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Günter-Christian Möller

Verschollen in
Australien

Prolog

Sie wusste nicht, wie weit es noch war. Bisher war sie immer davon überzeugt gewesen, dass sie eine erstklassige Kondition hatte. Aber heute schien es so, als würde sie damit an ihre Grenzen stoßen. Gestern Abend hatte sie beschlossen, von der Farm zu verschwinden. Endlich hatte sie in Erfahrung gebracht, was sie wissen wollte. Schon seit einer Woche hatte sie den richtigen Verdacht gehabt. Aber Britta hatte ihr erzählt, dass sie einmal beim Saubermachen aus Neugier eine Schublade einer alten Kommode geöffnet hatte und dort zwei alte Pässe fand. Britta hatte ihr die Namen aus den Pässen genannt und sofort hatte sie eine Assoziation in ihren Gedanken gehabt. Aber es dauerte dann noch ein paar Minuten, bis sie sich wieder an alles erinnern konnte. Sie hatte immer schon Polizistin bei der Kriminalpolizei werden wollen und die Ausbilder konfrontierten sie manchmal mit einigen alten Fällen. Die Namen aus den Pässen waren ihr schon einmal bei genau einem dieser alten Fälle begegnet.

Eigentlich war sie nicht nach Australien gekommen, um ihre gute Kondition zu testen. Sie war als Privatdetektivin hier. Eine Familie vermisste ihre Tochter und die Spur hatte zu dieser Farm geführt. Niemand wollte jedoch das Mädchen dort gesehen haben. Gestern hatte ihr Britta erzählt, dass sie bisher gelogen hatte. Denn die vermisste Person, eine Ann-Christin Meyer, wäre doch dort gewesen. Allerdings durfte niemand etwas über diejenigen erzählen, die wieder weggingen. Das war eine von den vielen Regeln, an die sich die Bewohner der Farm halten mussten. Der Führer der Farm hatte endlich erkannt, dass Belinda dort nicht wieder gesund werden konnte und ließ sie gehen. Ein Glücksfall für sie und ihren Fall. Jetzt würde sie endlich Hilfe von der australischen Polizei bekommen. Doch plötzlich wollte man sie nicht mehr weggehen lassen. Der Leiter hatte ständig neue Ausreden, sodass die Ortschaft für sie unerreichbar blieb: Die Autos hätten Defekte, die Straße dorthin wäre im Moment gesperrt. Er müsse woanders hinfahren, und er könne sie nicht alleine durch die Steppe marschieren lassen, das sei zu gefährlich. Immerhin sei es ein Weg von über dreißig Kilometern bis zum nächsten Ort.

Aber heute Nacht war sie endlich aufgebrochen. Sie hatte einfach ihren kleinen Rucksack mit zwei Wasserflaschen, einem Stückchen Brot und ihrem restlichen Geld mitgenommen. Man hatte sie bei ihrer Ankunft nachdrücklich überredet, ihre Papiere und Wertsachen zur sicheren Verwahrung dem Leiter zu übergeben. Niemand sollte hier in Versuchung geraten, die privaten Sachen der anderen an sich zu bringen. Sie hatte sich darauf eingelassen, weil sie nicht auffallen wollte, denn wenn man sie gleich wieder weggeschickt hätte, dann hätte sie hier gar nichts herausbekommen. Doch später waren alle ihre Versuche, wieder an ihre Papiere zu kommen, fehlgeschlagen. Auch da hatte man ihr ständig irgendwelche dummen Gründe genannt, warum das nicht möglich sei.

Nun konnte ihr das jedoch egal sein, denn sie war der Straße, die zur Ortschaft führte, in der Dunkelheit gefolgt. Zunächst war sie nur langsam vorangekommen, dann jedoch in der Dämmerung ging es schneller. Irgendwann am Vormittag war jemand von der Farm mit einem der beiden Autos vorbeigefahren. Sie hatte sich hinter einigen Büschen unsichtbar gemacht, denn sie wollte gar nicht wissen, was man von ihr wollte. Sie hatte die Nase gestrichen voll von den Farmleuten und ließ das Auto passieren. In ihrem Versteck, einer flachen Bodensenke, hörte sie das Geräusch des Autos in der Ferne verschwinden, und entschloss sich, einen Umweg zur Ortschaft in Kauf zu nehmen. Sie traute den Farmleuten zu, sie mit Gewalt zur Farm zurück zu bringen. Und sie konnte nicht ausschließen, dass sie zu Schlimmerem bereit waren. Sie dachte an die Namen, die Britta ihr genannt hatte. Das waren alles Namen aus einer sehr alten dunklen Vergangenheit. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, denn der Weg durch die Steppe war schon schlimm genug.

Sie war jetzt schon über acht Stunden unterwegs und die Sonne schien unerbittlich auf sie herab. Dank ihrer Uhr hatte sie jedoch einen halbwegs zuverlässigen Kompass. Es war ein Geschenk ihres Vaters gewesen und auf der Rückseite war ihr Name eingraviert.

Das Gelände war jetzt hügeliger und felsiger, mit viel Gebüsch und kleineren Bäumen dazwischen. Sie hatte die Straße bewusst verlassen, denn von hier oben hatte sie einen guten Blick über die Ebene. Leider kam sie hier langsamer voran. Der Hügel zu ihrer linken Seite bäumte sich immer steiler und höher hinauf. Eine Felswand von zwanzig Metern ragte links vor ihr aus der Ebene. Rechts von ihr in etwa einem Kilometer Entfernung erhob sich eine ähnliche Anhöhe. Irgendwo dort musste die Straße verlaufen. Ein kleines Wäldchen umlagerte den dortigen Hügel. Es kam ihr so vor, als ob dort etwas zwischen den Bäumen blitzte. Irgendeine Lichtreflexion, dachte sie. Sie nahm ein kleines Fernglas aus ihrer Tasche und schaute hindurch. Ja, dort lauerte jemand auf sie. Er hatte sein Auto geschickt unter den Bäumen versteckt. Und sie hätte keine Chance gehabt, ihn zu entdecken, wenn sie den Weg entlang der Straße genommen hätte.

Aber auf dieser Seite hatte sie keine Möglichkeit, bei Tageslicht ungesehen in die Ebene hinaus zu gelangen, in der die Ortschaft lag. Sie überlegte, was sie nun tun sollte. Entweder musste sie um den Hügel herum und auf der andern Seite in Richtung Ortschaft gehen oder sie musste hier warten, bis es dunkel war, und sich dann auf den Weg machen. Aber sie war jetzt schon ziemlich durstig und müde. Würde sie solange durchhalten?

Sie beschloss, um den Hügel herum zu gehen und ihn ein Stückchen hinaufzuklettern, um herauszufinden, wie weit es noch bis zur Ortschaft war. Eine halbe Stunde später hatte sie etwa dreißig Meter mehr an Höhe gewonnen und konnte jetzt auch den Weg zurück zur Farm deutlich erkennen. Zur anderen Seite hin öffnete sich ihr ein weiter Blick in die Ebene. Dicht am Horizont sah sie ein paar dunkle Flecken. Das mussten Häuser sein. Dort in der Nähe lag die Ortschaft von der aus sie vor drei Wochen zur Farm gefahren waren. Es mochten vielleicht acht oder mehr Kilometer sein, die noch vor ihr lagen.

Sie blickte noch einmal zum Weg, wo ihr Verfolger mit seinem Auto stand. Es näherte sich ein zweiter Wagen, ein Auto, das sie nicht kannte. Jemand stieg aus und ging zu dem versteckten Wagen. Auch aus diesem stieg eine Person, und ein Hund war ebenfalls dabei. Dann beugte sich jemand zu dem Hund herab und gab ihm irgendetwas zu fressen. Nein, es war ein Kleidungsstück, an dem der Hund schnüffelte. Dann stieg der Mann wieder in das Auto ein und fuhr zurück.

„Verdammt, sie wollen dich suchen“, dachte sie. Wer war der andere Mann? Konnte es sein, dass sie sich Sorgen um sie machten? Wollten sie sie vielleicht nur wieder zur Farm zurückbringen? Sie bekam Angst. Wie lange würde der Mann mit dem Hund wohl brauchen, um sie hier aufzuspüren? Sie überlegte fieberhaft, was sie jetzt noch machen konnte, um aus dieser Zwickmühle heraus zu kommen. Wenn der Mann genügend zu trinken hatte und gut zu Fuß war, dann würde er sie in einer oder zwei Stunden gefunden haben. Es gab noch gut vier Stunden Tageslicht. Die musste sie nutzen, um den Mann mit dem Hund in die Irre zu führen. Dann musste sie sich noch etwas ausruhen, bevor sie es in der Nacht durch die Ebene zum Ort schaffen könnte. Das war ihr Plan.

Eine halbe Stunde später machte sie sich auf zum nächsten Hügel, der etwa einen halben Kilometer entfernt von ihrem vorherigen Beobachtungsposten lag. Sie war jetzt noch weiter von der Straße entfernt. Dann lief sie einen knappen Kilometer wieder zurück parallel zur Straße durch recht unübersichtliches Gelände. Es ging ständig hoch und runter. Sie wollte ein Viereck ablaufen und wählte bewusst ein Gelände aus, das für Hunde schwer zu bewältigen war. Es ging darum ihren Verfolger zu erschöpfen und zu verwirren. Schließlich schlich sie an einer langen Felswand entlang. Das war die geeignete Stelle, um ihrem Verfolger zu entkommen. Sie suchte sich eine Stelle, an der sie hinaufklettern konnte. Es ging nur etwa fünf Meter steil hinauf. Diese Stelle war unmöglich für jemanden ohne Klettererfahrung zu bewältigen. Erst recht nicht von jemandem, der noch einen Hund dabei hatte. Aber sie ging zunächst weiter und suchte sich eine Stelle, an der sie ihren Verfolger passieren konnte, um in seinen Rücken zu gelangen.

Dann wartete sie und schließlich hörte sie ihn und seinen Hund. Die Stelle war so günstig gewählt, dass sie ihn auch sehen konnte, denn er kam den Weg entlang, den sie vor etwa anderthalb Stunden gelaufen war. Er hatte jedoch nicht nur einen Hund, sondern sogar ein Gewehr dabei. Wegen der großen Entfernung erkannte sie den Mann zwar nicht. Aber sie spürte, dass er keine freundlichen Absichten hatte. Sie ließ den Verfolger passieren und ging dann hinüber zu dem Weg, den er gekommen war und auf dem auch sie hierher gelangt war. Zum Glück bellte der Hund ab und zu. So wusste sie, dass der Mann ihrem Weg immer noch folgte. Sie nahm jetzt den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Nach zehn Minuten bog sie wieder ab. Der Weg, den sie jetzt beschritt, vollendete eine Acht, die an der Felswand, die sie sich ausgesucht hatte, endete. Der Hund würde der Spur folgen, die sie schon vor einer halben Stunde hier hinterlassen hatte. Jetzt kletterte sie die fünf Meter hinauf.

Sie wartete auf dem Hügel und sah dem Mann aus ein paar hundert Metern Entfernung zu, wie er mit dem Hund in dem Irrgarten nach ihr suchte. Nach einer weiteren halben Stunde hatte er das Zentrum der von ihr abgelaufenen Acht erreicht. Er schien zu überlegen und entschloss sich eine Pause zu machen. Schließlich wurde ihm klar, dass er sie offensichtlich verloren hatte. Er wählte den Weg zur Straße und beratschlagte sich dort mit dem Mann, der im Auto gewartet hatte, um die Ebene zu beobachten. Erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass beide Autos in Richtung Farm fuhren. Sie trank noch die Hälfte der zweiten Flasche und suchte sich dann einen Weg hinunter zum Anfang der kahlen Ebene. Dort wartete sie, bis es anfing zu dämmern.

Im grauen Lichtschein der schon untergegangenen Sonne machte sie sich auf den Weg in die Ebene. Als es ganz dunkel geworden war, sah sie die Lichter in weiter Entfernung. Sie hatte etwas Angst davor, in der Dunkelheit in irgendwelche Löcher zu treten. Doch es war leichter als sie gedacht hatte. Der Mond spendete etwas Licht und es war angenehm kühl und fast windstill. Eine Zeitlang begleiteten sie ein paar Schafe und blökten vor sich hin. Doch schließlich hatte sie sogar den Weg zum Ort erreicht. Die Hindernisse auf dem Weg waren noch gut genug zu erkennen. Nach knapp zwei Stunden konnte sie die Konturen der ersten Häuser sehen.

Sie kam an die Straße, die in den Ort hineinführte. Erleichtert ging sie auf ihr entlang. Ihr kam der Gedanke, ob sie nicht einfach ins erste Haus gehen sollte. Entspannt lächelte sie und war schon auf dem Weg zur Tür des ersten Hauses, als ein Auto langsam die Straße entlangfuhr und plötzlich anhielt.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Sie schaute sich um und sah das Fahrzeug vor der Pforte stehen. Die Scheibe wurde herunter gekurbelt und ein Kopf war im Innern zu erkennen. Sie konnte das Gesicht zwar nicht sehen, fühlte aber unbändige Erleichterung, denn sie kannte diese Stimme nicht. Es gab so viel, was sie jetzt gerne gesagt hätte. Aber als sie den Mund öffnete, sagte sie nur:

„Ich bin den ganzen Tag gelaufen und habe entsetzlichen Durst.“

„Steigen sie doch ein. Ich habe hier immer zwei Flaschen zu trinken dabei. Eine ist noch ganz voll“, sagte eine freundliche Stimme.

Sie ging auf das Auto zu, die Tür wurde von innen geöffnet und sie stieg ein. Sie blickte dem Fahrer ins Gesicht und fühlte, wie sich ganz plötzlich Kälte in ihr ausbreitete. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Sie wusste nicht, warum. Das Gesicht des Mannes zeigte keine Freundlichkeit, sondern nur Triumph, so als ob ein Jäger seine Beute gefangen hätte.

Ihre Hand griff hastig zum Türöffner und ihr Puls begann zu rasen. „Ich muss hier wieder raus!“ Dieser Gedanke schoss durch ihr Gehirn. Eine Hand griff plötzlich kraftvoll auf ihre linke Schulter. Sie wollte schreien. Doch sie konnte nicht mehr atmen, denn ein beißender, scharfer Geruch drang in ihren Mund und ihre Nase. Sie wollte noch mit ihrer rechten Hand an ihren Mund fassen und stieß auf eine fremde Hand. Sie atmete in einen Wattebausch. Dann wurde es um sie herum ganz schnell dunkel und schwarz.

1

Irgendwie hatte es jemand aus der Reisestelle seines Instituts geschafft, aus seinem Flug von Frankfurt nach Brisbane in Australien eine Bahnreise von Hamburg nach Frankfurt zu machen. Vielleicht lag es daran, dass er einige teure Präzisionsgeneratoren dort in Australien abnehmen sollte und das als Grund für diese Reise angegeben hatte. Anscheinend hielt man es in der Verwaltung für unmöglich, dass derartige Geräte in Australien hergestellt werden konnten. Die Geräte waren zugegebenermaßen auch recht ausgefallen, weil sie von dem Forschungsinstitut gebraucht wurden, in dem er, Jonas Tjerne, arbeitete. Als er die Tickets für die Reise vor drei Tagen bekam und die Reisestelle in seinem Institut auf diesen Fehler aufmerksam machte, wollte man zunächst nicht glauben, dass man einen Fehler gemacht hatte. Nach fast einer halben Stunde hatte er den Sachbearbeiter endlich überzeugt und der beeilte sich mächtig, den Fehler wieder zu korrigieren.

Jetzt stand er vor der Sicherheitskontrolle für das Handgepäck und die Kleidung. Vor ihm wartete ein etwa sechzig Jahre alter Türke in der Schlange. Schließlich war der Mann an der Reihe und ging durch den Metalldetektor. Die Anlage löste aus und der Mann sah irritiert zum Kontrolleur. Der schien selber ein südländischer Typ zu sein und schaute den Türken abschätzig von oben bis unten an. Ein schelmischer Blick blieb an seinem Gürtel hängen.

„Die Hose“, sagte er und schaute dem alten Mann streng ins Gesicht.

„Was Hose? Habe kein Geld in die Hose.“, erwiderte der Alte.

„Die Hose. Ausziehen“, sagte der Kontrolleur streng und bestimmt.

„Was? Hier?“

„Ja, hier! Wo sonst. Die Hose ist gefährlich“

Der Mann fing an, die Schnalle an seiner Hose aufzumachen. Es schien so, als ob er die Hose tatsächlich ausziehen würde. Jonas fand das unerhört und meldete sich zu Wort:

„Das ist doch die Höhe! Einen alten Mann die Hose ausziehen lassen. Noch dazu in aller Öffentlichkeit. Würden Sie sich etwa so behandeln lassen?“, meinte er empört. Ein anderer Kontrolleur beobachtete seinen Kollegen nun misstrauisch.

„Das war doch nur ein Scherz“, meinte der Kontrolleur enttäuscht.

„Sie können die Hose anbehalten, nur den Gürtel auf das Band legen und dann noch einmal durch den Detektor gehen.“

Der alte Mann bestand den Test diesmal und nun war Jonas dran. Mit seiner Kleidung war alles in Ordnung, aber die Anlage meckerte über irgendetwas in seinem kleinen Reisekoffer, den er als Handgepäck mitgenommen hatte. Jetzt sah der Kontrolleur Jonas interessiert an. Er war ein mittelgroßer Mann mit einem schmalen Gesicht und hellblauen müden Augen, trug eine Jeans und hatte eine braune Lederjacke an.

Diesmal schien der Jagdinstinkt des Kontrolleurs erwacht zu sein und nicht nur die Sehnsucht nach Abwechslung. Er deutete auf den Handkoffer und meinte nur: „Aufmachen!“

Missmutig öffnete Jonas den kleinen Koffer und blickte auf einige Kleidungsstücke und eine völlig zerfledderte alte Kulturtasche, die mit allem möglichen Trödel angefüllt war: ein paar Streifen mit Tabletten, Zahnbürsten, Kämme, Schreibutensilien, Nähzeug, aber auch Kosmetikartikel und noch einiges andere war dort zu sehen.

Der Kontrolleur holte eine große Plastikschüssel hervor und meinte:

„Alles hier rein!“

Jonas schüttete den Inhalt in den Plastikbehälter Der Kontrolleur ging zum Detektor zurück und ließ die Schüssel noch einmal durchlaufen. Wieder meckerte der Apparat.

„Also, irgendwas von dem Zeug ist gefährlich. Ich würde sogar sagen, dass es eine getarnte Gefährlichkeit ist“, meinte der Kontrolleur belehrend, als ob er vorhätte, eine Dissertation über gefährliches Reisegepäck zu schreiben. Dann fragte er:

„Wofür sind denn die ganzen Tabletten?“

„Wenn wir abstürzen, dann nehme ich ein paar davon und hab nicht mehr so viel Angst, wenn es nach unten geht.“

Der Kontrolleur sah Jonas nachdenklich an, so, als ob er den Wahrheitsgehalt des Gesagten abwägen würde. Stirnrunzelnd sagte er schließlich:

„Das klingt einleuchtend. Die Tabletten sind es also nicht.“

Beide beugten sich wieder über die Schüssel und nach einer Weile deutete der Kontrolleur auf ein kleines Teil und meinte nur:

„Was ist das?“

„Das ist ein ausklappbarer kleiner Flaschenöffner inklusive Korkenzieher. Dient zur Stressbewältigung.“

„Das ist eine Waffe“, entschied der Kontrolleur.

„Aber das Ding ist kaum vier Zentimeter lang“, meinte Jonas entsetzt. Das habe ich in einem Schweizer Hotel geschenkt bekommen. Ein harmloses Andenken an ein paar ungemütliche Übernachtungen.“

„Das ist eine Waffe. Da hinten in den Container gehört das rein.“

Zähneknirschend sah Jonas den Kontrolleur an. Schließlich nahm er den Flaschenöffner und ging zu dem Behälter, wo er ihn mit einem Seufzer hineinwarf. Damit hatte er die Kontrolle geschafft und neunundneunzig Prozent aus seinem Handgepäck befand sich noch immer in seinem Besitz. Und das war ja das Wichtigste. Wehmütig dachte er daran, dass er von nun an bei seinen Reisen auf kleine Wein- und Bierfläschchen verzichten musste.

Mit seinem kleinen Koffer machte er sich auf den Weg zum Abflug-Gate. Vor ihm lag ein achtundzwanzig Stunden langer Flug mit einer kleinen Unterbrechung in Singapur. Vorsichtshalber kaufte er sich in einem Kiosk noch etwas Kaugummi und eine deutsche Zeitschrift. Gegen die Langeweile und mögliche Nervosität musste er im Flugzeug gewappnet sein.

Jonas gehörte nicht zu den Leuten, die oft flogen. Vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. Wenn es ging, dann drückte er sich davor, für das Institut ‚auf Tour‘ zu gehen. Aber in diesem Fall hatte sich Franz nicht erweichen lassen. Franz war sein Vorgesetzter. Jonas musste sich anhören, dass er selbst das letzte Mal zwei ganze Monate in den Vereinigen Staaten gewesen wäre, um sich dort fortzubilden. Jetzt sei er, Jonas, an der Reihe. Wenn er wolle, könne er ja eine Woche Urlaub in Australien dranhängen. „Niemals“, hatte Jonas empört geäußert. Australien sei etwas für Kängurus und Backpackers, doch nicht für ihn. Bis Franz ihm gedroht hatte, ihn in die Antarktis zum Experiment ‚lceCube‘ zu schicken, wo auch noch technische Unterstützung für ein anderes Institut gebraucht wurde. Dort wurde ein Experiment im dicken antarktischen Eispanzer versenkt. Bei der Wahl zwischen Australien und der Antarktis hatte Jonas dann nach kurzer Bedenkzeit der Reise nach Australien zugestimmt. Grollend zwar, aber er hatte zugestimmt. Franz hatte ihm auf die Schulter geklopft und gehässig gemeint, jeder Institutsmitarbeiter könne sich Jonas zum Vorbild nehmen. Beim nächsten Mitarbeitergespräch über das jährliche Leistungsentgelt würde Jonas in der Sparte ‚Engagement und Arbeitseinsatz‘ die vollen sechs Punkte bekommen. Jonas wollte sich nun revanchieren. Er hatte die eine Woche Urlaub schon eingereicht, die Franz ihm vorgeschlagen hatte. Und eine Tour in die Wildnis hatte er auch schon eingeplant, egal wohin es gehen würde.

Er entschloss sich, die Erinnerung an dieses Gespräch mit einem Kaugummi zu löschen. So näherte er sich halbwegs beruhigt seinem Abflug-Gate. Es war zehn Uhr abends. Noch eine knappe Stunde, bis man ihn an Bord des Flugzeugs lassen würde. Um elf Uhr sollte es losgehen. Er schaute zu den anderen Passagieren, die auf den Bänken saßen, und versuchte, einen freien Platz ausfindig zu machen.

Plötzlich sah er sie. Das konnte doch nicht sein! Er kniff die Augen zusammen. Doch es bestand kein Zweifel. Sie war es. Dort hinten, etwas abseits von den anderen, saß Judith. Seine Judith. Sie war Kommissarin bei einer neu gegründeten Polizeibehörde in Frankfurt. Vor ein paar Monaten hatte sie ihm geholfen, seine Unschuld zu beweisen, als er verdächtigt wurde, in einen Fall von Patentspionage verwickelt zu sein. Sie waren danach noch eine Weile befreundet gewesen. Er hatte sogar gehofft, dass es länger halten würde. Regelmäßig hatten sie sich gegenseitig besucht und es schien, als ob sie nichts jemals wieder trennen könnte. Aber irgendwann hatte sich etwas verändert. Es war kaum wahrnehmbar gewesen und er hatte die Gründe nie richtig erfasst. Vielleicht lag es daran, dass sie beide mehr voneinander haben wollten, als es ihre individuellen Lebenssituationen zuließen. Schließlich lebte sie in Frankfurt und er in Hamburg. Nur eine Stunde Flugzeit lag dazwischen. Das schien jedoch für ihre gegenseitigen Erwartungen zu viel zu sein. Vor einem Monat hatte es einen fürchterlichen Streit gegeben. Eigentlich war es eine Bagatelle gewesen. Er hatte eine Kaffeetasse umgekippt und der größte Teil davon war auf einem der recht wertvollen Teppiche von Judith gelandet. Das hatte leider eine Lawine von Gehässigkeiten und Streitereien ausgelöst. Er hatte ihr ein Buch mit dem intelligenten Titel „Wie schaffe ich meinen Haushalt“ geschenkt und sie hatte sich mit einem in Geschenkpapier eingewickeltem biologisch abbaubaren Fleckenentferner revanchiert. Damit hatte es angefangen und schließlich waren sie bei Telefongesprächen angekommen, die man nur noch als rhetorische Fernduelle bezeichnen konnte.

Er wusste nicht warum, doch er fühlte sich magisch von ihr und ihren meergrünen Augen angezogen. Seine Gedanken verirrten sich in schönen Erinnerungen und Sehnsüchten nach ihr. Ihr lächelndes Gesicht, ein Blick von ihr über eine ihrer nackten Schultern, ihr Haar an seinem Gesicht und der sanfte Druck ihrer Hände an seinen Hüften.

Er bahnte sich den Weg durch die anderen Passagiere und wollte sie schon ansprechen und sich neben sie setzen, als er sie von der Seite aus betrachtete und ihren besorgten Ausdruck in den Augen wahrnahm. Er blieb kurz stehen und wollte sich dann doch ein Stückchen weiter entfernt hinsetzen, als sie ihren Blick hob, sich umschaute und ihn sofort erkannte. Ein kurzes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das jedoch sofort erstarb. Es blieb ein Gesicht voller Sorgen, dessen Züge sich jetzt mit Ärger vermischten. Oder war es der Versuch, die Sorgen mit Ärger zu verdecken?

Obwohl er es nicht mehr wollte, ging er auf sie zu und setzte sich neben sie. Er spürte jetzt schon die Niederlage, die dieses Gespräch ihm einbringen würde. Aber er sprach seine zu Eis erstarrte Freude trotzdem aus.

„Hallo Judith. Ich hätte nie erwartet, dich hier zu treffen. Was machst du hier?“

„Ich warte auf meinen Flug: 23 Uhr nach Brisbane. Über Singapur. Was machst du hier? Verfolgst du mich?“

Jonas war zutiefst überrascht und musste zweimal schlucken. Das konnte doch nicht sein, dass sie auch in diesem Flieger sitzen würde. Womöglich sogar in seiner Nähe.

„Nein, Franz schickt mich nach Brisbane, um dort Generatoren abzunehmen, die wir bestellt haben. Jemand von unserem Institut soll bei den Abnahmeprüfungen dabei sein, damit wir nicht wertlosen Schrott einkaufen.“

„Sag nicht, dass du auch mit dem Flugzeug nach Singapur fliegst.“

„Doch Judith, das mache ich. Mein Gepäck ist sogar schon drin. Und ich habe keine Chance, es wieder rauszubekommen. Ist das nicht schön?“

Ärger und Missmut breitete sich in ihrem Gesicht aus und er fühlte, dass es noch schlimmer kommen würde.

„Du bist ein absoluter Widerling. Als ob ich es nicht schon schwer genug hätte. Jetzt hängst du dich auch noch als Klotz an mein Bein.“

„Hast du denn außer mir noch einen Klotz an deinem Bein?“, fragte Jonas neugierig und mit etwas gehässigem Lächeln.

„Nein, natürlich nicht. Sag mir bloß nicht, welchen Platz du hast. Verdirb mir bloß nicht die sowieso schon schlechte Laune.“

Aber Jonas war noch immer recht unbefangen und meinte scheinbar gleichgültig. „Gut, wenn es so wichtig ist, dann behalte ich es für mich. Behältst du dann auch für dich, was du in Australien machst?“

„Ja, auf jeden Fall. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Neugier.“

„Das muss doch extrem schwer für dich sein, Judith, denn du bist doch Polizistin und musst doch von Berufs wegen neugierig sein, oder nicht?“

„Das kann schon sein. Aber ich habe die Nase gestrichen voll von Kaffeeflecken, Ratschlägen zum Fleckenentfernen und anderen Gemeinheiten von dir.“

Er spürte, dass Judith ihm nichts über ihre Absichten sagen wollte und entschloss sich, das Thema zu wechseln.

„Judith, wenn du nicht darüber reden willst, dann ist das in Ordnung. Ich hab dich hier nur sitzen sehen und du machtest so einen einsamen und besorgten Eindruck. Und da hab ich gedacht, ich komme mal zu dir rüber und rede mit dir. Wenn du allerdings lieber allein sein möchtest, dann ist das auch in Ordnung. Dann suche ich mir eben einen anderen Platz zum Warten.“

„Ja, das ist in Ordnung. Such dir einen anderen Platz zum Warten. Mir geht es auch ohne dich schon schlecht genug. Ich hab im Moment nichts zu erzählen. Hast du das kapiert?“

Ihre zunächst lauter gewordene Stimme war wieder auf das normale Lautstärkemaß zurückgekehrt. Trotzdem klang sie noch immer eindringlich und bestimmt.

„Ja, Judith. Jetzt, wo du das so klar gesagt hast, habe ich es kapiert.“

Das fruchtlose Gespräch und ihre Anmaßungen hatten ihn jetzt ebenfalls wütend gemacht. Er stand auf, ging wieder hinaus zum Gang und wartete dort darauf, dass das Einchecken der Passagiere begann. Sie schien sich keinen Deut verändert zu haben. Doch trotzdem war sie anders als sonst. Was mochte bloß mit ihr los sein? Und warum flog sie nach Australien? Einen Begleiter schien sie jedenfalls nicht dabei zu haben.

Als er sich eine andere Sitzgelegenheit gesucht hatte, fiel ihm auf, dass er sie von seinem Platz aus gut sehen konnte. Irgendetwas schien sie zu bedrücken. Es war ganz offensichtlich, dass sie große Sorgen hatte.

Was konnte einen Menschen dazu bringen, mit großen Sorgen nach Australien zu fliegen. Nun, er würde in Singapur noch Gelegenheit haben, das herauszufinden, denn dort hatten sie einige Stunden Aufenthalt. Sie schien sich nichts mehr aus ihm zu machen, aber keine fünf Minuten nach ihrem katastrophalen Gespräch sah er, wie sie ihren Kopf hob und sich suchend umblickte, bis sie ihn entdeckte. Als sie merkte, dass er sie beobachtete, wandte sie den Kopf demonstrativ von ihm ab. Jetzt musste er lächeln. Ein jubelnder Gedanke tobte durch seinen Kopf. Sie hatte nach ihm gesucht.

2

Knapp zwei Tage später saß Judith in einem Überlandbus und war auf dem Weg nach Harvey Bay. Sie hatte Jonas schon auf dem Flughafen in Singapur von ihren Sorgen erzählt. Ihre Schwester Elisabeth war überstürzt nach Australien geflogen, um dort in dieser kleinen Hafenstadt nördlich von Brisbane nach ihrer Tochter Ulrike zu suchen. Denn diese hatte sich mittlerweile drei Wochen nicht mehr gemeldet, obwohl sie vorher immerhin zweimal pro Woche per E-Mail von sich hatte hören lassen. Jonas hatte Judith seine Hilfe angeboten für den Fall, dass sie Schwierigkeiten bekommen würde. Er hatte schon kurz nach der Ankunft in Brisbane festgestellt, dass die Generatoren, die er abnehmen sollte, ein Problem hatten, das die australische Firma erst beheben musste.

Judith hatte fast den halben Tag in dem Bus nach Harvey Bay verbracht. Allerdings fühlte sie sich wieder ausgeschlafen und erholt, denn sie hatte es heute geschafft, trotz der Zeitumstellung neun Stunden an einem Stück zu schlafen. Der Blick aus dem Fenster verwöhnte ihre Augen mit den sonnendurchfluteten Farben einer bizarren Landschaft. Schließlich erschien das ersehnte Schild mit dem Namen des Ortes, wo ihre Schwester sie erwartete.

Als sie in Harvey Bay ankam, erkundigte sie sich im Zentrum nach den örtlichen Hostels. Statt sich gleich auf den Weg zu ihrer Schwester zu machen, nahm sie zuerst ein leichtes Mittagessen zu sich und versuchte nebenbei von der Serviererin einige Informationen über andere Unterkünfte in der Stadt zu bekommen. Sie erfuhr, dass es noch vier weitere Hostels gab, die vornehmlich von Touristen genutzt wurden. Als sie nach Arbeitsmöglichkeiten für Backpacker fragte, wurde sie an die Touristinformation verwiesen.

Die Serviererin hatte den Hafen in den höchsten Tönen gelobt. Sie selbst käme eigentlich aus Brisbane und das hätte natürlich einen sehr viel größeren Hafen. Judith entschloss sich, zunächst einen Eindruck von dem Hafen zu gewinnen. Wie mochte er wohl auf Ulrike gewirkt haben?

Dort angekommen stellte sie fest, dass die Atmosphäre etwas Beschauliches und Romantisches hatte. Es gab vorwiegend kleine Boote und Schiffe. Auch viele Segelboote, sogar zwei Zweimaster lagen dort. Auf Judith machte das alles keinen großartigen Eindruck, denn sie wurde dadurch nur intensiv an ihre Anfälligkeit für Seekrankheit erinnert. Schließlich hatte sie genug gesehen und entschloss sich, mit dem Taxi zum Hotel ihrer Schwester zu fahren. Als sie dort angekommen war und ihre Schwester in den Armen hielt, wollte diese sie gar nicht mehr loslassen. Schließlich merkte sie, dass Elisabeth eine Träne nach der anderen aus den Augen lief.

„Endlich! Endlich kümmert sich mal jemand aus unserer Familie um mich und Ulrike. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch machen soll.“

Eine wahre Flut von Beschwerden und Ängsten prasselten jetzt auf Judith nieder. Es war ein kleiner Schock für sie, ihre Schwester so hilflos zu sehen, denn Elisabeth war sechs Jahre älter als sie und hatte während ihrer Kinderzeit oft auf sie aufpassen müssen. Damals war Elisabeth ihr Vorbild gewesen. In der Jugendzeit war sie stets ihre eigenen Wege gegangen, und hatte auch frühzeitig einen Freund gehabt, was zu teilweise heftigen Reibereien mit ihrem Vater geführt hatte, doch Elisabeth hatte nie klein beigegeben. Allerdings hatte sie nun die fantastische Entscheidung getroffen, einen Privatdetektiv zu engagieren.

„Was macht denn der Privatdetektiv heute?“, fragte Judith ihre Schwester leichthin und versuchte, ihre Wut nicht durchklingen zu lassen. Sie dachte daran, welches horrende Geld für den Mann verplempert wurde.

„Oh, ein wirklich netter Mann ist der Mister Cooper. Ich habe ihm ein Bild von Ulrike gegeben und er hat es vervielfältigt. Heute fährt er zu einigen von den größeren Farmen hinaus und wird es dort herumzeigen und wenn möglich auch aufhängen.“

„Na, das ist ja schon mal etwas. Und hat er auch schon mit der Polizei geredet oder das Hostel gefunden, in dem Ulrike hier übernachtet hat?“

„Zu der Polizei hat er ein ganz schlechtes Verhältnis. Er meinte, es sei besser, wenn du dort mal nach Informationen fragst. Und bei Ulrikes Hostel ist er auch gewesen. Die Frau dort hat Ulrike zwar erkannt und gemeint, sie sei dort gewesen, aber sie wusste nicht, wohin sie dann weitergezogen ist. Ja, so sieht es leider aus. Niemand hat sie gesehen, überhaupt keiner.“

Elisabeth war den Tränen bedenklich nahe und Judith sah sich genötigt, ihr wieder etwas Mut zu machen.

„Ich schlage vor, dass ich selber noch einmal zur Polizei gehe und dort Erkundigungen einziehe. Danach suche ich noch einmal die Frau in dem Hostel auf, in dem Ulrike übernachtet hat.“

Als erstes ging Judith zur Polizei. Inspektor Walker war ein verständiger Mann, besonders, als er hörte, dass Judith selbst bei der Polizei arbeitete.

„Sie müssen das verstehen. Wir haben hier, anders als in den europäischen Ländern, keine Meldepflicht. Dass sich eine Hostelbesitzerin nach drei Wochen noch an einen bestimmten Gast erinnert, kann man eigentlich schon Glück nennen. Aber dass sich der Betreiber später auch noch daran erinnert, wohin dieser oder jener Gast weiterreisen wollte, oder mit wem er zusammen war, das wird auch in europäischen Hotels nur selten vorkommen.“

Damit kam der Redefluss des Inspektors vorübergehend zum Stillstand. Zumindest, was sein Interesse an dem Verschwinden von Judiths Nichte anging. Dafür zeigte er reges Interesse an ihrer Arbeit in Deutschland. Industrie- und Wirtschaftsspionage waren für ihn magische Begriffe, insbesondere, als sie von dem Fall mit Rechenprozessoren auf Lichtleiterbasis berichtete. Judith hatte sein starkes Interesse an ihrer eigenen Polizeiarbeit mit Genugtuung wahrgenommen und wollte es für sich nutzen. Sie walzte ihre Ermittlungserfolge noch etwas aus und schilderte ihm besonders eindrücklich die Entwicklung eines schwierigen Falles von Wirtschaftskriminalität. Als sie erläuterte, wie sie von einem der Verbrecher sogar angeschossen worden war, stammelte Walker nur noch:

„Mein Gott! Oh, mein Gott!“

Dann ging er zum Schrank, holte eine Flasche Whisky mit zwei Gläsern und schenkte sich und Judith einen tüchtigen Schluck ein. Sie zeigte dem Inspektor noch kurz ihre Narbe am linken Unterarm und spürte die Bewunderung des Inspektors.

Dann lenkte sie das Gespräch wieder geschickt auf die vermisste Ulrike. Sie schilderte ihm kurz, was sie zu tun gedachte, nahm einen kleinen Schluck aus dem Whiskyglas und fragte den Inspektor dann:

„Was würden Sie an meiner Stelle tun, Inspektor Walker? Stellen Sie sich vor, es wäre Ihre Tochter, die plötzlich verschwunden wäre, und Sie kämen hierher und müssten sie suchen.“

Der Inspektor sah sie sinnend an und sagte dann: „Was hatte ihre Nichte denn für Vorlieben? Hätte sie lieber Erdbeeren oder Bananen gepflückt, lieber Zuckerrohr geschnitten oder eine Seereise gemacht?“

Judith überlegte kurz und meinte:

„Ich glaube, dass sie am ehesten Erdbeeren gepflückt hätte, um Geld zu verdienen. Und auch eine Seereise hätte für sie reizvoll sein können. Natürlich hätte sie auch mit dem Bus in die nächste, größere Stadt aufbrechen können.“

Plötzlich hatte sie eine Idee.

„Andererseits hatte sie gerade fast zwei Monate in Brisbane gearbeitet und es wäre denkbar, dass sie hier lieber erst einmal etwas erleben wollte. Gibt es denn die Möglichkeit, von hier aus eine Schiffstour zu machen?“ Der Inspektor dachte kurz nach und sagte:

„Es gibt hier zwei Segelschiffe, die abwechselnd Touren in den Norden machen. Von dort kann man dann noch eine zweitägige Bustour durch zwei Naturparks machen. Das wird von einer Agentur hier im Hafen für ein paar Hundert Dollar angeboten.“

„Und werden die Namen der Teilnehmer einer solchen Tour registriert?“

„Ich weiß es nicht. Das müsste man herausfinden.“ Würden Sie mich eventuell zum Hafen begleiten, wenn ich dort nachfrage?“

Der Inspektor sah sie zunächst entrüstet an, sagte jedoch schließlich zu und meinte, er hätte im Moment sowieso nichts Wichtiges zu tun.

Im Büro der Agentur musste Judith sich dann anhören, dass die Teilnehmer zwar bis Weihnachten registriert worden wären, danach hätte die EDV-Anlage allerdings einen Defekt bekommen und es wären deshalb nur noch nummerierte Tickets ausgestellt worden. An das Gesicht von Ulrike konnte sich der Agenturinhaber nicht erinnern. „Wieder eine Sackgasse mehr“, dachte Judith.

„Sie können doch die Besatzungen der beiden Schiffe befragen. Die Segelschiffe sind heute beide im Hafen. Das ist ungewöhnlich. Wahrscheinlich ist eine der Touren wegen des Wetters ausgefallen. Kommen Sie, ich begleite Sie“, sagte der Inspektor.

Auf dem ersten Schiff sah Judith nur drei kopfschüttelnde Gesichter, als sie das Foto von Ulrike herumzeigte. Auf dem zweiten Schiff, der Apollonia, war nur der Kapitän da und der schüttelte auf Nachfrage ebenfalls den Kopf, Aber Judith glaubte, ein kurzes erstauntes Erkennen in den Augen des Kapitäns wahrgenommen zu haben. Fürs Erste gab sie sich jedoch damit zufrieden. Sie würde wiederkommen, denn es gab ja noch zwei andere Besatzungsmitglieder und vielleicht hatte der Kapitän eine Abneigung gegen Polizisten.

Sie ging noch einmal zur Reiseagentur und erkundigte sich nach den Abfahrtszeiten der Schiffe. Die Apollonia sollte morgen um zwölf Uhr auslaufen, wenn das Wetter halbwegs akzeptabel wäre. Sie konnte den Kapitän und seine Crew also morgen Vormittag befragen. Sofort kam ihr in den Sinn, dass der Mann vor einer Reise viele Dinge zu tun hatte und ihr deshalb ungern Zeit opfern würde.

Sie fuhr anschließend mit dem Inspektor zur Wirtin des Hostels, in dem Ulrike übernachtet hatte, als sie in Harvey Bay gewesen war. Doch auch diese Frau hatte lediglich bei dem Foto von Ulrike genickt, aber ansonsten keine Erinnerung an den Namen oder Absichten ihres Gastes.

Der Inspektor machte sich die Mühe, Judith zum Hostel ihrer Schwester zu bringen und ihr noch alles Gute zu wünschen. Judith kam deshalb noch einmal auf den Privatdetektiv zu sprechen.

„Ja, Mister Cooper ist mir bekannt. Vor etwa fünf Jahren kam er aus Brisbane hierher. Er hatte dort bei der Polizei gearbeitet. Wir konnten ihn hier leider nicht einstellen, aus Gründen, die ich nicht weiter benennen möchte. Wenn ihre Schwester ihn engagiert hat, dann ist das Ihre Entscheidung. Aber ich fürchte, dass Mister Cooper die Zielstrebigkeit fehlt, die ein derartiger Job erfordert.“

Er schaute sich kurz um, um sicherzustellen, dass niemand zugehört hatte, und sagte dann:

„Mister Cooper ist leider ein Trinker. Es ist besser, ihn mit keiner Aufgabe zu betrauen, die Verantwortungsbewusstsein erfordert.“

Das war alles, was Judith aus dem Inspektor über Mister Cooper herausbekam.

Als Judith später von ihren Nachforschungen berichtete, hörte Elisabeth voller Interesse zu. Judith hatte wohlweislich den Blick des Kapitäns auf dem Segelschiff im Hafen verschwiegen, denn sie wollte keine Hoffnungen wecken, die sich dann wieder in Luft auflösten.

Sie betonte, dass sie mit der kombinierten Schiffsund Bustour eine neue Ermittlungsspur hätten, der sie noch nachgehen mussten, um herauszufinden, ob auch diese eine Sackgasse sei oder nicht. Ulrike könnte natürlich genauso gut mit einem Bus in den Norden gefahren sein oder auf irgendeiner Farm in der Umgebung arbeiten. „Oder auch irgendwo viel weiter weg sein“, dachte Judith, sprach diesen Gedanken allerdings nicht aus.

Um Punkt achtzehn Uhr rief Mister Cooper an und informierte Elisabeth über den Fortschritt seiner Nachforschungen. Er hatte heute die acht größten Erdbeerfarmen in der Umgebung von Harvey Bay abgeklappert, überall das Foto von Ulrike aufgehängt, und alle dort arbeitenden Backpacker befragt. Leider hatte sich dort niemand an sie erinnern können. Am nächsten Tag seien dann die kleineren Farmen dran, und wenn das zu nichts führe, dann werde er den Radius eben erweitern. Damit beendete er seinen Bericht.

„Ist das nicht großartig?“ Elisabeth war begeistert von dem Elan des Privatdetektivs.

Judith wagte es nicht, an diesen Vorschusslorbeeren zu kratzen, denn es war enorm wichtig, dass die Nerven ihrer Schwester nicht weiter geschädigt wurden. Es gab bisher nicht eine einzige konkrete Spur. Was sie bis jetzt machten, war nur ein Herumstochern mit der Stange im Nebel. Und auch der verdächtige Blick des Kapitäns konnte sich als Fata Morgana herausstellen.

Wenn sie an die Begegnung mit dem Kapitän am nächsten Morgen dachte, dann wurde ihr schon mulmig zumute. Sie konnte sich erinnern, dass Jonas einige Male von der Zeit erzählte, als sein Vater Lasse noch zur See gefahren war. Und über die Kapitäne hatte Lasse nichts Gutes zu berichten gewusst. „Das sind alles Verrückte.“ Dieser Satz war ihr im Gedächtnis hängen geblieben.

Vielleicht war es doch besser, Jonas Meinung dazu einzuholen. Sie griff zu ihrem Handy und rief ihn an.

„Hallo Jonas, ich bin es, Judith. Ich hab hier noch nichts erreicht. Es gibt hier allerdings einen Kapitän auf einem Segelschiff, der etwas zu wissen scheint.“

Sie hielt kurz inne, um ihm Zeit zu geben, sich zu orientieren, und wollte gerade weiterreden, als die Stimme aus dem Lautsprecher sie einschüchterte.

„Ojeoje! Das sind die Schlimmsten von allen. Kapitäne verhalten sich schon wie der Herrgott persönlich, aber Segelschiffkapitäne … Mein herzliches Beileid, Judith!“

Jetzt kam die Wut in ihr hoch. Den ganzen langen Tag hatte sie nichts Richtiges erreicht und dann wurde sie auch noch am Abend von Jonas fertiggemacht.

„Jonas, ich hab dich nicht angerufen, um mir von dir sagen zu lassen, dass ich es nicht nur schwierig, sondern verdammt schwierig habe. Das weiß ich längst schon selber. Der launische Kapitän haut morgen mit seinem verdammten Segelschiff ab und hat deshalb vielleicht nur sehr wenig Zeit zum Reden. Ich will von dir nur wissen, wie man so eine harte Nuss am besten knackt.“

„Fahr doch einfach mit ihm mit, dann kann er dich nicht wegschicken, aber vergiss nicht, Stöpsel für die Ohren gegen den Lärm mitzunehmen“, meinte Jonas trocken.

„Das ist nicht dein Ernst!“, schimpfte Judith. „Ich werde schon seekrank, wenn ich nur eine Badewanne sehe, und dein bester Vorschlag ist es, mich auf ein Segelschiff zu schicken, um dort die entscheidenden Informationen zu beschaffen.“

„Das ist nicht der beste Vorschlag, den ich dir machen kann, sondern der einzige. Und du bist nicht die Einzige, die einen schlechten Tag hat, Judith. Meine Abnahme hier ist in die Hose gegangen. Die Geräte sind allesamt unbrauchbar und ich muss auch noch gute Miene zum bösen Spiel machen.“

Damit beendete Jonas das Gespräch.

„Unerhört“, dachte Judith. „Ich tue hier alles, um eine Spur von Ulrike zu finden. Er bietet mir Hilfe an und kaum nehme ich sie in Anspruch, schon macht er mich nach Strich und Faden fertig.“