Zum Buch

»Es war einmal…«, so beginnen viele Märchen. Die Erinnerungswerkstatt Norderstedt bietet ihren Leserinnen und Lesern jedoch keine Märchen, Sagen, Fabeln oder andere Fantasieprojekte an. Wir erzählen wahre Geschichten, Selbsterlebtes und nichts aus zweiter Hand. Schlussfolgerungen und Wertungen überlassen wir den Leserinnen und Lesern. Schon gar nicht heben wir den moralischen Zeigefinger. Es sind Geschichten, die das Leben selber schrieb.

Wir – die Erinnerungswerkstatt Norderstedt – sind kein Verein, sondern eine freie und offene Gruppe von aktiven und interessierten Autorinnen und Autoren aus Norderstedt und Umgebung, die sich im November 2004 zusammengefunden hat, um auf freiwilliger und privater Basis Erlebtes in Erinnerung zu rufen, aufzuschreiben und zu diskutieren. Wir wollen den nachfolgenden Generationen erzählen, was wir erlebt, gedacht und empfunden haben, als es z.B. noch keinen Fernseher, keine Handys und keine Computer gab. Denn selbsterlebte Geschichten sind ein Schatz, den es zu heben lohnt, für sich selbst, für die eigene und für nachfolgende Generationen. Solche Geschichten ermöglichen das gemeinsame Schwelgen in schönen Erinnerungen und das Teilen der weniger schönen, sie stiften Identität. Und auch wenn Zeitzeugen wissenschaftlich historischen Ansprüchen nicht genügen, so vermitteln sie doch Verständnis für eine Zeit, in der Eltern oder Großeltern jung waren und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen den Generationen.

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Dennoch haben wir gelacht ...

Kindheit und Jugend

1933 bis 1955

 

Autoren der

»Erinnerungswerkstatt Norderstedt«,

c/o Kayhuder Weg 11, 22417 Hamburg,

vertreten durch Hartmut Kennhöfer und Renate Rubach

www.erinnerungswerkstatt-norderstedt.de

 

Kadera-Verlag · Norderstedt

www.kadera-Verlag.de

 

© 2014–2019 - Alle Rechte vorbehalten*

*) Die Autoren behalten ihr Recht

auf Einzelveröffentlichung

 

ISBN 978-3-944459-29-5 – Druck, I./.II./III. 01.2016)

E-Books:

978-3-944459-30-1 (mobi), 978-3-944459-73-8 (ePUB)

 

 

Titel

 

Erinnerungswerkstatt

 

Dennoch

haben wir

gelacht ...

 

Kindheit und Jugend

1933 bis 1955

 

Zeitzeugen der

Erinnerungswerkstatt Norderstedt

erzählen.

 

 

KADERA-VERLAG

 

 

 

 

Ein Grußwort an die Zeitzeugen

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Mir gefällt das Wort

»Erinnerungswerkstatt«

Es macht deutlich, dass das Erinnern durchaus »Arbeit« sein kann – und dass in der Erinnerung

das Fundament unserer Gegenwart liegt.

 

Erinnerungen

sind Werkzeuge unseres Könnens,

sie helfen uns, aus Erfahrungen heraus Situationen einzuschätzen und Entscheidungen zu treffen.

 

Erinnerungen

sind Quellen der Zuversicht,

denn sie sagen uns, dass »auf Regen Sonnenschein folgt«.

 

Erinnerungen

geben unseren Davongegangenen

ein »ewiges Leben«,

wenn wir daran denken, wie schön es mit ihnen war und was sie uns »mit auf den Weg« gegeben haben.

 

Und besonders unsere älteste Generation hat Erinnerungen manchmal verdrängt, weil sie zu tief in ihr Leben schnitten, weil man sie »einfach nicht erzählen konnte«.

 

Gerade diese lange verschütteten »Tabu-Erinnerungen« der Zeitzeugen bedürfen einer »Werkstatt«, die sie ans Licht bringen, weil die Gesellschaft aus ihnen lernen und wachsen kann.

Weil nur das wahre Wissen darüber hilft, dass so etwas nie wieder geschehen wird.

 

»Und dennoch haben wir gelacht...«

Was für ein optimistischer Titel – doch dieses Lachen hat uns aus dem Loch geholt, in das wir 1933 hinein geraten waren. Auch das ist der Erinnerung wert.

 

Den Zeitzeugen der Vergangenheit – Eltern, Großeltern und Urgroßeltern – sage ich im Namen der Stadt Norderstedt herzlichen Dank für ihre Arbeit in der Erinnerungswerkstatt.

 

Kathrin Oehme

Stadtpräsidentin Norderstedt

 

Vorwort

»Es war einmal…«, so beginnen viele Märchen. Die Erinnerungswerkstatt Norderstedt bietet ihren Leserinnen und Lesern jedoch keine Märchen, Sagen, Fabeln oder andere Fantasieprojekte an. Wir erzählen wahre Geschichten, Selbsterlebtes und nichts aus zweiter Hand. Schlussfolgerungen und Wertungen überlassen wir den Leserinnen und Lesern. Schon gar nicht heben wir den moralischen Zeigefinger. Es sind Geschichten, die das Leben selber schrieb.

Wir – die Erinnerungswerkstatt Norderstedt – sind kein Verein, sondern eine freie und offene Gruppe von aktiven und interessierten Autorinnen und Autoren aus Norderstedt und Umgebung, die sich im November 2004 zusammengefunden hat, um auf freiwilliger und privater Basis Erlebtes in Erinnerung zu rufen, aufzuschreiben und zu diskutieren. Wir wollen den nachfolgenden Generationen erzählen, was wir erlebt, gedacht und empfunden haben, als es z.B. noch keinen Fernseher, keine Handys und keine Computer gab. Denn selbsterlebte Geschichten sind ein Schatz, den es zu heben lohnt, für sich selbst, für die eigene und für nachfolgende Generationen. Solche Geschichten ermöglichen das gemeinsame Schwelgen in schönen Erinnerungen und das Teilen der weniger schönen, sie stiften Identität. Und auch wenn Zeitzeugen wissenschaftlich historischen Ansprüchen nicht genügen, so vermitteln sie doch Verständnis für eine Zeit, in der Eltern oder Großeltern jung waren und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen den Generationen.

 

***

 

Unsere Kindheit

Ursula Kennhöfer

Damit meine ich die meines Bruders Joachim und meine eigene. Unsere Eltern haben am 17. April 1913, eineinhalb Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geheiratet. Mutter stammte aus Groß Brodsende Kreis Stuhm, Westpreußen. Vater war Müller und aus Groß Hanswalde, Kreis Mohrungen/Ostpreußen. Auf dem elterlichen Grundstück stand seine Windmühle.

Im Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus und alle Männer im wehrfähigen Alter wurden Soldaten. Auch unser Vater. Als nach vier schlimmen Jahren die Waffen wieder ruhten, Deutschland den Krieg verloren hatte, waren die meisten Menschen aus der Bahn geworfen und mussten irgendwie einen neuen Anfang finden.

Meine Eltern gingen nach Osterode/Ostpreußen und Vater versuchte sich in vielen Dingen, bis er sich 1922 mit einem Fuhrunternehmen selbständig machte. Im Januar 1921 wurde ich geboren. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt noch bei der Reichsbahn beschäftigt. Ein viertel Jahr später erkrankte Mutter an spinaler Kinderlähmung. Bis die Ärzte aber die Krankheit erkannten, die wie Grippe begann und Mutter dann in die Universitätsklinik nach Königsberg überwiesen, war sie am ganzen Körper gelähmt. Innerhalb von drei Monaten ging die Lähmung allmählich zurück, bis auf das rechte Bein, das bis zu ihrem Lebensende gelähmt blieb.

Mit einem Stützapparat lernte sie aber wieder gehen. Zum Zeitpunkt meiner Geburt waren Mutter 34 Jahre und Vater 40 Jahre alt. Sie hatten erst nach 7-jähriger Ehe eine Familie gegründet. Joachim, mein jüngerer Bruder, wurde erst nach Mutters schwerer Krankheit geboren. Durch die vielen Medikamente, die Mutter während der Krankheit bekommen hatte war ihr Blut regelrecht vergiftet worden. Joachim war ein kleines, schwaches Kind, als er auf die Welt kam und die Eltern wollten es natürlich behalten. Joachim machte die englische Krankheit durch und litt bis zum sechsten Lebensjahr an Krämpfen. Erst mit zwei Jahren fing er zu gehen an; bis dahin rutschte er flink auf seinem kleinen Hintern durch Haus und Hof.

Wir wohnten in einer sehr kleinen Mietwohnung. Für uns vier gab es nur ein großes Zimmer und eine Küche. Von der Hofseite aus zu ebener Erde gelegen, von der Straßenseite aus musste man eine Treppe heruntergehen. Zu dieser Wohnung gehörten aber ein großer Hof und viele Stallungen, was für Vaters Betrieb sehr wichtig war. Er hatte später fünf Arbeitspferde und viele Wagen, die auf dem Hof gut Platz fanden.

Ein Zimmer war so groß, dass Wohn- und Schlafzimmer der Eltern darin Platz fanden. Eine Wasserleitung gab es in der Küche nicht. Das Wasser wurde eimerweise von einem Zapfhahn im Flur in die Küche getragen. Dort war auch die Waschgelegenheit für alle. Dort stand mein Bett und war auch meine Spielecke. Für Joachim wurde zur Nacht im Zimmer das Sofa zum Bett.

Die Wohnung hatte kein elektrisches Licht. Wenn es dunkel wurde, kam die Petroleumlampe auf den Tisch. Sie leuchtete auch nur die Tischplatte aus, alle Ecken und Winkel lagen im Dämmerlicht. Es war immer ein bisschen unheimlich. Es grauste uns beiden immer sehr über den dunklen Flur in den Keller zu gehen, eine kleine Treppe rauf, und meistens gingen wir zu zweit singend dorthin, um uns Mut zu machen.

Ging man in der dunklen Jahreszeit über den Hof zu den Stallungen, wurde eine Sturmlaterne angezündet. Zu der Wohnung gehörte auch ein kleiner Garten mit einer Laube. Wir Kinder hatten dort unsere Schaukel und einen Sandkasten.

In dieser Wohnung, Hindenburgstraße 6, wohnte die Familie 16 Jahre. Ich besuchte die Luisenschule in Osterode, damals eine reine Mädchenschule. Joachim wurde mit sechs Jahren in die Hindenburgschule eingeschult. Sein Lehrer war ein strenger, ungerechter Mann. Als Joachim einmal zu spät zum Unterricht kam, musste er nachsitzen. Als er darauf jeden Tag zu spät nach Haus kam, fragte Mutter beim Lehrer nach. Der meinte: »Wer am Montag zu spät kommt muss eben die ganze Woche nachsitzen.« Mutter trug das dem Rektor vor und der verfügte, dass Joachim ab sofort nicht mehr zur Schule gehen brauchte.

Ein halbes Jahr später, als er sieben Jahre alt war, wurde er erneut, diesmal bei einem anderen Lehrer eingeschult. Von da an ging es besser. Er war all die Jahre bei seinen Mitschülern sehr beliebt.

In der Hindenburgstraße verbrachten wir unsere ganze Kindheit. Als Joachim endlich gehen konnte, erforschte er natürlich seine Umwelt. Im Haus gab es drei Gaststätten, oder auch Kneipen. Der Hausbesitzer Ernst Ostreczenski, hatte die größte Kneipe. Die war von der Straßenseite zu betreten und hatte eine große vorgebaute Holzveranda. Unter der Veranda waren zwei Lichtschächte.

In den Gaststätten ging es immer sehr laut und lärmend zu und es gab viele Betrunkene. Schlägereien Betrunkener haben Joachim und ich immer interessiert zugeschaut.

Irgend jemand hatte dann mal erzählt, dass die Betrunkenen Geld unter die Veranda werfen. Joachim, vielleicht dreijährig, war eines Tages unter die Veranda gekrochen und prompt in einen der Lichtschächte gefallen, wo er gefangen war. Er konnte nur noch schreien, was er dann auch ausgiebig tat.

Inzwischen hatte Mutter ihren Sohn schon vermisst und suchte überall nach ihm. Nach Stunden voller Aufregung hatte man dann erst das Kinderweinen und wo es herkam bemerkt. Mutter hatte zu dem Zeitpunkt eine Haushaltshilfe, ein schlankes dünnes Mädchen. Die robbte unter die Veranda und holte Joachim aus dem Lichtschacht. Befragt, was er unter der Veranda wollte, sagte er: »Geld suchen.«

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Ein anders Mal war er auf einen hohen Spazierwagen, einen Landauer geklettert, der in einer Garage abgedeckt stand und war dort eingeschlafen. Auch dort wurde er erst nach Stunden entdeckt.

Sprechen konnte Joachim auch erst spät. Als Mutter uns einmal zu Vaters Geburtstag vom Fotografen Nickel fotografieren ließ, Joachim war vier und ich sechs Jahre alt, schärfte Mutter uns ein, nichts dem Vater zu verraten, weil Vater überrascht werden sollte.

Kaum Zuhause wollte Joachim das dem Vater sagen. Aber es kam immer nur heraus: »Wir waren fieren, wir waren fieren.« Vater wusste natürlich nicht, was sein Sohn damit meinte. So blieb das Geheimnis bis zu Vaters Geburtstag gewahrt.

 

Als wir größer wurden, war ein interessanter Spielplatz der Pferdestall, wenn die Pferde bei der Arbeit waren und der Stall leer war. Im Pferdestall stand eine große Futterkiste, die einen abgeschrägten Klappdeckel hatte. Diese Futterkiste zog Joachim besonders an. Er spielte gerne auf ihr, obwohl es ihm streng verboten war. Eines Tages passierte es dann auch, er fiel herunter und schlug mit der Stirn auf einer Zementkante auf. Das Blut spritzte und er schrie wie am Spieß. Von Mutter, durch das Geschrei herbeigerufen, bekam er dann erst einmal »den Hintern voll«, dann wurde er verbunden.

Direkt dem Haus gegenüber war das alte Krankenhaus. Starb dort jemand, gingen von der Leichenhalle aus die Trauerzüge zum Stadtfriedhof. Die Pferde waren schwarz verhängt und zogen den Wagen durch die ganze Stadt bis zum Friedhof. Joachim und ich standen bei so einem Ereignis immer am Straßenrand und schauten zu. Da wir das oft sahen, machten wir ein Spiel daraus: Fußbänkchen umgedreht, Puppe reingelegt, mit einem Tuch verhängt. Einer fasste vorne an, der andere hinten und so spielten wir mit Gesang Begräbnis. Mutter sah dies nicht gern und verbot uns dieses Spiel immer wieder.

Wenn Mutter nähte, die Nähmaschine stand immer startbereit vor einem Fenster der Wohnstube, saß ich auf der breiten Fensterbank und spielte mit Knöpfen. Joachim aber saß auf Mutters Knie und »fuhr« beim Maschinetreten mit.

Am schönsten aber waren im Herbst und Winter die Schummerstunden. Die Zeit zwischen der beginnenden Dämmerung und der Dunkelheit nannten wir so. Mit Mutter saßen wir um den großen, warmen Kachelofen und warteten singend darauf, dass die Pferdegespanne auf den Hof fuhren, dann erst wurde Licht gemacht.

Wir mussten früh mithelfen. Vater hatte in der Roonstraße, hinter dem Brosda›schen Haus ein großes Landstück mit Scheune gepachtet. Vor der Scheune war ein Rosswerk mit Pferdeantrieb. Joachim musste schon mit zwölf Jahren Getreide häckseln. Dazu spannte er ein Pferd vor das Rosswerk, welches im Kreis ging und so das Stroh zerhäckselte. Joachim ging dann hinter dem Pferd her und trieb es an. Wehe, wenn Vater abends mit Pferden und Wagen nach Hause kam und kein Futter für die Tiere vorbereitet war.

Auf dem Rennplatz, vor der Stadt, hatte Vater auch eine große Wiese gepachtet, wo er das Heu für die Pferde erntete. Auch da mussten Joachim und ich mithelfen. Das Gras wurde zwei bis dreimal gewendet, bis es trockenes Heu wurde und zum Einfahren geeignet war. Hoch auf dem Heuwagen bei der Einfahrt zu sitzen war aber schön. Und in der Hindenburgstraße auf dem Heuboden ließ es sich ganz schön rumtoben.

Mit 14 Jahren, im März 1936 wurde Joachim konfirmiert. Als es schon 1935 hieß, dass das Haus in der Hindenburgstraße 6 abgerissen werden sollte, mussten sich die Eltern nach einer neuen Bleibe umsehen. In der Roonstraße stand ein Haus mit Garten und großem Hofplatz zum Verkauf.

Nach einigem Hin und Her kauften die Eltern dieses Grundstück und wir zogen 1936 in unser eigenes Haus. Ich war bereits in der Lehre und Joachim begann eine Schlosserlehre beim Osteroder Reichsbahn-Ausbesserungswerk. Er lernte gut aus. Wer ahnte schon, dass im September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnen würde, der eine neue Generation wieder aus der Bahn werfen würde. Joachim wurde 1941 Soldat und hatte noch das große Glück, am Heimatort Osterode ausgebildet zu werden. Er ging nicht freiwillig zur Wehrmacht, sondern wurde gezogen.

Freiwillig war er auch nicht in die organisierte Hitlerjugend eingetreten. Die damalige deutsche Jugend wurde nach der Machtübernahme durch Hitler, die am 30. Januar 1933 erfolgte, zusammengefasst. Joachim war also zuerst beim Jungvolk und später in der Hitlerjugend organisiert.

Einmal in der Woche war Dienst angesetzt. Da Joachim sich ungern zu etwas zwingen ließ, vergaß er regelmäßig seinen sogenannten Dienst und wurde meistens geholt. Immer war er dann gerade nicht Zuhause, sondern beim Fußballspiel auf dem Grollmannplatz. Das tat er ja auch freiwillig und sehr, sehr gerne.

Die Abholer fanden ihn aber auch dort. Komischerweise kam er jedes Mal mit seiner Entschuldigung: „Ich habe den Dienst vergessen“ durch.

Als Joachim also 1941 zur Wehrmacht gezogen wurde, kam er zur Infanterie und gegen Russland zum Einsatz. Zweimal war er im Urlaub, auch nach seiner ersten Verwundung, ehe wir vor der russischen Übermacht im Januar 1945 aus Ostpreußen flüchteten.

Joachim hat den Krieg überstanden und selbst niedergeschrieben wie er aus seiner Kriegsgefangenschaft in der Nähe von Prag flüchtete und entkam.

 

***

 

Sorglose Kindheit in den Vorkriegsjahren

Heinz-Eberhard Kuhn

 

Wir schreiben das Jahr 1935 mit Blick auf die Weihnachtszeit. In der Nacht weckt meine Mutter meinen Vater und sagt: »Ferdinand, es ist so weit«! Mein Vater im Schlaf gestört: »Das kann nicht sein. Der Arzt hat gesagt, dass das Kind erst in 14 Tagen kommt.« Dreht sich um und schläft weiter.

Nach einer Stunde: »Ferdinand, wach auf, ich habe schon die Wehen!« Widerwillig steht mein Vater auf, geht in die Küche und setzt einen Kessel Wasser auf. Unrasiert kann der Herr auch des Nachts nicht das Haus verlassen. Meine Mutter stöhnt. Dann ruft mein Vater über das Fräulein vom Amt eine Taxe. Wir hatten schon Telefon in der Alten Jakobstraße 8 in Berlin SW 29.

Im Eiltempo geht es gegen zwei Uhr morgens am 24. Dezember in die Frauenklinik der Charité in der Ziegelstraße in Kreuzberg. Um 6 Uhr erblickte ich das Licht der Welt. Kommentar meines Vaters: »Und was mache ich jetzt mit Vera – meine fünf Jahre ältere Schwester – ohne dich zum Weihnachtsfest?« Mein Eintritt in diese Welt, nicht gerade positiv begleitet. Zuvor gab es noch ein Gerangel um den Vornamen. Meine Mutter wollte den Eberhard und mein Vater fand den kürzeren Heinz besser. Einigung, der Doppelname Heinz-Eberhard.

Das Haus in der Alten Jakobstraße gehörte meinen Eltern. Straßenfront etwa 40 m mit Seitenflügeln und einem schmalen Innenhof. Den Abschluss bildete das vermietete Fabrikgebäude. Wir wohnten in der ersten Etage im Vorderhaus, hatten schon eine Innentoilette in der ehemaligen Speisekammer und einen Dienstbotenaufgang zum Hof.

Die Jahre vergingen schnell, doch einige Erlebnisse sind im Buch der Erinnerung erhalten geblieben.

Mein Vater, Ingenieur von Beruf und im Lokomotivbau bei der Firma Schwarzkopf beschäftigt, nahm sich viel Zeit an den Wochenenden für seine Kinder. Während Mutter und Oma sich um die Wirtschaft und das Essen kümmerten, zogen wir, mein Vater, meine Schwester und ich, los in Richtung »Unter den Linden«, bis zum Ehrenmal. Dort erlebten wir immer das gleiche beeindruckende Zeremoniell der Wachablösung mit militärischen Ehren. Viele Menschen blieben stehen und folgten den Kommandos und dem Stechschritt.

Danach ging es ins Zeughaus, wo uns zunächst das Pferd Friedrichs des Großen »begrüßte«. Nachgestellte Schlachten in Sandkästen riesigen Ausmaßes und die erbeuteten Kanonen im Innenhof haben sich für immer eingeprägt wie auch der lange Nachhause-Weg zu Fuß. Nie wurden öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Vater schimpfte manchmal, wenn ich mich ziehen ließ. Dabei berücksichtigte er nicht, dass ich erst fünf, meine lebhafte Schwester schon zehn Jahre alt war.

Auf dem Heimweg wurde nicht selten noch Einkriegezeck gespielt. Einmal stieß meine ungestüme Schwester mit einer Laterne zusammen und entschuldigte sich, weil sie glaubte, einen Passanten angerempelt zu haben. Bei dieser Gaudi war selbst ich wieder hellwach!

War das Wetter schlecht, ging es zum Kaufhaus Tietz in der Leipziger Straße. Vor allem die Spielwarenabteilung hatte es uns angetan. Nicht aber der Kauf von Puppen war das Ziel, sondern der Erwerb von Lineolsoldaten, von Geschützen und Munition oder auch von Teilen für die Eisenbahn.

Zu Hause angekommen, war das Sofa das gemeinsame Ziel. Links meine Schwester, rechts ich, lagen wir in den Armen unseres Vaters und schliefen bald ein.

War das Wetter sehr schlecht, Zoo und Wannsee nicht das Ziel, wurde zu Hause gespielt. So durften und konnten wir mit dem Holländer, einem Kinderfahrzeug mit Tretantrieb, um den großen Tisch des Wohnzimmers kurven. Nicht selten wurden auf dem Tisch zwei Fronten aufgebaut und wechselseitig mit den Kanonen geschossen, bis das Zimmer blau vom Dunst der Knallplätzchen war und meine Mutter unwirsch reagierte.

Wurde mit der Eisenbahn gespielt, lagen die Schienen sowohl auf dem Tisch als auch auf dem Boden. Ich kleiner Tölpel, der gerade mit der Nasenspitze über den Tisch reichte, trat dann hin und wieder auf die Schienen am Boden. Dafür gab es einen »Katzenkopf« und das Geheul meiner Schwester wegen meiner Dummheit.

Zur Nachrichtenzeit mussten wir ins Bett. Meine Schwester schlief bei meiner Oma in dem dortigen Doppelbett und ich im Schlafzimmer meiner Eltern in einem Bett mit Gitter. Mein Beschützer und Gefährte war ein großer Teddy. Dies war auch nötig. Denn kaum war es dunkel und ruhig, ertönte nicht selten ein leises Surren. Einmal streckte ich meine Hand durch das Gitter aus dem Bettchen, als diese angefasst wurde. Ich schrie auf und rief nach meiner Mutter. Als diese endlich kam und fragte, was eigentlich los sei, glaubte sie meinen Worten nicht. »Hier ist außer dir niemand im Zimmer«, sagte sie. Ich solle schlafen und nicht träumen. Ich legte den Teddy an die Gitterseite meines Bettes und schlief dann tatsächlich ein.

Erst Jahrzehnte später gestand meine Schwester, dass sie sich in der Dunkelheit tatsächlich in das Schlafzimmer geschlichen und es sich im Kleiderschrank meiner Eltern gemütlich gemacht hatte. Dort hatte mein Vater eine Flasche mit selbstgemachtem Eierlikör für besondere Fälle deponiert, der auch ihr schmeckte. Meine Hand hatte sie zum Anfassen inspiriert. Als meine Mutter im Zimmer erschien, saß sie schon längst wieder im Kleiderschrank.

Eines Tages, unsere Eltern waren außer Haus und Vera und ich blieben allein mit der Oma, da ließen wir uns etwas einfallen zum Zeitvertreib. Vom Wohnzimmer führte ein schmaler Gang, links das Badezimmer, rechts die Mädchenkammer für das einstige Gesinde, direkt in die Küche. Im Gang selbst konnte man über eine Leiter zum sogenannten Hängeboden aufsteigen. Also kletterte Vera nach oben, um zu sehen, was es da Interessantes gab, und wurde auch schnell fündig. Mein Vater, akkurat wie er war, hatte alle Ausgaben der »Berliner Zeitung« nach Jahrgängen sortiert gestapelt aufbewahrt. Also knüllte Vera die Zeitungen zusammen und warf sie nach unten und ich warf sie wieder zurück. »Schneeballschlacht mit oder aus Papier«. Als Oma, durch den Lärm angelockt, feststellen musste, was passiert war, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. »Wenn das euer Vater erfährt«, jammerte sie. Flugs wurde aufgeräumt und das Papier beseitigt. Außerdem wurde Stillschweigen vereinbart. Mein Vater erfuhr erst nach dem Krieg und dem Verlust des Hauses von dieser Misere.

Es ist das Jahr 1942. Eingeschult in der Volksschule in der Alten Jakobstraße – praktisch auf der anderen Straßenseite – also gegenüber. Die Schultüte war fast so groß wie ich. Nach dem ersten Schultag begann der Ernst des Lebens. Mein Vater wurde eingezogen, allerdings aufgrund seines Alters im Zivildienst im Reichsluftfahrtministerium.

In den großen Ferien besuchten wir unsere Verwandten in Schlatzmann bei Glogau in Schlesien. Wie bei jedem guten Berliner kamen die Vorfahren aus Schlesien. In diesem Falle mütterlicherseits.

Wegen der zeitversetzten Ferien musste ich in dem Dorf zur Schule gehen. Auf dem Weg begleiteten uns oft Gänse, die sich wohl mehr für den Städter interessierten. Ein Ganter schnappte nach meiner Hand und zischte. Ängstlich wollte ich fort, doch das Vieh folgte sehr schnell. Da half mir ein Bauernsohn. »Du musst ihn am Hals hinter dem Kopf packen, einmal um dich herum schleudern und dann loslassen«. Gesagt, getan. Es klappte. Das Tier ließ mich fortan in Ruhe.

Neu war für mich die Erfahrung, dass vier Klassen in einem Raum gleichzeitig unterrichtet wurden. Auf diesem Gut – mein Onkel war dort Bürgermeister – musste ich noch viele Erfahrungen machen, wie meine Schwester auch. So durfte sie auf dem Hof reiten, rund um den Misthaufen. Ein Pole, auf dem Gut beschäftigt, zwickte das Pferd, so dass es einen Sprung machte und meine Schwester auf dem Misthaufen landete.

Ich selbst hatte mit einem Puter (Truthahn) Probleme, der mir überall auflauerte. Sobald ich das Haus verließ, stellte er sich vor mich hin, kollerte und ließ mich weder rechts noch links vorbei. Ich wollte aber in das Häuschen mit Herz. Einer der Gefangenen, ein Franzose namens Louis, der am Tage auf dem Hof arbeitete, scheuchte das Tier mit der Harke davon. Kaum hatte ich das Häuschen mit Herz verlassen, stand das Aas wieder vor mir und ließ mich nicht entrinnen. Diesmal war Louis nicht in der Nähe, und rufen half auch nichts. Also nahm ich mir die nasse Klobürste und schlug auf das liebe Tier ein, das mit dieser Abwehr nicht gerechnet hatte. Fortan respektierten wir uns.

Louis sollte später der Vater meines Cousins zweiten Grades werden. Er hatte sich in meine Cousine Hildegard verguckt. Das war seinerseits strengstens verboten – ein Gefangener und eine Deutsche! Deshalb musste meine Cousine nach Berlin zur Entbindung gehen und das Kind zur Adoption freigeben. Erst nach dem Kriege hatten die Nachforschungen Erfolg. Louis war nach Frankreich gegangen und hatte dort geheiratet. Nach seinem Tod fanden die Söhne in der Hinterlassenschaft Hinweise zu seiner Beziehung mit der Hildegard. Auch die Nachforschung nach ihrem Sohn Peter hatte Erfolg. Dieser sieht übrigens seinem französischen Vater sehr ähnlich. Heute sind beide Familien aus Deutschland und Frankreich freundschaftlich verbunden.

So etwa endete die sorglose Zeit meiner Kindheit. Der Krieg kam immer näher.

 

***

 

Der Kollex kommt

Ida Slomianka

 

Fliegende Händler mit Bauchläden waren früher in ländlichen Gegenden Ostpreußens gern gesehene Gesellen, die mit ihren nützlichen Kurzwaren bei den Landfrauen gute Umsätze machten. Lange vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in unserer Gegend solche Gesellen, die sich selber Kollex nannten. Kam der dann in Häusernähe, rief er ganz laut: »Der Kollex kommt!« oder »Der Kollex ist da!« Wir Kinder rannten ihm lachend entgegen, standen dann um ihn herum und bestaunten immer wieder sein Angebot und vor allem seine Kleidung. Er war so anders angezogen als die Erwachsenen bei uns, er hatte nämlich die österreichische Tracht an, eine Jacke mit vielen blanken Knöpfen, eine Kniebundhose, weiße Kniestrümpfe und Schnallenschuhe. So etwas kannten wir von unserer Männerwelt doch nicht! Deshalb war er für uns Kinder schon wegen seines Aussehens hochinteressant, sein Erscheinen im Dorf immer eine willkommene Abwechselung und das nicht nur für die Kinder.

Was der Kollex in seinem Bauchladen alles drin hatte? Unheimlich viele Kurzwaren, aber alle könnte ich beim besten Willen nicht mehr aufzählen: Angefangen von Druck- und Wäscheknöpfen über Schnürsenkel, Taschenmesser und Portemonnaies aus echtem Leder. An den Seiten des Bauchladens hingen Hosenträger, die damals auf dem Lande sehr gebraucht wurden, sowie Sicherheitsnadeln und Gummibänder!

Solch ein Bauchladen war ein richtiger Wunderkasten. Hinzu kam, dass die Preise beim Kollex oft viel günstiger waren, als in den Geschäften in der Stadt. Klar, dass sich um den Mann immer eine kleine Menschentraube bildete. Und wenn auch nicht gerade Großeinkäufe gemacht wurden, Kleinvieh macht ja bekanntlich auch Mist und es muss sich wohl für den Kollex und seine vielen Genossen gelohnt haben, denn sonst wären die ja nicht zu uns in den Norden Deutschlands gekommen. Und wenn der Kollex kam, war das auch für die Erwachsenen eine nicht unangenehme Unterbrechung ihrer täglichen Arbeit, schließlich ersparten sie sich den Weg in die nächste Stadt und bekamen übrigens auch keinen Schund angeboten. Was er anbot, war schon recht gut und hielt den Vergleich mit den Waren aus der Stadt durchaus Stand.

Eines Tages fragte ein Kollex, ob er wohl bei uns übernachten könnte. Es war schon später Nachmittag und wir hatten ja Platz genug. Warum denn nicht? Im Grunde war das für uns ein armer Wanderer, der sicher mit dem geringen Verdienst aus dem Verkauf seiner Waren seine Familie und Kinder ernähren musste. Übernachtungsgeld? Nein, das nahm man nicht. Und das Stückchen Brot, das er zum Frühstück aß, nein, dafür nahm meine Mutter keinen Groschen an. Ich ging damals noch zur Schule, als wir den Kollex beherbergten und ich erinnere mich, dass er meiner Mutter etwas aus dem Bauchladen gab, ich meine, dass es Wäscheknöpfe für die Bettwäsche waren, die sie immer benötigte, denn sie nähte ja alles selber, war schließlich billiger als fertig genähte zu kaufen.

Ja und dann fragte dieser Kollex beim Frühstück: »Wie heißt ihr denn eigentlich?« Vater nannte unseren Namen. Da meinte der Kollex: »Komisch, in der letzten Woche habe ich bei einem Bauern mit gleichen Namen übernachtet!« Nanu, wunderten wir uns, unseren Namen haben wir – außer bei Vaters Bruder – noch nie gehört. Gegenfrage: »Wo war das denn, als Sie bei diesem Bauern schliefen?« Antwort: »Im Kreis Pilkallen…« Großes Frühstücksgelächter! Genau dort wohnte nämlich Vaters Bruder!

Wie wir dann noch weiter erfuhren, gab es mehrere Kollexe, alle kannten sich, waren nach seinen Angaben alle miteinander verwandt, Bruder, Schwager oder Cousin. Offenbar hat sich das dann herumgesprochen, denn ab und an hat noch manch Kollex bei uns übernachtet.

Ob heute noch jemand von Österreich ins nördliche Ostpreußen fährt? Wenn ja, dann sind das sicher keine Kollexe mehr!

***

 

 

Wochenmärkte zu meiner Kinderzeit

Ernesto Potthoff

 

Um 1930 wohnte ich mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester im Stadtviertel Villa Devoto in Buenos Aires. Die Hauptstadt Argentiniens ist in symmetrische Häuserblocks von etwa 100 m Seitenlänge eingeteilt. Unser Haus befand sich ca. 50 m von der Seitenstraße entfernt, in der zweimal in der Woche – mittwochs und sonnabends – ein offener Stadtmarkt aufgebaut wurde. Ganz früh am Morgen dieser Tage begannen die Stadtarbeiter die Stände aufzubauen. Es ging ziemlich laut zu, wenn die Männer die vielen Eisenstangen zusammenfügten, die dann mit Zeltplanen überzogen und mit hölzernen Regalen ausgestattet wurden. Gegen sieben Uhr waren die Stände schon mit Waren bestückt, die von den Marktbeschickern, meist Italiener, lautstark angeboten wurden.

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Meine Eltern beschäftigten zu dieser Zeit ein ungarisches Ehepaar, das bei uns in einem separaten Häuschen im Hinterhof wohnte. Der Mann, Martin, kümmerte sich um den Obstgarten und den Hühnerstall. Teresa half meiner Mutter im Haushalt.

Da meine Mutter nie richtig Spanisch sprechen gelernt hatte, besorgte meistens Teresa die Einkäufe am Markt. Manchmal durfte ich sie dabei begleiten. Als Sechsjähriger freute ich mich natürlich auf die »yapas«, die Süßigkeiten als Zugabe, die ich von den Händlern bekam. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch so manch einen italienischen Ausdruck, was später auf meinen Reisen oft von großem Vorteil war.

Das Angebot auf dem Markt war sehr vielfältig: Rindfleisch, Fisch, allerlei Gemüse und Obst gab es an mehreren Ständen. Auch in kleinen Käfigen gehaltene Hühner konnte man erwerben. Das lebende Geflügel wurde meistens paarweise an den Füßen zusammengebunden dem Käufer übergeben. Die Bananen wurden im Dutzend oder in Büscheln (»cachos«) verkauft. Hierbei musste man aufpassen, dass man nicht eine aus Brasilien »importierte« Vogelspinne mit den Bananen nach Hause brachte. Selbstverständlich mangelte es auch nicht an Käse, Salami und Oliven.

Damals bekam man sogar etwas umsonst, wenn man zum Beispiel »Leber für die Katze« bestellte. Dann erhielt man ein gutes Stück Rindsleber, das aber meistens nicht im Futternapf der Haustiere landete, sondern mit Zwiebeln gebraten im Magen der Menschen. Auch beim Kaufen von Gemüse erhielt man immer ein Bündel Petersilie als »yapa«.

Ein Beispiel der meist gekauften Esswaren lässt sich aus den Zutaten des populären »Puchero«, eine Art von Fleisch- und Gemüsetopf folgern. – Für die Zubereitung dieses Gerichtes, für sechs Personen braucht man:

etwa zwei Kilo Suppenfleisch,

500g Rindermarkknochen,

ein Kilo fest kochende Kartoffeln,

250g Süßkartoffeln,

einen Kohlkopf,

250g Kürbis (gelber Schale)

Karotten, Porree,

Rüben und Petersilie.

Dazu kommen auch drei Maiskolben, eine Paprika, eine Tomate und eine Zwiebel. Um dem Ganzen einen würzigen Geschmack zu verleihen, fügt man noch 200 Gramm Speck, zwei Blutwürste und drei »Chorizos«, scharfe Würste, bei. Diese Zutaten werden in einem großen Topf mit viel Wasser gekocht. Natürlich benötigen diese Zutaten verschiedene Garzeiten, aber auf jeden Fall muss man mit zwei Stunden rechnen bis ein echter »Puchero« auf den Tisch kommt.

Zuerst wird von oben das Dünne abgeschöpft und als Suppe serviert, die manchmal auch mit Reis angedickt wird.

Dann kommt das Fleisch und die mit etwas Olivenöl betunkten Beilagen auf den Teller. Die Kürbisschale wird direkt beim Essen entfernt und der Mais wird vom Kolben abgeknabbert. Damals war dies eine übliche normale Familienmahlzeit. Heute ist das eine teure Speise, die nur noch in feinen Restaurants zu bekommen ist.

Wer ganz günstig einkaufen wollte oder musste, ging kurz vor Mittag auf den Markt. Selbstverständlich gab es dann nicht mehr die gewünschte Auswahl, aber was man praktisch umsonst mitnehmen durfte, langte manchmal für einen kleinen »Puchero«.

Ab 12.00 Uhr begannen die Männer dann wieder, die Stände abzubauen und die Straße von Abfällen zu reinigen. Mit Feuerlöschschläuchen wurde das Pflaster abgestrahlt und alles floss in die Gosse. Im Bereich der Fischstände aber blieben viele Schuppen und Überreste zwischen den Pflastersteinen liegen, die dann in der heißen Mittagssonne unerträgliche Düfte entstehen ließen, abgesehen von den zahlreichen Fliegen, die sich dort ein Rendezvous gaben. Eigentlich konnten wir froh sein, dass wir den Markt nicht direkt vor unserer Haustür hatten.

Als meine Schulzeit begann, kam ich immer seltener auf den Markt und schließlich überhaupt nicht mehr. Später ging meine Frau auf denselben Markt, bis wir umzogen und eine geschlossene Markthalle in der Nähe unserer neuen Wohnung hatten. Durch die wechselhaften Wirtschaftsbedingungen verschwanden allmählich die offenen Märkte aus den Straßen von Buenos Aires.

Erst 1992, als wir uns in Norderstedt niederließen, bekamen wir wieder die Gelegenheit, einen offenen Markt zu besuchen. Nun begleite ich gerne meine Frau zum Einkaufen auf den Garstedter Wochenmarkt. Hier gibt es jedoch weder Fleisch am Haken noch lebendige Hühner, dafür aber Delikatessen, Bücher, Blumen und viel Anderes. Allerdings, statt italienischer Laute, höre ich hier häufig Plattdeutsch und vor allem die liebenswürdige norddeutsche Begrüßungsformel: Moin – moin!

 

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O, du liebes Schwänchen

Liesel Hünichen

 

Dieser Ausspruch von mir war einige Zeit Sprichwort in unserer Familie geworden und wurde zitiert, wenn ich mal wieder zu gutgläubig oder niedergeschlagen war.

Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt muss ich gewesen sein, als ich mit meinen Eltern in unserem Park spazieren ging. Ihr wisst, er gehörte dem Herzog von Croy, der Park, aber eigentlich hatten wir davon mehr als er, denn wir wanderten viel öfter darin herum als er‚ wohnten wir doch am Park und der Herzog wanderte auch nicht, sondern fuhr nur ganz gelegentlich mal mit der Kutsche hindurch.

Es war an einem feuchten kühlen Frühlingstag, als

O-du-liebes-schwaenchen

die Riesenkastanien im Parkeingang im Schmuck ihrer weißen Kerzen prunkten und die Ränder der Teiche voller Froschlaich wabbelten.

Auf dem zweiten Teich hauste ein Schwanenpaar. Natürlich kannten wir es längst. Majestätisch kreiste es auf dem See oder stand am Ufer, gründelte in Schlamm und Froschlaich herum oder saß friedlich am erhöhten Ufer in der Sonne auf dem Rasen.

An jenem Morgen nun war Frau Schwan nicht zu sehen. Nachträglich denk ich, dass sie wohl mit Brüten beschäftigt war – auch ohne sichtbares Nest.

Herr Schwan zog einsame Kreise und kam dann, als er uns erblickte, mit Bugwelle auf uns zugesegelt. Er hatte ein ziemliches Tempo vorgelegt und war im Nu am Ufer angelangt, an dessen Rand wir aus fünf Meter Entfernung zu ihm hernieder blickten. Am Ufer stoppte der stolze Segler seine Fahrt ab und blickte abwartend zu uns hoch, so, als ob er eine Ansprache erwarte, fand ich jedenfalls. Damals war noch niemand auf die Idee verfallen, wildlebende Schwäne und Enten mit Brot zu mästen wie heutzutage. Und darum warf ich auch kein Brötchen zu ihm hinunter, sondern sagte nur ganz süß und freundlich, indem ich mich verbeugte:

»O, du mein liebes Schwänchen«

Als habe er auf diese Aufforderung gewartet, erhob der Schwan seine Schwingen, stieß einen wütenden Zischlaut aus und schoss hoch aufs Ufer auf mich zu – mit vorgerecktem Hals. Zum Glück dauert es immer mehrere Augenblicke, bevor der schwere Segler einigermaßen in Schwung kommt und ich hatte Gelegenheit, schnell ein paar Schritte zurückzutreten und dabei das Regencape, das ich des feuchten Wetters wegen über der Schulter trug, herabzureißen und mit Schwung über den Angreifer zu werfen.

Ihr müsst zugeben, dass das eine tolle Idee von mir war und mein Vater hat mir wegen meiner Geistesgegenwart auch seine volle Anerkennung ausgesprochen, die ja schwer zu erhalten war. Im nächsten Augenblick also lag mein gummiertes blaues Cape zu meinen Füßen und darunter fand ein wüstes Gewoge und Gewühle statt. Vorsichtshalber retirierte ich noch mehrere Meter rückwärts vom Schauplatz des Kampfes »Schwan gegen Regencape« und schaute der weiteren Entwicklung aus mindestens zwanzig Meter Entfernung zu. Meine Mutter hatte schon vorher Reißaus genommen, während mein Vater, seiner klassischen Beschützerrolle als Vater eingedenk, wie es sich für einen Vater gehört, als Säule neben mir stehengeblieben war.

Es dauerte eine Weile, ehe sich der Schwan unter dem Cape hervorgewühlt hatte. Da stand er nun, plattfüßig mit hängendem Hals. Ein Schwanenpsychiater hätte sicher gesagt: »Total deprimiert und diskriminiert«. Nur noch einen flüchtigen Blick warf er in meine Richtung, bevor er sich umwandte und langsam mit hängendem Hals und geneigtem Schnabel dem Ufer zuwatschelte. Dort stürzte er sich vom Ufer aus umgehend in die Fluten und segelte schnurgerade, immer schneller werdend bis ans andere Ufer, wo er im Schilf verschwand.

Ob Frau Schwänin dort brütete? Hatte er sich mit ihr gezankt, weil er so schlechter Laune war? Was mochte seine Aggressionslust angestachelt haben? Leider verstehe ich nichts von Schwanenpsychologie. Aber noch viele Jahre später, wenn der Spruch fiel »O du mein liebes Schwänchen« lachten wir uns an und ich dachte an das blau-weiße Regencape – Schwanengewusel am grünen Teichufer.

 

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Allein unter Katholiken

Ernesto Potthoff

 

In meiner Kindheit bekam ich öfters die Geschichte meiner Eltern zu hören, wie sie in einem Viehwaggon nach Sibirien abtransportiert wurden und, um sich Mut zu machen, Luthers Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« laut gesungen haben.

Meine Mutter ist nämlich 1892 in St. Petersburg als Tochter deutscher Eltern zur Welt gekommen. Mein Großvater Hermann, ein bekannter Innendekorateur, war damals in Russland damit beschäftigt, Herrenhäuser und Paläste auszustatten. Mit seiner Frau bekam er insgesamt fünf Kinder: Nina (meine Mutter), Margot, Lisa, Gustav und Ferdinand.

 

Im Jahre 1914 heiratete Nina einen deutschen Maschinenbau-Ingenieur (meinen Vater), der sich in Russland auf Ausbildungsreise befand und beide beschlossen, ihre Hochzeitsreise am Rhein anzutreten. Aber da kam der Kriegsausbruch dazwischen und mein Vater wurde von den russischen Behörden festgenommen unter der Begründung, er sei Reserveoffizier und müsse sich im »Mobilmachungsfall« bei der kaiserlichen Armee melden. Er wurde nach Sibirien verbannt und seine frisch vermählte Ehefrau folgte ihm freiwillig.