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LOGBUCH DES TODES

Schiffssicherheitsverordnung (SchSV) SchSV

vom 18. September 1998 (BGBl. I S. 3013, 3023)

B. Ergänzende Anforderungen zu § 6 des Schiffssicherheitsgesetzes

B.II. Tagebücher

1. Seetagebücher

1.1 Seetagebücher sind das Schiffstagebuch und das Maschinentagebuch, bei Binnenschiffen wahlweise das Bordbuch und das Fahrtenbuch.

1.2 Als Nebenbücher können geführt werden a) als Bestandteil des Schiffstagebuchs das Brückenbuch, b) als Bestandteil des Maschinentagebuchs das Peilbuch und das Manöverbuch.

1.3 Die Seetagebücher sind an Bord mitzuführen. Eine Eintragungspflicht wird, wenn nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, durch Eintragung in das Schiffstagebuch erfüllt. (...)

3.2 Das Schiffstagebuch und das Maschinentagebuch müssen für jeden Kalendertag in Spalten eingeteilte, mit fortlaufenden Seitenzahlen versehene Seiten und in ausreichender Anzahl Leerseiten enthalten. (...)

4. Eintragungen

4.1 Die Seetagebücher sind in deutsche Sprache oder in der an Bord verwendeten Arbeitssprache zu führen. Nicht allgemein gebräuchliche Abkürzungen oder Symbole sind zu erklären.

4.2 Die Eintragungen in die Seetagebücher sind nach der Bordzeit vorzunehmen.

4.3 Das Radieren und Unkenntlichmachen von Eintragungen in Seetagebüchern, das Entfernen von Seiten aus diesen Büchern sowie die Veränderung automatischer Aufzeichnungen sind nicht zulässig. Wird eine Eintragung gestrichen, muss das Gestrichene lesbar bleiben. Streichungen oder Zusätze sind mit Datum und Unterschrift zu bescheinigen. (...)

8.1 Ein auf den Namen des Schiffes ausgestellter Aufzeichnungsträger gilt als Schiffstagebuch, wenn der Schiffsführer ihn mit dem Wort „Logbuch-Aufzeichnungen" oder einer entsprechenden Benennung gekennzeichnet hat.

VERA BLEIBTREU

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Ein Krimi

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© Leinpfad Verlag
Herbst 2016

Alle Rechte, auch diejenigen der Übersetzung, vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne die schriftliche Genehmigung des Leinpfad Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kosa-design, Ingelheim
Layout: Leinpfad Verlag, Ingelheim

Leinpfad Verlag, Leinpfad 5, 55218 Ingelheim,
Tel. 06132/8369, Fax: 896951
E-Mail: info@leinpfadverlag.de
www.leinpfadverlag.com

e-ISBN 978-3-945782-22-4

Inhalt

Kapitel

Logbuch

Pos. 1700 UTC: 19°03´N, 34°31´W

Die Nylonschnur spannte sich straff über den Weg. In der Dämmerung des frühen Morgens war sie nicht zu sehen, zumal die dichten grünen Blätter die Sonnenstrahlen filterten.

Sie hatte keine Chance.

Der Lichtkegel ihrer Fahrradlampe beleuchtete nur den Waldweg und erfasste die Schnur nicht, die sich hart in ihren Hals schnitt. Reflexartig riss sie die Hände nach oben und verlor sofort die Beherrschung über ihr Rad. Sie stürzte rückwärts. Ihr Hinterkopf schlug hart auf. Sie hatte keine Zeit für einen letzten, klaren Gedanken.

Als sie starb, beherrschte sie ein Gefühl: Sie staunte.

Kommissarin Tanja Schmidt und ihr Kollege Arne Dietrich beugten sich über die Leiche. Die Spurensicherung war vor Ort im Gonsenheimer Wald, der Tatort wurde sorgfältig fotografiert und nach Spuren abgesucht.

„Karin Bergmann, vierundvierzig Jahre. Sie ist alleinstehend, jedenfalls ist niemand mit ihr in ihrem Haus in der Schillerstraße in Budenheim gemeldet. So viel konnten die Kollegen bislang feststellen.“ Tanja zog sich Plastikhandschuhe über, kniete nieder und öffnete vorsichtig den Rucksack, der neben der Leiche auf dem Weg lag. „Schulbücher. Wahrscheinlich eine Lehrerin.“ Tanja schloss den Rucksack, stand auf und blickte sich um. „Dann war sie wahrscheinlich auf dem Weg zur Schule. Aber um diese Uhrzeit?“

„Vielleicht war sie Lehrerin in Offenbach, da hatte sie noch eine ganz schöne Strecke vor sich.“

„Ha ha. Sehr witzig, Kollege. Wer hat sie gefunden?“

Arne wies auf einen älteren Herrn, der geduldig neben dem Einsatzwagen wartete. „Das ist Herr Hoffmann. Er fährt jeden Morgen hier im Wald Rad, um sich fit zu halten. Früher ist er gejoggt. Jetzt machen die Knie nicht mehr mit. Deshalb ist er aufs Rad umgestiegen.“

„Hat er dir auch erzählt, was er zum Frühstück isst? Und was er früher aß?“

Arne schüttelte den Kopf. „Tanja, du bist unleidlich. Denk dran, dass das wahrscheinlich unser letzter gemeinsamer Fall ist. Du könntest dir ein bisschen mehr Mühe geben, damit ich dich in guter Erinnerung behalte.“

Tanja rümpfte die Nase. „Du gehst nach Berlin, lässt meine todunglückliche Freundin Susanne zurück und ich weiß nicht, ob sie mir an deiner Stelle dieses Ekel Philipp Engelmann zuteilen, der immer Leberwurstbrote im Auto isst. Und da wunderst du dich, dass ich unleidlich bin. Sei froh, dass ich noch so bin wie ich gerade bin. Ich könnte noch ganz anders sein. Vor allem, wenn ich vor dem Frühstück eine Leiche serviert bekomme. Wieso sind wir eigentlich zuständig? Das sieht doch nach Unfall aus?“ Tanja wies auf das Fahrrad, das neben der Leiche lag.

Arne bemühte sich um Geduld. „Herr Hoffmann ist nicht nur ein begeisterter Frühsportler, er sieht auch gerne Krimis. Als er diese Spur am Hals des Opfers sah, hat er sofort die Polizei gerufen. Das war um 6 Uhr 35.“ Er ging in die Hocke und wies mit dem Finger auf die rote Linie, die sich wie ein Halsband über den Kehlkopf der Leiche zog. „Herr Hoffmann wollte der Frau eigentlich aufhelfen, hat dann aber gleich gesehen, dass da wohl nichts mehr zu helfen ist. Beim Anblick dieser roten Linie hat er die Frau auch nicht weiter angefasst und sich vorsichtig zurückgezogen, um keine weiteren Spuren zu zerstören.“

Tanja kniete sich neben Arne und betrachtete die Linie. „Ist sie erwürgt worden? So sieht sie nicht aus.“

„Stimmt. Ich denke, sie ist ungünstig auf den Hinterkopf gefallen. Ich weiß auch nicht, was diese Linie zu bedeuten hat. Irgendwas hat ihr jedenfalls vor ihrem Tod in den Hals geschnitten. Die Ärztin müsste gleich kommen, dann erfahren wir Näheres. Ich schätze mal, dass die Frau unglücklich gefallen ist.“

„Wenn diese Linie nicht wäre, hätten wir einen schönen Unfall und du und ich könnten noch gemütlich im Bett liegen.“ Tanja seufzte. „Dann wollen wir mal hören, was uns Herr Hoffmann noch zu sagen hat.“

Herr Hoffmann war ein etwa achtzigjähriger agiler Senior mit wachen blauen Augen in einem sonnengebräunten Gesicht. Er sah aus wie jemand, der jeden Tag in seinem Garten arbeitet und abends Vorträge im Haus am Dom hört, um sich über Karl den Großen oder die Eroberungsstrategie der Assyrer fortzubilden. Den Tag begann Herr Hoffmann also mit Frühsport. „Ich radele jeden Morgen hier durch den Gonsenheimer Wald“, erzählte er und wies auf ein grasgrünes Kettler-Klapprad.

„Das ist doch ein Original aus den Siebzigerjahren!“, stellte Arne kenntnisreich und mit kaum verhülltem Neid in der Stimme fest.

Herr Hoffmann nickte stolz. „Ja, das habe ich ursprünglich für meinen Sohn gekauft. Der ist dann auf ein Mofa umgestiegen und hat mir das Rad überlassen. Schaun Sie mal, das ist noch handwerkliche Qualität! Und alle Teile sind original, ich pflege das Schätzchen auch ordentlich. Schließlich hält es mich fit!“

Arne nahm das Klapprad bewundernd in näheren Augenschein. „Ich unterbreche ja ungern diese fachliche Debatte, aber könnten wir zum eigentlichen Zweck unserer Unterredung zurückkommen.“ Tanja war etwas genervt.

„Natürlich, Entschuldigung!“ Herr Hoffmann zwinkerte Arne verschwörerisch zu, von Klappradfan zu Klappradfan sozusagen. Aber Arne merkte auch, dass er seine Kollegin besser nicht noch mehr reizen sollte. „Herr Hoffmann, können Sie bitte für meine Kollegin noch einmal wiederholen, was Sie mir vorhin schon erzählt haben?“

„Gern. Ich fahre jeden Morgen hier im Wald meine kleine Runde, zehn Kilometer. Ich starte bei uns am Münchfeld so um kurz nach sechs und bin dann hier an dieser Stelle etwa eine halbe Stunde später. Um diese Zeit ist praktisch noch niemand unterwegs. Ich habe meine Ruhe beim Radeln und kann gerade jetzt im Sommer den Vögeln zuhören. Die Singdrossel singt um diese Zeit besonders schön. Und gestern habe ich sogar den Trauerfliegenschnäpper gehört! Hatte ich schon erwähnt, dass ich Hobbyornithologe bin?“

„Hatten Sie noch nicht. Aber kommen wir zurück zu der Frau auf dem Weg.“

Herr Hoffmann erzählte mit weit ausholenden Bewegungen, wie er zunächst das Fahrrad bemerkt hatte und abrupt bremsen musste, um an der engen Wegstelle nicht selbst zu Fall zu kommen, dann die Frau gesehen hatte und sofort vom Rad gesprungen war, um ihr zu helfen. „Ich hab ja immer mein Handy dabei, Gisela besteht darauf, sie hat Angst, dass ich auf meiner Radtour stürzen könnte. Gisela übertreibt, finde ich. Aber jetzt war es mal nützlich, denn ich konnte gleich die Polizei rufen.“

„Das haben Sie gut gemacht“, bestätigte Arne. „Bitte geben Sie den Kollegen dort hinten noch Ihre Personalien, damit wir Sie im Zweifelsfall erreichen können.“

„Ist schon geschehen!“, entgegnete Herr Hoffmann.

„Haben Sie irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?“, hakte Tanja noch nach. „Oder jemanden auf dem Weg gesehen?“

Hoffmann schüttelte den Kopf. „Aber um Viertel nach sechs muss jemand außer mir im Wald gewesen sein, ich habe ganz deutlich den Warnruf des Eichelhähers gehört, zwar in einiger Entfernung, aber doch unverkennbar. Das könnte natürlich zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als die arme Frau gestürzt ist, zumal der Ruf aus dieser Richtung kam.“ Herr Hoffmann schaute betrübt. Offenbar ging ihm dieser Todesfall doch nahe.

„Kannten Sie eigentlich die Tote?“, erkundigte sich Arne.

„Nein, ich kannte sie nicht. Tragisch. Ich hatte eigentlich nie Angst in diesem Wald und jetzt das! Wenn ich das Gisela erzähle, lässt sie mich nie mehr fahren.“ Herr Hoffmann seufzte.

„Danke für Ihre Hinweise“, sagte Tanja. Der Mann griff sich sein Klapprad und radelte davon. „Reiß dich vom Anblick dieses Klapprads los, Kollege!“

Inzwischen war auch die Ärztin am Tatort eingetroffen. Seit dem letzten Fall mit vielen toten Obdachlosen, der Arne und Tanja sehr in Atem gehalten hatte, hatte sich das Verhältnis zwischen ihr und den beiden Kommissaren merklich entspannt. Die Folge war eine fast freundschaftliche Begrüßung. Die Medizinerin zog sich ihre Plastikhandschuhe über und begann, die Leiche vorsichtig zu untersuchen. „Diese Frau ist noch nicht lange tot, mindestens eineinhalb Stunden, vielleicht auch zwei, schätze ich.“

Arne stutzte. „Nicht kürzer? Es ist jetzt 7 Uhr 15.“

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Hier, diese Flecken, die zeigen sich frühestens neunzig Minuten nach Todeseintritt. Todesursache war vermutlich dieser Stein hier, auf den ist sie gestürzt.“

„Und diese rote Linie?“

„Das muss ich genauer untersuchen, möglicherweise ist sie kurz gewürgt worden, daran gestorben ist sie allerdings nicht, dann sähe sie anders aus.“

„Und mit was ist sie gewürgt worden?“

„Das wird die Untersuchung hoffentlich zeigen, vielleicht finde ich Fasern in der Wunde. So kann ich das nicht beantworten. Jedenfalls ist ihr diese Verletzung erst kurz vor ihrem Tod zugefügt worden, sonst sähe die Wunde anders aus, die ist ganz frisch.“

Tanja grübelte. „Ein Mensch würgt eine Frau, die sterbend auf dem Boden liegt, erwürgt sie aber nicht. Das macht irgendwie keinen Sinn. Es sei denn, jemand steht darauf, Sterbende zu würgen.“

„Das klingt ziemlich pervers für meinen Geschmack, aber es gibt ja nichts, was es nicht gibt“, seufzte die Ärztin.

„Dann muss sie vor ihrem Sturz gewürgt worden sein. Das klingt aber auch merkwürdig. Die Frau fährt durch den Wald, hält aus irgendeinem Grund an, wird angefallen und gewürgt, stürzt dabei und stirbt.“

Arne überlegte. „Dann muss hier etwas auf dem Weg gelegen haben, was sie dazu brachte, mit ihrem Fahrrad anzuhalten.“

„Und wo ist dieses Hindernis jetzt, das kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben?“

„Herr Hoffmann hat doch von diesem Eichelhäherwarnruf gesprochen, kurz, nachdem er in den Wald kam. Möglicherweise war das der Täter oder die Täterin, der oder die dieses Hindernis entfernte.“

Tanja betrachtete den Waldboden. „Warum sehe ich dann keine Bremsspuren? Wenn ich wegen eines Hindernisses anhalte, muss ich bremsen, und zwar in der Regel deutlich bremsen. Sie kam ja sicher mit Tempo vom Hügel herunter und diese Stelle hier liegt hinter einer kleinen Kurve, da konnte sie ein Hindernis erst im letzten Moment erkennen.“

Die Ärztin räusperte sich. „Da gibt es noch ein Problem. Diese Wunde hier passt nicht zu eurer Theorie mit dem Anhalten. Die Frau ist mit einiger Wucht auf den Stein getroffen, sonst wäre die Wunde nicht so tief, dafür langt ein Sturz aus dem Stand nicht, sie muss mit mehr Schwung auf den Boden aufgetroffen sein.“

„Also hat der Täter oder die Täterin sie gewürgt und dann auf den Boden geschleudert.“

Die Ärztin verneinte. „Das glaube ich nicht. Es sei denn, hier im Wald gibt es Riesen. Die Frau wiegt mindestens fünfundsechzig Kilo, die muss man erst mal in Schwung bringen. Also: Viel Erfolg noch beim Ermitteln, ich mache im Institut weiter. Wollen Sie beide bei der Obduktion dabei sein? Oder nur einer von Ihnen?“ Sie erhob sich und zog die Plastikhandschuhe aus.

„Zumindest einer von uns ganz sicher. Rufen Sie mich an?“ Arne gab der Ärztin seine Karte. „Wird das heute noch etwas?“

„Der Tag hat gerade erst angefangen, da müsste schon Ungewöhnliches passieren, wenn das heute nicht mehr klappt. Ich melde mich!“

Tanja winkte die Mitarbeiter des Bestattungsinstituts heran. Die Leiche wurde in einen Transportsarg gehoben. Arne blickte sich suchend am Tatort um. „Ich bin mir sicher, dass der Warnruf dem Täter oder der Täterin galt. Wie viel Leute sind denn zu dieser Zeit im Wald unterwegs! Außerdem hat Herr Hoffmann niemanden gesehen. Dieser Weg ist Teil der Joggingstrecke, ein zufälliger Passant hätte die Frau entdecken müssen. Ich glaube nicht, dass die Menschheit so verroht ist, dass dieser Passant einfach weitergegangen wäre, ohne Hilfe zu holen.“

„Mach dir mal weiter Illusionen über die Menschheit. Aber ich gebe dir recht. Es war wahrscheinlich der Täter oder die Täterin. Aber wie passt das mit dem Todeszeitpunkt überein? Hat er oder sie eine Stunde neben der Leiche gekauert?“

„Er ist wiedergekommen. Oder sie ist wiedergekommen, ist ja nicht schwierig. Da oben ist ein kleiner Parkplatz.“

„Und warum ist er oder sie wiedergekommen?“

„Das wüsste ich auch gerne. Ich glaube, sie hat etwas vom Tatort mitgenommen. Oder er hat etwas mitgenommen. Wie auch immer.“

„Vielleicht etwas, das sie im Kampf verloren hat. Zu Hause merkt er, dass es fehlt, und kehrt zurück.“

„Möglicherweise. Wir werden die Tatortfotos noch einmal vergrößern und genau anschauen. Vielleicht entdecken wir eine Spur. Hier und jetzt kommen wir nicht weiter.“

Tanja nickte zustimmend. „Machen wir uns an die Hintergrundarbeit. Inzwischen müssten die Kollegen ja herausgefunden haben, wo die Tote gearbeitet hat.“

„Und dann kriegen wir sofort heraus, wer ein Interesse an ihrem Tod hatte, wahrscheinlich war es ein verschmähter Liebhaber oder ihre Schwester, die sie wegen des Erbes der vermögenden Großmutter aus den USA gemeuchelt hat.“

„Liebster Arne, mit deiner blühenden Fantasie könntest du auch Schriftsteller werden und dir ein kleines Zubrot mit Kriminalromanen verdienen.“

Arne lächelte geschmeichelt. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht. In der Hauptstadt finde ich bestimmt Anregungen und einen Verlag. An jeder Ecke trifft man da kreative Menschen, in Berlin pulsiert das Künstlerleben.“

Tanjas Miene verdüsterte sich. „Hör mir bloß mit Berlin auf! Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass du bei Susanne ausgezogen bist. Warum bist du übrigens danach nicht in Wolfgangs Gästezimmer geblieben?“

„Dein Liebster hat mir dankenswerterweise angeboten, dass ich bis zu meinem Umzug nach Berlin bei ihm wohnen kann, aber ich brauche irgendwie diese unpersönliche Männer-WG in der Neustadt. Vielleicht will ich mich selbst bestrafen, keine Ahnung. Bei Wolfgang war es irgendwie zu nett und zu komfortabel. Und, übrigens, glaub mir, es wäre mir lieber gewesen, Susanne hätte sich für Berlin und mich entschieden. Sie hat sich getrennt, nicht ich.“ Arnes Blick machte Tanja unmissverständlich klar, dass dieses Gespräch im Moment nicht vertieft werden sollte.

Tanja schluckte eine Bemerkung herunter. Das Thema war wirklich heiß. Ihre beste Freundin Susanne hatte sich von Arne getrennt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, für eine ungewisse berufliche Zukunft in Berlin auf ihre Pfarrstelle an St. Johannis zu verzichten, gerade jetzt, wo St. Johannis sich als kunst- und baugeschichtliches Juwel entpuppte. Arne dagegen trat in Mainz beruflich auf der Stelle und suchte die neue Herausforderung in der Hauptstadt. Die beiden hatten letztlich keine Lösung für ihre Beziehung gefunden und Susanne hatte die Konsequenzen gezogen. Tanja gestand sich ein, dass sie die Angelegenheit vor allem im Blick auf ihre eigene bevorstehende Hochzeit tief traf. Sie hatte sich so sehr auf ein rauschendes Fest gefreut. Gerade jetzt sah es aber nicht so aus, als ob alle unbeschwert miteinander feiern könnten. Besonders der Kummer ihrer Freundin Susanne trübte Tanjas Stimmung.

Eine junge Polizistin kam auf Tanja zu und unterbrach ihre düsteren Gedanken. „Die Tote war Lehrerin am Gygo, heute Otto-Schott-Gymnasium, da bin ich früher selbst zur Schule gegangen, für mich bleibts das Gygo.“

Tanja nickte anerkennend. „Gute Arbeit, danke!“ Zu Arne gewandt sagte sie: „Was machen wir zuerst: Schule oder Haus?“

„Das Haus läuft uns nicht weg und die junge Kollegin hier kann das Haus ja schon mal vorsorglich versiegeln lassen. Bei der Schule zählt der Überraschungseffekt. Also: Schule.“

„Halb acht, da könnte es eventuell noch nicht aufgefallen sein, dass sie nicht da ist. Der Direktor müsste auch schon da sein – oder ist es eine Direktorin?“

„Es ist ein Direktor“, sagte die junge Polizistin. „Dr. Stefan Frank. Auf seinen Dr. legt er Wert. Ist aber sonst ganz nett.“

Arne grinste. „Danke! Dann mal los zum Herrn Doktor. Wir gehen einfach mal davon aus, dass er Zeit für uns hat.“

„Vorher schaust du aber bitte, ob im Rucksack von Frau Bergmann ein Schlüsselbund zu finden ist. Das könnte uns später beim Haus helfen.“

„Warum ich, schau du doch, wenn du schon diese gute Idee hast!“

Tanja setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich dann aber anders. Arne hatte recht, es war blöd gewesen, ihn herumzukommandieren. Schweigend zog sie sich ihre Plastikhandschuhe über, ging zum Rucksack und stöberte. Triumphierend kam sie kurz darauf mit einem Schlüsselbund zurück. „Da müsste doch der Passende dabei sein!“

Susanne versuchte, mithilfe der Cosmopolitan den Augenringen und dicken Lidern, Auswirkungen der letzten durchheulten Nacht, entgegenzuwirken. Es war ihr ein bisschen peinlich gewesen, diese Zeitschrift zu kaufen, die ganz offensichtlich nicht für ihre Zielgruppe geschrieben war, sondern für Mädels zwischen zwanzig und dreißig, früher nannte man diese Menschen Twens. Susanne war aus diesem Alter raus und wollte überdies weder wissen, was Topmodels in den Urlaubskoffer packen noch erfahren, was der Style des Monats war. Der Schlagzeile „Lust ohne Liebeskummer. Wie Sie beim Urlaubsflirt Sex und Gefühle trennen“ hatte sie aber einfach nicht widerstehen können. Ihren nächsten Urlaub würde sie wohl ohne Arne verbringen müssen und dieser Mistkerl sollte ihr nicht auch noch die Ferien vermiesen. Statt hinter Arne herzuweinen würde sie sich flirtend an ihm rächen. „Lassen Sie sich im Urlaub nicht von fragwürdigen moralischen Werten bremsen. Eine Frau, die selbstbestimmt ihre Sexualität lebt, ist definitiv keine Schlampe“ riet das Magazin. Susanne träumte davon, mit ihrem dank Cosmopolitan gestählten Körper (Body in der Cosmo-Sprache) zum Hingucker ihrer Studienreise nach Laos und Vietnam und anschließend mit dem knackigsten Teilnehmer der Maxime des Leitartikels gerecht zu werden. Sie sah sich im Geiste schon nach einer berauschenden Nacht ohne lästigen Gefühlsüberhang („Mit diesen Tipps werden Sie Ihren One- Night-Stand wieder los und können Ihre Ferien genießen“) den Ausführungen des Reiseführers lauschen und zugleich Ausschau halten, welcher Kerl es in der nächsten Nacht sein sollte, während der Neid der mitreisenden Damen und die begehrlichen Blicke der Männer die südostasiatische Luft zum Knistern brachten.

Gerade knisterten allerdings lediglich die leeren Taschentuch-Zellophanhüllen, auf die sie versehentlich getreten war, während die Creme, die ihr eine „ideale Haut beim Erwachen, selbst wenn Ihre Nächte kurz sind“ verheißen hatte, einfach nicht hielt, was sie versprochen hatte. Möglicherweise lag es daran, dass sie zwischen Mitternacht und ein Uhr, der laut Packungsbeilage „Zeit idealer Regeneration der Haut“, unzählige Papiertaschentücher nassgeweint hatte. So wie sie gerade aussah, würde sie keine lüsternen Blicke, sondern eher Mitleid ernten. Grauenhaft! In einer Stunde begann die Dienstbesprechung und Susanne hasste die Vorstellung, dass sich ihre Sekretärin mitfühlend erkundigen würde, ob sie ein Aspirin benötigte. Oder dass Kantor Arzfeld ihr eine Kur in Bad Bergzabern empfehlen würde, gegen ihre Allergie. Susanne hatte nämlich behauptet, dass ihre geschwollenen und geröteten Augen Folgen ihres Heuschnupfens seien. Kein Mensch glaubte ihr, das war ihr schon klar, denn sie hatte vorher noch nie über Heuschnupfenbeschwerden geklagt und es war selbst dem Hausmeister aufgefallen, dass ihr Leiden in merkwürdiger Koinzidenz zum Auszug von Arne Dietrich aus ihrer Mainzer Altstadtwohnung stand. Aber Susanne beharrte auf ihrer Version und alle gaben sich Mühe, mitzuspielen. Jetzt setzte Susanne alles daran, mit den Schminktipps von Cosmopolitan den angesagten „Nude-Look“ des Sommers hinzubekommen. Warum kaschierte die Creme in ihrem Fall nicht ihre Augenringe, sondern schimmerte grün unter dem Make-up hervor? Und wieso zerlief ihre Wimperntusche? Wahrscheinlich, weil ihr gerade vor lauter Selbstmitleid wieder die Tränen kamen.

Susanne gab es auf. Sie tränkte ein Wattepad mit Abschminklotion und wischte sich das missglückte Kunstwerk „Nude-Look“ aus dem Gesicht. Dann stellte sie sich unter die Dusche und probierte es mit einer Ladung eiskalten Wassers, klapperte danach mit den Zähnen und war nach dem Abrubbeln rot wie ein Krebs. Aber das Ergebnis sah besser aus als grüne Augenschatten unter Make-up-Schichten, die eher an archäologische Forschungsarbeit als an den „Look des Monats“ erinnerten.

Die frisch geduschte Susanne warf die Cosmopolitan in den Mülleimer. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie gar keine Lust auf One-Night-Stands und sie war auch nicht richtig in der Lage, sich von den „fragwürdigen moralischen Werten“ zu verabschieden, die der Lust auf diese Feriengestaltung im Wege standen. Dann schon eher ein Abschied von der Cosmopolitan. Überhaupt: Die Chance, dass auf ihrer Studiosus-Studienreise ein Teilnehmer unter sechzig dabei sein würde, war äußerst gering. Susanne versuchte, ihr Spiegelbild allerherzlichst anzulächeln. Bei ihrer letzten Fortbildung hatte sie gelernt, dass solche Selbst-Anlächler Reaktionen im Körper hervorrufen würden, man sich also fühle, als ob einem auch tatsächlich zum Lächeln zumute sei. Susanne lächelte, bis ihr die Mundwinkel wehtaten. Dann hüllte sie ihren „body“ in das bunteste Outfit, das sie finden konnte (bei der Fortbildung hatten sie behauptet, das würde ebenfalls zur positiven Selbsteinstellung beitragen), packte tapfer ihre Aktentasche und stapfte Richtung St. Johannis.

Dr. Stefan Frank wirkte erschüttert, dabei sah er nicht so aus, als ob ihn sonst irgendetwas leicht erschüttern könnte. Leichte Erschütterungsfähigkeit war sicherlich auch keine gute Charaktereigenschaft für einen Schuldirektor. Auf dem Weg zum Büro des Direktors war Tanja und Arne der tägliche Wahnsinn des morgendlichen Schulalltags begegnet: ein heulender Fünftklässler, der sich das Knie aufgeschlagen hatte und gerade mit Pflaster und einem Coolpack verarztet wurde, ein Vater, der das von einer Lehrkraft konfiszierte Smartphone seines Sprösslings im Sekretariat abholte und lautstark mit der Sekretärin über die Vorschrift diskutierte, dass Smartphones im Unterricht nicht benutzt werden durften, zwei Oberstufenschüler, die einen Schlüssel brachten, eine Mutter, die sich nach den Bedingungen für die Aufnahme ihres Kindes in den Hochbegabtenzweig des Gymnasiums erkundigte, dazu unzählige Lehrerinnen und Lehrer, die zum Unterricht oder ins Lehrerzimmer eilten.

Jetzt aber standen die beiden Kommissare dem Direktor in seinem Büro im Otto-Schott-Gymnasium gegenüber. Die Nachricht vom Tod seiner Lehrkraft ließ die rosige Gesichtsfarbe des wohlbeleibten Direktors ins Fahle wechseln. Fröstelnd zog er sein Sakko über, dabei war der Morgen sonnig und warum. „Karin Bergmann, ich fasse es nicht. Deshalb war sie heute Morgen also nicht da. Mir war schon klar, dass irgendetwas passiert sein musste. Frau Bergmann ist äußerst zuverlässig. Seitdem ich hier an dieser Schule bin, hat sie nie gefehlt und sie ist morgens immer die Erste. Ich dachte, ein Unfall vielleicht. Aber Mord …“

Arne räusperte sich. „Zumindest ist es kein Unfall ohne Fremdeinwirkung. Aber wir ermitteln noch. Bitte erzählen Sie uns doch etwas über Frau Bergmann. Wer mit ihr befreundet war, was für ein Mensch sie war. Gut wäre auch, wenn wir etwas über ihren Lebenspartner wissen könnten, wenn es da jemanden gibt, gemeldet ist sie ja alleine in ihrem Haus. Ach, und wenn Sie eine Vermutung haben, warum sie so früh im Wald unterwegs war, wären wir für einen Hinweis dankbar.“

„Frau Bergmann kam doch immer so früh! Sommers wie winters. Sie nahm nur das Auto, wenn es in Strömen regnete. Sonst fuhr sie immer mit dem Fahrrad durch den Gonsenheimer Wald. Sie ist“, Dr. Frank räusperte sich, „sie war eine erklärte Frühaufsteherin. Sie hat hier in der Schule den Biologiebereich ausgebaut, das war ihr Metier, da war sie mit Leib und Seele dabei. Sie kam so früh, um die Tiere im Terrarium und die Fische im Aquarium und im Teich zu füttern, die Gelege zu überprüfen und das Material für die Schülerinnen und Schüler vorzubereiten. Sie sagte immer, dass sie diese morgendlichen Fahrten durch den Wald liebe, die Vögel, die Rehe und Hirsche, ab und an ein Fuchs auf der Jagd. Sie fuhr immer denselben Weg, sie meinte, dass die Tiere sich längst an sie gewöhnt hätten und durch ihre Fahrten nicht verängstigt würden. Frau Bergmann war morgens schon vor dem Hausmeister hier, spätestens um sechs Uhr. Sie sagte, dass ihr die Ruhe vor dem Sturm lieber sei als das hektische Auf-den-letzten-Punkt-Kommen mancher Kollegen und Kolleginnen und ihr zudem viele Stunden Arbeit zu Hause erspare, weil sie in der Morgenfrühe der stillen Schule viel konzentrierter arbeiten könne.“

Der Direktor verstummte, er wirkte etwas erschöpft nach seiner langen Ausführung. „Über ihre private Situation weiß ich nichts. Ich habe nie von einem Partner oder einer Partnerin gehört. Aber die privaten Verhältnisse meiner Lehrkräfte gehen mich auch nichts an, ich beschäftige mich auch nicht damit, es sei denn, sie laden mich zu ihrer Hochzeit ein. Vielleicht kann Ihnen Frauke Preußen weiterhelfen. Sie sitzt – äh – saß bei Konferenzen immer neben Frau Bergmann. Mir schien, die beiden verstanden sich gut. Sonst hielt sich die Kollegin Bergmann eher zurück und war für sich.“

Arne hatte sich Notizen gemacht. „War sie ein verschlossener Mensch?“

Der Direktor nickte. „Ja, allerdings konnte sie beim Thema Biologie richtig ins Schwärmen geraten. Da war sie begeistert dabei und diese Begeisterung hat auch die Schülerinnen und Schüler angesteckt. Ihre Reptilien- und Fische-AG zählt zu den beliebtesten AGs.“ Der Direktor stockte. „Meine Güte, ich muss das ja jetzt bekannt geben, dass sie gestorben ist. Und vielleicht eine Gedenkstunde organisieren. Das könnten eigentlich die Religionslehrer übernehmen, obwohl, wer weiß, ob Frau Bergmann überhaupt konfessionell gebunden war, auf der anderen Seite, eine Gedenkstunde …“