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Studienbücher für soziale Berufe; 12

Hrsg. von Prof. Dr. Roland Merten, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Prof. Dr. Cornelia Schweppe, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, und Prof. Dr. Stephan Sting, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Prof. Dr. Anke Spies, lehrt Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Pädagogik und Didaktik des Elementar- und Primarbereichs an der Universität Oldenburg.

Prof. Dr. Gerd Stecklina, lehrt Geschichte und Theorie Sozialer Arbeit an der Hochschule München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 8644

ISBN 978-3-8252-8644-6

© 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung einer Illustration von Mauri Jakob Spies

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung: Pädagogische Ausgangslagen und intradisziplinäre Schnittstellen

1 Nachdenken über das pädagogische Handwerkszeug – Ein Fallbeispiel

2 Schlüsselbegriffe im pädagogischen Diskurs

2.1 Grundbegriffe in pädagogischer Tradition

2.1.1   Pädagogisches Handeln

2.1.2   Erziehung

2.1.3   Erziehungspartnerschaft

2.1.4   Bildung

2.1.5   Sozialisation

2.1.6   Lernen

2.1.7   Lebenswelt

2.2 Maximen im pädagogischen Alltag

2.2.1   Bedürfnisse

2.2.2   Lehren, Helfen, Begleiten und Rehabilitation

2.2.3   Verstehen – Diagnose, Fallverstehen und Förderung

2.2.4   Förderung

2.2.5   Prävention

2.2.6   Beratung

2.2.7   Partizipation

2.2.8   Integration und Inklusion

2.2.9   Netzwerke und Kooperation

3 Intersektionale Perspektiven

3.1 Diversität

3.2 Genderfragen im Bildungssystem der Migrationsgesellschaft

3.3 Transitionen – Übergänge im Bildungssystem intersektional betrachtet

3.3.1   Transitionen von der Kita bis zur Sekundarstufe I

3.3.2   Lebensplanerische Entwürfe und Verunsicherungen am Übergang von der Schule in Erwerbstätigkeit

3.4 Perspektiverweiterung: Anerkennung, Handlungsfähigkeit und Agency

4 Disziplinäre Schnittstellen und pädagogische Handlungsfelder in der Bildungslandschaft

4.1 (Kommunale) Bildungsverantwortung in der Bildungslandschaft

4.2 Settings der frühen Förderung und Elementarbildung in der Bildungslandschaft

4.2.1   Familienbildung als Rahmen für das System der Frühen Hilfen in der Bildungslandschaft

4.2.2   Familienhebammen als interdisziplinärer Baustein des Gesundheitswesens im System der Frühen Hilfen

4.2.3   Elementarbildung für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr – Kindertagesbetreuung in Krippe, Kindergarten und in der Tagespflege

4.3 Die Schule – Das pädagogische Handlungsfeld der Weichenstellung für gesellschaftliche Teilhabechancen

4.3.1   Die Primarstufe zwischen schulischer Eigenverantwortlichkeit, individueller Förderung und traditionellen Ansprüchen

4.3.2   Neue Bildungskonzepte im alten System – Erwartungen und Anforderungen an ganztägige Schulformate in Primar- und Sekundarstufe I

4.3.3   Ganztagsbildung

4.4 Schnittstellen in der Bildungslandschaft – Das Handlungsfeld Schulsozialarbeit

4.5 Jugendhilfe – Das pädagogische Handlungsfeld zur Sicherung von gesellschaftlichen Teilhabechancen

4.5.1   Jugendhilfe muss geplant werden

4.5.2   Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit

4.5.3   Jugendsozialarbeit und Jugendberufshilfe

4.5.4   Hilfen zur Erziehung

4.5.5   Kindeswohlsicherung – Inobhutnahme

4.5.6   Gemeinwesenarbeit

4.6 Erwachsenenbildung und Weiterbildung

5 AdressatInnen pädagogischer Arbeit – Entwicklungen und kritische Reflexion

5.1 Zwischen Haltung und Hilfe – Der Begriff der AdressatInnen

5.2 Zwischen Managementstrukturen und Ordnungsauftrag – Die Beziehung zwischen Förderung und Kontrolle

6 Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Entwicklungsperspektiven und Reflexionsbedarfe

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs

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Einleitung: Pädagogische Ausgangslagen und intradisziplinäre Schnittstellen

Wenn Bildung sowohl die berufliche Qualifikation für die Arbeitswelt als auch die Herstellung von Autonomie und sozialer Verantwortung umfasst, leisten viele Bereiche des alltäglichen Lebens einen Beitrag hierfür und erfordern folglich von Wissenschaft und pädagogischer Praxis die Überschreitung der Binnenlogiken von Bildungsinstanzen und -verständnissen (Giese/Wittpoth 2014; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010).

Diese Einführung möchte – ähnlich wie die beiden Türme auf dem Titel – teildisziplinäre Perspektiven miteinander verbinden, die zwar eigene Eingänge und separate Turmspitzen haben, aber die tragenden Elemente des Gebäudes und das Fundament miteinander teilen.

Uns ist bewusst, dass beispielsweise jeder einzelne Grundbegriff und jede Maxime einen eigenen Grundlagenband für sich beanspruchen kann. Für Unterkapitel, wie z. B. Schulentwicklung, Kinder- und Jugendhilfe, liegen bereits komprimierte Zusammenfassungen im Handbuchformat sowie auch weiter differenzierende Abhandlungen in vielen einzelnen Studien oder thematischen (Sammel-)Bänden vor. Zu diesen möchte unser Studienbuch einen Zugang ebnen.

Über unsere Fragen zum Weiterdenken möchten wir Studierenden auf ihrem Weg in eine künftige, stärker intradisziplinäre Auseinandersetzung Anregungen bieten, sich innerhalb der Diskurse der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen genauer einzuarbeiten. Über die Tipps zum Weiterlesen möchten wir zur weiteren, eigenaktiven Vertiefung anregen. Mit unserem Konzept der Fragen und Vertiefungstipps wollen wir vor allem neugierig darauf machen, sich so viel wie möglich an den Grundlagen und Gegebenheiten zu „reiben“, um einerseits die eigenen pädagogischen Handlungsspielräume zu entdecken und zu erweitern, aber auch andererseits die institutionellen Beschränkungen nicht unhinterfragt hinzunehmen, sondern an strukturellen Veränderungen mitzuwirken.

Innerhalb der einzelnen Kapitel verweisen kursiv gesetzte Begriffe auf zuvor oder im weiteren Verlauf erläuterte Begriffe. Sie werden von den Marginalien am Rand des Textes ergänzt. Diese studienpraktischen Hinweise machen jeweils die Grenzen des Buchkonzepts sichtbar, das vieles anregen kann, nur weniges ausführlicher erläutert und nichts abschließend zu erklären mag.

Andreas Gruschka (1996) war mit seiner Sammlung von Positionen zur Frage „Wozu Pädagogik?“ der „Zukunft bürgerlicher Mündigkeit und öffentlicher Erziehung“ auf der Spur und hat über die Kontextualisierung der Beiträge eine intra- und interdisziplinäre Zusammenschau von Antworten aus u. a. bildungstheoretischer, sozialpädagogischer, bildungssoziologischer und rechtssystematischer Perspektive vorgelegt. Wir haben gleichfalls eine Auswahl jener Positionen und Argumentati-onen zusammengetragen, die wir Studierenden gerne als Anregung für ihren Weg in die pädagogische Zukunft mit geben möchten. Wir denken also an jene LeserInnen, die ihre „Lust am Werden von Menschen oder an sich entwickelnden Verhältnissen“ (Thiersch 2005) durch ihr Studium fachlich fundieren wollen, die in der Schule Kindern und Jugendlichen aus der Begeisterung für ein Schulfach heraus etwas beibringen möchten, die aus Interesse an sozialen Zusammenhängen und im Anliegen einer chancengleichen Gerechtigkeit „Lust am Umgang mit etwas schwierigen und mühsamen Kindern“ (Thiersch 2005) haben oder sich vorstellen können, im Weiterbildungsbereich auch mit Erwachsenen zu arbeiten oder sich von den Herausforderungen der institutionellen Managementaufgaben angezogen fühlen.

Im auf die Einleitung folgenden ersten Kapitel setzen wir uns mit dem Erfordernis der Überwindung der auch 15 Jahre nach der Jahrtausendwende existenten Trennung zwischen Schulstrukturen und den sich an Familienförderung und begleitendem Hilfesystem orientierenden sozialpädagogischen Bildungsstrukturen anhand eines Fallbeispiels auseinander.

Im nachfolgenden zweiten Kapitel diskutieren wir aus intradisziplinärer Perspektive pädagogische Begrifflichkeiten und die damit verbundenen Themen, Aufgaben und Fragestellungen. Dafür treffen wir eine Unterteilung in Grundbegriffe in pädagogischer Tradition (Kap. 2.1) und Maximen im pädagogischen Alltag (Kap. 2.2), die als Grundsätze des Wollens und Handelns innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Diskurse in unterschiedlicher Intensität und Zugangsweise thematisiert werden. Wir beginnen mit dem pädagogischen Handeln, weil neben der zuvor genannten „Lust“ auch die Bereitschaft vorhanden sein muss, sich Kindern und Jugendlichen „als Sparringpartner zur Verfügung [zu] stellen“, weil deren „Groß-Werden […] auch Kampf, Auseinandersetzung“ beinhaltet. Dies bedeutet, dass PädagogInnen sich darauf einlassen wollen müssen und es zu ihrer Rolle gehört, auch bekämpft zu werden (Thiersch 2005). Thiersch folgert aus dem für die pädagogische Praxis notwendigen Verständnis, das „Leben in der Auseinandersetzung“ zu deuten, dass PädagogInnen in ihrem Selbstverständnis „nicht nur wohlmeinend und hilfreich“ sind, sondern „in der Auseinandersetzung um Lebensbewältigung“ agieren, ihre Position in Auseinandersetzung und Kampf gewinnen müssen. Dazu ist es notwendig, dass sie ein reflexives Verhältnis („Reflexibilität“) aufbauen, um ihr pädagogisches Handeln zu klären und sich auf „das Werden“ einlassen zu können (Thiersch 2005).

Welchen Anteil Erziehung, Bildung und Sozialisation sowie Lernen und Lebenswelt an diesem „Werden“ haben, wo die Begriffe verankert sind und wo ihre z. T. fließenden Übergänge dennoch sichtbar gemacht werden können, versuchen wir unter Rückgriff auf die pädagogische Tradition dieser Begriffe zu klären. Unser Anspruch kann weder der Ersatz des einen noch die Erweiterung des anderen sein, sondern soll vielmehr das systematische, begriffliche Fundament umreißen, das sich spätestens mit dem Lernbegriff und dem Lebensweltkonzept differenziert: In sozialpädagogischen Diskursen werden nur sehr selten der schulische Lernbegriff und in schulpädagogischen Diskursen so gut wie nie die sozialpäd-agogische Lebensweltorientierung diskutiert. Wir gehen davon aus, dass u. a. die gegenseitige Berücksichtigung von Lernbegriff und Lebensweltkonzept nicht nur hilft, gemeinsame pädagogische Konzepte zu formulieren und darin auch die Grenzen der Gemeinsamkeit zu markieren, sondern den fachlichen Perspektivrahmen z. B. für den Inklusionsdiskurs erheblich erweitern kann, aber auch eine Reihe kritischer Reibungspunkte beinhaltet und zugleich der Berücksichtigung sonderpädagogischer Fachkultur bedarf.

Für die „Maximen im pädagogischen Alltag“ gilt Ähnliches: Hier haben wir Stichworte zusammengefasst, die bislang teilweise als Grundbegriffe (z. B. Beratung, Hilfe) und teilweise als Diskurse (z. B. Partizipation, Kooperation) thematisiert werden, aber unseres Erachtens für jegliches pädagogisches Handeln als Reflexionshintergrund dienlich sind.

Sowohl die Grundbegriffe als auch die Maximen sind unserer Ansicht nach Schlüsselbegriffe, um pädagogische Diskurse zu erschließen und hinsichtlich ihrer Konnotationen und Abgrenzungen oder Besonderheiten zugänglich zu machen, um die pädagogische Bandbreite der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung in intradisziplinärer Perspektive weiter zu betrachten und Maßstäbe für die zuvor genannte Reflexivität zu ermitteln.

Der zweite Teil des Kapitels erweitert den Blick um die Begriffe, die pädagogische Analysen unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft verhandelbar machen (Diversity), sich mit Übergängen in Biografie und Bildungssystem befassen (Transitionen), ressourcenorientiert in anerkennender Absicht (Handlungsfähigkeit) individuelle Biografien in gesellschaftlichen Kontextualisierungen betrachten helfen und deren institutionelle Gebundenheit thematisieren.

Die intersektionalen Perspektiven des dritten Kapitels heben die gegenseitige, offenkundige oder verdeckte Bezogenheit der perspektivischen Teilbereiche hervor und subsumieren schulpädagogisch derzeit gebräuchliche Begriffe wie Heterogenität und Vielfalt unter dem international gültigen Verständnis von Diversity. Zugleich wollen sie Zusammenhänge aufzeigen, die den Rahmen für pädagogische Betrachtungen und Tätigkeiten vorgeben, mit denen die pädagogisch gewollten, tragfähigen Bindungen und sozialen Fertigkeiten gefördert, die Bewältigung kreativer und produktiver Aufgaben vermittelt sowie die Sinnerfüllung in einem selbstständigen Leben unter dessen lebensplanerischen Anforderungen ermöglicht werden sollen. Dafür klären wir zunächst den Zusammenhang zwischen Diversität und Erziehung und kommen exemplarisch zu Genderfragen im Bildungssystem der Migrationsgesellschaft, die wir entlang der Übergänge im Bildungssystem vertiefen. Aus der biografischen Perspektive gelangen wir von der Kindertagespflege bis zur Erwerbstätigkeit und münden im sozialpädagogischen Konzept der Handlungsfähigkeit, das aus anerkennungstheoretischer Perspektive die Ressourcen der Individuen in deren biografischem Verlauf in den Mittelpunkt stellt, deren mögliche temporäre Unterstützungsbedarfe von den normativen Prozessverläufen und Hilfeverständnissen der Vergangenheit abzugrenzen versucht und sich dafür auch der intersektionalen Perspektiven bedient. Hier soll deutlich werden, dass traditionelle und zu Beginn des 21. Jahrhunderts verwendete pädagogische Begriffe und Orientierungen eng miteinander verwoben sind und sich gegenseitig aufeinander beziehen.

Das vierte Kapitel kann, trotz seiner Ausführlichkeit, die gesamte Bandbereite der pädagogischen Handlungsfelder und ihren Entwicklungsbedarf nur andeuten und Ahnungen von Entwicklungsherausforderungen geben. Hier gehen wir auf die relativ neue Konstruktion der (kommunalen) Bildungslandschaft ein, in deren Rahmen die Settings der pädagogischen Angebote und Aufgaben angesiedelt sind und sich vernetzen sollen. Als Bestandteile der Bildungslandschaft stellen wir die Settings der frühen Förderung und Elementarbildung vor und skizzieren Schule als pädagogisches Handlungsfeld der Weichenstellung für gesellschaftliche Teilhabechancen. Als institutioneller Kontext, der föderalistisch geregelt ist, folgt sie biografisch auf die vorschulische Lebensphase. Die flankierenden Möglichkeiten zur Förderung individueller Bildungsverläufe durch die Jugendhilfe und deren Position im Gefüge der Bildungslandschaft werden anschließend erläutert. Dieser Abschnitt endet mit Hinweisen auf die Position der Erwachsenenbildung und einem Einblick in das sozialpädagogische Handlungsfeld der Gemeinwesenarbeit, die beide die vorangegangenen Handlungsfelder in der Praxis quasi flankierend einrahmen.

Im folgenden fünften Kapitel diskutieren wir die Frage der AdressatInnen pädagogischer Arbeit und erläutern das Aneignungskonzept des Diskurses. Damit sind wir in einem originär sozialpädagogischen Begriffskontext angekommen. Denn sowohl die AdressatInnen als auch die Aneignungsperspektive sind zentrale Bezugspunkte des sozialpädagogischen Diskurses und werden im schulpädagogischen Kontext noch nicht als solche reflektiert – wenngleich hier das Konzept des „adaptiven Lernens“ und des adaptiven Unterrichts möglicherweise Anknüpfungspunkte bieten könnte, weil beide Kontexte sich darauf beziehen, dass sich pädagogisches Handeln in seinen Konzepten und Absichten an seine AdressatInnen anpassen muss, um zu nachhaltigeren Wirkungen zu gelangen. Auch die Überlegungen zur pädagogischen Position innerhalb von Managementaufgaben und Ordnungsaufträgen ist im Kern zunächst eine sozialpädagogische Positionsbestimmung entsprechend des tradierten Mandats zwischen den Polen Hilfe und Kontrolle (Kessl 2006; Seifert 2013; Sengling 1996). Aus schulpädagogischer Perspektive bildet sich hier aber auch der ähnlich spannungsreiche und widersprüchliche Bogen zwischen Förderung und Disziplinierung ab, der die AdressatInnenschaft der SchülerInnen betrifft, die der Schulpflicht im selektiv agierenden institutionellen Rahmen unterworfen sind, damit sie gesellschaftliche Teilhabechancen erwerben können.

Wir schließen unsere Überlegungen im sechsten Kapitel mit einem Blick auf die sichtbaren pädagogischen Diskursperspektiven hinsichtlich der AdressatInnen, deren momentane Situation sich aus Traditionen und Visionen speist: Sie müssen sich zwischen diesen Polen positionieren – und haben nach dem Verständnis des lebenslangen Lernens kaum eine biografische Chance, den lebensalterübergreifenden, pädagogisch begründeten Visionen um ihr Wohlergehen zu entgehen, für das von ihnen Bildungsbereitschaft im Sinne von Motivation und Befähigung zum selbstorganisierten Lernen innerhalb gegebener Strukturen erwartet wird. Für diese Bildungsprozesse halten professionelle PädagogInnen Organisations- und Hilfekonzepte bereit, die Menschen bei der ständigen Anpassung und Erweiterung ihres Wissens begleiten wollen.

Die Ausführungen des Bandes verfolgen je nach Begriff und Kontext mal die sozialpädagogische und mal die schulpädagogische Perspektive, erweitern diese, wo es hilfreich scheint, um sonderpädagogische oder erwachsenenbildnerische Aspekte und müssen an vielen Stellen dort Halt machen, wo die Grenzen der teildisziplinären Zugänge sichtbar werden. Insofern steht die Betrachtung aus intradisziplinärer Perspektive noch ganz am Anfang ihrer Möglichkeiten und wird sich für diesen Band mit der Suche nach den Anschlussmöglichkeiten zufrieden geben müssen. Dafür haben wir entlang der tradierten Begriffe, der Maximen und neueren fachlichen Entwicklungen die künftigen Diskussionsstränge „aufzufädeln“ versucht – auch wenn dabei der (traditionelle) rote Faden nicht immer auf Anhieb sichtbar ist. Uns ist daran gelegen, die Kontexte von bildungs- und sozialpolitischen Zusammenhängen und deren biografische Konsequenzen für (vor allem junge) Menschen mit derzeit weit auseinanderklaffenden gesellschaftlichen Teilhabechancen sichtbar zu machen, weil diese jungen Menschen, die als AdressatInnen von Jugendhilfe und/oder Schule innerhalb des Bildungs- und Hilfesystems und seiner Institutionen „auf dem Weg“ sind, auf die Qualität und die Reflexivität des pädagogischen Handelns angewiesen sind.

Wir haben von der explizit historischen Perspektive Abstand genommen und nur auf vereinzelte Zugänge verwiesen – in der Hoffnung, dass auch so das Interesse an den weiteren historischen Kontexten geweckt werden mag. Rechtliche Grundlagen haben wir dort, wo sie nach unserer Ansicht von Belang sind, einfließen lassen, aber auf rechtssystematische Grundlegungen zugunsten der Darstellung von Diskurssträngen oder Kontroversen verzichtet – und hoffen, dass dennoch deutlich wird, wie wichtig die rechtliche Verortung für das Verständnis der pädagogischen Tätigkeiten ist. Manche Diskursbezüge müssen wir ohne Vertiefung in die studienpraktischen Hinweise verlagern, wie beispielsweise den Armutsdiskurs, die Frage nach den Entwicklungsaufgaben, den Resilienzdiskurs oder die internationalen Aspekte des Dargestellten.

Wir hoffen, dass unsere Angebote der Perspektiverweiterung zu interessanten Reflexionen anregen, der pädagogischen Theorie ebenso wie der pädagogischen Praxis, und deren Verhältnis vielleicht nützliche Impulse bieten kann und den Professionalisierungsprozess künftiger KollegInnen auch ohne die explizite Darlegung dessen, woran pädagogische Professionalität gemessen werden kann (Nike 2002), befördern mag.

1 Nachdenken über das pädagogische Handwerkszeug – Ein Fallbeispiel

Die Bedingungen der sich demografisch wandelnden Migrationsgesellschaft (Mecheril et al. 2010) verlangen nach Reformen innerhalb des Bildungs- und Hilfesystems. Dessen traditionelle Trennung zwischen schulischen Strukturen und den sich an Familienförderung und Hilfesystem orientierenden sozialpädagogischen Bildungsstrukturen erweist sich zunehmend als ineffektiv.

Ganz gleich, ob in Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege, Schule, Kinderschutz, Jugendarbeit, Erziehungshilfe, im kooperativen Hilfesystem der Jugendsozial- und Jugendberufshilfe oder am Übergang in den Beruf, in der Phase der Familiengründung, im Zusammenhang mit inhaltlichen Interessen oder beruflichen Umorientierungen von Erwachsenen oder während des Ruhestandes: Sofern die Aktivitäten und Angebote institutionell strukturiert vorgehalten werden, kommen pädagogisch motivierte Anliegen und Strukturen zum Tragen. Sie setzen die entsprechende Fachlichkeit voraus und lassen sich in ihrem Anspruch von zwischenmenschlichem Alltagshandeln, „Nachbarschaftshilfe“ oder marktwirtschaftlich motivierten Interessen abgrenzen.

„Hinter“ den pädagogisch motivierten Anliegen stehen theoretische Setzungen, Überlegungen und Argumentationen, Ideen, Wünsche und auch Verunsicherungen, die sich auf fachliche Ansprüche, herrschende Diskurse, fachliche Überzeugungen und politische Anliegen, Traditionen und Veränderungsbewegungen beziehen und das pädagogische Handeln der Fachlichkeit bestimmen.

„Vor“ den Angeboten und Strukturen stehen allerdings Menschen, die als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene im Erwerbsalter bzw. im Ruhestand so gefördert werden, dass sie den Anschluss an gesellschaftliche Gegebenheiten finden und ein möglichst selbstbestimmtes Leben im Einklang mit gesellschaftlichen Interessen führen können. Sie betreffen beispielsweise ein Kind, das entweder alleine oder gemeinsam, mit leiblichen oder sozialen Geschwistern, mit einem oder zwei leiblichen oder sozialen Elternteilen zusammenlebt. Vor diesem familiären Hintergrund, aber auch in Abhängigkeit zur Ausformung von dessen monetären oder soziokulturellen Kapitalressourcen und Erwerbsstrukturen, nimmt es eines von mehreren Formaten (Kindertagesstätte, Kindergarten, Tagesmutter) der regelmäßigen außerfamiliären Betreuung wahr und soll dort über einen bedingt variabel zu wählenden Zeitraum (vormittags, nachmittags, ganztags, stundenweise) und entlang einer breiten, auch trägerschaftlich (z. B. öffentliche bzw. freie Träger) bestimmten Konzeptvielfalt und/oder pädagogisch begründeten Theorien (z. B. reformpädagogischer Ansatz nach Montessori, Steiner, Situationsansatz, Reggiopädagogik, Waldpädagogik) hinsichtlich seiner sozialen, kognitiven und emotionalen Entwicklung gefördert werden. Ab dem Zeitpunkt der Schulpflicht mindert sich die Vielfalt der Formate und Konzepte erheblich, während sich die Erwartungen an das einzelne Kind vor allem auf dessen Leistungspotenzial konzentrieren. Von Beginn an sind die biografischen Möglichkeiten des Kindes mit jenen seines Umfeldes verknüpft. Die an das Kind gerichteten schulischen Leistungs- und Normerfüllungserwartungen werden von Unterstützungs-, Begleitungs- und Hilfestrukturen ergänzt.

Sowohl die schulischen Ansprüche als auch die flankierenden Möglichkeiten des Hilfesystems bauen auf dem fachlichen „Handwerkszeug“ des pädagogischen Handelns, auf dem Verständnis von Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lebenswelt auf. Für die innerhalb der Systeme tätigen Fachkräfte gilt es, dieses Verständnis im Rahmen des eigenen Professionalisierungsprozesses zu erwerben und dessen Nutzung einzuüben. Mit anderen Worten: Es ist nötig, immer wieder (neu) über das eigene fachliche Verständnis der erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffe nachzudenken und sich auch mit Bezug auf konkrete Einzelfälle immer wieder neu zu positionieren und das eigene Handeln zu reflektieren.

Für den Bereich der Erwachsenenbildung tritt die erzieherische Komponente des pädagogischen Handelns hinter den Anspruch, Bildungsprozesse anzuregen, zurück. Die AdressatInnen der pädagogischen Angebote gehören entweder zu den Erziehenden, deren Alltag und Unterstützungsbedarf auf ihrem eigenen Erzogen-Worden-Sein gründet, oder sie verfolgen als NutzerInnen der Erwachsenenbildung ausschließlich ein Bildungsinteresse im Kontakt mit der pädagogischen Fachlichkeit. Daher muss unseres Erachtens am Anfang dieser Einführung zunächst die Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten stehen. Das ist ein erfahrungsgemäß mühsames Unterfangen des theoretischen Nach- und Durchdenkens, das mit zunehmender Erklärungsdichte seine Komplexität immer weiter offenbart.

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Im Versuch, der antizipierten Abschreckung vorzubeugen, die beispielsweise die Komplexität des pädagogischen Handelns als grundbegriffliches Konstrukt in sich birgt, stellen wir den begrifflichen Erläuterungen ein Fallbeispiel voran. Es soll aus unterschiedlichen Perspektiven die Notwendigkeit der Reflexion pädagogischer Grundbegriffe und Maximen verdeutlichen.

Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern zwischen fünf und sechzehn Jahren muss den Familienalltag im Rahmen der Mittel staatlicher Alimentation bewältigen, da sie aufgrund psychischer Erkrankung nicht in der Lage ist, einen Teil des Familieneinkommens selbst zu erwirtschaften. Die Familie lebt also unter Armutsbedingungen, die Kinder sind durch die damit verbundenen sozialen Ausgrenzungsprozesse in ihrer Entwicklung bedroht und müssen einem hohen sozialen Belastungsdruck standhalten. Erschwerend zur Armut kommt hinzu, dass die Mutter erst als Erwachsene nach Deutschland eingewandert ist und sich seit Jahren im Umgang mit Institutionen (Ämtern und Schulen) nur mit Hilfe der Tochter verständigen kann. So hat die nun sechzehnjährige Tochter im Verlauf ihrer Schullaufbahn viel Unterricht in der Schule versäumt und Einschränkungen in den Möglichkeiten ihrer Bildungsbiografie erfahren, weil sie einen großen Teil der Verantwortung für die Bewältigung der Familienorganisation auf sich nimmt. Der vierzehnjährige Sohn der Familie verweigert seit einem Jahr, zunächst durch unentschuldigte Krankheit, später aufgrund daraus resultierender Schwierigkeiten der Leistungserfüllung und problematischer Konstellationen innerhalb seiner Peer-Group, die Erfüllung der Schulpflicht ebenso wie die als Sanktionen damit verbundenen Ordnungsmaßnahmen. Er wird keinen Schulabschluss erreichen.

Das jüngste Kind der Familie wird halbtags im Kindergarten betreut und dort in seiner Entwicklung bestmöglich gefördert, damit es nach seiner Einschulung im nächsten Jahr dem Anfangsunterricht in der Grundschule gut folgen kann. Die Bildungsbiografien der Kinder dieser Familie werden zunächst vom pädagogischen Handeln des Kindergartens und der Schulen bestimmt. Da die beiden schulpflichtigen Kinder in erheblichem Maß dem Unterricht fernbleiben, richten KlassenlehrerInnen und Schulleitung (entsprechend des generellen Konzeptes dieser Schule in Fällen von gehäuften Fehlzeiten) ihr pädagogisches Handeln an sanktionierenden Maßnahmen aus, die ihre erzieherische Absicht allerdings verfehlen.

Da die Fachkräfte der Kindertageseinrichtung aus den Verhaltensweisen des jüngsten Kindes auf Vernachlässigung im häuslichen Umfeld schließen, schalten sie die Jugendhilfe ein. Diese prüft die Situation und stellt der Familie eine Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) zur Unterstützung der Alltagsorganisation und zum Abbau der Überforderungssituation, in der sich die Mutter befindet, zur Seite. Die SPFH wird nach einem halben Jahr durch eine Erziehungsbeistandschaft für den 14-jährigen ergänzt. Beide Maßnahmen der Erziehungshilfe werden aber – trotz Beteiligung am Hilfeplanverfahren – innerhalb der Familie als Eingriff und Bevormundung wahrgenommen und erreichen mit ihren pädagogischen Handlungen nicht das beabsichtigte Ziel. Nach der Erklärung der Mutter, keine Hilfe zu benötigen, und nach der Entkräftung des Misshandlungsverdachts zieht sich die Jugendhilfe aus der Familie zurück und begründet diesen Rückzug mit der mangelnden Mitwirkungsbereitschaft der Familienmitglieder.

Der Fall wirft eine Reihe von Fragen auf, für deren diskursive (klärende, nicht absolute) Beantwortung wir die Auseinandersetzung mit den pädagogischen Grundbegriffen und Maximen benötigen. Diese erweitern wir anschließend durch die Reflexionen aus intersektionaler Perspektive sowie nachfolgend aus der Sicht der institutionellen Struktur, um sie schließlich mit dem Blick auf die AdressatInnen abschließend zu modifizieren:

images Woran wollen wir das pädagogische Handeln der VertreterInnen von Schule und Jugendhilfe messen?

images Welchen Erziehungsbedarf können wir für die einzelnen Kinder dieser Familie formulieren?

images Wie können wir den Verlauf der Bildungsbiografie der Jugendlichen beurteilen, ohne dabei ausdrücklich (bzw. in erster Linie) auf schulische Parameter zur Leistungsmessung zurückzugreifen?

images Über welche Stärken, Potenziale und Ressourcen verfügen die Kinder, die Mutter und das Familiensystem? Wie ist ihre Vernetzung in die und mit der sozialen Umwelt?

images Warum könnte der weitere Lernprozess des jüngsten Kindes gefährdet sein, wenn es demnächst in die Schule geht?

images Welchen Stellenwert müssen wir den Sozialisationsbedingungen, unter denen die Kinder dieser Familie aufwachsen, zumessen?

images Wie können wir die Lebenswelt dieser Familie angemessen rekonstruieren?

images Welcher Unterstützungsangebote bedarf die Mutter seitens sozialpsychiatrischer Dienste und Lernangebote der Erwachsenenbildung (z. B. Deutschkurs)?

images Welche Bedürfnisse dieser drei Kinder werden (nicht) hinreichend erfüllt?

images Welche Möglichkeiten des Eingriffs in als problematisch eingeschätzte Entwicklungen bieten Konzepte des Lehrens, der Hilfe, der Begleitung und der Rehabilitation?

images Welche fachlichen Kriterien müssen wir anlegen, um diesen Fall bzw. die vier darin enthaltenen Einzelfälle zu verstehen?

images Welche absehbaren Gefahren für die einzelnen Familienmitglieder lassen sich durch Maßnahmen der Prävention mindern?

images Welche Beratungsangebote können den einzelnen Familienmitgliedern helfen, ihre Situation möglichst selbstbestimmt verbessern zu können?

images Warum müssen die pädagogischen Unterstützungsangebote und -maßnahmen für die einzelnen Familienmitglieder an deren Partizipation (aktiver Teilhabe) an Auswahl- und Entscheidungsprozessen ausgerichtet sein?

images Welche Anforderungen stellt die Familienkonstellation und -situation an Konzepte, die der Integration dienen und Inklusion zum Ziel haben?

images Warum ist es erforderlich, dass die mit der Situation der Familie und ihren einzelnen Familienmitgliedern befassten Institutionen und Fachkräfte in Kooperation und Vernetzung zusammenarbeiten?

images Welche intersektionalen Differenzlinien sind in diesem Fall – auf welche Weise – miteinander verwoben?

images Warum ist für das jüngste Kind die Transition von der Kita in die Grundschule mit einem biografischen Risiko der Gefährdung verbunden und warum drohen die beiden Jugendlichen am Übergang von der Schule in den Beruf zu scheitern?

images Warum müssen wir die Handlungsfähigkeit der einzelnen Familienmitglieder für die Einschätzung ihrer Situation berücksichtigen?

images Welche pädagogischen Handlungsfelder haben für die in dieser Familie zu bewältigenden Anforderungen eine Expertise entwickelt, und welche neuen Konzepte für solche und ähnliche Probleme werden derzeit entwickelt?

– Wo verorten wir die Familie und ihren Bedarf an pädagogischer Unterstützung innerhalb der Bildungslandschaft?

– Welche Möglichkeiten bieten die Familienbildung und die frühen Hilfen für den weiteren Verlauf der Bildungsbiografie des Kindergartenkindes?

– Welche Reichweite kann die Elementarbildung für die Bildungsbiografie des jüngsten Kindes haben?

– Welche Förderungen und Herausforderungen erwarten das jüngste Kind in der Grundschule?

– Welche Möglichkeiten hat die Sekundarstufe, um schulfernen Jugendlichen eine anschlussfähige Bildungsbiografie zu ermöglichen?

– Welche Hilfe kann die Schulsozialarbeit zur Sicherung der Anschlussfähigkeit der beiden Jugendlichen bieten?

– Welche Unterstützung können die Kinder dieser Familie in den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit finden?

– Welche Chancen bietet die Jugendsozialarbeit für die Bewältigung des Risikos am Übergang von der Schule in den Beruf?

– Wie weit reich(t)en die Angebote der Hilfen zur Erziehung in diesem Fall und wie wurden die Maßnahmen im Hilfeplanverfahren gerechtfertigt?

– Gibt es begründete Anhaltspunkte, um Maßnahmen der Inobhutnahme zu durchdenken?

– Welche Funktion kann die Gemeinwesenarbeit im Hilfeszenario für diese Familie übernehmen? Welche Unterstützung kann der Mutter hinsichtlich ihrer Depressionen angeboten werden?

– Welchen Beitrag können die Angebote der Erwachsenenbildung für die Verbesserung der familiären Situation leisten?

images Warum haben die Hilfeangebote und -maßnahmen die Familienmitglieder als AdressatInnen von Bildungs- und Hilfeangeboten nicht erfolgreich erreichen können?

images Wie viel Hilfe und wie viel Kontrolle können in diesem Fall fachlich vertreten werden?

Diese exemplarischen Fragen geben zum einen die Gliederung dieses Buches wieder und gehören zum anderen ins Repertoire des pädagogischen „Handwerkszeugs“, mit dem wir fachliche Reflexionen im praktischen Kontext theoretisch klären können. Zwar können diese auch aus einem nicht fachlich reflektierten Alltagsverständnis von „Normalität“ heraus beantwortet werden, was aber eben keine fachliche Reflexion beinhaltet. Die fachliche Reflexion erfordert vielmehr die diskursive Auseinandersetzung mit den bereits durchdachten Positionen und empirischen Befunden, die unter den Bedingungen der praktischen Anforderungen die im Alltag handelnden Akteure von fachlich reflektierten unterscheidet.

2 Schlüsselbegriffe im pädagogischen Diskurs

2.1 Grundbegriffe in pädagogischer Tradition

2.1.1 Pädagogisches Handeln

Vor der pädagogischen Handlung steht die fachlich fundierte Einschätzung des künftigen Handelns, damit das Handeln als „pädagogisch“ bezeichnet werden kann. Es muss in Hinblick auf seine Wirkung mehrfach reflektiert werden: Innerhalb eines ausdifferenzierten Sinnzusammenhangs wird über Ziele, Bewertungskriterien und Einflussbedingungen sowie Konsequenzen nachgedacht, da man andernfalls nicht „weiß, was man tut“ – wenngleich das Handeln auch dann noch ein „Wagnis“ bleibt, da jede Strategie auch die Möglichkeit des Scheiterns beinhaltet (Hörster 1995, 38). Pädagogisches Handeln bleibt also stets von Ungewissheiten bestimmt, die sich aus sozialen, institutionellen und subjektbezogenen Bedingungen ergeben.

Die Sinnhaftigkeit einer pädagogischen Handlung muss demnach einerseits im Voraus antizipierbar sein, obwohl sie andererseits erst in der Rekonstruktion ihres Sinns tatsächlich geklärt werden kann. Um dieses Dilemma erfassen und diskutieren zu können, schlägt Helsper (1995) ein mehrperspektivisches Schema vor, mit dessen Hilfe er pädagogisches Handeln „als interaktiv-asymmetrisches Vermittlungsverhältnis in der Spannung von Fallverstehen und subsumtivem Regelwissen“ (Helsper 1995, 31) beschreibt.

Einzelfallbezug

Pädagogisches Handeln dient in diesem Verständnis sowohl der Allgemeinbildung einer „Person“ als auch ihrer Selbstbildung, hat zwischen kollektiven und individuellen Ansprüchen zu vermitteln, beinhaltet ebenso Erziehung wie Unterricht, ist abhängig von Sozialisationsbedingungen und muss Entwicklung berücksichtigen.

Wenngleich sich eine Reihe von methodischen Umsetzungen pädagogischen Handelns nennen lassen (z. B. Unterrichten, Beraten), so bestimmt doch die stets offene Zukunft (Helsper 1995) dessen, was die AdressatInnen pädagogischen Handelns für sich selbst aus dem ihnen Angebotenen schlussfolgern, annehmen oder umsetzen, seinen Ausgang.

Absichten

Die Wirkungen der Handlung sind demnach immer ins Ungewisse verlegt, weil nicht nur die nachhaltige Wirkung des Beabsichtigten, sondern auch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen pädagogischen Handelns in die notwendige Reflexion seiner Umsetzungen einbezogen werden müssen.

Im Versuch, pädagogisches Handeln unabhängig vom jeweiligen Handlungsfeld zu definieren, ist, Giesecke (2007) zufolge, die Gemeinsamkeit jeglichen pädagogischen Handelns die über formalisierte und nicht formalisierte Lernanreize vermittelte Veränderungsabsicht von Menschen oder deren sozialen Bedingungen. Für die Klärung solcher Veränderungsabsichten benötigen die pädagogisch Handelnden Orientierungen, die sowohl der Auseinandersetzung mit dem individuellen Gegenüber und seiner biografischen Gewordenheit sowie seinen Bedürfnissen als auch der Beschäftigung mit gesellschaftlichen oder institutionellen Schieflagen und sozialen Ungleichgewichten gerecht werden können:

„Der Pädagogik wächst […] die Aufgabe zu, in sorgfältigen Beschreibungen von Lern- und Bildungsmilieus, von Situationen und biographischen Verläufen, von anthropologisch ermittelbaren Grenzen und Risiken das Normalitäts-Spiel der Kultur im Umgang der Generationen miteinander zuverlässig zu kommentieren und aufzuklären.“ (Mollenhauer 1996a, 34)

pädagogische Beziehung

Neben Absichten, Wirkungen und Konsequenzen muss auch die mit pädagogischem Handeln verbundene Beziehungsebene reflektiert werden. Dafür bedarf es orientierender Maßstäbe, an welchen die mit pädagogischem Handeln verbundenen kognitiven Prozesse, emotionalen Komponenten, sozialen Entwicklungen und individuellen Beziehungen der direkt Beteiligten sowie der auf administrativen Ebenen indirekt steuernden AkteurInnen gemessen werden können: Ein möglicher Maßstab für pädagogisches Handeln auf der Beziehungsebene kann beispielsweise der Umgang mit bzw. Ausdruck von Machtverhältnissen sein, ein anderer kann auf der Ebene der kognitiven Wissensvermittlung die Deskription der Lernergebnisse sein.

Verantwortung

Bindet man pädagogisches Handeln enger an Erziehung, so ist zu bedenken, dass man im pädagogischen Setting nicht nicht-erziehen, aber auch nicht zweifelsfrei steuern kann: Pädagogisches Handeln im Erziehungskontext ist immer zugleich intentionales „Versuchshandeln, das in der Absicht der Einwirkung auf andere Personen und in der Erwartung des Eintritts wahrscheinlicher Effekte vollzogen wird“ (Lüders 2001, 945). Pädagogisches Handeln muss demnach stets dem Prinzip der Verantwortbarkeit folgen und soll nur am Nutzen der AdressatInnen ausgerichtet sein (Schaarschuch 2010). Giesecke (2007) zufolge muss es aber immer auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Interaktion zur Ermöglichung von Lernen und in der Reflexion von deren Angemessenheit betrachtet werden.

Persönlichkeitsentwicklung

Wenn über pädagogisches Handeln innerhalb zur jeweiligen Zeit geltender Normen und gesellschaftlicher Bedingungen – also innerhalb der epochal entstandenen Umstände – Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt werden (sollen), dann bilden – bezogen auf Kinder und Jugendliche – nicht nur Lernen, sondern auch Erziehung und Bildung die Hintergründe und Anlässe für pädagogisches Handeln. Die Bedingungen pädagogischen Handelns sind u. a. so, wie es Schleiermacher bereits 1826 mit seiner Frage nach Antrieben, Absichten und Überprüfungen der pädagogischen Einwirkung formuliert hat, zu reflektieren: „Was will eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, das Resultat der Tätigkeit entsprechen?“ (Schleiermacher 1826/1983, 15)

Wie aber die pädagogische Handlung als „konstituierende Hilfe […] beim Erwerben und Fördern der Fähigkeiten, sich selbst zu bestimmen und selbst tätig zu werden“ (Bokelmann 1979, 128) im Einzelnen und im Konkreten aussieht, hängt immer vom Kontext der Handlung ab. Auf der Ebene der Grundbegriffsklärungen muss die Konkretisierung offen bleiben, weil sich die pädagogische Handlung auf ein konkretes Verhältnis zwischen jenen, die die „Fähigkeiten – wenn auch immer nur bedingt – schon erworben haben, und denjenigen, die sie erst erwerben müssen, ihrer nicht mehr gewiß sind oder sie wieder eingebüßt haben“ (Bokelmann 1979, 128) bezieht.

2.1.2 Erziehung

Erziehungsabsichten

Für die pädagogische Einwirkung des professionellen pädagogischen Handelns wird mit Bezug auf Kinder und Jugendliche (z. T. auch synonym) der Erziehungsbegriff verwendet (Ludwig 2000). Außerdem wird er alltagssprachlich für den intentionalen, (meist) elterlichen Umgang Erwachsener mit Kindern und Jugendlichen gebraucht. Als grund- und sozialrechtlich zu schützendes Gut ist Erziehung u. a. auch zur Prävention möglicher Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung oder individuellen Schädigungen in institutionellen Kontexten verankert, deren Maxime auch im Widerspruch zum elterlichen Erziehungsverständnis stehen können.

Erziehungsauftrag

Das Grundgesetz hält den Erziehungsauftrag in Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes fest und verbindet ihn mit der Verpflichtung zur Sicherstellung von förderlichen Rahmenbedingungen durch die (staatliche) Gemeinschaft. In § 1 des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) wird diese Position bekräftigt:

„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ (§ 1 SGB VIII)

Die Verpflichtung zur Wahrung des Rechts auf Erziehung wird durch das SGB VIII in die Verantwortung der Jugendhilfe gelegt. Die hier berücksichtigte enge Verbindung zwischen Erziehung und deren mögliche Gefährdung durch Bedingungen innerhalb der Lebenswelt des Individuums, die seitens der Jugendhilfe gemildert werden können, weist darauf hin, dass Erziehung ein komplexes Unterfangen ist, das besondere Aufmerksamkeit verdient.

Gewaltverbot

Die UN-Kinderrechtscharta betont in Artikel 7 „das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens“ und verweist darauf, dass im Erziehungskontext durchaus auch Gefahren für Kinder liegen können, wenn Erwachsene ihr Erziehungsverständnis durch Formen körperlicher und seelischer Gewalt umzusetzen versuchen.

(Auch) Schule hat einen rechtlich fixierten Erziehungsauftrag, der über die Schulgesetzgebung der Länder transportiert wird, aber durchaus kontrovers zum elterlichen Erziehungsprimat stehen kann.

Anschlussfähigkeit

Als Grundbegriff beschreibt Erziehung eine „intentionale Tätigkeit, die sich darum bemüht, Fähigkeiten von Menschen zu entwickeln und in ihrer sozialen Anschlussfähigkeit zu fördern“ (Luhmann 2002, 15). Damit ist gemeint, dass Erziehung

„dasjenige Handeln [ist], in dem die Älteren (Erzieher) den Jüngeren (Edukanden) im Rahmen gewisser Lebensvorstellungen (Erziehungsnormen) und unter konkreten Umständen (Erziehungsbedingungen) sowie mit bestimmten Aufgaben (Erziehungsgehalten) und Maßnahmen (Erziehungsmethoden) in der Absicht einer Veränderung (Erziehungswirkungen) zur eigenen Lebensführung verhelfen, und zwar so, daß die Jüngeren das erzieherische Handeln der Älteren als notwendigen Beistand für ihr eigenes Dasein erfahren, kritisch beurteilen und selbst fortführen lernen“ (Bokelmann 1970, 185f.).

Erziehungsdialog

Wenngleich das Erziehungsverhältnis von den Erziehenden bestimmt wird, die wollen, dass sich die zu Erziehenden (Edukanden) „die Gehalte der Absichten der Erziehung in einem aktiven Prozess zu eigen machen“ (Vogel 2008, 120) sind die so Erzogenen für das Gelingen des Erziehungsprozesses mitverantwortlich. Erziehung ist also immer als dialogische Interaktion zu denken, deren mögliches Scheitern einkalkuliert werden muss (Vogel 2008). Vogel betont, dass es sich beim Erziehungsbegriff um ein „Denkmodell“ handelt, das auf „Annahmen über die prinzipielle Intentionalität und Reflexivität menschlichen Handelns“ zurückgeht, sich also an „selbst gewählten Sinnsetzungen“ (Vogel 2008, 120) orientiert und sich argumentativ mit Sinnsystemen auseinandersetzen kann.

Auch die Gesetzgebung geht von einer zweifelsfreien Erziehungsrelevanz aus und hält dies in der zuvor zitierten Generalklausel im § 1 des SGB VIII als Leitnorm fest, die ausnahmslos alle jungen Menschen in den Blick nimmt, ihre Eltern berücksichtigt und die Jugendhilfe in die Pflicht nimmt. Inwiefern sich hieraus aber ein subjektiver Rechtsanspruch auf Förderung bzw. Erziehung ergibt, ist umstritten. Vor allem der weite Erziehungsbegriff und der Respekt vor den Lebensentwürfen und Lebenslagen von Menschen sind hierfür entscheidend (Münder et al. 2009, 64f.).

Erziehungsbedarf

In die gesetzlichen und fachlichen Definitionsbestimmungen von Erziehung finden auch Annahmen von Kant (1803/1983) Aufnahme, der davon ausging, dass der Mensch nur durch Erziehung zum Menschen werden könne und dass man berücksichtigen müsse, dass der Mensch nur durch Menschen erzogen werden kann, die ebenfalls erzogen worden sind und die in der Lage sind, eigene Erfahrungen und Erkenntnisse weiterzugeben (Kant 1803/1983).

Erziehungshandeln

Mit seinen Überlegungen steht Kant am Anfang einer historischen Auseinandersetzung, in deren diskursivem Verlauf nachvollzogen werden kann, dass die Problematik der „Unsichtbarkeit von Erziehung“, die der „Perspektivität von Erziehungsvorstellungen“, ihre „Flüchtigkeit“ und die Diskrepanz zwischen „Erziehungssemantik“ und „Realität“ (Winkler 1995, 56f.) in ihrer Komplexität kaum fassbar sind. Die Interdependenzen dieser Bausteine sind aber zugleich die Herausforderung, sich professionell mit Fragen der Erziehung auseinanderzusetzen. Erziehungshandeln selbst bleibt demnach zumeist unsichtbar – abgesehen von tätlichen Gewalthandlungen, die unrechtmäßig in erzieherischer Absicht vorgenommen werden.

2.1.3 Erziehungspartnerschaft

pädagogische Professionalität

Die Abhängigkeit des Erziehungsverständnisses von epochalen Wandlungen zeigt sich u. a. in der Diskussion um „Erziehungspartnerschaft“ zwischen pädagogischen Institutionen und Eltern (Textor 2007). Ging Giesecke 1987 noch davon aus, dass sich pädagogisches LehrerInnenhandeln allein auf Lernen durch Unterrichten reduzieren lässt, wird pädagogische Professionalität der Gegenwart eng an ein Konstrukt von Erziehung im institutionellen Kontext gebunden. Sicher ist zwischen familialer und schulischer Erziehung zu differenzieren, aber mit der Idee (von) der Erziehungspartnerschaft wird versucht, die individuelle Seite von Erziehung in der Familie mit der universellen Seite der Erziehung durch schulische Interaktionen und Settings zu einer politischen Aufgabe der Zukunftssicherung und normativen Einigung zusammenzuführen.

pädagogische Ziele

Das Anliegen besteht darin, übergeordnete, institutionell und strukturell zu verantwortende Intentionen durch Kontrakte zu legitimieren und in den privaten Raum der Familie zu überantworten. Teil der Erziehungspartnerschaft sind auch pädagogische Lehrkräfte, die die angenommene moralische Einheitlichkeit pädagogischer Zielvorstellungen ebenso wie andere pädagogische Fachkräfte und Ehrenamtliche umsetzen sollen.

Erziehungspraktiken