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TONI KEPPELER

CHILE IN BEWEGUNG

TONI KEPPELER

CHILE IN BEWEGUNG

REPORTAGEN AUS EINEM LAND
DER GEGENSÄTZE

Fotos von Yvonne Berardi

Rotpunktverlag.

Umschlagfoto: »Mit Leidenschaft für die Bildung« –
Studentinnen und Studenten organisierten in mehreren Städten
Chiles den »Besatón« (das große Küssen) für Bildung und
gegen Polizeigewalt. Foto: Keystone, AP, Aliosha Marquez.

ISBN 978-3-85869-699-1

1. Auflage 2016

Inhalt

Zur Einführung

Kapitel 1

DIE ANGST IST VORBEI

Die Studentenbewegung, eine Gesellschaft im Umbruch und das Aufscheinen des Endes eines langen Übergangs zur Demokratie.

Kapitel 2

SEGEN UND FLUCH DER WÜSTE

Salpeter, Kupfer, Lithium. Die Eroberung des Nordens und die Abhängigkeit Chiles von Bodenschätzen.

Kapitel 3

DAS LANGE LEIDEN DER MAPUCHE

Von schweizerischen und deutschen Einwanderern und der Eroberung des Südens. Wie vor über hundert Jahren ein Konflikt entstand, der bis heute andauert.

Kapitel 4

DREI CHAOTISCHE JAHRE DER HOFFNUNG

Von Salvador Allende zum Putsch. Die Geschichte der Unidad Popular, der US-Einmischung und der chilenische Schindler.

Kapitel 5

DAS STADION IST EIN FEINDLICHER ORT

Der Putsch vom 11. September 1973, die Gewalt und die neoliberale Revolution. Die Geschichte des politischen Gefangenen Alfonso Ugarte und die des Augusto Pinochet.

Kapitel 6

DER ÜBERGANG ALS DAUERZUSTAND

Warum nach der Diktatur alles beim Alten blieb und Pinochet trotzdem vor Gericht gestellt wurde. Wie sich die Mitte-links-Koalition abnutzte und der Rechten die Rückkehr an die Regierung ermöglichte.

Ausblick

Dank

Zeittafel

Zur Einführung

Chile ist einzigartig, schon allein wegen seiner Landschaften. Kein anderes Land auf der Welt umfasst so viele Klimazonen: Der Norden liegt geografisch gesehen in den Tropen, ist aber nicht üppig mit Dschungel bewachsen, sondern eine der trockensten Wüsten der Erde. Der von der Antarktis kommende kalte Humboldtstrom kühlt die feuchte Luft, die vom Pazifischen Ozean zum Festland strömt, vor der Küste herunter. Die Wolken regnen sich ab. Man sieht dass manchmal von Antofagasta oder Iquique aus, weit draußen über dem Meer. An Land aber fällt kein einziger Tropfen. Von der Wüste in Richtung Süden geht es durch mediterran anmutende Landschaften bis weit über Santiago hinaus. Danach, im sogenannten kleinen Süden, trifft man auf Wälder und saftige Weiden wie im Allgäu oder im schweizerischen Voralpenland. Und ganz unten, im großen Süden, ist das ewige Eis.

Chile ist 4275 Kilometer lang, was in etwa der Strecke von Berlin bis zum saudiarabischen Riad entspricht oder von Zürich bis zur nigerianischen Hauptstadt Abuja. Es ist eingeklemmt zwischen den ewig mit Schnee bedeckten, bis zu knapp siebentausend Meter hohen Anden mit einer der weltweit aktivsten Vulkanketten auf der einen Seite und vom Pazifik auf der anderen. An der breitesten Stelle misst das Land von Westen nach Osten etwas über vierhundert Kilometer, an der schmalsten gerade neunzig. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger nannte es einmal »einen Dolch, der auf die Antarktis zeigt«. Chile bedeutet in der Sprache der Aymara »das Land, an dem die Welt zu Ende ist«. Weil die Spanier bei ihrem Eroberungszug Anfang des 16. Jahrhunderts vom Aymara sprechenden heutigen Bolivien in diesen schmalen Landstreifen vorgedrungen sind, haben sie ihm diesen Namen gegeben.

Von Europa aus gesehen liegt Chile tatsächlich am Ende der Welt, versteckt hinter einem hohen Gebirge und nach Norden hin geschützt durch die menschenfeindliche Wüste. Neue Gedanken aus Europa, heißt es oft, hätten deshalb immer etwas länger gebraucht, um dort anzukommen. Damit wird dann erklärt, warum die chilenische die angeblich konservativste Gesellschaft des südamerikanischen Halbkontinents sei. Das stimmt nicht. Es gibt viel mehr europäischen und namentlich deutschen und schweizerischen Einfluss in Chile, als einem recht sein kann. Die chilenische Armee, die spätestens mit dem Putsch von General Augusto Pinochet am 11. September 1973 als brutal und grausam bekannt geworden ist, wurde von preußischen Militärberatern aufgebaut und pflegt diese Tradition bis heute. Deutsche und schweizerische Siedler haben im Süden des Landes tatkräftig mitgeholfen, das ursprünglich dort lebende Volk der Mapuche zu unterdrücken und eine bis heute andauernde rassistische Zweiklassengesellschaft zu errichten. Chile mag am Ende der Welt sein. Es ist trotzdem mindestens so europäisch geprägt wie Argentinien auf der anderen, Europa näher liegenden Seite der Anden. In Argentinien waren in erste Linie Einwanderer aus Spanien und Italien bestimmend. In Chile ist das Gemisch bunter: Spanier, Basken, Briten, Deutsche, Schweizer, Serben, Kroaten, Belgier… Und daneben gibt es noch ein rundes Dutzend indigener Völker, allen voran die rund eine Million Mapuche.

Von der chilenischen Geschichte sind im Wesentlichen nur zwei Etappen bekannt: Zum einen die Zeit der Unidad Popular von 1970 bis 1973, drei Jahre, in denen ein demokratischer Weg zu einem humanen Sozialismus gesucht wurde. Und dann natürlich die siebzehn folgenden Jahre der Pinochet-Diktatur. Das scheint überwunden zu sein und weit weg. Chile gilt heute als stabile Demokratie, sicher und sauber, organisiert und mit guter Infrastruktur. Die Chilenen gelten als freundlich und friedlich und – eben – als eher konservativ und katholisch. Das alles, in Kombination mit den landschaftlichen Reizen, hat das Land in den vergangenen Jahren zu einem beliebten Ziel für Touristen werden lassen.

Dieses ordentliche, fleißige und konservative Chile ist das Chile, das die Elite des Landes gerne hätte. Ihre Medien – und es gibt kaum andere – haben diese Wunschvorstellung so oft als Ideal reproduziert, dass auch viele Chilenen es glauben. Doch darunter, im Volk, gab es immer auch ein anderes Chile. Es gab schon früh eine starke Arbeiterbewegung. Die Mapuche haben nie aufgehört, sich zu wehren. Die Unidad Popular war nicht die erste Bewegung, die auf demokratischem Weg in den Sozialismus wollte. Und Pinochet war nicht der erste Diktator, der schließlich abdanken musste. Es gab immer auch ein rebellisches Chile. Und diesem Chile ist das vorliegende Buch gewidmet.

Es ist kein Geschichtsbuch, sondern ein Buch von Geschichten. Um Chile zu verstehen, so wie es heute ist, muss man seine Menschen verstehen. Dieses Buch erzählt die Probleme und die Hoffnungen eines Landes, indem es die Geschichten von Menschen erzählt, die die Geschichte ihres Landes durchlebt und oft genug durchlitten haben. Sie alle haben versucht, diese Geschichte so, wie sie konnten, ein kleines bisschen mitzugestalten, auf dass es Hoffnung gebe für dieses Land. Nach drei Jahrzehnten und vielen Reisen nach Chile glaube ich, die Probleme des Landes zu kennen. Und ich teile die Hoffnungen dieses rebellischen Chile.

Kapitel 1

DIE ANGST IST VORBEI

Die Studentenbewegung, eine Gesellschaft im Umbruch und das Aufscheinen des Endes eines langen Übergangs zur Demokratie.

Da macht eine junge Frau Politik, ganz erfolgreich sogar, und alle schreiben über ihr Aussehen. Eine »Botticelli-Schönheit« sei sie, schwärmte der US-amerikanisch-guatemaltekische Schriftsteller Francisco Goldman im Magazin der New York Times. Und selbstverständlich vergaß er nicht, den kleinen silbernen Ring zu erwähnen, den sie im rechten Nasenflügel trägt. Das gehört zum Pflichtstoff, wenn man über Camila Vallejo schreibt. Sie sei »eine Frau, jung, intelligent und darüber hinaus auch noch schön«, so wertete Pedro Lemebel, der Anfang 2015 verstorbene schwule Sexmaniac und Provokateur der linken Kulturszene von Santiago. In der kritischen chilenischen Wochenzeitung The Clinic reflektierte er ausführlich über ihr »Gesicht eines Universitätspüppchens« und über das Spiel des Sonnenlichts in ihrem kastanienfarbenen Haar. »Rot« sei sie (politisch gesehen) und »süß« (als junge Frau). Nur leider gebreche es ihr an Humor, was wohl an zu vielen marxistischen Schulungen in ihrer Kommunistischen Partei liege. Und der britische Guardian stellte fest: »Seit Subcomandante Marcos hat kein Rebellenführer Lateinamerika so bezaubert.« Immerhin: eine Rebellin. Aber eben doch bezaubernd.

Auch bei Marcos, dem Pfeife rauchenden Skimasken-Mann mit den grünen Augen, hielten sich Journalisten gerne an Äußerlichkeiten auf. Weil die Rede des Sprechers des »Zapatistischen Befreiungsheers« aus dem südmexikanischen Urwald immer irgendwie dunkel blieb, genauso wie sein Vorleben, wurden der Mann und sein Auftreten zur Botschaft. Camila Vallejo ist da ganz anders. Selbst der von ihrem Aussehen schwer geblendete Lemebel gestand ihrem Diskurs eine »sichere Klarheit« zu. Auch ihr Vorleben ist bekannt: Geboren am 28. April 1988 in Santiago de Chile, aufgewachsen im stadträndischen Arbeiterviertel La Florida, beide Eltern waren aktive Kommunisten. Sie hat Geografie studiert an der staatlichen Universität von Chile, war dort 2010 und 2011 Vorsitzende der Studentenschaft und 2011, zur Zeit der ersten großen Welle der Straßenproteste, eine der Sprecherinnen des Verbandes der Studentenschaften von Chile. Sie ist Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Jugend, Mitglied der Kommunistischen Partei und seit November 2013 Abgeordnete ihrer Heimatgemeinde La Florida, die jüngste im chilenischen Parlament. Sie ist religionslos, lebt seit Jahren mit einem jungen Mann zusammen, auch er Kommunist, ehemaliger Studentensprecher und darüber hinaus Kubaner. Seit Oktober 2013 haben die beiden eine Tochter. Das lässt sich alles nachlesen. Und trotz dieser Klarheit und Transparenz ist Camila Vallejo wie der mysteriöse Marcos zur Ikone geworden.

Nun sind Ikonen ursprünglich Kultbilder der orthodoxen Kirchen, in die sich die Gläubigen versenken, um durch sie hindurch einen Blick auf das Eigentliche zu erhaschen. Was aber ist das Eigentliche hinter der Ikone Camila Vallejo?

Ihr Abgeordnetenbüro liegt weit außerhalb des Zentrums von Santiago, mit der Metro fast eine Stunde, bis zur vorletzten Station im Südosten. Man hat den Eindruck, man verlasse die Stadt, fährt durch trostlose Industriegebiete, gesichtslose Neubauviertel, Wohnsilos für Arbeiterfamilien. Hin und wieder ein paar Felder. Die Kette der Anden scheint schon zum Greifen nahe, dann ist man in La Florida. Im Zentrum ein paar Einkaufsstraßen; Läden mit Auslagen, die den Charme der Sechzigerjahre verbreiten. Ein bisschen abseits wird heftig gebaut: verdichtetes Wohnen in Beton. Zum Abgeordnetenbüro geht man durch Straßen, die entstanden sind, als es noch Platz gab. Keine auf Effizienz ausgelegten Verbindungen, kürzeste Linien von hier nach da. Es sind verschlungene, kurvenreiche Wege mit kleinen Einfamilienhäusern, viele aus Holz. Im waldreichen Chile ist das der billigste Baustoff. Auch das Büro von Camila Vallejo ist in so einem Häuschen, ein bisschen außerhalb, in einer Wohngegend, die so alt sein mag wie sie selbst.

Man muss die Adresse kennen. Am Tor ist keine Tafel, an der Klingel kein Namensschild, nur die Hausnummer. Die Sekretärin öffnet, auch sie eine junge Frau, informell gekleidet, ein Küsschen auf die Wange. »Die Abgeordnete ist schon unterwegs.« Sie sagt: die Abgeordnete, nicht: Camila. Man gibt sich locker und doch auch ein bisschen formell.

Die Abgeordnete kommt hereingeschneit, fröhlich und ungekämmt, als wäre sie gerade erst aufgestanden, trägt Jeans, eine luftige Bluse und eine Hipster-Brille. »Ah, der Journalist.« Noch ein Küsschen. Sie duzt sofort, lästert über die verheerende Kaffeekultur Chiles, »in Kuba gibt es an jeder Straßenecke diesen starken Schwarzen in kleinen Plastikbechern, so etwas findest du hier nirgends«. Dann bietet sie Instantkaffee an und lacht. »Etwas anderes gibt es nicht im Büro.« Im Vorzimmer hängt ein Poster von Salvador Allende an der Wand, daneben eines von Gladys Marín, der 2005 verstorbenen charismatischen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei. In Vallejos Büro dahinter nur gerahmte universitäre Titel und Anerkennungen. Der schwarze Schreibtisch ist leer, das schwarze Bücherregal daneben auch. Einfache moderne Möbel, wie sie als Bausatz zur Eigenmontage in jedem größeren Einrichtungshaus zu haben sind. Keine Akten, keine Ordner mit Gesetzesvorlagen; hier scheint sie nicht zu arbeiten.

Camila Vallejo ist zur Ikone geworden, weil sie zur richtigen Zeit in einfachen und klaren Worten das gesagt hat, was gesagt werden musste. Das war 2011, als die Studenten Chiles fast jede Woche zu Zehntausenden auf die Straße gingen und freie Bildung für alle verlangten. Die Chilenen konnten das verstehen – außer dem damaligen rechten Präsidenten Sebastián Piñera und der schmalen und reichen Elite des Landes. Für sie ist Bildung – sei sie schulisch oder universitär – das, was der Militärdiktator Augusto Pinochet aus ihr gemacht hat: Ein Konsumgut, eine Ware, die wie jede andere auf einem freien Markt angeboten wird, für die viele bezahlen und die wenige bereichert.

Die allermeisten Universitäten Chiles sind private Lehranstalten mit schlecht bezahlten Dozenten, die meisten nur auf Stundenbasis. Man nennt sie »Taxi-Professoren«, weil sie, um von ihrem Beruf leben zu können, an mehreren Hochschulen gleichzeitig unterrichten, so eng getaktet, dass sie mit dem Taxi von einer Unterrichtsstunde in einer Universität zur nächsten in einer anderen fahren müssen. Die Eltern der Studenten aber bezahlen für das Studium eines Kindes bis zu 80 000 US-Dollar. Wenn mehrere Kinder studieren sollen, müssen sich selbst besser gestellte Mittelklassefamilien hoch verschulden. Für die Kinder richtig armer Familien gibt es ein Kreditprogramm – mit der Folge, dass es nicht die Eltern sind, sondern sie selbst, die Jahre und oft Jahrzehnte lang ihre Studienschulden abstottern. Eine durchschnittliche chilenische Familie gibt rund ein Viertel ihrer Einkünfte für die Ausbildung ihrer Kinder aus – egal, ob diese studieren oder nicht. Auch Schulen kosten Gebühren. Selbst Präsidentin Michelle Bachelet hat inzwischen erkannt, dass dieses Bildungssystem eine in Lateinamerika beispiellose Ungleichheit der Einkommensverteilung mit geschaffen hat und zementiert. Kein Wunder, ist die Forderung nach freier Bildung für alle populär. In Umfragen haben sich bis zu 80 Prozent der Bevölkerung dahinter gestellt.

2006 sind die Proteste zum ersten Mal aufgeflammt. Damals waren es noch die Schüler – oder besser: die Schülerinnen. Es waren Mädchen, die bei den Demonstrationen stets in der ersten Reihe standen. Man nannte sie los pingüinos, die Pinguine, wegen der in Chile obligatorischen Schuluniformen. Für Mädchen sind das meist etwas sackartige Kleidchen in dunklen Farben, dazu eine weiße Bluse. Sie erinnern tatsächlich ein bisschen an die tapsigen Wasservögel. Viele Schulen wurden zum Teil über Monate besetzt, fast jede Woche gab es riesige Demonstrationen. Die Sozialistin Michelle Bachelet, damals in ihrer ersten Regierungszeit und so etwas wie die gütige Mutter der Nation, war erschrocken, rief die jungen Leute zum Dialog auf, richtete runde Tische und eine parlamentarische Kommission ein. Es gab einen Bericht zur Lage der Schulen und Universitäten, einen Gesetzesentwurf, die Bewegung flaute vorerst ab – und weiter ist nichts passiert.

Fünf Jahre später waren die pingüinos von damals Studenten, zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 regierte mit Sebastián Piñera wieder ein rechter Präsident, die Bewegung kam mit Macht zurück und Camila Vallejo wurde ihr weltweit bekanntestes Gesicht. Sie sagte: »Bildung ist ein Menschenrecht!« Rechte Parlamentarier grummelten: »unbezahlbar«, doch Camila Vallejo sagt auch, wie das finanziert werden kann: »Wenn wir nur 1 Prozent der Gewinne der im Land operierenden internationalen Minenkonzerne nähmen, könnten wir damit die Ausgaben für Lehrpersonal, Stipendien, Studentenkredite und Ausstattung der Universität von Chile verdoppeln. Mit 0,7 Prozent der Gewinne der Minengesellschaften könnten wir alle Studiengebühren finanzieren. Das ist möglich. Es fehlt nur der politische Wille.«

Sebastián Piñera ist einer der wenigen Superreichen des Landes. Sein Vermögen wird in Milliarden-Dollar-Einheiten berechnet. Seine ersten Millionen machte er als Investmentbanker des chilenischen Ablegers der Citibank. Mit diesem Vermögen baute er ein Firmenimperium auf, gruppiert um die größte Kreditkartengesellschaft Lateinamerikas und um die ehemals staatliche und längst privatisierte Fluglinie LAN, die heute ebenfalls zu den ganz Großen auf dem Halbkontinent gehört. Radio- und Fernsehsender gehören dazu, der Traditionsfußballclub Colo-Colo … – nichts Produktives, nur Finanz- und sonstige Dienstleistungen und Unterhaltung. Er ist ein Musterknabe des neoliberalen Schocks, den Diktator Pinochet 1975 dem Land verordnet hat. Allen Ernstes hat Piñera einmal in einem Interview gesagt, er frage sich, warum es nicht alle Chilenen so machten wie er. Dass für so einen Mann Bildung kein Menschenrecht ist, sondern ein Konsumgut, das man kaufen muss, liegt auf der Hand.

Wenn Camila Vallejo bei den Kundgebungen nach den Massendemonstrationen eine Bildungsreform verlangte, die diesen Namen verdient, vertrat sie deshalb nicht nur die Interessen der Studenten. Sie stellte gleichzeitig das in der Diktatur geschaffene neoliberale Gesellschaftssystem infrage, das auch in den Jahrzehnten nach der Gewaltherrschaft nie angetastet worden war.

Beim zweiten Anlauf ließen sich die Studenten nicht mehr mit wortreichen und ergebnislosen runden Tischen abspeisen. Die Demonstrationen hielten an, wurden Monat für Monat größer und endeten regelmäßig in Straßenschlachten. Die Schuld daran schoben die Medien immer den Studenten in die Schuhe, und tatsächlich gibt es in jeder Demonstration einen kleinen Block von Vermummten, die Steine werfen und eine Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften suchen. Auf der anderen Seite aber lauern die paramilitärischen Carabineros ihrerseits auf so eine Gelegenheit. Noch immer sind in der Avenida Libertador General Bernardo O’Higgins, der im Volksmund kurz Alameda genannten Hauptverkehrsader der Hauptstadt, vor dem Eingang der Universität von Santiago Tag und Nacht ein paar Wasserwerfer stationiert. Die Studentenschaft dieser öffentlichen Hochschule gilt als besonders aufmüpfig.

Für die fast durchweg rechten Massenmedien Chiles sind diese absehbaren Tumulte ein gefundenes Fressen. Nach Demonstrationen zeigen die Titelseiten der Zeitungen und die Aufmachermeldungen der Fernsehnachrichten Bilder von Tränengasschwaden in den Straßen, von Polizisten, die sich hinter Wällen aus Plastikschildern verschanzen, von eingeworfenen Schaufensterscheiben. Die Botschaft der Demonstranten verschwindet dahinter.

Camila Vallejo steht auch jetzt, als Parlamentsabgeordnete, bei vielen dieser Demonstrationen in der ersten Reihe. Sie hat sich 2011 nie von studentischen Steinewerfern distanziert und sie tut es auch heute nicht. »Mehr als 99 Prozent der Demonstranten sind friedlich«, sagt sie. »Aber das interessiert die Medien nicht.« Und unter den paar wenigen anderen gebe es viele junge Leute vom untersten Rand der Gesellschaft, aus La Legua oder aus anderen Ar menvierteln der Hauptstadt, wo Arbeitslosigkeit und Drogenhandel zu Hause sind und viele nur als Straßenhändler, mit Betteleien oder mit Kleinkriminalität überleben. »Diese Leute haben nichts mehr zu verlieren.« Ihre Gewaltbereitschaft sei nur »die Antwort auf die strukturelle Gewalt, die sie tagtäglich erfahren«. Auch könne man nicht ausschließen, dass die ersten Steine von eingeschleusten Provokateuren geworfen werden. Straßenschlachten lenken nicht nur von politischen Inhalten ab, sie sollen die ganze Bewegung diskreditieren. Doch das ist nicht gelungen. Camila Vallejo wurde 2013 mit einer der höchsten Stimmenzahlen ins nationale Parlament gewählt und mit ihr zwei weitere – anders als sie parteipolitisch unabhängige – Sprecher der Studentenbewegung.

Reicht es denn, einfach nur zur rechten Zeit am richtigen Ort das Richtige zu sagen, und schon wird man eine Symbolfigur? Vielleicht ist da noch etwas anderes, sagt Camila Vallejo. »Irgendwie scheinen wir Chilenen unabhängige Helden zu brauchen, die einsam sind und auch ein bisschen zerbrechlich. Unsere Geschichte ist voll davon.« Menschen, die das Unmögliche versucht haben – und daran meist tragisch gescheitert sind. Nach dem Fregattenkapitän und Seehelden Arturo Prat etwa, der sich im Salpeterkrieg Ende des 19. Jahrhunderts vor dem damals noch zu Peru gehörenden Iquique in eine von vornherein aussichtslose Seeschlacht stürzte und unterging, ist heute in jeder Stadt eine Straße oder ein Platz benannt. Jedes Kind lernt in der Schule seine angeblich letzten Worte. Auch Salvador Allende, der 1973 von Pinochet gestürzte linkssozialistische Reformpräsident, war auf eine Art so eine tragisch-heldenhafte Figur. Und Camila Vallejo, die erst zweite Frau, die in der fast dreihundertjährigen Geschichte der Universität von Chile Vorsitzende der Studentenschaft wurde, zierlich und klein in einer von Männern dominierten Umgebung – sie stand da vor über hunderttausend Menschen, wieder und wieder, herausgehoben und ein bisschen unnahbar. Sie dachte und redete so schnell und so klar, dass es die Zuhörer schaudern konnte, forderte das scheinbar Unmögliche und sagte doch nur das, was gesagt werden musste und was alle hören wollten. Sie war die Volkstribunin der Stunde, ein bisschen Jeanne d’Arc, und wirkte dabei trotzdem immer irgendwie einsam und zerbrechlich. Nur eine tragische Gestalt ist sie nicht geworden. Vielleicht haben deshalb die nationalen Medien zuletzt das Interesse an ihr ein bisschen verloren.

Ein politisches Beben

Am 27. Februar 2010, um 3 Uhr 34 am Morgen, wurde Chile von einem schweren Erdbeben erschüttert. Im Prinzip sind Chilenen so etwas gewohnt. Entlang der 6435 Kilometer langen Küstenlinie stoßen im Norden die Nazca- und im Süden die Antarktische auf die Südamerikanische Platte und machen das Land zu einer unruhigen tektonischen Zone. Die dazugehörende Vulkankette in den Anden, ein Teil des sogenannten Pazifischen Feuerrings, gilt als die aktivste der Welt. Wer Chile besucht hat und nie von einem heftigen Erdstoß erschreckt wurde, war nicht richtig in Chile. Das seit Beginn der Messungen weltweit heftigste registrierte Erdbeben ereignete sich am 22. Mai 1960 bei Valdivia im Süden des Landes. Es hatte eine Stärke von 9,5 auf der Richterskala. Die Topografie ganzer Landschaften wurde damals grundlegend verändert, vermutlich über fünftausend Menschen kamen zu Tode. Der durch die Erdstöße ausgelöste Tsunami richtete Zerstörungen im gesamten pazifischen Raum an. Das Beben vom 27. Februar 2010 war das seither stärkste in Chile: 8,8 auf der Richterskala, fast viermal so stark wie jenes, das sechs Wochen zuvor mit einer Stärke von 7,0 Haitis Hauptstadt Port-au-Prince zerstört hatte (die Richterskala ist exponentiell: Ein Grad mehr bedeutet, dass ein Beben doppelt so stark ist). Das Epizentrum lag rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt, nahe der Küstenstadt Concepción. Aber auch in Santiago wurden Dutzende Häuser und Brücken zerstört. Die Millionenstadt wurde an diesem frühen Morgen um 24 Zentimeter nach Südwesten verrückt. Nach Berechnungen der US-Weltraumbehörde NASA hat das Beben die Erdachse um acht Zentimeter verschoben und die Rotationsgeschwindigkeit des Planeten erhöht: Ein Erdentag ist seither um 1,26 Mikrosekunden kürzer. Beim Beben selbst und beim nachfolgenden Tsunami kamen nach offiziellen – mehrfach nach unten korrigierten – Angaben 521 Menschen ums Leben. Der entstandene Sachschaden wird auf über 30 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Dieses Erdbeben sei so etwas wie der Auftakt zur zweiten Welle der Schüler- und Studentendemonstrationen gewesen, sagt der Soziologe Alberto Mayol: Bei einem Beben dieses Ausmaßes wird allen, die es erleben, im Wortsinn der Boden unter den Füßen weggezogen. Man fühlt sich hilflos, ausgeliefert, schrecklich allein. Der mexikanische Schriftsteller Juan Villoro, der das Beben im siebten Stock eines Hotels in Santiago erlitten hat, nennt diese Erfahrung einen »moralischen Striptease«. Schlagartig sei den Chilenen an diesem 27. Februar 2010 klar geworden, so Mayol, dass der seit Pinochet gepflegte neoliberale Individualismus versagt angesichts dieser tief menschlichen existenziellen Erfahrung, die durch die Katastrophe ausgelöst worden war. »Auf das Erdbeben folgte der Ruf nach mehr Kollektivismus, nach der Rückkehr der Solidarität.« Der Soziologe, 1976 geboren, lehrt an der als links geltenden Universität von Santiago und wirkt ein bisschen wie aus einer anderen Zeit: rechts gescheiteltes schulterlanges dunkles Haar und Vollbart im runden Gesicht, über dem T-Shirt trägt er ein in die Tage gekommenes Sakko. Sein Büro ist eng, vollgestellt mit Büchern, auf dem Boden Stapel von Zeitungen und Manuskripten. Man kann ihn sich auch als jungen Intellektuellen mit roter Fahne bei einer Demonstration in der Zeit Salvador Allendes vorstellen. Nur war er damals noch gar nicht geboren.

Die Zeit Allendes und ein paar wenige Jahre davor, sagt Mayol, waren die einzigen, in denen es in Chile eine echte öffentliche politische Debatte gab. Davor und auch danach beherrschten die Massenmedien einer kleinen Elite das Meinungsbild, allen voran die rechte Tageszeitung El Mercurio, die auflagenstärkste im Land und eine der ältesten in ganz Lateinamerika. Es gab Korruptionsfälle, Kindesmissbrauch durch Priester und Politiker; man wusste davon, es wurde sogar darüber berichtet. Aber richtig aufgeklärt wurden solche Skandale nie, geschweige denn, dass jemand bestraft worden wäre. »Wahrheit und Gerechtigkeit wurden uns vorenthalten«, sagt der Soziologe. »Wir aber waren trotzdem zufrieden.« Die Chilenen seien Meister im Sichabfinden mit den Umständen. »Ihr Streben geht nicht nach Glück, sondern nach Ruhe und Ordnung.«

So war auch der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1990 mit Pinochet ausgehandelt worden. Konflikte mit den alten Unterdrückern sollten vermieden werden, koste es, was es wolle. Es sollte ruhig bleiben im Land. Pinochets Verfassung von 1980 wurde nicht angetastet, der Diktator blieb bis 1998 Militärchef und wurde danach Senator auf Lebenszeit; die von ihm mit Waffengewalt durchgesetzte neoliberale Wirtschaftsordnung samt der repressiven Arbeitsgesetzgebung galten weiter. Nach den beiden christdemokratischen Präsidenten Patricio Aylwin (1990–1994) und Eduardo Frei Ruiz-Tagle (1994–2000) wurden auch Ricardo Lagos (2000–2006) und Michelle Bachelet in ihrer ersten Amtszeit (2006–2010) zu Vollstreckern einer Politik, die von den Wirtschaftseliten vorgegeben wurde, – obwohl die beiden Letztgenannten von Haus aus und dem Namen nach noch immer Sozialisten sind. In Chile gab es keine Proletarier mehr; nur noch einzelne Konsumenten, die ihre Frustrationen mit massenhaft unters Volk geworfenen Kreditkarten in neu erbauten glitzernden Shoppingmalls übertünchen konnten. Statt einer einst selbstbewussten und kämpferischen kollektiven Arbeiterklasse gab es nur noch individuelle Schuldner. Dass Ende 2009 mit Sebastián Piñera ausgerechnet der Kreditkartenkönig Lateinamerikas zum Präsidenten gewählt wurde, erscheint da wie eine logische Folge. Es war der Kulminations- und der Schlusspunkt dieser Entwicklung.

»Das Erdbeben von 2010 hat den Chilenen gezeigt, dass es bedrohlicher und verängstigender war, sich auf das geltende neoliberale Paradigma zu verlassen, als etwas Neues zu versuchen«, sagt Mayol. In dieser Situation habe dann die Studentenbewegung »einen ganz neuen Raum für eine öffentliche politische Debatte geschaffen«. Er erinnert sich mit Begeisterung und ein bisschen auch mit Schrecken an das Jahr 2011. Die Studenten versuchten erst gar nicht, die Massenmedien für sich zu gewinnen. Es gab Hunderte, Tausende Foren, öffentliche Debatten mit studentischen Vertretern und Experten, zu denen ganz informell über soziale Netzwerke im Internet eingeladen wurde. »Ich saß in diesem Jahr jede Woche auf acht oder zehn Podien und das ging damals allen so.« Auch Politiker konnten sich irgendwann der Debatte nicht mehr entziehen, wenn sie weiterhin ernst genommen werden wollten. Und im Publikum saßen beileibe nicht nur junge Leute.

»Plötzlich glaubten die Chilenen nicht mehr, was sie am Abend im Fernsehen sahen«, sagt Mayol. »Die Studenten haben das Monopol der von der Rechten dominierten und vom Mercurio angeführten Massenmedien durchbrochen.« Sie zwangen sie, die Richtung ihrer Berichterstattung zu ändern. Camila Vallejo wurde über Nacht zum Star. Ihr Gesicht war mindestens so oft in den Nachrichten wie das des Präsidenten – wobei sie viel sicherer, entschiedener und glaubwürdiger wirkte. Sie war die Angreiferin; der Präsident verteidigte sich mehr schlecht als recht. Das, sagt der Soziologe Mayol, »wird politische und kulturelle Auswirkungen haben«.

Auf den Foren der Studenten wurde nicht nur über eine Reform des Bildungswesens debattiert. Es ging genauso um gleiche Rechte für Schwule und Lesben, um das Recht der Frauen auf Abtreibung, um Umweltthemen. So wurde in der ersten Regierungszeit Bachelets in der Region Aysén im Süden des Landes ein Megaprojekt zur Stromgewinnung verabschiedet: An den Flüssen Río Baker und Río Pascua sollten für insgesamt 3,2 Milliarden US-Dollar fünf Staudämme samt Kraftwerken gebaut werden, die Firmen Endesa und Colbún wurden mit dem Bau beauftragt. Endesa, eine Tochter des privaten italienischen Stromriesen Enel, war mit 51 Prozent beteiligt, der von der chilenischen Milliardärsfamilie Matte kontrollierte einheimische Stromversorger Colbún mit 49 Prozent. Es gab zunächst nur lokale Proteste.

Die Region Aysén beginnt gut 1500 Kilometer südlich der Hauptstadt, an der Packeisgrenze. Es ist eine nur dünn besiedelte Gegend, wo die Panamerikanische Straße zur Schotterpiste wird und schließlich endet; danach muss man umsteigen aufs Schiff oder ins Kleinflugzeug, es sei denn, man wechselt nach Argentinien auf die andere Seite der Anden. Die Küste auf der chilenischen Seite ist zerklüftet und in Tausende kleine Inseln aufgerissen. Fjorde schneiden sich tief ins Festland, manche fast bis zur Grenze mit dem Nachbarland. Gletscher kalben krachend in den Pazifik. Aysén ist für Touristen reizvoll, ein Naturschutzpark reiht sich an den anderen.

Für das Hidroaysén genannte Staudamm- und Kraftwerksystem sollten sechzig Quadratkilometer dieser Parks überflutet werden, sechs Gemeinden des dort lebenden Volks der Mapuche hätten ihr Land verloren. Für den Bau hätten mindestens fünftausend Arbeiter für Jahre in dieser einsamen Gegend angesiedelt werden müssen, danach hätten Starkstromleitungen eine einzigartige Naturlandschaft durchschnitten. In Santiago dachte die Regierung, man könne mit diesem Projekt schnell und ohne große Aufmerksamkeit die teure Abhängigkeit Chiles von Erdölimporten für die Stromerzeugung erheblich lindern. Rund ein Sechstel des im ganzen Land benötigten Stroms sollte Hidroaysén liefern. Umweltgutachten wurden schnell und kapitalfreundlich hingeschlampt, es gab Vetternwirtschaft zwischen den beauftragten Firmen, der Politik und der Justiz: Sebastián Piñera musste öffentlich zugeben, dass ihm vor seiner Wahl zum Präsidenten der Vorstandsvorsitz des beauftragten Baukonsortiums angetragen worden war. Pedro Pierry, der als einer der Verfassungsrichter die mehr als dreißig Beanstandungen von Umweltorganisationen gegen Hidroaysén in einem letztgültigen Urteil abgewiesen hatte, besaß zu diesem Zeitpunkt über hunderttausend Aktien der Firma Endesa. Die Proteste der betroffenen Bevölkerung wurden ohnehin ignoriert. »Diese Leute hat man lange allein gelassen«, erinnert sich Alberto Mayol. »Es gab zunächst keinerlei Solidarität.« Doch dann haben die Studenten gezeigt, dass man in Chile kontrovers debattieren, den Politikern widersprechen und massenhaft demonstrieren kann, und plötzlich standen in Santiago Zehntausende gegen das Staudammprojekt auf der Straße.

Claudia Dides war dabei, Ende November 2010 bei der ersten Demonstration gegen Hidroaysén. Achtzigtausend Menschen hatten sich auf der Alameda versammelt. »Es war eine Überraschung für alle«, erzählt sie. »Es gab keine Führung, keine Organisation, niemand hatte Reden vorbereitet oder Lautsprecheranlagen besorgt. Wir standen einfach nur auf der Straße und wussten nicht, was wir tun sollten.« Für Dides, 1968 geboren und während der Diktatur mit ihren Eltern im Exil, war Politik vorher immer nur Parteipolitik gewesen. Die Parteien aber waren sich einig: Hidroaysén wird gebaut. »Dann kamen die Studenten und haben uns gezeigt, wie es geht: Sie hatten ganz neue Organisationsformen, nichts ging mehr über die Parteien, sondern über Versammlungen, bei denen über alles diskutiert wurde.« Und sie hatten neue Demonstrationsformen, nicht mehr so ernst, in geschlossenen Reihen und immer in Angst vor den Carabineros. Es war entspannt, konnte sogar lustig werden, manche kamen in fantasievollen Kostümen; Dides fühlte sich eher an einen Karneval erinnert und war begeistert.

Am 10. Juni 2014, zu Beginn der zweiten Amtszeit von Präsidentin Michelle Bachelet, beschloss das Kabinett, Hidroaysén zu begraben. Das Milliardenprojekt, so der damalige Energieminister Máximo Pacheco, »behandelt die dort lebenden Menschen nicht mit der gebotenen Vorsicht« – als ob man das nicht schon vorher gewusst hätte. Nach nicht enden wollenden Massenprotesten nahm die Präsidentin Abstand von einem Vorhaben, das sie in ihrer ersten Amtszeit selbst angestoßen hatte. »Bachelet steht heute gewissermaßen in Opposition zu sich selbst«, resümiert der Soziologe Mayol. »Sie setzt sich auf den Platz, den die Studenten eröffnet haben.«

Chile will nicht mehr konservativ sein

Seit Claudia Dides zurückgekehrt ist aus dem Exil – und das ist schon über zwanzig Jahre her –, kämpft sie für eine freiere Sexualität. Sie ist eine der beiden Sprecherinnen von MILES, der »Bewegung für einen legalen Schwangerschaftsabbruch«. Keine leichte Arbeit in einer Gesellschaft, die gemeinhin als die katholischste in Lateinamerika bezeichnet wird, in der konservative Bischöfe angeblich großen Einfluss auf die Politik ausüben und in der folglich eine repressive Sexualmoral gang und gäbe sei. Niemand weiß, wer dieses Diktum einer stockkonservativen Gesellschaft erfunden hat. Tatsache ist, dass es in den nationalen Massenmedien genauso reproduziert wird wie in der internationalen Berichterstattung über das Land. »Dabei stimmt das gar nicht«, sagt Claudia Dides. Abtreibung etwa war nach einer Vergewaltigung, bei schweren Missbildungen des Fötus oder bei Gefahr für das Leben der Schwangeren seit 1931 legal, achtzehn Jahre früher, als Frauen auf nationaler Ebene wählen durften, und viel früher, als Frauen in anderen Ländern Lateinamerikas dieses Recht hatten. Erst 1989 wurde der Schwangerschaftsabbruch unter allen Umständen unter Strafe gestellt. Es war eines der sogenannten Fesselungsgesetze (leyes de amarre) der letzten Monate der Militärdiktatur, mit denen der streng katholische Pinochet sein Gesellschaftsmodell für die Ewigkeit festschreiben wollte.

Auch Ehescheidungen waren lange nicht vorgesehen. Als Parlament und Senat 2004 endlich ein Scheidungsgesetz verabschiedeten, liefen die Priester Sturm dagegen. Die Massen aber konnten sie nicht mobilisieren. Denn ein so großer Einschnitt war dieses Gesetz gar nicht mehr. Die Chilenen hatten längst Wege gefunden, sich auf andere Art vom angetrauten Partner zu trennen: Man ließ eine Ehe einfach für ungültig erklären. Am beliebtesten war dabei folgender Trick: Man besorgte einen Zeugen, der behauptete, einer der beiden Partner habe zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht unter der Adresse gewohnt, die im Zivilregister angegeben wurde. Die Ehe wurde dann ohne weitere Ermittlungen wegen eines Formfehlers für nie existent erklärt und aufgehoben. Die Präsidenten Lagos und Bachelet etwa haben sich auf diesem Weg von einst auf Lebenszeit angetrauten Partnern auf ganz legale Art getrennt.

Die Chilenen sind es gewohnt, mit solcher Doppelmoral zu leben. »Es gab immer eine große Kluft zwischen dem institutionellen Diskurs und der alltäglichen Praxis«, sagt Claudia Dides. Fünfzehn Jahre hat sie für die Legalisierung der Pille danach gekämpft, obwohl diese, seit es sie gibt, immer auf dem Schwarzmarkt zu haben war. »Vier Stück für hundert Dollar, aber keiner kann sagen, was wirklich drinnen ist.« Jede Frau weiß, dass sie in Privatkliniken für drei- oder viertausend US-Dollar eine Abtreibung bekommen kann. Nur können sich das die allermeisten nicht leisten und gehen zu Kurpfuschern, die gegen geringere Zahlungen den Eingriff unter fragwürdigen Bedingungen vornehmen. In keinem Land in Lateinamerika werden prozentual mehr Teenager schwanger als in Chile: rund vierzigtausend Zehnbis Neunzehnjährige sind es jedes Jahr, und das bei einer Bevölkerung von nur rund siebzehn Millionen. Es gab Skandale wie 2008 den »Fall Sofía«: Eine Siebzehnjährige (der Name »Sofía« wurde zu ihrem Schutz erfunden) kam nach einem illegalen Schwangerschaftsabbruch mit lebensbedrohlichen Blutungen in ein öffentliches Krankenhaus. Die sie behandelnden Ärzte zeigten sie an und die Polizei kam zur Festnahme ans Krankenbett. »Es gibt in Chile viele Frauen, die wegen eines Schwangerschaftsabbruchs im Gefängnis sitzen«, sagt Dides.

Anfang 2014 wurde der Fall einer Zehnjährigen öffentlich diskutiert, die von ihrem Stiefvater vergewaltigt worden war und schwanger wurde. Präsident Sebastián Piñera, schon in seinen letzten Tagen im Amt, meinte dazu nur: »Jede Frau ist bereit, Mutter zu werden, – ganz unabhängig von ihrem Alter.«

Die öffentliche Meinung ist gegen ihn. Nach Umfragen unterstützen über 70 Prozent der Chilenen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, mindestens in den drei von Dides geforderten Fällen: Nach Vergewaltigungen (wobei eine Vergewaltigung in der Ehe in Chile kein Straftatbestand ist), bei Gefahr für die Schwangere und bei einer schweren Missbildung des Fötus. Die kritische Wochenzeitung The Clinic (sie wurde als Satirezeitschrift gegründet, als Diktator Pinochet verhaftet in einem Krankenhaus in London lag – daher der etwas seltsame Titel) veröffentlichte eine ganze Serie von Selbstbezichtigungen von Frauen: »Ich habe abgetrieben!« In den Jahren 2013 und 2014 wurde in Chile das wiederholt, was die Illustrierte Stern in Deutschland schon 1971 vorgemacht hatte. Auch konservative Medien kommen an dem Thema nicht mehr vorbei. »Und sie berichten meist in unserem Sinn«, sagt Dides.