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Das Buch

Die Wetterschmöcker sind eine kleine, eingeschworene Gruppe von Naturmenschen, die das Wetter vorhersagen. Sie sind kantig, geradlinig und unbestechlich. Sie können die Natur lesen, kennen ihre Gefahren, ihre Reichtümer. Als einer dieser Männer seine Nichte bei Kommissar Eschenbach vermisst meldet, wundert sich der Leiter der Kriminalpolizei Zürich. Normalerweise werden Vermisstenmeldungen an anderer Stelle aufgegeben. Doch Alois Thüring ist hartnäckig. Das Unternehmen, für das seine Nichte arbeitet, handelt mit Rohstoffen. Und dort, in den Glaspalästen der Macht, stößt Eschenbach auf eine Intrige, die bald auch sein eigenes Leben in Gefahr bringt.

Der Autor

Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte und arbeitete jahrelang erfolgreich im Bankgeschäft. Die Romane mit Kommissar Eschenbach sind eine der beliebtesten Krimiserien der Schweiz. 2012 wurde Rütlischwur mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Michael Theurillat lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.

Michael Theurillat

Wetterschmöcker

Kriminalroman

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ISBN 978-3-8437-1176-0


© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: Aleksey Klints / Shutterstock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Einleitende Bemerkung

Muotathal ist ein Ort in der gleichnamigen Gemeinde im Kanton Schwyz in der Schweiz. Die Bezeichnung leitet sich vom Tal Muotatal ab, durch das der Fluss Muota fließt. Auf die unterschiedlichen Schreibweisen (Tal und Ort) wurde im Folgenden bewusst verzichtet.

Die Universitätsklinik Balgrist ist ein großartiges Spital, dem ich persönlich viel zu verdanken habe. Keine der im Roman geschilderten Szenen haben sich dort tatsächlich zugetragen.

Es ist mir auch deshalb wichtig zu betonen, dass es sich beim vorliegenden Roman um reine Fiktion handelt. Alle agierenden Personen und Institutionen sowie deren Verbindung zueinander sind frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie mit Ereignissen (in der Gegenwart oder in der Vergangenheit) sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Für Rosmarie

(Im Andenken an dich,
du Kämpferherz!)



»Euch gibt es zwei Dinge

So herrlich und groß:

Das glänzende Gold

Und der weibliche Schoß.

Das eine verschaffet,

Das andre verschlingt;

Drum glücklich, wer beide

Zusammen erringt!«

Aus: Paralipomenon 52 (Walpurgisnacht)/

Satan. Faust Teil I

Johann Wolfgang von Goethe

Prolog

Es ist das Ohr – nicht die Stimme

Die Fähigkeit, anderen zuzuhören, ist eine Kunst, auch ein Metier. Man kann es lernen, so wie man sich eine fremde Sprache aneignet oder das Spielen eines Musikinstruments. Wenn Sie diese Kunst beherrschen, wird das nicht unbemerkt bleiben.

Menschen werden Ihnen Dinge erzählen, die Sie nie für möglich gehalten hätten. Auch Fremde. Ob Sie wollen oder nicht, man wird sich an Sie wenden. Man wird Ihnen Vertrauen schenken, manchmal sogar das Herz.

Viele denken, wer spricht, kann auch zuhören. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Wirklich lernen tun wir nur das eine – das andere vergessen wir. Wir müssen es vergessen, und zwar schnell. Schon im Babyalter läuft alles darauf hinaus, das Zuhören zu vernachlässigen und mit dem Sprechen zu beginnen. Die erwartungsvollen Blicke der Eltern, so liebevoll sie zu Beginn auch sein mögen – sie lasten auf einem wie ein wachsender Schatten.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich gleich nach der Geburt entscheiden, für eine Weile nicht zu sprechen. Nur zuhören, für zwei, drei Jahre vielleicht. Kein schlechter Entscheid. Das Umfeld, in dem Sie sich befinden, ist neu, die Grundversorgung mit Essen, Nestwärme und dergleichen ist gegeben, und der Zeitpunkt, sich in einer Kinderkrippe verständigen zu müssen, liegt noch in weiter Ferne. Warum sollten Sie sich nicht in aller Ruhe zuerst einen Überblick verschaffen?

Aber das funktioniert nicht. Nie und nimmer.

Nach durchschnittlich neun Monaten spricht ein Kleinkind sein erstes Wort. Das wissen Eltern, denn sie lesen Bücher, tauschen sich mit Freunden und Verwandten aus. Die häufigsten Worte sind »Mama«, »Papa«, »Auto«. Auch das ist bekannt. Und wenn Sie jetzt nicht bald den Mund aufmachen, wird es ungemütlich. Mamas Lachfalten werden sich in Sorgenfalten verwandeln. Mit zunehmender Verzweiflung wird man Ihnen die Wörter »Mama«, »Papa«, »Auto« geradezu an den Kopf werfen, wie Pflastersteine. Und bedrohliche Sätze werden folgen: »Um Himmels willen, das Kind ist nicht normal!«

Sie werden in panische Gesichter blicken. Es wird nicht lange dauern, bis man Sie in die Praxis einer Logopädin schleppt und einem Haufen sinnloser Tests unterzieht. Das ist schwer auszuhalten, wenn man sprechen kann, es aber nicht will.

»Vermutlich ist er ein ›Late Talker‹«, wird die Logopädin Ihre Eltern aufklären. »Ein ›Late Bloomer‹« – jemand also, der im Garten des Lebens erst spät blühen wird.

Tatsächlich ist das keine schlechte Nachricht. Wer will schon ein Schneeglöckchen sein, das schüchtern und kraftlos den ersten Sonnenstrahlen entgegenlechzt, um wenige Tage später von schwerem Frühjahrsschnee wieder zugedeckt zu werden.

Kapitel 1

Kein Schneeglöckchen

Der Mann, der auf dem graugrünen Fahrrad, das er sich an einer Vélib’-Station gemietet hatte, die Rue Saint-Denis in Richtung Seine hinunterfuhr, war kein Schneeglöckchen. Er sah auch nicht aus wie eines. Jerome Leon Roth war ein Hüne, über einen Meter neunzig groß, mit breiten Schultern und ­einem energischen Kinn. Seine weißblonden Locken hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, die Ärmel des dunkelblauen Mantels hochgekrempelt. Trotz der Kälte, die am Abend dieses 7. Januar herrschte, trug er weder Mütze noch Handschuhe. Jerome liebte den eisigen Wind, das Gefühl, wenn sich Gesicht und Hände röteten. Er mochte den Schmerz in den klammen Fingern, und er genoss das Kribbeln in seinen Armen und Beinen. Es waren Sinnesreize, die seinen Geist schärften und ihn für einen Moment in seine Kindheit zurückversetzten. Er erinnerte sich an kalte Nächte in den ­Bergen, an den langen Schulweg, den er zu Fuß zurücklegen musste. Zwischen hupenden Autos, in einem Meer von Lichtern, kam ihm alles wieder in den Sinn. Jerome lächelte, als er daran dachte, wie oft er als Bub mit seinen kurzen Beinen im Schnee stecken geblieben war.

Marie und Hans Roth hatten einen kleinen Bauernhof im Karstgebiet oberhalb des Flusses Muota betrieben. Harte Arbeit war es gewesen, in den kurzen Sommern das Heu vom steilen Nordhang in die Scheune zu tragen. Und noch mehr hatten ihnen die Winter zugesetzt, wenn es galt, das Gehöft warm zu halten und von den drückenden Schneemassen zu befreien.

Im täglichen Kampf um ihre Existenz hatten die Eltern keine Zeit gehabt, sich groß Sorgen um das Kind zu machen. Um das Kind, das nicht sprach. Im Muotathal gab es viele Menschen, die äußerst wortkarg waren und ihr Herz nicht auf der Zunge trugen. »Er spricht halt nicht viel«, pflegte seine Mutter zu sagen. »Aber Hauptsache, er ist gesund.«

So blieb dem rotblonden Jungen mit den hellen bernsteinfarbenen Augen die Reise zu den Doktoren in der Stadt erspart, zu den Quacksalbern, wie der Vater sie nannte; und Jerome wuchs in dem guten Gefühl auf, ein ganz normaler Junge zu sein.

Auch in der Grundschule wurde keinerlei Aufhebens um den »stillen Bub« gemacht. Jerome hatte sich einen Platz in der hintersten Reihe ausgesucht, war ein aufmerksamer Schüler und führte ordentlich seine Hefte. Dass er sich nicht übermäßig am Unterricht beteiligte, fiel dem Lehrer kaum auf. Eher dass Jerome weder mit seinen Banknachbarn schwatzte noch sonst wie den Unterricht störte und dass er zudem in allen schriftlichen Prüfungen ausnahmslos die beste Note bekam.

Hätte er seinen Platz in der Welt der Pflanzen, meinte Jerome Roth später, in einem der seltenen Interviews, die er dem Spiegel gab, so fände man ihn spätblühend und hoch oben auf kargem, kalksteinhaltigem Grund, als jenes ausdauernde Kraut mit dem lateinischen Namen Leontopodium.

Dass er ein Edelweiß war, hatte er weder von einer Logopädin noch von einem Kinderpsychologen je gehört. Auch nicht von seinen Eltern. Er hatte es glücklicherweise selbst her­ausgefunden, als er erwachsen war und die Zeit dafür reif.

Auf seinem Fahrrad, mitten im Pariser Verkehr, hätte man Jerome Roth leicht für einen früheren Spieler der American Football League halten können oder für einen Türsteher im Rotlichtmilieu – für jemanden also, den man aufsuchte, wenn man Probleme hatte und Schutz brauchte.

Die Konzerne und Regierungen, die den Schweizer Ökonomieprofessor als Berater engagierten, hatten Probleme. Pro­bleme anderer Art. Öffentlich taten sie diese zwar nicht kund, sie hängten sie so niedrig wie möglich, aber was änderte das schon? Probleme verschwanden nicht einfach, nur weil man beschönigende Beschreibungen fand; Worte, die optimistisch klangen und denen nichts Bedrohliches anhaftete. Von Herausforderungen war die Rede, von Chancen und Risiken.

In den Exekutivkomitees der Firmen wollte man sich keine Blöße geben, und auch die politischen Machtzentren übten sich darin, die Zuversicht auszustrahlen, dass alles nur eine Frage geschickten Verhandelns und raffinierten Taktierens wäre.

Jerome Roth wusste, wie es wirklich war. Es gab Opfer. Auch wenn die Schlachten meist diskret und mit der feinen Klinge des Intellekts ausgetragen wurden: Manchmal lief etwas aus dem Ruder. Dies, das wusste Roth ebenfalls, lag in der Natur des Menschen.

Und der war imstande, etwas völlig Unvorhersehbares zu tun. Etwas, das alle überraschte. Er war fähig, über scheinbare Grenzen hinauszudenken und schier Unmögliches zu leisten. Große Erfindungen wurden so gemacht, Länder und Märkte im Sturm erobert. Mit seiner schöpferischen Kraft war der Mensch aber auch in der Lage, große Zerstörungen anzurichten. Das war die Kehrseite der Medaille.

Jemand, der ein Genie oder dem Wahnsinn nahe war, konnte für ein Unternehmen einen bahnbrechenden Erfolg genauso herbeiführen wie den wirtschaftlichen Ruin.

Man musste den Menschen also kontrollieren. Mit Prozessvorgaben und genau geregelten Abläufen. Aber war das wirklich eine gute Idee?

Früher hatten Unternehmen ihren Mitarbeitern oft die Freiheit gelassen, die sie brauchten. Eine Freiheit, die auch ein gewisses Maß an Fehlern und Misserfolgen zuließ. Im glo­balen Kampf um Märkte und Ressourcen hatte sich in den Firmen und Konzernen jedoch zunehmend Misstrauen eingeschlichen. Und mit dem Misstrauen kam die Angst. Wie ein Krebsgeschwür begann sie im Stillen zu wuchern und breitete sich aus. Das Bemühen, schließlich alles und jeden zu kontrollieren, führte mit der Zeit dazu, dass auch der Quell kreativen und produktiven Schaffens zu versiegen drohte. Das war der Kern des Übels, über das Jerome Roth als Gast der Sorbonne in seinem Referat sprechen wollte.

Viele der Konzerne, die er beriet, hatte die Angst vor dem Menschen in eine Einöde getrieben, auf unfruchtbares Land, auf dem sie nun festsaßen, verwundert, dass aus den Samen, die sie säten, keine Bäume mehr wuchsen.

Roth schlängelte sich mit seinem Fahrrad geschickt durch den Verkehr. Als er den Quai de Gesvres überquert hatte, ruhte sein Blick für einen Moment auf der angestrahlten Kathedrale Notre-Dame. Es schien ihm, als stemmten sich ihre beiden ­unverwüstlichen Türme geradezu gegen den tiefhängenden Winterhimmel – einen Himmel, der herabzustürzen drohte, als wollte er das Elend der Stadt unter einem milchiggrauen Leichentuch begraben.

Das Elend hatte Paris im Jahr zuvor einen Besuch abgestattet: in der Rue Nicolas Appert, während einer Redaktionssitzung von Charlie Hebdo, und dann noch einmal im November desselben Jahres im 10. und 11. Arrondissement sowie an drei Orten der Vorstadt Saint-Denis.

Im Geist ging Roth seinen Vortrag durch: »Chers Mesdames et Messieurs!« Die Begrüßung wollte er schlicht halten. Damit beging er einen Fauxpas, das war ihm bewusst. Denn Madame Florence Jaccottet, die Leiterin der Administration an der Sorbonne IV, hatte ihm unaufgefordert per E-Mail eine Liste der wichtigsten Anwesenden zukommen lassen. Der VIPs – Very Important Persons (Jaccottet hatte die Abkürzung ausgeschrieben). Über zwanzig Personen waren es, Name, Vorname, korrekte Anrede, akademischer Grad und Funktion. Man erwartete offenbar, dass er den Bürgermeister, die drei Kabinettsmitglieder, die zwei Nobelpreisträger, die fünf Fakultätsdirektoren und so weiter in seiner Begrüßung gesondert erwähnte.

Quelle impertinence. Nichts dergleichen würde er tun. Und dafür gab es Gründe.

Er sagte nur ungern, was man von ihm erwartete. Als jemand, der am Anfang seines Lebens zunächst einmal lange geschwiegen hatte, sah er darin eine Verschwendung von Ressourcen. Sein Selbstverständnis, aber auch sein exorbitantes Honorar erlaubten es ihm nicht, die Ansichten seiner Klientel lediglich zu bestätigen oder etwas vorzubringen, das ohnehin längst bekannt war.

Keine Erwartungen erfüllen – darin lag etwas Befreiendes.

Es kam häufig vor, dass er mit seiner unorthodoxen Einstellung Menschen brüskierte. Die Gäste auf Jaccottets Liste würden wohl die Nächsten sein.

Doch die Direktheit von Jerome Roth war wohlkalkuliert; nie war Respektlosigkeit der Nährboden seiner Provoka­tionen. Der Professor war der Meinung, dass der Westen in bedrohlichem Maße denkfaul geworden war und dass man den Leuten zu nahe treten musste, damit sie ihren Kopf einschalteten.

»Chers amis!«

Anstelle der Namen (wenigstens den des Bürgermeisters) nun dies: Liebe Freunde! Ironisch gemeint, natürlich. Im kriselnden Europa gab es bestenfalls Verbündete – keine Freunde!

Aber so war seine aufs Einfachste reduzierte Begrüßung auch nicht gemeint. Die Grande Nation mit ihrem Hang zum Zentralismus stand im Begriff, die Gegenwart komplett zu verschlafen. Für Roth war es geradezu paradox, dass ein Land, dessen Aufklärung von einer der blutigsten Revolutionen gekrönt worden war und das den Absolutismus so gründlich niedergerissen hatte, keine zweihundert Jahre später wieder einem derart infantilen Staatsglauben verfallen konnte.

Sein Chers amis! war ein Appell an die Franzosen, ihrer Obrigkeitsgläubigkeit abzuschwören. Sie überhaupt erst zu bemerken.

Mit dem 21. Jahrhundert war eine neue Weltordnung entstanden. Eine Konstellation der Unordnung, bei der es weder oben noch unten gab und bei der gewissermaßen der Intellekt des Individuums jenem der herrschenden Elite gleichgestellt war.

* * *

Clara rannte in Richtung Aufzug. Sie spürte ihren Puls in der Halsschlagader und rang nach Luft. Der Flur erinnerte sie an die langen Gänge im Innern eines Luxusdampfers. In ihren Ohren hämmerten Dampfturbinen im Rhythmus ihrer Schritte. Es schien ihr, als flögen die Wände links und rechts auf sie zu. »Bleib verdammt noch mal in der Mitte«, murmelte sie. Mit ausgebreiteten Armen versuchte sie, die Wände aufzuhalten.

Sekunden später prallte sie mit der Schulter hart gegen weißverputzten Beton. Torkelnd lief sie weiter. Der Boden schwankte unter ihr. Sie war nicht draußen auf dem Meer, sondern im Prime Tower, in der zweiunddreißigsten Etage. Dieses Hochhaus ist ein Scheißkäfig, dachte sie. Ein goldener Käfig, in dem die Wirtschaftsprominenz von Zürich ihre Büros hatte – und in den oberen Stockwerken Wohnungen.

Sie musste weg von hier, hinunter ins Parkhaus, zu ihrem Wagen.

Vor ihren Augen flimmerte es. Jahrmarkt im Kopf. Alles drehte sich. »Nicht umfallen, Clara. Nicht jetzt!« Wieder rang sie nach Luft. Warum schnürte sich in ihrem Hals alles zu … konnte man auch an Land ertrinken?

Clara war kein Fisch, mochte auch keinen. Sie aß Fleisch. Vegetarier waren ihr ein Gräuel. Als sie noch ein Kind war, hatte Alois ihr gezeigt, wie man Forellen mit der Hand fing. Am Hürlibach, im Muotathal. Die Tiere hatten ihre Verstecke in den Uferböschungen, dort, wo sich der Bach ins Erdreich gefressen hatte. Bäuchlings hatten sie sich aufs Gras gelegt und mit beiden Händen ins eiskalte Wasser gegriffen. Es brauchte viel Geschick, die zappelnden Dinger zu packen und mit den klammen Fingern an Land zu ziehen.

Schneebedeckt leuchtete der Ortstock in kitschigem Rosa. So, wie sie ihn als Kind hundertmal gesehen hatte: wenn die Sonne am Abend ihr letztes Licht auf den Berg warf und der Gipfel erglühte.

Sieht man diese Dinge noch einmal, bevor man stirbt?

Mit zitternden Knien stand Clara vor dem Aufzug. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben und sie das Bewusstsein verlor.

»Wo bin ich?«, japste Clara. Sie saß gegen eine Wand gelehnt auf dem Boden, hatte die Beine angewinkelt und starrte in ein Gesicht, das sie nicht kannte. Es war ein schönes Gesicht, dunkle Augen, knapp über fünfzig vielleicht. Der Mann kniete vor ihr und fächerte ihr mit der Hand Luft zu.

»Wer sind Sie?«

»Herrera«, sagte der Mann. »Ich heiße Gabriel Herrera … wollte gerade etwas trinken gehen, im Clouds, oberster Stock. Sie sind mir direkt in den Lift gefallen.« Er zog das Einstecktuch aus seiner Brusttasche und gab es ihr. »Sie bluten.«

Clara entdeckte die Blutlache auf dem Boden. Auch ihre Jeans hatten dunkle Flecken … und ihre Füße. Wo waren ihre Schuhe? Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie barfuß war. Sie sah es im Spiegel des Aufzugs. Einen kurzen Moment betrachtete sie ihre Zehennägel. Sie waren rot lackiert. Alles war rot … ihre Hände und das Tuch, das der Mann ihr gegeben hatte. Überall war Blut. »Scheiße«, krächzte sie. »Verdammte Scheiße.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Herrera. »Sie müssen atmen, tief durchatmen. Ich rufe gleich den Notarzt.«

»Nein!« Clara schüttelte, so gut sie konnte, den Kopf.

Herrera stutzte. »So kommen Sie nicht weit, Lady. Es tropft Ihnen aus der Nase … dann die Platzwunde an Ihrem Kopf. Sie verlieren zu viel Blut.«

»Garage …«, brachte Clara heiser hervor. »Ich möchte bitte zu meinem Wagen.«

»In diesem Zustand?« Gabriel Herrera, ein Gentleman alter Schule, schaute besorgt auf sein Einstecktuch, das Clara an ihre blutende Stirn drückte. »Haben Sie ein Appartement auf dieser Etage? Ich könnte Sie begleiten …«

»Tiefgarage«, zischte Clara. »Bitte!«

»Okay, okay …« Herrera drückte auf den Knopf fürs Untergeschoss. »Wollen Sie nicht vielleicht doch lieber zu einem Arzt?«

»Nein, verdammt.« Wie ein Boxer nach einem Knock-out versuchte Clara aufzustehen und blickte dabei Herrera energisch in die Augen: »Sehen Sie, es geht …« Auf wackeligen Beinen stand sie da, keuchte, schnappte nach Luft. Und als sich erneut alles zu drehen begann, ruderte sie mit den Armen wie eine Ertrinkende.

Der Mann fasste sie bei den Schultern und hielt sie fest. »Wir sind gleich unten.«

Ein leiser Gong erklang. Die Aufzugtür öffnete sich.

»Es geht schon«, sagte sie schwach. »Es geht.«

»Ja, natürlich geht es.« Herrera schnaufte und fuhr sich mit der Hand durchs schwarze, leicht gewellte Haar. »Ganz wunderbar sogar. Und jetzt steigen Sie in Ihr Auto und fahren die Rallye Monte Carlo.«

Clara ging ein paar Schritte und krallte sich an Herreras Oberarm fest. Sie versuchte zu lachen. »Ja, ja … Monte Carlo.« Dann spuckte sie Blut.

»Ist es weit bis zu Ihrem Wagen?« Herrera biss sich auf die Unterlippe und überlegte. So konnte er die Frau unmöglich sich selbst überlassen.

»Gleich hier um die Ecke«, hustete Clara.

»Auf den VIP-Parkplätzen?«

»Ja, verdammt!«

Ein weißer Bentley Continental stand da.

»Ist es der?«

»Ja.«

»Geben Sie mir den Schlüssel.«

»Sie spinnen wohl«, krächzte Clara, die sich noch immer an Herrera festhielt.

»Die Schlüssel, Lady!«

Clara schüttelte den Kopf wie ein trotziges Kind, löste ihren Arm und griff in die Tasche ihrer Jeans.

»Jetzt hören Sie mal zu«, rief der Mann. Seine Stimme hallte durch die Tiefgarage. »Es ist halb zehn Uhr abends, und ich hatte einen anstrengenden Tag. Und eigentlich ist es mir egal, wer Sie so zugerichtet hat …«

»Ich bin gestürzt.«

»Ja, natürlich. Von mir aus …«

»Und ich schaff das allein.« Clara hielt den Autoschlüssel in der Hand, torkelte und fiel gegen den Wagen.

»Herrgott noch mal«, fluchte Herrera. Er sah die Blutspur, die Clara auf dem weißen Lack hinterlassen hatte. »Das bringen wir jetzt zu Ende«, sagte er. »Ob Sie wollen oder nicht. Ich fahre Sie zu einem Arzt.«

»Mara Hofer«, krächzte Clara. Sie war zu Boden gesunken und keuchte. »Mara ist Ärztin.«

»Wo?«

»Aurorastrasse zweiundzwanzig.«

Keine fünf Minuten später lenkte Herrera den Bentley aus der Garage in Richtung Zürichberg. Die Straße, die sie ihm genannt hatte, war ihm bekannt. Sie lag im Villenviertel der Stadt, in der Nähe des Hotels Dolder Grand. Herrera hatte früher in der Gegend eine Freundin gehabt. Um diese Zeit schaffen wir es in zwanzig Minuten, dachte er. Es war höchste Zeit. Die Frau hing auf dem Beifahrersitz und atmete kaum noch.

* * *

»Chers Mesdames et Messieurs!«, begann Roth, nachdem ihn ein Techniker mit einem Kopfmikrofon verkabelt hatte. »Ich bin etwas spät dran, bitte entschuldigen Sie. Bestimmt haben Sie die Gelegenheit genutzt, sich mit Ihren Nachbarn auszutauschen. Ich nehme an, dass nicht das Thema meines heutigen Vortrags Gegenstand Ihrer Unterhaltung gewesen ist.«

Roth sprach akzentfrei Französisch, ohne Manuskript, mit einer tiefen, sonoren Stimme, die über Lautsprecher ins Auditorium übertragen wurde.

Nachdem der kurze Applaus, mit dem man den Vortragenden empfangen hatte, verebbt war, nahm Roth ein Stoffband aus seiner Hosentasche. Er rollte das kleine Transparent auf und hielt es sich über den Kopf, so dass es alle im Saal sehen konnten.

Je suis Charlie!

Wenn der Beifall bei der Begrüßung noch etwas verhalten gewesen war, so brauste er nun regelrecht auf. Eine tosende Welle der Zustimmung brach über den Redner herein, über Roth, der nur dastand und den Kopf schüttelte.

»Mes chers amis – Sie verstehen mich falsch!« Roth musste den Satz mehrmals wiederholen, bis sich der Geräuschpegel im Saal so weit gesenkt hatte, dass man ihn wieder verstehen konnte. »Ich bin von einer – wenn Sie mir die Formulierung erlauben – etwas albernen Demonstration aufgehalten worden«, fuhr er fort. »Ein paar Studenten vor dem Gebäude haben ganz offensichtlich ihre Identitätskrise noch nicht überwunden. Sie glauben immer noch, sie wären Charlie.«

Verhaltenes Gelächter im Saal – ein paar Huster.

»Ich möchte meinem Vortrag deshalb gerne ein paar Gedanken vorausschicken. Verstehen Sie es als Kontrastprogramm zum journalistischen Mainstream, der Sie im vergangenen Jahr mit einem unerträglichen Maß an Heuchelei und hetzerischem Nationalismus heimgesucht hat.« An dieser Stelle machte Roth eine kurze Pause: »Alors, excusez-moi. Je suis Jérôme, pas Charlie.«

Er gab dem Assistenten, der mit einem Laptop in der ersten Reihe saß, ein kurzes Zeichen. Ein Bild erschien auf der großen Leinwand über dem Rednerpult, eine Karikatur aus Charlie Hebdo.

»Keine Angst, meine Damen und Herren! Es ist keine Mohammed-Karikatur.«

Nach kurzem, verhaltenem Gelächter wurde es wieder still im Auditorium.

»Finden Sie das lustig?«

Die Karikatur zeigte einen recht albernen Gottvater, der von seinem Sohn anal penetriert wurde. Im entblößten Hinterteil von Christus wiederum steckte ein kleines, sternförmiges Gestänge aus Gold, mit einem Auge in der Mitte. Für etwas begriffsstutzige Betrachter waren die Beteiligten (inklusive des Gestänges) benannt: »Vater, Sohn und Heiliger Geist«.

Jerome Roth sagte nichts. Über eine Minute lang schwieg er, sah in die Gesichter der Menschen, wartete, bis der Geräuschpegel wieder zunahm. Dann meinte er:

»Wenn sich Teenager zusammen einen Film ansehen, und es kommt eine Sexszene, dann passiert dasselbe wie hier gerade eben. Das ist doch interessant, nicht wahr? Zuerst wird gelacht … ein paar blöde Sprüche folgen. Dann wird es still, und wenn die Szene etwas länger dauert, wird’s wieder lauter. Den jungen Leuten ist das einfach peinlich. Und Peinlichkeiten lassen sich schweigend kaum ertragen.«

Roth trat hinter dem Rednerpult hervor und ging auf einen der Herren in der ersten Reihe zu. »Monsieur le Ministre … Sie sind Gaullist und obendrein Katholik, ein religiöser Mensch also. In Ihrem Wahlkampf haben Sie mehrfach betont, dass Ihnen die christlichen Werte etwas bedeuten. Sie seien Ihnen heilig, haben Sie gesagt. Heilig – du lieber Himmel! Und jetzt, was sagen Sie? Finden Sie das lustig?«

»Mais … mais alors.« Der Mann im grauen Anzug zog die Schultern hoch und machte eine nichtssagende Geste mit der Hand. »Ich meine, das ist eben Satire.«

»Ach so. Und weil es Satire ist, finden Sie es lustig.« Roth griff sich an die Stirn und tat so, als überlege er.

»Nein, lustig finde ich es nicht.«

»Verletzt es Sie?«

»Nein, überhaupt nicht. Es verletzt mich keineswegs, Herr Roth.«

»Doch, tut es, Herr Minister.« Roth stand nun direkt vor dem Politiker, sah ihn an und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Sie haben viel zu schnell geantwortet. Und drei Verneinungen in einem Satz sind zwei zu viel. Sie sind wie ein Teenager, der nichts zugeben will – schon gar nicht, wenn es etwas ist, das ihn berührt. Dabei stecken Sie in einem Sprudelbad der Gefühle, mit viel Pathos und Solidarität … und das führt leider allzu oft direkt in die geistige Impotenz. Erinnern wir uns: Politische Größen aus der ganzen Welt halten Händchen. Von David Cameron bis Sergej Lawrow, von Benjamin Netanjahu bis Mahmud Abbas. Ein abstoßendes, heuchlerisches Spektakel. Wladimir Putin, Netanjahu & Co. sind doch genau diejenigen, die für den Schlamassel verantwortlich sind, in dem wir stecken.« Roth zeigte hinter sich auf die Leinwand. »Obwohl ich ein überzeugter Atheist bin … Ich glaube, bei diesem Turtelfest der Scheinheiligen kam sich selbst Gott so richtig in den Arsch gefickt vor.«

Stille.

Roth hob den Blick, den er bisher auf den Politiker gerichtet hatte. »Jetzt wird es auch für mich spannend«, sagte er. »So ein impertinenter Kerl, dieser Roth. Monsieur le Ministre überlegt sich bestimmt gerade, ob er aufstehen und gehen soll. Aber das wird er nicht. Als Politiker bewahrt man Contenance. Es heißt ja auch ›political correctness‹ und nicht ›ethical correctness‹. Ich frage Sie deshalb: Meine Damen und Herren, wer von Ihnen bekennt sich zum Christentum?«

Rund die Hälfte der Anwesenden hob den Arm.

»Also!« Roth ging ein paar Schritte an der ersten Reihe entlang. »Seien Sie mutig – ich versichere Ihnen, es hat keine Konsequenzen.«

Am Ende waren es rund drei Viertel der Anwesenden, die sich – teils schüchtern, teils trotzig – mit erhobenen Händen als Christen zu erkennen gaben.

»Und wer von Ihnen«, fragte Roth, »fühlt sich durch die gevögelte Heiligkeit nicht doch ein wenig gekränkt? Vielleicht verletzt, beschämt … Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie wissen, was ich meine.«

Über die Hälfte der Arme blieb oben.

Roth sah es und lächelte. Er wollte etwas sagen, hielt dann jedoch inne. Wie angewurzelt blieb er stehen. Für einen Moment durchfuhr ihn eine seltsame Regung. Sein Lächeln verschwand, das Gesicht wurde starr, als hätte ihn eine Kugel getroffen. Er wandte sich ab. Mit dem Rücken zum Publikum sammelte er sich kurz, dann ging er langsam zurück zum Rednerpult.

Die wenigen im Saal, die Roths Veränderung wahrgenommen hatten, glaubten, sie gehöre zur Show, so wie alles andere auch. Kaum jemand hatte den bekannten Schweizer Professor bisher live sprechen gehört. Deshalb fiel es auch niemandem im Publikum auf, dass der Vortragende übergangslos zum Thema seines Referats wechselte und dieses – an seinen eigenen Maßstäben gemessen – relativ unspektakulär, ja geradezu teilnahmslos abspulte.

Jerome Roth stand in einer dunklen Ecke außerhalb des Gebäudes, zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die kalte Nachtluft. Noch während des Beifalls hatte er sich aus dem Auditorium geschlichen. Weder Blumen noch Dankesworte hatte er entgegengenommen.

Er musste Clara erreichen. Aber sie nahm nicht ab. Jerome war sich sicher, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Er hatte dasselbe schon einmal erlebt. Vor sieben Jahren, als sie einen Autounfall gehabt und danach drei Tage im Koma gelegen hatte. Es war dieses Beben in seiner Brust, so als stünde sein Herz für einen Moment still. Damals hatte er geglaubt, er hätte einen Infarkt erlitten. Erst als die Ärzte anhand eines EKGs nicht den geringsten Befund liefern konnten, war er auf den Zusammenhang gestoßen. Den Zusammenhang zwischen seiner vermeintlichen Herzattacke und Claras Unfall. Die beiden Ereignisse hatten exakt zur selben Zeit stattgefunden.

Warum nahm sie nicht ab? Wie schon ein Dutzend Mal zuvor tippte Jerome auf seinem Handy Claras Nummer an, hörte die Stimme auf der Combox und legte wieder auf.

»Ach, hier sind Sie, Professor.« Maurice Julliard, ein Kollege von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne, hatte Roth entdeckt. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Hier draußen in der Kälte … Ich habe Ihren Mantel mitgebracht. Sie holen sich sonst noch den Tod.«

»Danke.«

»Ist alles okay bei Ihnen?«

»Ja, alles prima, nur ein kurzer Asthmaanfall«, sagte Roth. »Ist schon vorbei. Ich habe mein Spray im Hotelzimmer liegenlassen.«

»Wir gehen ins Gay Lussac«, sagte Julliard. »Nur ein paar Fakultätskollegen, keine Minister.« Er lachte. »Sie kommen doch auf ein Glas Wein mit, oder?«

Roth nickte. »Ich hole noch rasch mein Velo. Wir sehen uns gleich.«

Mit sorgenvoller Miene, in Gedanken bei Clara, ging er zu seinem Fahrrad. Er hatte es beim Eingang zur Uni an eine Laterne gebunden. Als er das Schloss öffnen wollte, klingelte sein Handy. Hastig zog er es aus der Hosentasche. Es war Mara Hofer.

»Ist was mit Clara?«, fragte er ohne ein einziges Wort der Begrüßung.

»Woher weißt du …?« Mara klang überrascht.

»Sag schon.«

»Sie war bei ihm.«

»Das ist nicht wahr, oder?« Roth ging ein paar Schritte, atmete tief durch. »Du hast mir gesagt, sie ist in Sicherheit. Und überhaupt, wie kommt es …?«

»Ich weiß es nicht«, unterbrach sie ihn.

Roth schüttelte verständnislos den Kopf. »Hört das denn nie auf?«

»Es wird nie vorbei sein, Jerome. Das weiß ich jetzt.«

Roth spürte, wie Wut in ihm hochkochte. »Und Clara? Ist sie bei dir, wie geht es ihr?«

»Schlecht.«

»Wie schlecht?«

»Du musst ihn aus dem Verkehr nehmen, Jerome. Hörst du? Zieh endlich den Stecker … Es ist nun an dir. Ich bin mit meinem Latein am Ende.« Eine tiefe Resignation lag in Maras Worten.

»Wo ist sie … kann ich mit ihr sprechen?«

»Ich hab sie in die Klinik gebracht«, sagte Mara. »Ins Balgrist. Bin jetzt auf dem Heimweg. Vermutlich ein Kehlkopftrauma … Rippenbrüche und eine Platzwunde am Kopf.«

»Sie muss es überleben, hörst du?«, sagte Roth. »Clara ist stark.«

»Ja, ist sie. Aber das ist nicht alles, es kommt noch viel schlimmer. Halt dich fest, Jerome.«

Nach dem halbstündigen Gespräch mit Mara ging er nicht mehr ins Gay Lussac. Er entschuldigte sich auch nicht per SMS bei den Kollegen. Stattdessen fuhr er mit dem Fahrrad hinunter an die Seine. In der Nähe des Pont Neuf setzte er sich ans Ufer und starrte auf das dunkle Wasser, als bärge es die Lösung, nach der er suchte.

Kurz vor drei Uhr, durchgefroren und ohne die leiseste Idee, wie er das Problem lösen sollte, betrat Roth die Eingangshalle des Hôtel du Louvre. Er ging auf sein Zimmer und stellte sich unter die Dusche. Schlafen konnte er nicht. Um sechs Uhr dreißig packte er seine wenigen Sachen in eine schwarze Leder­tasche, bezahlte die Rechnung und stieg in ein Taxi.

Um Viertel nach sieben saß Roth in einem Abteil erster Klasse im TGV nach Zürich. Der Zug verließ den Gare de Lyon um exakt sieben Uhr dreiundzwanzig.

Kapitel 2

Kommissario!

Kommissario!«

Es war nicht zum Aushalten.

Kommissario! – Kommissario! – Kommissario! So ging das schon den ganzen Morgen. Nein, länger! Seit Anfang der Woche, ein einziges Theater.

»Kommissario!«

Gleich am ersten Arbeitstag im neuen Jahr hatte es angefangen. Ein Zweipersonenstück, bestehend aus einem einzigen Akt.

Der Ort des Geschehens: ein Kommissariat in Zürich; die beiden Personen: ein Kommissar und seine Sekretärin. Die Handlung war derart simpel, dass der Verdacht aufkommen musste, sie wäre von einem jener Klamaukstücke abgekupfert, die regelmäßig von Laienbühnen (vorzugsweise in ländlichen Gegenden) gespielt wurden.

Ein Kommissar muss unter Zeitdruck eine knifflige Denksportaufgabe lösen, während seine Sekretärin, die brennend an der Lösung der Aufgabe interessiert ist, ihn andauernd dabei stört. Untermalt von ihren unheilvollen »Kommissario!«-­Rufen, gipfelt das Ganze im Wahnsinn. Der Kommissar weigert sich, die Aufgabe weiter zu bearbeiten, und zerreißt den Papierbogen in tausend Stücke. In der darauffolgenden Schlussszene kommt es zur Katharsis (nach dem Muster antiker Tragödien): Die Darsteller werfen die Papierschnipsel in die Luft, und mit Hilfe eines für die Zuschauer unsichtbaren Gebläses wirbeln die kleinen Fetzen minutenlang umher. Auf der Bühne sieht es aus, als schneite es. Am Ende, wenn alles von kleinen weißen Flocken bedeckt ist, herrscht absolute Ruhe.

»Kommissario?!«

»Ruhe!«, brüllte Eschenbach und zuckte zusammen. Er hatte sich selbst erschreckt, wie ein kleines Kind, das im Dunkeln »Hu!« macht. Was war nur mit ihm los? Er saß da und schüttelte den Kopf. Seine Tochter Kathrin kam ihm in den Sinn. Sie studierte Psychologie im zweiten Semester. Und wenn sie sich trafen, zum Essen oder auch mal zwischendurch auf einen Kaffee, war sie nicht mehr zu bremsen, wenn sie einmal angefangen hatte, darüber zu referieren, wie sehr der Mensch durch sein Unterbewusstsein gesteuert werde.

Es musste also sein Unterbewusstsein gewesen sein, das sich so impulsiv gemeldet hatte. Vermutlich stand es noch immer auf der Bühne und wollte die Ruhe genießen, die Ruhe am Ende eines schwierigen Stückes, kurz bevor der Applaus einsetzt.

»Um Gottes willen! Alles in Ordnung?« Rosa Mazzoleni stand in der Tür, in einem dunkelblauen Kaschmirkleid, und schaute ihren Chef irritiert an.

»Kommen Sie bitte herein, und setzen Sie sich«, murmelte der Kommissar.

»Ich störe ja doch nur.«

»Nein, Sie stören nie.«

»Bestimmt.«

»Keineswegs, Frau Mazzoleni.« Eschenbach fragte sich, ob dies der Auftakt zu einer neuen Szene war.

»Es ist immer dasselbe«, sagte Rosa in ruhigem Ton. Langsam ging sie zu Eschenbachs Schreibtisch, setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und schlug die Beine übereinander. »Am ersten Dezember fängt es jeweils an … Dann bekommen wir die Fragebögen.«

»Ich weiß«, kam es etwas kleinlaut von Eschenbach.

»Genau, Sie wissen das. Es ist wie Weihnachten … man kann es sich gut merken. Nur dass es nicht der vierundzwanzigste, sondern der erste Dezember ist. Nichts Überraschendes.«

»Keineswegs.«

»Eben. Und ich streiche Ihnen das Datum in Ihrem Kalender immer rot an.«

»Lila«, sagte der Kommissar leise. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Rosa hatte die Angewohnheit, die Farben ihrer Stifte je nach Laune zu wechseln.

»Oder grün«, sagte sie.

»Vielleicht auch ocker.«

»Sehen Sie«, meinte Rosa mit einem tiefen Seufzer. »Sie nehmen mich überhaupt nicht mehr ernst. Vielleicht ist das ja auch kein Wunder, nach so vielen Jahren.«

»Über zwanzig.«

»Vierundzwanzig Jahre«, sagte Rosa. »Und am ersten März sind es fünfundzwanzig. Ein Vierteljahrhundert.«

»Eben.« Eschenbach notierte sich das Datum.

»Und dann ist es wie bei einem alten Ehepaar … man ist einfach da. Aber so richtig schätzen tut man sich nicht mehr. Da sehnt man sich nach etwas Neuem.« Rosa zupfte an ihrer Frisur: eine dunkle Lockenpracht, die sie mit kleinen, bunten Haarspangen kunstvoll hochgesteckt hatte.

»Das ist blanker Unfug, Frau Mazzoleni … absoluter Blödsinn!« Der Kommissar, der nun kerzengerade auf seinem Stuhl saß, deutete auf den Fragebogen vor sich. »Ich arbeite daran«, sagte er. »Und ich lese Ihnen jetzt einmal ein paar Sätze vor aus diesem Werk, das, wie Sie richtig bemerkt haben, schon seit dem ersten Dezember bei mir auf dem Schreibtisch liegt.«

»Wir hätten es am Fünfzehnten an die Personalabteilung weiterleiten sollen.«

»Heute ist erst der Elfte.«

»Aber die meinten Dezember, nicht Januar!«, sagte Rosa mit vorwurfsvollem Blick. »Und ein Mitarbeitergespräch haben wir auch noch nicht geführt.«

»Dann führen wir es eben jetzt!« Der Kommissar betrachtete nachdenklich die Kreuze, die er an verschiedenen Stellen mit Bleistift gemacht hatte. »Nehmen wir einmal die erste Frage.« Er las sie laut vor:

»Der/die MitarbeiterIn erreicht die vorgegebenen Ziele.

Sehen Sie, Frau Mazzoleni … Das ist nicht mal eine Frage, sondern nur eine Scheißtabelle, wo man Kreuze machen muss. Ein Kreuz bei NIE, SELTEN, OFT oder IMMER. Und so geht es weiter … zum Beispiel in der Rubrik Motivation. Da steht:

Dem/der MitarbeiterIn fällt es leicht, andere für eine Idee zu begeistern.

Oder noch besser:

Der/die MitarbeiterIn setzt sich auch dann ein, wenn es nicht seinen/ihren Aufgabenbereich betrifft.

Wieder ein Kreuz bei NIE, SELTEN, OFT oder IMMER.

Insgesamt fünf Rubriken mit je sieben superschlauen Sätzen. Und da fragen Sie mich, warum ich mich nicht gleich darauf stürze und die Sache bis zum Fünfzehnten erledigt habe.«

Rosa zog die Schultern hoch, um sie gleich darauf wieder sinken zu lassen. »Und jetzt?«, fragte sie.

»Jetzt gebe ich Ihnen Ihren Bogen.« Zur großen Überraschung seiner Assistentin zog der Kommissar die Unterlagen aus der Schublade und überreichte sie ihr. »Alles fixfertig angekreuzt, Frau Mazzoleni. Sie können es sich in Ruhe ansehen …« Eschenbach lächelte. »Und wenn Sie damit einverstanden sind, dann machen Sie bei EINVERSTANDEN ein Kreuz, setzen das Datum darunter und unterschreiben es.«

Rosa begann den mehrseitigen Fragebogen, der mit Mitarbeiterbeurteilung überschrieben war, zu überfliegen. Nach einer Weile errötete sie. »Sie haben die Kreuze immer …«

»Ja, immer bei IMMER«, unterbrach Eschenbach sie.

»Aber …«

»Nichts aber«, grummelte der Kommissar.

»Es ist wie im letzten Jahr, da war es auch schon so.«

»Genau. Und im vorletzten und vorvorletzten auch«, ergänzte Eschenbach. »Eigentlich immer. Immer IMMER, Frau Mazzoleni.«

»Pah«, machte Rosa. Und langsam, während sie die Seiten studierte, verschwand die Röte aus ihrem hellgepuderten Gesicht. »Aber so ganz seriös ist das ja nicht, oder?«

»Nein, ist es nicht.«

»Ma che cosa fa?«

Es war eine Eigenart von Rosa, ins Italienische zu wechseln, wenn die Sache, über die sie gerade nachdachte, ernst zu sein schien. Eine erstaunliche Eigenart, da sie schon als Vierjährige in die Schweiz gekommen war. Aber Rosa war ein Phänomen. Als Arbeiterkind hatte sie ihre Kindheit in Zürich verbracht und später am Gymnasium mit Bestnoten ihre Matura gemacht. Die Stelle bei Eschenbach im Sekretariat hatte sie damals nur angenommen, um etwas Geld zu verdienen. Denn eigentlich hatte sie Romanistik studieren und später Lehrerin werden wollen.

»Che cosa fa?« Mit der Gestik eines italienischen Lokalpolitikers wiederholte Eschenbach Rosas Frage. Auch wenn seine Italienischkenntnisse äußerst bescheiden waren, mochte der Kommissar die Intermezzi mit Rosa, die gelegentlich in der dritten Schweizer Landessprache ausgetragen wurden. »Wir geben das jetzt der Personalabteilung«, sagte er. »Dort tippen sie die Kreuze in den Computer, und das Sistema Automatica, wie Sie es nennen, vergleicht die Ergebnisse mit denen von Hunderten anderen Angestellten des Kantons.«

»Es heißt Sistema Automatico.« Rosa zupfte an ihrem Kleid, als wollte sie einen unsichtbaren Fussel entfernen. »Sistema ist eines der italienischen Wörter mit der Endung -a, die männlich sind.«

»Und dann …«, sagte Eschenbach, der den Faden nicht verlieren wollte, »also spätestens dann wird mich jemand aus der Personalabteilung anrufen und mir weismachen wollen, dass es so jemanden wie Sie gar nicht gibt.«

Rosa lachte verlegen.

Eschenbach zog eine weitere Mappe aus der Schublade. »Weil nämlich niemand bei diesem Fragebogen alle Kreuze bei IMMER haben könne. Das sei unmöglich, wird man mir erklären. Und man wird mich aufs Neue belehren, dass es bei dieser Ankreuzerei vor allem um die Entwicklung der Mitarbeiter geht …«

»Aber es steht Mitarbeiterbeurteilung drauf«, bemerkte Rosa.

»Genau, und darum ist es eine Falle! Ich werde auf jedem dieser Kreuze beharren, als wären sie in Stein gemeißelt.« Eschenbach grinste und deutete auf die Mappe, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Und weil es jedes Jahr immer dasselbe endlos lange Telefonat ist, habe ich mir die wichtigsten Argumente aufgeschrieben. Ich werde wieder ein Loblied anstimmen, Frau Mazzoleni, eine Götterarie wie aus einer Oper von Verdi.«

Für einen kurzen Moment war Rosa sprachlos.

»Und bei Claudio Jagmetti auch … dieselbe Prozedur«, sagte Eschenbach leise.

»Ma Claudio?!« Rosa warf die Hände in die Luft. »Rennt jedem Rock hinterher … jetzt wieder mit der kleinen Pepic von der Spurensicherung! Sie haben ihm doch selbst einen Verweis erteilt wegen der Sache.«

Eschenbach lachte. »Ja, und wenn es in diesem dämlichen Fragebogen die Rubrik gäbe: ›Lässt sich beim Vögeln erwischen‹ – dann hätte ich das Kreuz dort auch bei IMMER gemacht.«

»Santa Maria«, rief Rosa. »Und das auch noch im Büro, einen Tag vor Weihnachten!«

Eschenbach sah auf sein Handy; es lag auf der Tischplatte und vibrierte. Es war schon der zweite Anruf innerhalb der letzten fünf Minuten. Hörbar sog der Kommissar Luft durch die Nase ein. »Haben Sie es denn immer noch nicht begriffen, Frau Mazzoleni? Claudio mag ein Frauenheld sein, ein Chaot, vielleicht sogar ein arrogantes Arschloch … manchmal wenigstens. Aber er ist verdammt noch mal der beste Polizist, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.« Er machte eine Pause und sah Rosa an. »Und obendrein ist er ein Freund, genau wie Sie!«

Seine Sekretärin schluckte.

»Und weder für Sie noch für ihn sind diese Kreuze erfunden worden.«

»Für wen sind sie dann?«, wollte Rosa wissen.

»Für die nächste Sparrunde, Frau Mazzoleni. Und die wird kommen, glauben Sie mir. Werfen Sie mal einen Blick auf die Kantonsfinanzen … seit der Finanzkrise klafft da ein Loch. Ein richtiger Krater. Die ersten Budgetkürzungen sind schon beschlossen worden. Und jetzt raten Sie mal, wo man ansetzen wird, wenn es Entlassungen gibt?«

»Santa Croce!«, stieß Rosa aus.

Eschenbach nahm sein Mobiltelefon zur Hand, loggte sich ein und las die Kurznachricht, die soeben eingetroffen war.

»Ich versteh das ja alles«, sagte Rosa, die immer noch bei den Kreuzen war. »Aber warum brauchen Sie denn so lange für diese Sache … Ich meine, wenn alles so klar ist?«

»Meine Kreuze«, grummelte Eschenbach. Er stand auf, ging die paar Schritte zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Dicke Schneeflocken tanzten vor der Scheibe. Auf der Straße lag brauner Matsch, ein richtiges Sauwetter.

»Sie beurteilen sich selbst, Chef?«

Wieder Rosa zugewandt, die ihn ungläubig ansah, meinte der Kommissar: »Ab einer gewissen Stufe muss man sich selbst einschätzen, Frau Mazzoleni. Das ist Teil der Prozedur. Nebst seinem Chef natürlich, der das ebenfalls tut. Hundert­achtzig-Grad-Perspektive nennen die das.«

»Und da können Sie sich natürlich nicht selbst loben.«

»Nicht über alle Maßen«, ergänzte Eschenbach. Er hatte sich seinen Schal umgebunden und griff nach dem Mantel, der auf dem Besprechungstisch lag.

»Und zu schlecht dürfen Sie sich natürlich auch nicht verkaufen«, mutmaßte Rosa. Fasziniert von der Hinterlist moderner Personalführungssysteme hing sie ihren Gedanken nach. »In der Tat eine heikle Sache, Kommissario.«

»Ich bin dann mal weg«, rief Eschenbach.

»Was? Wie?!« Rosa sprang von ihrem Stuhl auf, als hätte es dem Böögg* den Kopf weggesprengt. »Wir sind doch mitten im Mitarbeitergespräch.«

»Es gibt eine Tote«, sagte der Kommissar trocken. »Tote haben Priorität.«

»Wo?«

»Beim Platzspitz, die Spurensicherung ist schon dort.«

»Aber …«

»Die Pepic hat zweimal angerufen, auf meinem Handy. Und eine SMS hat sie auch noch geschrieben.«

*Der Böögg ist ein künstlicher Schneemann, der anlässlich des Zürcher Frühjahrsfestes (dem Sechseläuten) auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird.