahin wünsche ich mir von euch, dass ihr euch eure außerschulischen Aktivitäten durch den Kopf gehen lasst. Nicht vergessen – Langweiler kommen nicht nach Oxbridge! Da müsst ihr was vorzuweisen haben. Legt los!«

Bree hörte Hugo und seine Kumpels lachen und hob den Kopf. Hugo hatte einen haarigen Monsterpenis auf Seths Probeformular gekritzelt und hielt es in die Runde.

»He!« Seth versuchte, es sich zu schnappen. »Das brauch ich noch!«

Hugo hielt es sich hinter den Rücken. »Warum brauchst du denn so dringend das Bild von einem Schwanz, Seth?«

»Haha! Schwuchtel, Schwuchtel«, feixten die anderen.

»Halt die Schnauze. Du weißt, was ich meine. Das ist mein Übungsformular. Das brauch ich noch.«

Inzwischen war der Lehrer aufmerksam geworden. »Irgendein Problem, die Herren?«

Hugo schüttelte den Kopf, das Blatt immer noch hinter seinem Rücken. »Überhaupt nicht, Sir.«

»Gut.« Und weiter ging Mr Phillips’ Leier vom Aufnahmeverfahren.

Hugo aalte sich in der Aufmerksamkeit, die er erregt hatte – hauptsächlich bei zwei Mädchen, die Bree nur aus dem Unterricht kannte. Sie kicherten Hugo zu und warfen ihr Haar in den Nacken. Er zwinkerte zurück und sie kicherten noch mehr.

Bree fügte ihrer Liste ein abschließendes Ich habe Selbstachtung hinzu.

Drittes Kapitel

Nach dem Klingeln steuerte Bree im Unsichtbarkeitsmodus durch die Gänge Richtung Englisch. Mr Fellows’ Gegenwart machte sie immer nervös, also lehnte sie sich gegen die Schließfächer und atmete ein paarmal tief durch, bevor sie den Raum betrat.

Er nahm ihre Ankunft nicht zur Kenntnis. Sie setzte sich in die erste Reihe. Weitere Schüler kamen hereingeschlendert, ließen sich nieder und zogen missgelaunt ihre Philip-Larkin-Gedichtsammlung aus den Designertaschen. Bree starrte Mr Fellows an. Er war vermutlich am Korrigieren, denn er kritzelte auf einem oben vorgedruckten A4-Blatt herum. Das kastanienbraune Haar hing ihm in die Augen. Sie zog den Bauch ein und entfaltete ihre gestreiften Beine, nur um sie wieder übereinanderzuschlagen.

Endlich fiel Mr Fellows ein, dass er ja auch noch einen Kurs hatte, und er richtete sich auf.

»Sehr gut, wunderbar«, sagte er, an niemand Bestimmten gerichtet. Er stellte sich mit dem Rücken zum interaktiven Whiteboard. »Also. Wo waren wir stehen geblieben?«

Bree hob die Hand, wartete aber gar nicht erst, bis sie aufgerufen wurde.

»Wir haben gerade das Gedicht Auch vorbei gelesen.«

Sie hörte ein Stöhnen. Ob wegen des Gedichts oder ihres Übereifers im Unterricht, war schwer zu sagen.

Mr Fellows schnappte sich seinen zerfledderten Gedichtband und blätterte ihn durch. »Da hast du recht, Bree.«

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und badete in seinem Lob, so klein und unbedeutend es auch sein mochte.

Er hatte die entsprechende Seite gefunden und trug das Gedicht vor. Und zwar wunderschön …

»Wie der geschleuderte Butzen segelt,

Vom Korbrand abprallt, zu Boden kegelt,

Hat nicht mehr viel von Pech und immer mehr

Von Scheitern, das am Arm zurück sich rankt,

Mal ums Mal früher, bis er baumelt, schwer.

Unangebissen ruht der Apfel in der Hand.«

»Okay. Also, in diesem Gedicht versucht Larkin, ein Apfelgehäuse in den Müll zu werfen, trifft aber daneben. Wie sind so eure Gedanken dazu?«

Ein Typ namens Chuck hob die Hand.

»Ja?«

Chuck hatte pechschwarzes Haar, hundertprozentig gefärbt. »Ich denke, Philip Larkin sollte erst gar nicht versuchen, seinen Apfel in den Müll zu schmeißen, wo er eh so scheißdepressiv ist, dass er noch nicht mal Luft holen kann, ohne drüber zu jammern.«

Die sehr überschaubare Zahl an Kursteilnehmern johlte.

Sogar Mr Fellows lächelte. »Stimmt das so?«

Chuck, der jetzt Oberwasser hatte, nickte lebhaft. »Klar. Sir, mal echt, warum geben Sie uns so was Abtörnendes zum Lesen? Keiner von den anderen Englischkursen nimmt diesen Witzbold durch, mit seinem Dauergewinsel über sein trostloses Leben.«

Diese Form der Widerrede wäre in jedem anderen Kurs als dem von Mr Fellows völlig undenkbar gewesen. Aber Mr Fellows war nicht wie die anderen Lehrer. Er war eine Luftblase in einem versiegelten Sarg, eine Pause während eines langweiligen Theaterstücks, ein erfrischender Gaumenkitzel während eines schweren Menüs, ein … äh … Bree waren die Metaphern ausgegangen. Die Sache war, er hatte Persönlichkeit. Er interessierte sich für seine Schüler als Menschen, nicht nur als Punktejäger, deren Erfolg dem Lehrer das Ego streichelte und ihm bewies, was für ein Spitzenpädagoge er doch war. Keiner war sich ganz sicher, wie er den Posten bekommen hatte und wie er ihn hielt. Vor allem, da er immer wieder Bücher aussuchte, die nicht auf der Empfehlungsliste standen, im Unterricht fluchte und gerüchteweise sogar mal mit Schülern eine Tüte geraucht haben sollte, als die Ergebnisse bekannt gegeben wurden.

»Geht es noch jemandem so mit Philip Larkin?«

Brees Hand schoss in die Höhe. »Mir nicht. Mir gefällt’s unheimlich gut.«

»Welch Überraschung«, flüsterte es in irgendeiner Ecke, und hinter ihr ertönte noch mehr Gelächter.

Bree war es egal. Jedenfalls beinahe.

»Schön zu hören, dass es wenigstens einer von euch gefällt.« Mr Fellows schaute sie noch nicht mal an und Bree spürte einen Stich. »Was ist mit den anderen?«

»Ich find’s langweilig.«

»Das ist alles so elend.«

»Warum hat er sich nicht einfach aufgeknüpft?«

»Genau. Warum hat der so viel schreiben müssen? Jetzt dürfen wir uns auch elend vorkommen.«

Mr Fellows schüttelte den Kopf. »Leute. Das tut einem ja in der Seele weh! Philip Larkin ist einer der beliebtesten englischen Dichter überhaupt. Erzählt mir doch nicht, dass ihr ihn nicht mögt, bloß weil er unglücklich war.«

Brees Hand jagte erneut nach oben.

»Ja, Bree.«

»Sexistisch war er auch. Vielen Leuten passt nicht, dass er ein Sexist war.«

»Gutes Argument.«

Bree strahlte.

»Aber es klingt ja so, als ob euch die Traurigkeit des Ganzen runterzieht. Warum ist das wohl so?«

Chuck zeigte auf.

»Ja, Chuck?«

»Weil niemand was lesen will von irgendeinem selbstmitleidigen Kerl ohne Freunde, der ständig nur rumheult, wie scheiße sein Leben ist. Ist mir doch egal, wie toll seine Lautmalerei ist. Können wir nicht wen anderen durchnehmen, Sir?«

»Keine Chance. Also, auf geht’s, wir nehmen das Gedicht auseinander und ihr werdet sehen: Ich bring euch alle dazu, dass ihr eure Meinung ändert.«

Viertes Kapitel

Als es zum Mittagessen klingelte, drückte sich Bree noch neben Mr Fellows’ Pult herum. Er kritzelte bereits wieder, die Haare in den Augen. Sie wartete, bis er sie bemerkte.

»Ja, Bree?« Endlich blickte er auf und sie verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Ich hab schon wieder eine Ablehnung bekommen.«

Mr Fellows schob den Stuhl zurück und sah sie bekümmert an. »Das tut mir sehr leid. Ich weiß, wie schwer du an diesem zweiten Roman gearbeitet hast.«

»Ich kapier nur einfach nicht, warum, Sir. Wie Sie gesagt haben, ich hab mich wirklich total bemüht. Ich hab alles gegeben. Und trotzdem ist er offenbar immer noch scheiße.«

»Er ist nicht scheiße, sondern nur …«

Sie sprang voll in die Redepause. »Was? Was ist er?«

Er seufzte und harkte sich fahrig mit der Hand durchs Haar. »Schau mal, Bree, ich weiß, was für eine gewissenhafte Arbeiterin du bist …«

»Ich will keine gewissenhafte Arbeiterin sein, ich will eine gute Schriftstellerin sein. Eine Schriftstellerin mit Verlag!«

»Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Es ist nur … weißt du … was du so schreibst … hast du schon mal über Verkäuflichkeit nachgedacht?«

Verkäuflichkeit? Allein das Wort ließ sie erschauern. »Sie wollen, dass ich mich verrate? Dass ich irgendeine leicht verdauliche Schnulze schreibe?«

»Das hab ich nicht gesagt … aber eine gewisse Verkäuflichkeit braucht es nun mal, damit es veröffentlicht wird.«

»Ich weiß, dass ich schreiben kann. Ich hab im Aufsatz bei der Mittelstufenprüfung volle Punktzahl bekommen. Die von der Prüfungskommission haben sogar gefragt, ob sie meine Arbeit als Musterbeispiel verwenden dürfen!«

»Ich weiß. Ich hab dich unterrichtet, schon vergessen?«

»Na, was ist dann falsch an dem, was ich schreibe, wenn ich die volle Punktzahl dafür kriege?«

Mr Fellows rollte mit seinem Schreibtischstuhl hin und her. Er blickte Bree nicht ins Gesicht. Nicht direkt. Das hatte er nicht mehr getan seit … damals. Aber sie brauchte seinen Rat. Wen hätte sie sonst fragen sollen?

»Dein Aufsatz für die Mittelstufenprüfung war gut, Bree – aber gut für einen Schulaufsatz. Bücher sind noch mal eine andere Sache. Die müssen sich verkaufen. Und ohne dich jetzt beleidigen zu wollen, aber kein Mensch will einen Roman von hunderttausend Wörtern über ein Mädchen lesen, das sich von einer Mole ins Wasser stürzt …«

Sie kreuzte die Arme vor der Brust, wie um sich zu schützen. »Und warum nicht?«

Mr Fellows öffnete die untere Schublade seines Schreibtischs und zog ein paar Blätter hervor. Er runzelte die Stirn und begann, daraus vorzutragen.

»Rose betrachtete die tiefe, schaumige Gischt des Wassers unter den geborstenen, verwitterten Molenplanken. Sie fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihre Leiche sich im Meer zersetzte, wenn sie sich einfach hineinstürzte. Würde sich ihr Körper aufblähen? Würden die Haie ihn fressen? Oder würde sie einfach verrotten, würden Teile ihres Körpers weich werden und dann zerfallen wie aufgeweichtes Weetabix, das am Boden einer weißen Keramikschüssel vergessen worden war …«

Bree schob die Unterlippe nach vorne. Okay, so vorgelesen hörte es sich schon leicht bescheuert an, aber nur, weil er es mit DIESER Stimme tat.

»Was ist verkehrt daran?«

Er lächelte. »Gar nichts, Bree. Deshalb hast du ja auch so gute Noten. Es ist, als ob du einen dicken Strahl Metaphern erbrichst, und so was lieben die Gutachter. Außerdem hatten sie wahrscheinlich derart Panik, dass eine Schülerin, die so was schreibt, ohnehin selbstmordgefährdet ist, dass sie dir schon aus dem Grund die volle Punktzahl gegeben haben. Damit du dich nicht in echt von der Mole stürzt.«

Ganz gegen ihren Willen musste sie lächeln.

»Aber ein ganzes Buch, in dem es nur um solch schreckliches Leid geht? Schon bisschen schwergängig, meinst du nicht?«

»Aber genauso ist das Leben doch.«

»Was? Alle Mädchen im Teenageralter wollen sich von der Mole schmeißen?«

Bree dachte einen Augenblick darüber nach. »Ja!«

Mr Fellows sah sie zum ersten Mal seit Ewigkeiten richtig an, mit großen Augen, die ganz feucht waren vor Mitleid. Es war ihr fast ein bisschen peinlich, und sie wünschte, er hätte sie doch nicht angeschaut.

»Sieh mal, Bree, du hast wirklich großes Schreibtalent. Du weißt, dass ich das ernst meine. Ich sag das jetzt nicht alles, um brutal zu sein. Ich weiß, dass du nicht glücklich bist, Bree …« Sie machte den Mund auf, um zu protestieren, aber er redete einfach weiter. »… ich weiß, dass du das nicht bist. Du tust so, als wäre es dir egal, aber ich weiß, das ist nicht der Fall. Glaubst du nicht, dass deine Schreiberei vielleicht genau deshalb zu nichts führt? Weil du unglücklich bist? Weil du nicht das Leben lebst, das du leben könntest? Ein Leben, über das es sich zu schreiben lohnt? Du kennst doch sicher die Binsenweisheit – schreib über das, womit du dich auskennst. Aber womit willst du dich auskennen, Bree, wenn du dich vor der Welt verschließt?«

Ihre Lider begannen zu zucken. Hätte er nach der Schreibtalent-Bemerkung nicht einfach aufhören können? Mehr brauchte sie ja gar nicht – nur eine Rückversicherung. Nicht, dass er ihr Leben auseinanderpflückte.

»Aber was ist mit Philip Larkin? Der ist megaberühmt und hat ständig nur Trübsal geblasen.«

»Ja, und schau dir an, wie gut seine Sachen bei deinen Mitschülern ankommen. Die können das alle nicht ausstehen. Zu düster. Du willst doch was schreiben, was die Leute lesen möchten, oder?«

Sie nickte.

»Nun, hast du schon mal über die Möglichkeit nachgedacht, dass nicht alle deiner Klassekameraden unendlich traurig sind? Und selbst wenn sie’s wären, wollten sie dem vielleicht ab und zu entfliehen, indem sie etwas lesen, was eine Spur … heiterer ist.«

»Nein.« Sie rieb ihre Schuhe auf dem Teppich und spürte, wie die Reibungswärme durch die Sohle stieg. Auf die konzentrierte sie sich, nicht auf ihre stichelnden Augen.

»Ich glaube, du solltest dich und dein Leben etwas mehr öffnen. Mach interessantere Sachen, Bree. Dann wird dein Schreiben dir nachziehen. Sei jemand, über den du selbst gerne etwas lesen würdest.«

Ihre nächsten Worte waren leiser als ein Flüstern.

»Wie bitte?«, fragte er.

»Ich hab gesagt, würden Sie über mich lesen wollen?«

Er schaukelte wieder auf seinem Stuhl herum und räusperte sich.

»Ich glaub kaum, dass das hier zur Debatte steht. Ich will dir nur helfen. Ich bin dein Lehrer.«

Sie zwang sich, ihm direkt in die mitleidigen Augen zu starren. »Aber Sie sind mehr als nur mein Lehrer, oder?«

Wieder wich er ihrem Blick aus. »Komm schon, Bree. Fangen wir nicht wieder davon an.«

»Aber Sie haben mich geküsst!«

Sein Gesicht wurde eine Spur bleicher, was sein Kastanienhaar nur noch brauner erscheinen ließ.

»Bree. Ich hab dich nicht geküsst«, zischte er. »Du darfst das nicht mehr sagen. Ich kann meinen Job verlieren.«

»Ich erzähl’s ja keinem. Ich kapier nur einfach nicht, warum Sie so tun, als wär es nicht passiert.«

Er stand auf. »Weil es nicht passiert ist! Ich habe dich nicht geküsst.« Wieder fuhr er sich durchs Haar. »Jedenfalls nicht so, wie du meinst, dass ich dich geküsst hätte«, ruderte er etwas zurück und senkte den Blick erneut auf sein Pult.

In ihren Augen stach es fester, und sie blinzelte wütend, um sich nicht zu verraten. Er hatte sie geküsst. Sie musste es ja wohl wissen, schließlich war sie in ihrem ganzen Leben erst von zwei Leuten geküsst worden. Und Mr Fellows war einer von ihnen – sein Kuss war, wenn man es genau nahm, sogar ihr erster richtiger gewesen. »Richtig« im Sinne von, dass beide Kussteilnehmer sich auch wirklich hatten küssen wollen.

 

Ihr erster erster Kuss – im Sinne von, dass zum ersten Mal ein Lippenpaar das ihre berührt hatte – hatte bei einer Wochenend-Schreibwerkstatt für Teenager stattgefunden. Er war eine von Brees schmerzhaftesten und traumatischsten Erinnerungen. Am letzten Abend hatte irgendwer eine Weinflasche reingeschmuggelt. Sie hatten sie zu acht geleert und so getan, als wären sie völlig blau. Dann hatten sie Flaschendrehen gespielt, aber irgendwie hatte die Flasche nie auf Bree gezeigt. Sie hatte nur zugeschaut, wie alle anderen sich küssten – manche nur ganz vorsichtig und trocken, aber manche von den Schöneren richtig heftig. Da war dieser eine Typ, Dylan, der aussah wie eine Mischung aus perfekt und göttlich und der richtig Lyrik schrieb. Und gerade als sie schon dachte, sie würde niemals geküsst werden, drehte Dylan die Flasche und sie zeigte auf sie. Sie hätte quietschen können vor Freude. Im Versuch, möglichst souverän zu wirken, hatte sie sich aufgerichtet und sich eine Strähne aus der Stirn geschoben.

Dylan war weniger dezent.

Er machte ein langes Gesicht, als er sah, bei wem er gelandet war. Dann schnaubte er verächtlich. Und sagte, schön laut, damit es auch ja jeder mitkriegte: »Bree? Ich muss jetzt aber nicht ernsthaft Bree küssen, oder?«

Bree? Ich muss jetzt aber nicht ernsthaft Bree küssen, oder?

Bree? Ich muss jetzt aber nicht ernsthaft Bree küssen, oder?

Bree? Ich muss jetzt aber nicht ernsthaft Bree küssen, oder?

Wie diese Worte sie verfolgt hatten, nachts um drei, schlaflos im Bett.

Zum Soundtrack schadenfrohen Gelächters war ihr Herz gebrochen.

Dylan hatte sich nach vorne gebeugt und sie ganz kurz geküsst, direkt neben ihren Mund. Mit gerümpfter Nase und einem übertriebenen Mundabwischen danach (noch mehr Gelächter) hatte er für Bree fünfzehn Jahre romantischer Fantasien über den Moment ihres ersten Kusses zunichtegemacht und durch eine schmerzhafte Realität ersetzt.

 

Aber ihr zweiter Kuss, der war anders gewesen.

Er war so gewesen, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte.