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Titelseite

1

Reva Dalby trommelte ungeduldig mit ihren weinrot lackierten Fingernägeln auf die Armlehne des Taxis und wartete darauf, dass die Ampel endlich auf Grün sprang. Der Fahrer hätte noch locker bei Gelb fahren können. Doch anscheinend war er einer von der vorsichtigen Sorte, der gleich einen Aufstand um das bisschen Schnee auf den Straßen machte. Dabei war die Fahrbahn nur leicht vereist. Nicht der Rede wert. Reva verzog genervt das Gesicht. Das war ja mal wieder typisch, wenn man es eilig hatte.

Nach einer halben Ewigkeit schaltete die Ampel wieder auf Grün. Der Taxifahrer gab Gas und lenkte den Wagen Richtung North Hills, die Villengegend von Shadyside, wo Reva wohnte.

Als er vor dem Herrenhaus vorfuhr, seufzte sie erleichtert auf.

Das wurde aber auch Zeit! Nach zwölf langen Wochen in dieser Zelle, die das Smith College Zimmer nannte, war sie endlich wieder zu Hause. Hatte ihr eigenes Zimmer, ganz für sich alleine. Mit eigenem Telefon und eigenem Bad. Und endlich war Schluss mit diesem widerwärtigen Mensafraß – zumindest für einen Monat. Kein Unterricht schon am frühen Morgen. Keine Zimmergenossin.

Na ja, nicht ganz, verbesserte Reva sich und warf dem zierlichen braunhaarigen Mädchen neben ihr auf dem Rücksitz des Taxis einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu.

Grace Morton war im College ihre Zimmergenossin, und Reva hatte sie eingeladen, die Weihnachtsferien bei ihr zu verbringen. Aber Grace würde natürlich in einem der Gästezimmer schlafen, und damit hätte Reva immer noch massig Zeit für sich selbst.

„Was für ein Nobelschuppen“, kommentierte der Taxifahrer, als er in der Auffahrt des Herrenhauses anhielt.

„Das ist ja wunderschön, Reva!“, rief Grace begeistert.

„Hmmm“, machte Reva nur. Sie stieg aus dem Wagen und sah zufrieden an dem großen, alten Haus hoch. Ein riesiger Lorbeerkranz mit roten Schleifen hing an der Haustür, und in den Fenstern brannten Kerzen.

„Wisst ihr, was sich als Weihnachtsschmuck auf dem Dach noch gut machen würde?“, fragte der Taxifahrer, als er ihr Gepäck aus dem Kofferraum auslud.

„Nein, aber Sie werden es mir bestimmt gleich verraten“, erwiderte Reva mit ironischem Grinsen.

„Der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren“, erklärte der Fahrer. „So ein riesiges Ding, bei dem die Lichter immer an und aus gehen.“

Reva verdrehte die Augen. So was war doch absolut peinlich und billig. „Herzlichen Dank für den Tipp“, sagte sie nur und drückte dem Fahrer einige Scheine in die Hand. „Unheimlich originell!“

„Reva, du hast das Trinkgeld vergessen“, flüsterte Grace ihr zu, als der Fahrer kopfschüttelnd in den Wagen stieg.

Reva lachte. „Da muss er durch.“

Sie lachte noch lauter, als der Taxifahrer zornig den Motor aufheulen ließ und mit quietschenden Reifen davonraste. Vielleicht lehrte ihn das, seine Meinung für sich zu behalten, wenn er nicht gefragt wurde.

Grace sah sie erschrocken an. „Aber es ist doch Weihnachten“, wandte sie ein.

Reva zuckte die Schultern. „Dann spende ich sein Trinkgeld eben einer Wohltätigkeitsorganisation, okay? Komm, wir gehen rein. Nein, nein, lass die Taschen stehen. Dafür haben wir doch Hausangestellte.“

Schnell eilte Reva die Stufen hinauf, um dem schneidend kalten Dezemberwind zu entkommen, und drückte die Haustür auf.

Die Eingangshalle war leer und düster.

Als Reva mit Grace über den Marmorboden auf die große Treppe zuging, zerriss ein spitzer Schrei die Stille. Dann ertönten hastige Schritte oben auf der Treppe, rasten die Stufen herunter, und mit einem Satz landete eine kleine Gestalt direkt vor Grace’ Füßen.

Grace schrie auf und wich zurück.

Reva verzog genervt das Gesicht. „Michael!“, fauchte sie ihren acht Jahre alten Bruder an. „Du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt!“

„Ich bin nicht Michael!“, brüllte Michael. „Ich bin der grausame Rächer. Der mächtigste Ninja-Krieger aller Zeiten!“

Seine blauen Augen, die er zu schmalen Schlitzen verengt hatte, funkelten bedrohlich. Dann vollführte er mehrere schnelle Armbewegungen und sprang mit einem Satz in die Hocke. Langsam umkreiste er Grace.

Grace wich nervös zurück.

Bevor Reva ihn aufhalten konnte, wirbelte Michael herum und kickte seinen Fuß in die Luft. Er verfehlte Grace’ Kinn nur um Haaresbreite.

„Michael!“, kreischte Reva. Blitzschnell packte sie ihn am Arm. „Du hättest sie fast im Gesicht getroffen!“

Michael entwand sich ihrem Griff mit einem Lachen. „Wenn ich gewollt hätte, hätte ich sie erwischt. Aber ich habe absichtlich danebengezielt“, rief er und ließ wieder seine Hände durch die Luft sausen. „Wenn ich will, dann könnte ich ihr den Kopf abschlagen!“

Reva atmete tief durch und wandte sich an Grace, die Michael misstrauisch beäugte. Ihr rundes Gesicht war ganz bleich geworden. „Michael, das ist Grace Morton, meine Mitbewohnerin aus dem College. Sie wird die Weihnachtsferien bei uns verbringen.“

„Ich bin nicht Michael“, wiederholte Michael. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und trat abermals in die Luft. „Ich bin der grausame Rächer, verstanden?“ Und mit einem letzten Kampfschrei rannte er wieder die Treppe hinauf.

Reva atmete erleichtert auf. „Anscheinend hat Daddy nicht übertrieben“, murmelte sie.

„Wie meinst du das?“ Grace ließ sich auf die unterste Treppenstufe sinken, als würden ihre Beine ihr jeden Moment den Dienst versagen.

„Er hat mir erzählt, dass Michael in letzter Zeit völlig in Gewaltfantasien aufgeht“, erklärte Reva. „Daddy meint, dass es mit meiner Entführung zu tun haben könnte.“ Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie an Weihnachten vor einem Jahr zurückdachte. Damals hatten Kidnapper sie in ihre Gewalt gebracht – und sie hatte nicht gedacht, das nächste Weihnachten noch zu erleben. „Auf jeden Fall macht er sich ziemlich Sorgen um Michael.“

„Kann ich verstehen.“ Grace kaute auf ihrer Unterlippe herum und blickte sich nervös um. Dann sprang sie plötzlich auf und packte Reva am Arm.

„Was ist?“, fragte Reva ungehalten. Machte Grace jetzt einen Riesenaufstand, nur weil ein kleines Kind sie ein bisschen erschreckt hatte?

„Da ist jemand an der Tür!“, flüsterte Grace tonlos.

Die Eingangstür schwang auf, und Reva fuhr herum. Eines der Hausmädchen trat ein. Sie trug die beiden Reisetaschen der Mädchen. Ihr folgte mit zwei Koffern ein athletischer, gut aussehender Mann, dessen schwarze Haare an den Schläfen bereits ergraut waren.

„Daddy!“, rief Reva. Sie rannte das Hausmädchen fast über den Haufen und fiel ihm um den Hals.

„Als ich vor dem Haus anhielt und die Koffer sah, wusste ich gleich, dass mein Mädchen zu Hause ist!“, sagte Robert Dalby. Er stellte das Gepäck ab und umarmte seine Tochter. „Und du musst Grace sein“, fügte er mit einem Blick über Revas Schulter hinzu. „Herzlich willkommen!“

Grace lächelte ihn an und schüttelte ihm die Hand. Reva hatte ihren Arm noch immer um seine Taille geschlungen, als sie ins Wohnzimmer hinübergingen.

„Daddy, du hast ja keine Ahnung, wie froh ich bin, wieder zu Hause zu sein!“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann ließ sie sich in eines der weichen Samtsofas sinken. „Die Zeit bis zu den Weihnachtsferien hat sich gezogen wie Kaugummi.“

Mr Dalby schmunzelte und nahm in einem Sessel Platz. „Sie gehen da wohl nicht gerade zimperlich mit euch um, was?“

„Es ist sogar noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagte Grace, die sich neben Reva gesetzt hatte. „Findest du nicht auch, Reva?“

Reva gähnte. „Der Unterricht langweilt mich meistens, ehrlich gesagt. Und die anderen Mädchen sind ziemlich unreif und kleiden sich total geschmacklos. Es wäre mir richtig peinlich, jemanden von ihnen hierher mitzubringen. Außer dir natürlich, Grace.“

„Vielleicht solltest du ihnen einmal eine Typberatung bei Dalby’s vorschlagen?“, meinte ihr Vater und grinste breit. Robert Dalby war der Besitzer von Dalby’s, einem großen Nobelkaufhaus in Shadyside, und weiteren Filialen im ganzen Land. „Wo wir gerade vom Kaufhaus reden“, sagte er zu Reva. „Du hast nicht vielleicht Lust, dort über Weihnachten ein bisschen zu jobben?“

„Auf gar keinen Fall“, entgegnete Reva.

„Ich könnte deine Hilfe wirklich brauchen, und du würdest dir ein bisschen was dazuverdienen“, sagte ihr Vater.

„Ich habe genug Taschengeld“, erklärte Reva. Sie seufzte und ließ den Kopf theatralisch auf die Sofalehne sinken. „Außerdem halte ich diese Weiber dort einfach nicht aus, die aus ihren zu engen Stretchhosen quellen.“

„Mit ihnen verdienen wir aber unser Geld, mein Schatz“, sagte Mr Dalby.

„Klar, aber deshalb muss ich die Kundinnen ja noch lange nicht mögen, oder?“ Mit einem Lachen sprang Reva auf. „Komm, Grace, ich zeige dir dein Zimmer. Es hat ein eigenes Bad mit Whirlpool. Es wird dir gefallen.“

Reva gab ihrem Vater einen weiteren Kuss auf die Wange, dann führte sie Grace nach oben in eines der Gästezimmer. Grace’ Gepäck stand schon fein säuberlich aufgereiht neben dem Himmelbett. „Das Hausmädchen packt wahrscheinlich gerade meine Koffer aus“, erklärte Reva. „Wenn sie damit fertig ist, schicke ich sie zu dir.“

„Ach, das musst du nicht“, erwiderte Grace. „Ich mache das lieber selbst.“

Reva zuckte die Schultern. „Ganz wie du willst. Wir sehen uns dann nachher zum Abendessen, ja?“ Damit zog sie die Tür hinter sich zu und schlenderte über den Flur zu ihrem eigenen Zimmer.

Das Hausmädchen stand vor dem großen begehbaren Kleiderschrank und hängte gerade eine blaue Seidenbluse auf einen samtbezogenen Bügel.

„Hast du Tomaten auf den Augen? Siehst du nicht den Fleck vorne auf der Bluse?“, fuhr Reva sie an. „Die gehört in die Wäsche.“

„Tut mir leid, Miss Dalby“, sagte das Hausmädchen schnell, nahm die Bluse vom Bügel und legte sie sich über den Arm. „Ich habe den Fleck übersehen.“

„Das habe ich gemerkt.“ Mit gerunzelter Stirn ging Reva zu ihrer Kommode und begann, sich vor dem Spiegel die Haare zu bürsten. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Rote Locken, porzellanweiße Haut und eisblaue Augen.

Der genervte Gesichtsausdruck kehrte zurück, als sie ihre Angestellte dabei beobachtete, wie sie zwischen dem Schrank und dem Bett hin und her lief.

„Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Miss Dalby, dann würde ich jetzt bei der Zubereitung des Abendessens helfen“, sagte das Hausmädchen.

„Nur zu.“ Als das Hausmädchen gegangen war, stellte Reva sich unter die Dusche. Sie zog eine schwarze Wollhose und eine weinrote Satinbluse an. Dann föhnte sie sich schnell das Haar, warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging Grace abholen.

Reva klopfte einmal an, dann trat sie ein.

Grace saß auf dem Bett. Sie hielt das Telefon so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Als sie Reva bemerkte, blickte sie auf.

Reva stockte der Atem.

In Grace’ braunen Augen stand das pure Entsetzen.

„Grace, was ist los mit dir?“, fragte sie. „Was hast du?“

Grace legte die Hand über die Sprechmuschel. „Es ist Rory“, flüsterte sie mit bebender Stimme. „Er … er weiß, dass ich hier bin. Oh Reva, ich habe so Angst! Wie hat er mich nur gefunden?“

2

„Ich verstehe es einfach nicht!“, flüsterte Grace. Ihre Hand, die das Telefon hielt, zitterte leicht. „Woher weiß Rory, dass ich hier bei dir bin?“

Reva verdrehte die Augen. Um darauf zu kommen, musste man kein Superhirn sein. „Vielleicht hast du dich verplappert?“

Grace schüttelte den Kopf. „Nein, auf keinen Fall!“, widersprach sie energisch.

„Dann hast du es eben einem anderen Mädchen aus dem College erzählt“, sagte Reva ungeduldig. „Und sie hat es weitergetratscht.“

„Nein, ich habe niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen …“ Plötzlich nahm Grace ihre Hand von der Sprechmuschel. „Bitte, Rory!“, sagte sie mit flehender Stimme. „Lass mich doch einfach in Ruhe. Nein. Nein, ich will mich nicht mit dir treffen. Nein … bitte nicht. Komm auf gar keinen Fall her, Rory. Das ist mein Ernst. Sonst rufe ich die Polizei. Und glaub mir, ich mache keine Scherze!“

Während Grace weiter mit Rory diskutierte, ging Reva zu dem blumengemusterten Armsessel am Fenster hinüber und ließ sich hineinfallen. Sie blickte hinaus auf den tief verschneiten Park, der das Herrenhaus umgab, und hing ihren Gedanken nach. Ihr fiel wieder ein, wie Grace ihr zum ersten Mal von Rory Givens erzählt hatte.

Reva hatte mit einigen Büchern im College auf ihrem unbequemen Bett gelegen und für eine Französischprüfung gelernt, als die Tür aufflog und Grace ins Zimmer gestürmt kam. Sie schlug die Tür krachend hinter sich zu und lehnte sich laut keuchend mit dem Rücken dagegen.

„Spielt ihr Verstecken oder Fangen oder was?“, fragte Reva und starrte Grace’ feuerrotes Gesicht an.

„Ich … ich hab was gesehen …“, stammelte Grace, die noch immer nach Atem rang. Dann drehte sie sich um und begann, hektisch mit dem Schlüssel herumzufummeln.

„Du weißt doch, dass das Schloss nicht mehr richtig funktioniert“, erinnerte Reva sie. „Und jetzt sag endlich, was mit dir los ist. Was hast du gesehen?“

„Nicht was – wen“, antwortete Grace mit brüchiger Stimme.

„Na gut, dann also wen.“ Reva schob ihre Französischbücher zur Seite. „Mach’s nicht so spannend.“

Grace holte tief Luft. „Ich habe Rory gesehen. Er stand vor der Bibliothek, als ich rauskam. Zumindest glaube ich, dass er es war. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber es würde mich nicht wundern. So was passt zu ihm.“

„Langsam, langsam.“ Reva hob beschwichtigend die Hände. „Ich verstehe kein Wort, das musst du mir erklären. Wer ist dieser Rory?“

„Stimmt, ich habe dir ja noch nie von ihm erzählt.“ Zögerlich ging sie zu Reva hinüber und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. „Rory Givens ist mein Freund.“ Sie schüttelte den Kopf. „Oder besser: Er war mein Freund.“

„Was ist passiert?“, fragte Reva.

„Er ist verrückt – das ist passiert!“, erwiderte Grace, und es war ihr richtig anzumerken, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Er ist total durchgeknallt und eifersüchtig und schrecklich besitzergreifend. Wenn ich einen anderen Jungen nur angeschaut habe, ist er jedes Mal ausgerastet.“ Sie zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. „Deshalb habe ich mit ihm Schluss gemacht.“

Reva schnaubte unwillig. „Na, das will ich ja wohl hoffen!“

„Es war schrecklich“, fuhr Grace fort. „Rory meinte, er würde mich niemals gehen lassen, und er ist furchtbar wütend geworden. Ich hätte nie gedacht, dass er so sein könnte. Ein paar Wochen danach bin ich im Einkaufszentrum zufällig seinem Bruder Terry über den Weg gelaufen. Terry ist das genaue Gegenteil von ihm – ruhig und eher schüchtern. Wir haben uns nett unterhalten, und er hat mich nach Hause gefahren. Ich winkte ihm nach und ging durch den Vorgarten zur Haustür. Doch dort wartete schon Rory auf der vorderen Veranda.“

„Oh, oh!“

Grace nickte. „Da wurde mir klar, dass Rory wirklich verrückt ist. Er sah mich an, als wolle er mich umbringen. Er schrie, ich hätte sein Leben zerstört und dass er mir das heimzahlen würde – darauf könnte ich Gift nehmen. Und dann … dann schlug er mich!“

Reva stockte der Atem.

„Er stieß mich zu Boden und schlug mit seinen Fäusten auf mich ein. Mein Gesicht war ganz blutig, und ich hatte überall blaue Flecke. Und fast jede Nacht verfolgt er mich in meinen Träumen.“

Reva schüttelte fassungslos den Kopf. „Wenn mir das jemand antun würde, wäre er schneller hinter Gittern, als er bis drei zählen kann.“

„Meine Eltern haben natürlich sofort die Polizei eingeschaltet, aber er musste nicht ins Gefängnis. Und er hat mich trotzdem weiterhin bedroht. Er rief mitten in der Nacht an, lauerte mir nach der Schule auf und verfolgte mich auf dem Heimweg. Ich konnte es kaum erwarten, endlich ins College zu kommen. Ich dachte, dass ich hier im Smith College sicher vor ihm wäre und der Spuk damit ein Ende hätte.“

„Wie es aussieht, ist die Sache aber noch lange nicht ausgestanden, wenn du dieses Schwein wirklich vor der Bibliothek gesehen hast.“

„Na ja, ich bin mir wie gesagt nicht ganz sicher“, meinte Grace. „Aber auch wenn ich mich diesmal getäuscht habe – es ist nur eine Frage der Zeit, bis er hier auftaucht. Er hat mich hier im College auch schon angerufen – also auf dem Festnetz. Und mir einen Drohbrief geschickt. Er schrieb, dass er noch lange nicht mit mir fertig sei …“

Grace’ Stimme holte Reva aus ihren Gedanken zurück. Sie starrte Grace an, wie sie in ihrem Gästezimmer auf dem Bett saß und Rory verzweifelt anflehte, sie endlich in Ruhe zu lassen.

So würde das nie etwas werden, dachte Reva. Grace klang so schwach und weinerlich. Auf diese Weise konnte sie jemanden wie Rory Givens ganz sicher nicht in die Flucht schlagen.

Reva seufzte. Warum hatte sie Grace nur hierher eingeladen? Ferien waren schließlich dazu da, dass man sich entspannte und jede Menge Spaß hatte. Und das Letzte, was sie brauchen konnte, war Ärger mit den durchgeknallten Exfreunden anderer Leute.

Natürlich hatte Grace Angst davor gehabt, in den Weihnachtsferien nach Hause zu ihren Eltern zu fahren. Denn dort wartete Rory bereits auf sie. Deshalb hatte Reva sie gefragt, ob sie die Ferien bei ihr verbringen wollte.

Reva zwang sich zu einem Lächeln, als Grace schließlich das Gespräch beendet hatte. Vielleicht bekam sie ja eine Auszeichnung von Amnesty International für ihr Engagement, dachte sie. „Und, hast du ihm gesagt, dass er bleiben soll, wo der Pfeffer wächst?“, fragte sie.

„Ich habe es zumindest versucht.“ Grace’ braune Augen wirkten in ihrem bleichen Gesicht noch größer als sonst, ihre Stimme zitterte. „Er hört sich noch schlimmer an als früher, Reva. Er ist so verbittert und so zornig … Reva, ich habe solche Angst. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Dein Problem“, dachte Reva gleichgültig. „Fahr am besten nach Hause zu deiner Mami.“

Kurz darauf läutete das Telefon erneut, und Reva stand auf, um ranzugehen.

Sie griff nach dem Hörer.

„Nein!“ Grace schlug ihr die Hand weg. „Geh nicht ran!“

„Was soll das?“, schrie Reva.

„Geh nicht ran!“, wiederholte Grace, und in ihren Augen stand blanke Angst. Sie hielt die Hand abwehrend über das klingelnde Telefon. „Das ist Rory. Ich weiß es genau!“

3

„Komm schon, Reva, heb ab!“ Pam Dalby, Revas Cousine, lauschte am anderen Ende der Stadt in dem heruntergekommenen Haus ihrer Familie in der Fear Street dem Tuten des Telefons. „Na, mach schon!“

„Vielleicht ist sie nicht zu Hause“, meinte Pams Freundin Willow Sorenson.

„Sie ist zu Hause“, erwiderte Pam grimmig. „Ich weiß sicher, dass sie heute angekommen ist. Warum geht sie nicht an das verdammte Telefon?“

Willow zuckte die Schultern und machte sich eine Dose Cola auf. „Hat sie keinen Diener, der ihre Anrufe entgegennimmt?“, fragte sie.

„Vergiss es“, antwortete Pam. „Niemand außer ihr darf an ihren Privatanschluss. Darauf steht quasi die Todesstrafe.“

„Und wenn du dich verwählt hast?“, meinte Willow. „Leg auf, und versuch es noch einmal.“

Pam schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass sie sich nicht verwählt hatte. Ihre Cousine Reva nahm einfach nicht ab.

„Als ob sie ahnen würde, dass ich es bin. Als ob sie extra nicht ans Telefon geht, um mir eins auszuwischen“, dachte Pam erbost. Na gut, das Spielchen konnte sie mitspielen. Sie würde es einfach so lange klingeln lassen, bis Reva wahnsinnig wurde und irgendwann doch ranging.

Seufzend lehnte sie sich in ihrem zerschlissenen Sessel zurück und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr ein. Sie nahm ein langes kirschrotes Tuch, das über der Armlehne hing, und ließ es durch ihre Finger gleiten.

„Reva schuldet mir einen Gefallen“, dachte sie und ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Es brauchte dringend einen neuen Anstrich, die Möbel waren abgewetzt, und an manchen Stellen war der Teppich so abgetreten, dass man schon die morschen Holzdielen durchscheinen sah. Aber Reparaturen am Haus waren ein Luxus, den sich ihre Familie nicht leisten konnte.

Genauso wenig wie das College.

Pam seufzte. Warum waren nicht ihre Eltern die reichen Dalbys?

Sie wäre an mehreren Colleges aufgenommen worden, doch für ein Stipendium waren ihre Noten nicht gut genug. Um selbst das Geld für die Collegegebühren zu verdienen, hatte sie einen Job als Schreibkraft bei der Acme-Versicherung angetreten. Dort hatte sie Willow kennengelernt, und sie hatten sich angefreundet.

„Hey!“, unterbrach Willow ihre Gedanken. „Wie lange willst du es denn noch klingeln lassen?“

„So lange wie nötig.“

Willow schüttelte den Kopf. Sie packte einen Kaugummi aus und schob ihn sich langsam in den Mund. Das winzige Piercing in ihrem linken Nasenflügel bewegte sich ein wenig mit, als sie kaute, und funkelte rötlich.

Willow hatte Pam schon einige Male überreden wollen, sich auch die Nase piercen zu lassen, aber Pam wollte nicht. Bei Willow sah es ganz gut aus. Es passte zu ihren kurzen kupferblonden Haaren und dem winzigen Tattoo in Form eines orangefarbenen Blitzes, das sie auf der rechten Schulter hatte.

Pam betrachtete sich im Spiegel über dem Kamin. Hellgrüne Augen, lange blonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und ein rundes, freundliches Gesicht. Die Art von Gesicht, wie man es aus Anzeigen für Patchworkdecken oder Bratpfannen und Töpfe kannte. Ein Nasenpiercing passte einfach nicht ins Bild.

Das Telefon tutete noch immer. „Nun nimm schon ab, Reva!“, drängte Pam. Sie wickelte das rote Tuch um ihre Hände. „Sonst erdrossle ich dich damit!“