image

CARSTEN BARTH | OLIVER SCHAAL

DEUTSCH
LAND
DIENEN

Im Einsatz – Soldaten erzählen

PLASSEN

VERLAG

Copyright der deutschen Ausgabe 2016:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Holger Schiffelholz

Bildquelle Cover: Reuters

Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek

Herstellung: Daniela Freitag

Lektorat: Claus Rosenkranz

Korrektorat: Egbert Neumüller

ISBN 978-3-86470-387-4
eISBN 9783864704055

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,

der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken

oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Image

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: buecher@boersenmedien.de

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenverlag

Dieses Buch ist den Familien, Verwandten und Freunden der Soldatinnen und Soldaten gewidmet. Sie tragen eine ganz eigene Belastung und teilen ein Leben mit besonderen Herausforderungen.

Dieses Buch ist aber natürlich ebenso allen Soldatinnen und Soldaten, aktiven wie ehemaligen, der Bundeswehr gewidmet, ganz gleich ob im Einsatz oder in der Heimat. Sie alle leisten einen wertvollen Beitrag für unser Land.

Wir wollen die im Einsatz verwundeten und gefallenen Soldatinnen und Soldaten in ehrenvoller Erinnerung bewahren.

Danke für euren Dienst!

Carsten Barth und Oliver Schaal

Inhalt

Geleitwort

Generalinspekteur a.D. Klaus Naumann

Vorbemerkungen der Autoren

DIE 1990ER-JAHRE

Kapitel 1

„Lachende Smileys für ein Dosenbier“ Oberstleutnant Dieter Weltermann

UNSCOM 1991 – Unterstützung der UN-Kontrolleure im Irak

Kapitel 2

„Wenn der Verteidigungsminister stolpert ...“ Hauptfeldwebel Sven Schmitt

(UNOSOM II 1993 – Humanitäre Hilfe in Somalia)

Kapitel 3

„Schieß doch, Junge, schieß!“ Brigadegeneral a.D. Henning Glawatz

Operation Libelle 1997 – Befreiung aus Albanien

Kapitel 4

„Wir kriegen euch!“ Oberst Michael Krah

Operation „Allied Force“ 1999 – Im Tornado über dem Kosovo

Kapitel 5

„Ich fange für Sie nicht den Dritten Weltkrieg an!“ Oberstleutnant Sascha Blankenburg

Operation „Joint Guardian“ 1999 – Einmarsch in den Kosovo

DIE 2000ER-JAHRE

Kapitel 6

„Ich wollte nicht in irgendeiner Kaserne versauern“ Obergefreiter Benjamin Köhler

Operation „Active Endeavour“ 2002 – Zerstörer „Mölders“ auf letzter Fahrt

Kapitel 7

„Winkelmann, haste richtig gemacht!“ Brigadegeneral a.D. Theo Winkelmann

Die Elbeflut 2002 – Katastropheneinsatz im Inland

Kapitel 8

Die bewaffneten Hausmeister Hauptgefreiter Marc-André Merz

(KFOR 2004 – Pioniere im Kosovo)

Kapitel 9

„Ihr könnt nichts verstecken“ Brigadegeneral a.D. Volker Bescht

EUFOR 2006 – Zur Sicherung der Wahlen im Kongo

Kapitel 10

„Ich habe mich selbst zensiert“ Major Karsten Bromm

ISAF 2008 – Ausbildung der afghanischen Polizei

SEIT 2010

Kapitel 11

„Ein höchst ambivalentes Land“ Fregattenkapitän Martin Kübel

UNIFIL – Die Marine vor dem Libanon

Kapitel 12

„Man versucht einfach nur zu überleben“ Hauptfeldwebel Philipp Oliver Pordzik

ISAF 2010 – Karfreitagsgefecht

Kapitel 13

„Dieser Einsatz war ein Wendepunkt“ Hauptfeldwebel Robert Reinhardt

ISAF 2011 – Drohneneinsatz in Afghanistan

Kapitel 14

„Ich musste mich doppelt beweisen“ Stabsunteroffizier Ricarda Drogan

ISAF 2011 – Als Soldatin in Afghanistan

Kapitel 15

„Diese Fahrt werde ich nie vergessen“ Hauptfeldwebel Sandra Höhne

KFOR 2013/14 – Die Entwicklung im Kosovo

Kapitel 16

„Das zweite Opfer ist der gesunde Menschenverstand“ Oberfeldarzt Christian Janke

Bekämpfung der Ebola-Epidemie 2014 in Liberia/Afrika

Kapitel 17

„Stolz wie Oskar“ Fregattenkapitän Achim Winkler

Flüchtlingsrettung auf dem Mittelmeer 2015

Glossar

Geleitwort

von General a.D. Dr. h.c. Klaus Naumann

Schon bei ihrer Aufstellung am 12. November 1955, dem 200. Geburtstag des Generals von Scharnhorst, war „Deutschland dienen“ das unausgesprochene Motto der Bundeswehr, auch wenn es erst lange nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 durch Verteidigungsminister de Maizière das offizielle Logo wurde. Millionen deutscher Männer – und später auch etlicher Frauen im Sanitätsdienst – haben durch ihre Einsatzbereitschaft und durch ihren festen Willen, unser Land im Falle eines Angriffs kämpfend zu verteidigen, dazu beigetragen, Krieg in Europa zu verhindern, bis dann am Tag der deutschen Einheit, am 3. Oktober 1990, die glücklichste Stunde der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert schlug: Es kam zusammen, was zusammen gehört, die Teilung Deutschlands und damit auch die Spaltung Europas fanden ein Ende.

Wir, die Soldaten der alten Bundeswehr, mussten nie im Einsatz unter Beweis stellen, dass wir kämpfen konnten, ein Glück, das weder den Generationen der Deutschen in den vorangegangenen 300 Jahren vergönnt gewesen war noch künftigen Generationen gewährt werden wird. Umso schwerer fiel es mir als Generalinspekteur, ab 1991 die Bundeswehr des vereinten Deutschland, die wir dann „Armee der Einheit“ nannten, auf Einsätze außerhalb Deutschlands einzustellen und vorzubereiten. Schwer, weil es keine einvernehmliche Haltung der Parteien des Bundestags zu dieser unabweisbaren Notwendigkeit gab, weil die Rechtsgrundlage umstritten war und erst 1994 durch das Bundesverfassungsgericht geklärt wurde, und schwer, weil die Bundeswehr innerlich auf Kriegsverhinderung, nicht aber auf Einsatz unter Kriegsbedingungen eingestellt war. Besonders schwer fiel mir mein Rat an die Politik, dass Deutschland sich von Fall zu Fall an Einsätzen von UN, NATO oder EU beteiligen solle, auch, weil mir verwehrt war, das zu tun, was ich mein ganzes Soldatenleben lang bis dahin getan hatte: durch Vorbild zu führen, also einzustehen und vorne zu stehen. Nun musste ich den Rat geben, Soldaten in die Gefahr zu senden, und selbst sicher daheimbleiben. Aber es gab zu dem Weg in die Einsätze keine politische Alternative. Deutschland hatte nicht mehr die Sonderrolle des geteilten Landes, es konnte sich nicht mehr auf humanitäre Hilfe beschränken, es musste das tun, was alle seine Verbündeten im Kalten Krieg auch für uns getan hatten: Es musste die Lasten und Risiken mit seinen Verbündeten teilen. So begann der behutsame Weg in die internationale Verantwortung mit dem Einsatz einer Sanitätskomponente in Kambodscha, gefolgt vom Einsatz eines Logistikverbands in Somalia bis hin zu den Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien, die 1997 in Albanien bei einer Evakuierungsoperation zum ersten Feuergefecht deutscher Soldaten und 1999 im Kosovo zum ersten Kampfeinsatz unserer Luftwaffe führten. Inzwischen haben Zehntausende deutscher Soldaten zehn Jahre Krieg in Afghanistan erlebt, 56 haben im Einsatz ihr Leben verloren, Hunderte sind, für immer gezeichnet, verwundet zurückgekehrt, Tausende wohl ringen noch immer mit oftmals traumatischen Erinnerungen und ungezählte Familien tragen schwer an den Folgen der Einsätze. Die Bundeswehr hat in den nun fast 25 Jahren ununterbrochenen Einsatzes ihrer Soldatinnen und Soldaten in Europa, Afrika und Asien sowie auf hoher See kämpfen gelernt. Sie hat sich durch ihre Leistungen in den Einsätzen hohen Respekt bei all unseren Verbündeten und unseren Partnern erworben. Sie alle sagen: Auf die Deutschen ist Verlass. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben vorbildlich und treu Deutschland dort gedient, wohin Bundestag und Regierung sie entsandt haben. Sie haben den Dank und den Respekt aller Deutschen verdient. Doch unsere Gesellschaft nimmt auch nach 25 Jahren Einsatz kaum wahr, dass deutsche Soldaten und deren Familien irgendwo auf unserer unruhigen Welt Tag für Tag Gefahren und Entbehrungen auf sich nehmen und Opfer bis hin zum Verlust des Lebens für unser Land bringen. Ja sie weiß noch nicht einmal, was die Soldaten im Einsatz eigentlich tun, und, schlimmer noch, scheint es vielfach auch gar nicht wissen zu wollen.

Es ist das Verdienst des Buches „Deutschland dienen. Im Einsatz – Soldaten erzählen“, durch ganz persönliche Erinnerungen an erlebte Einsätze unserer Gesellschaft Einblicke in die andauernde Wirklichkeit soldatischen Dienstes zu geben – eine Wirklichkeit, die leider vermutlich noch viele Jahre anhalten wird und um die alle Deutschen wissen sollten. Schließlich werden die Soldaten im Namen aller Deutschen durch die Mehrheit im Bundestag und die von uns Deutschen gewählte Regierung in diese Einsätze geschickt. Dieses Buch geht uns alle an und deshalb wünsche ich ihm die verdiente breite Aufmerksamkeit.

Vorwort

Carsten Barth

Deutschland und seine Soldaten, das ist ein schwieriges Verhältnis. Fragt man den Bürger auf der Straße, so bekommt man eigentlich immer eine skeptische, bestenfalls zurückhaltend-höfliche Antwort. Dennoch scheint es mir, dass wir eine gewisse Sympathie für unsere Soldaten hegen.

Wenn wir allerdings den Einsatz der Bundeswehr bewerten sollen, insbesondere wenn auch Waffen eingesetzt werden, herrscht immer noch ein großes Maß an Skepsis. Und dann müssen wir ja auch immer noch unsere Geschichte berücksichtigen …

Warum herrscht diese Diskrepanz? Was tun unsere Soldatinnen und Soldaten eigentlich? Seit der Wiedervereinigung 1990 ist die Bundeswehr nahezu ununterbrochen im Einsatz. Deutsche Soldaten sind auf der ganzen Welt und auch in Deutschland dienstlich gefordert.

Sind unsere Soldaten eigentlich erfolgreich? Das, was sie tun beziehungsweise was man ihnen aufträgt, machen sie das eigentlich gut? Ich werde mir nicht anmaßen, das zu bewerten. Dennoch denke ich, dass wir, die Bevölkerung Deutschlands, also der Auftraggeber der Bundeswehr, unsere Soldatinnen und Soldaten unterstützen und ihre Leistungen wertschätzen sollten.

Dieses Buch soll eine Darstellung der Soldaten sowie ihrer Leistungen im Einsatz sein. Wir, die Autoren, wollen den Soldaten eine Plattform und eine Stimme geben. Wir wollen nicht die Einsätze politisch oder moralisch bewerten, sondern Soldatinnen und Soldaten Respekt und Anerkennung zollen für das, was sie für Deutschland und die Bundeswehr tun.

Um ein möglichst vollständiges Bild der Einsätze der Bundeswehr zu geben, haben wir versucht, alle Dienstgradgruppen, Frauen und Männer sowie alle Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche der Bundeswehr einzubeziehen. Unsere Interviewauswahl hat aber dennoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Ich durfte bei unseren Interviews sehr unterschiedliche Menschen kennenlernen, die herausfordernde und anspruchsvolle Aufgaben gemeistert haben. Ich durfte feststellen, dass alle Soldatinnen und Soldaten ihre Aufgabe mit ganzer Kraft und vollem Engagement gemeistert haben. Es ist schön zu wissen, dass unsere Soldaten professionell und Weltklasse sind.

Ich denke, man darf mit Recht auf unsere Soldaten und ihre Leistungen stolz sein.

Feldkirchen-Westerham, im Juni 2016
Carsten Barth

 

Vorwort

Oliver Schaal

Wieso befasst sich ausgerechnet ein ehemaliger „Zivi“, der den Wehrdienst * aus Gewissensgründen verweigerte, derart intensiv mit der Bundeswehr? Nun, im Laufe eines Lebens unterliegt man natürlich manchen Wandlungen – und so ändern sich auch Einstellungen. Mitte der 1990er-Jahre, als für mich die Musterung langsam nahte, erschien mir meine Entscheidung glasklar. „Wer mit 19 nicht links ist, der hat kein Herz. Wer es mit 30 immer noch ist, der hat keinen Verstand“, pflegte unser Deutschlehrer am Gymnasium ein leicht abgewandeltes Zitat häufig zu wiederholen.

Auch wenn ich seinerzeit noch keine 19 Jahre alt war, sondern noch jünger, so galt für mich der erste Satz – und mir war stets klar, dass ein Dienst an der Waffe für mich nicht infrage kommt. Zumal in den noch jungen Nach-Wendejahren trotz der Jugoslawien-Konflikte ein ganz spezielles bundesdeutsches Gefühl einer „Friedenszeit“ herrschte. Der Zivildienst erschien mir also persönlich als der sinnvollere Dienst für „mein“ Land. Zudem muss ich anfügen, dass die Bundeswehr damals reichlich unattraktiv wirkte – und als schließlich die Musterung beim einstigen Kreiswehrersatzamt in Osnabrück anstand, taten die dortigen Bediensteten auch so ziemlich alles, um mein Bild vom „Bund“ nicht gerade zu verbessern …

Erstaunlicherweise wuchs mein Respekt ausgerechnet in jenem Jahr, als mein Zivildienst im Begleitenden Sozialdienst eines Alten- und Pflegeheims schließlich anstand: Im März 1997 sorgte die „Operation Libelle“ für Schlagzeilen – und ich kann mich noch gut erinnern, wie ich beeindruckt und voller Respekt die Zeitungsberichte über den vom damaligen Oberst Henning Glawatz angeführten Evakuierungseinsatz las. Rund vier Monate später trat ich dennoch den Zivildienst an. Weitere 18 Jahre später sollte ich ebenjenem Henning Glawatz im Rahmen der Recherchen für dieses Buch persönlich begegnen – und eingedenk der Berichte von damals war ich nicht minder beeindruckt von dem ausführlichen Gespräch mit ihm. Dies war auf unterschiedliche Art und Weise bei allen unseren Gesprächspartnern rund um dieses Buch der Fall. Denn – und hier schließt sich der Kreis – mein Bild von der Bundeswehr und meine Einstellung zu ihr haben sich durch diese persönlichen Begegnungen längst Stück für Stück gewandelt.

Der Weg dahin war aber zunächst noch lang: Auf Abitur und Zivildienst folgten journalistische Tätigkeiten und damit eine stete Neugier auf alles Unbekannte. Auch das Teilstudium der Politikwissenschaft brachte mich immer wieder mit dem Militär in Berührung. Und so stellte sich irgendwann für mich die Frage: „Was genau macht die Bundeswehr eigentlich?“ Selbst als Journalist und mit einem politikwissenschaftlichen Hintergrund fiel mir nicht viel mehr ein als ebenjene „Operation Libelle“ sowie die Schlagwörter „Kosovo“ und „Afghanistan“, hinter denen sich ohne Zweifel zwei der wichtigsten Einsätze verbergen. Darüber hinaus gab und gibt es jedoch eine ganze Menge mehr zu entdecken rund um die Bundeswehr, dies zeigten erste Recherchen sofort. „Was machen die Soldaten im Einsatz? Und wie erleben sie diesen persönlich?“ Das waren zwei weitere Fragen, auf die ich nun unbedingt Antworten finden wollte, und zwar ungefiltert von den Protagonisten selbst.

So startete für mich meine ganz persönliche Entdeckungsreise – mit spannenden und durchaus auch überraschenden Erlebnissen und Ergebnissen. Am Ende dieser Reise steht für mich eine geänderte Meinung zur Bundeswehr und speziell unseren Soldatinnen und Soldaten gegenüber: Mein Respekt und meine Anerkennung sind ihnen für ihre Entscheidung, ihr Leben auf besondere Weise für dieses Land einzusetzen, gewiss.

Und so möchte ich Sie als Leser nun ebenfalls auf eine Entdeckungsreise einladen, die ihren Ursprung im Jahr der Wende nimmt, just als die Bundeswehr gerade begann, sich ebenfalls zu wandeln …

Viel Vergnügen!

Düsseldorf, im Juni 2016
Oliver Schaal

* Mit Sternchen gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erläutert.

DIE
1990ER-
JAHRE

 

1

Lachende Smileys
für ein Dosenbier

Dieter Weltermann

*26.05.1950

Oberstleutnant,
Heeresfliegerregiment 35

 

Deutschland steckt inmitten der Umbrüche im Zuge der Wiedervereinigung, als der irakische Diktator Saddam Hussein am 2. August 1990 das Nachbarland Kuwait von seinen Truppen überfallen lässt und somit den Zweiten Golfkrieg * auslöst. Während der militärische Konflikt mit der Operation Desert Storm * unter Führung der USA mit der Befreiung Kuwaits und der Kapitulation des Irak am 5. März 1991 endet, wandelt sich nach der vollzogenen deutschen Einheit auch die Ausrichtung der Bundeswehr: weg von der reinen Landesverteidigung hin zu einer global agierenden Einsatzarmee. Als die Vereinten Nationen (UN, englisch „United Nations“) auf Basis der Resolution 687 beschließen, ABC-Waffen im Irak aufzuspüren und deren Zerstörung zu überwachen, sagt auch die Bundesregierung ihre Unterstützung zu. Die Beteiligung an der „United Nations Special Commission“ (UNSCOM) wird zum ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr, der keine Katastrophenhilfe ist. Heeresflieger werden der UN unterstellt und sollen vor allem die Waffenkontrolleure zu ihren Einsatzpunkten fliegen. Ein Einsatz dieser Art in einem noch „frischen“ Kriegsgebiet ist absolutes Neuland für die Bundeswehr, die zaghaft ihre ersten Schritte in ihre neue Ausrichtung unternimmt. Erfahrungen mit solchen Situationen sind kaum vorhanden, auch mangelt es an der passenden Ausrüstung, als das Heeresfliegerregiment 35 aus Mendig und Oberstleutnant Dieter Weltermann mit seiner Fliegerstaffel schließlich diesen Einsatz angehen.

 

Nach mehreren Verwendungen sowohl in der Heeresfliegertruppe als auch im Stab im Luftwaffenamt als Rüstungsstabsoffizier wurden mir Anfang 1990 in einem Personalgespräch verschiedene neue Dienstposten angeboten, unter anderem auch meine Traumverwendung als Kapitän einer CH-53-Staffel * in Mendig. Ich hatte bis dahin auch in meinen anderen Verwendungen immer eine Verpflichtung zum Erhalt meiner fliegerischen Berechtigungen, sodass mein Flugschein aktuell war. Daher hatte ich bereits rund 2.000 Flugstunden zusammen, als ich Staffelkapitän wurde. Um die CH-53 fliegen zu können, brauchte ich nur einen Weiterschulungslehrgang, die Umstellung war nicht schwierig. Die CH-53 ist ein wundervoller, sehr gutmütiger Hubschrauber mit viel Power. Ich habe sie mit Leidenschaft geflogen!

Noch in meinem ersten Jahr als Staffelkapitän besetzte der Irak unter Diktator Saddam Hussein das Nachbarland Kuwait und es kam infolgedessen zum Zweiten Golfkrieg – jedoch ohne Beteiligung deutscher Soldaten. Zum damaligen Zeitpunkt ahnte niemand hierzulande, dass die Folgen dieses Krieges auch die Bundeswehr recht schnell beschäftigen würden.

Zunächst wurde die Bundeswehr im Südosten der Türkei und im Nordwesten des Iran mit den Folgen der menschenverachtenden Politik des irakischen Diktators konfrontiert. Im Jahr 1991 attackierten die Truppen Saddams kurdische Dörfer im Norden des Irak mit Giftgas und töteten viele der Einwohner. Verzweifelt flüchteten Hunderttausende Kurden aus dem Irak in die Bergregionen an der Grenze zur Türkei und dem Iran. Dies löste dort eine humanitäre Katastrophe aus, weil die Menschen während der Winterzeit unversorgt und unter erbärmlichen Bedingungen in Zelten dahinvegetierten. Nachdem der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 688 die völkerrechtlichen Voraussetzungen für einen internationalen Hilfseinsatz geschaffen hatte, entschied die Bundesregierung einen Hilfseinsatz in der Türkei und im Iran mit Mitteln der Bundeswehr. Es wurden sechs Transall *-Transportflugzeuge sowie 40 Hubschrauber für die Direktversorgung der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Als Leitverband * wurde das Heeresfliegerregiment 35 in Mendig bestimmt.

Zunächst agierte ich dort als Führer des Gefechtsstands, wurde jedoch sehr bald als Einsatzstabsoffizier nach Südostanatolien befohlen, um dort den Einsatz der Hilfsmaschinen und den Transport der Hilfsgüter mit zu koordinieren. Wir, das heißt zwölf CH-53 und sechs UH-1D * der Luftwaffe, waren in der Türkei in Kooperation mit der deutschen Bergwacht sowie verschiedenen Vertretern des Roten Kreuzes und der türkischen Hilfsorganisation Roter Halbmond verantwortlich für die Versorgung dreier großer Flüchtlingslager mit Lebensmitteln, Bekleidung und medizinischer Hilfe. Dabei sammelten wir unsere ersten Erfahrungen in einem Auslandseinsatz. Das Erleben des unvorstellbaren Elends in den Flüchtlingslagern, die Konfrontation mit den oftmals traumatisierten Menschen, schwer verletzten und durch Brandwunden entstellten Kindern, veränderten meine Sicht auf das Leben bis heute nachhaltig.

Nach einigen Monaten im Dreiländereck Türkei, Iran, Irak und dem Abschluss des Einsatzes kehrten die Soldaten mit ihrem Einsatzgerät nach Deutschland zurück und erwarteten zunächst eine lange Phase der Regeneration. Es kam aber ganz anders: Die UN fragten bei der Bundesregierung an, ob Deutschland bei der UNSCOM-Mission im Irak unterstützen könnte. Als die Regierung zusagte, für diesen Einsatz eine „Heli Unit“ mit drei CH-53 und 30 Soldaten zur Verfügung zu stellen, wurde wiederum das Heeresfliegerregiment 35 als Leitverband * befohlen. Wir fingen im Auftrag des Verteidigungsministeriums sofort an zu planen: Wer geht mit welcher Ausrüstung und in welchem Rhythmus gehen wir da runter? Viele Fragen zu den spezifischen Einsatzanforderungen in einem noch im Kriegszustand befindlichen Land mit seinen besonderen geografischen Gegebenheiten wurden in Teamarbeit gestellt, in Anforderungen umgesetzt und abgearbeitet.

Keiner von uns hatte eine genaue Vorstellung davon, was auf uns zukommen könnte. Wir machten uns mit Büchern aus Bibliotheken schlau; über den Irak an sich, über Land und Leute. Auch einen Reiseführer über Bagdad besorgten wir uns – mehr hatten wir nicht. Als Weiterbildung luden wir uns noch Referenten ein, die uns über die Sitten und Gebräuche im Irak unterrichteten, damit wir im Umgang mit den Einheimischen nach Möglichkeit keine großen Fehler machten. Ich glaube aber, dass sich zum damaligen Zeitpunkt kaum jemand größere Gedanken über die Gefährlichkeit dieses Einsatzes machte. Wir hatten keinerlei Erfahrung mit Auslandseinsätzen, ausgenommen mit der Kurdenhilfe. Wir waren alle der Meinung, dass uns nichts passieren könne, weil wir als UN-Leute vor Ort sein würden. Nach meiner Erinnerung hatte keiner der für den Einsatz geplanten Soldaten Angst oder größere Besorgnisse.

Zunächst wurden allerdings auch nur Soldaten eingeplant, die sich freiwillig meldeten. Wir bereiteten die Männer dennoch darauf vor, dass immer etwas geschehen kann. Und wir nahmen in diesen Einsatz nur erfahrene Soldaten und keine Youngster mit. Das waren alles Offiziere oder Unteroffiziere mit Portepee*. In Einzelfällen wurde auch mal ein erfahrener Stabsunteroffizier eingeteilt. Zum größten Teil waren die zuerst eingesetzten Soldaten auch schon bei der Kurdenhilfe im Einsatz gewesen.

Da vermutlich aus finanziellen Gründen eine personelle Obergrenze von 30 Soldaten festgelegt war, aber alle Arbeitsgebiete zum Herstellen und Halten der Einsatzbereitschaft von ebendiesen paar Soldaten sichergestellt werden mussten, war eine besonders intensive Planung bei der Besetzung der Dienstposten notwendig. Schließlich mussten alle Fachbereiche ohne jede personelle Redundanz abgedeckt werden. Zum Vergleich: Diese Bereiche erledigten sonst „zu Hause“ mehrere Hundert Kameraden. Das waren zum Beispiel Triebwerk- oder Rotorblattwechsel, Abnahme durch Fachprüfer, Vorbereitung und Durchführung des fliegerischen Dienstes in widriger Umgebung sowie die ganze Logistik.

Da wir dies alles mit nur 30 Mann stemmen sollten, benötigten wir Personal mit Mehrfachqualifikation. Dabei ging es auch darum, wer vor Ort welche zusätzlichen Aufgaben übernimmt. Wer kocht zum Beispiel? Wer ist für die Logistik oder die Telekommunikation zuständig? Wer unterstützt den Führer vor Ort bei der notwendigen Stabsarbeit? Dass ein als Flugwerkprüfer eingeteilter Oberstabsfeldwebel zusätzlich mit der Unterstützung von Fachprüfern als Hilfskoch seine Kameraden täglich mit wundervollen Mittagsmahlzeiten beglücken konnte, sei hier nur am Rande erwähnt.

Damals gab es für einen derartigen Einsatz keine standardisierte Ausrüstung, weder für die Truppe noch für die Hubschrauber. Wir machten uns daher bei unseren Verbündeten schlau, vorwiegend bei den Amerikanern. Unser Flugsicherheitsoffizier zum Beispiel suchte nach einer Möglichkeit, mehr Sprit an Bord der CH-53 mitzunehmen, um den Einsatzradius deutlich zu erhöhen. Also nahm er gezielt Kontakt zu den Amerikanern auf, die sich bereit erklärten, uns Zusatztanks und das ganze weitere notwendige Equipment wie Pumpen et cetera zu leihen. So konnte der Hubschrauber zwei Tonnen zusätzliches Kerosin mitnehmen. Die Teile bekamen wir nach Mendig geliefert, wo unsere Techniker die Hubschrauber nachrüsteten und anschließend die Prüfer des Materialamts der Luftwaffe die nicht serienmäßige Ausrüstung abnahmen.

Ein anderes Problem war, dass uns kein detailliertes Kartenmaterial für den Flugbetrieb im Irak vorlag und wir auch keines von anderer Seite bekommen konnten. Entsprechende Karten mit einem Maßstab von 1:50.000 oder 1:250.000, wie wir sie zum Beispiel für Flüge in Deutschland nutzten, waren damals beim Amt für Militärisches Geowesen nicht im Bestand. Und die Amerikaner wollten oder konnten uns solche Karten nicht zur Verfügung stellen. Wir hatten lediglich Karten mit einem Maßstab von 1:1.000.000 – aber mit diesen Karten konnte man in einem vorwiegend mit Wüste bedeckten Land nicht terrestrisch navigieren.

Da kamen wir auf die Idee, Navigationsgeräte auf GPS-Basis zu suchen, die eine Positionsbestimmung durch Satellitenortung möglich machten. Ich hatte zuvor schon gehört, dass es damals neue GPS-Systeme gab, die zunächst im Segelsport Verwendung finden sollten. Also machte ich mich schlau, ob es so etwas in Deutschland bereits gab, und fand tatsächlich eine Firma, die einige wenige GPS-Systeme im Bestand hatte. Zusammen mit anderen Kameraden nahm ich Kontakt zu diesem Unternehmen auf. Der Verkaufsleiter erklärte uns allerdings, dass es zwar entsprechende Geräte gebe, diese aber für den Einbau in Hochseejachten vorgesehen seien. Wir schafften es, ihm klarzumachen, dass es besser für das Renommee der Firma sei, wenn sie diese Geräte für den bevorstehenden Einsatz an die Bundeswehr verkaufen würde. Zumal dann entsprechende Tests nachweisen würden, dass sie auch militärisch nutzbar seien. Das sah der Verkaufsleiter ein und so kamen wir an zwölf GPS-Systeme.

Unsere Techniker bastelten in ihrer Schlosserei entsprechende Gestelle und bauten die GPS-Systeme in die Hubschrauber ein. Die Antennen klebten sie wie früher beim Auto auch einfach an die Frontscheibe. In jede Maschine kamen zwei Systeme – eines für den verantwortlichen Piloten und eines für den Kopiloten. Diese Dinger machten uns das Leben schon viel einfacher. Es wurde nur dann hochinteressant, wenn es mal eine Fehlermeldung gab oder das Navi keinen Empfang mehr hatte. Dies kam selten, aber manchmal eben doch vor. Dafür hatten wir aber zumindest unsere Karten im großen Maßstab und irgendwann waren wir in den Gegenden im Irak auch so firm, dass wir zumindest in einigen Gebieten ohne Hilfsmittel fliegen konnten.

Zunächst wurde vor dem Einsatz ein Vorauskommando unter dem damaligen Regimentskommandeur Oberst Bukowski nach Bagdad geschickt, danach im Juli 1991 ein weiteres mit seinem Stellvertreter und mir. Wir wohnten in Bagdad im Al-Rashid-Hotel, weil die Iraker uns zunächst keine andere Unterkunft anboten und uns die UN-Vertreter vor Ort dies als sicherste Unterkunft empfohlen hatten. Wir waren gegenüber den Irakern als UN-Mitarbeiter akkreditiert und sollten vor Ort den Empfang der Maschinen mit den irakischen Ämtern absprechen und vorbereiten. Das zog sich über sechs Wochen hin. Die drei eingeplanten CH-53 standen zu dieser Zeit in Diyarbakir in der Türkei in Stand-by, weil die Iraker keine Einfluggenehmigung erteilten. Es folgten viele Gespräche, die aber alle zunächst ergebnislos verliefen. Die Entscheidungen wurden eben nicht von einem „kleinen“ Stabsoffizier der Bundeswehr in Bagdad, sondern in New York im UN-Hauptquartier getroffen.

Nach sechs Wochen kam dann plötzlich eines Tages im August 1991 das „Go“. Es hieß, dass die Maschinen übermorgen zu einer bestimmten Uhrzeit einfliegen sollten. Daraufhin nahmen wir von Bagdad aus Verbindung mit der zuständigen amerikanischen Dienststelle in Saudi-Arabien auf. Zur damaligen Zeit war der Luftraum über dem Irak eine „No Flying Zone“ und es galt ein Flugverbot für jedes Luftfahrzeug – es sei denn, dass die Genehmigung zum Flug von einer amerikanisch dominierten Dienststelle erteilt worden war. Und derjenige, der es doch gewagt hätte, ohne Genehmigung einzufliegen, wäre von einem Kampfflugzeug der Alliierten abgeschossen worden.

Daher musste jeder Flug mit dieser Dienststelle in Saudi-Arabien abgesprochen und koordiniert werden. Das bedeutete, dass ein internationaler Flugplan erstellt und Verbindungen zu den AWACS *, den fliegenden Radarstationen und Luftaufklärern, hergestellt werden mussten. Dabei galt es unter anderem, die Funkfrequenzen abzustimmen, die Flughöhe, die Route, alle Wendepunkte, eventuelle Betankungspausen und wirklich jede Einzelheit des Fluges exakt anzugeben und mit den Amerikanern abzustimmen.

Diese Zusammenarbeit gelang während des mehrjährigen Einsatzes im Irak durch eine konsequent hochprofessionelle Arbeit immer fehlerfrei. Daher kam es in unserem Bereich niemals zu einem Zwischenfall mit möglichem tragischen Ausgang. Die Folgen mangelhafter Koordination und Kommunikation mussten in dieser Zeit hingegen die Besatzungen zweier türkischer Hubschrauber leidvoll erfahren …

Das Hauptproblem, das es zu lösen galt, war die Bereitstellung einer zentralen Basis, auf der wir mit Personal und dem Einsatzmaterial stationiert werden sollten. Dafür bot man uns die Al Rasheed Airbase an, eine sehr große militärische Einrichtung mit einem Flugplatz im Süden von Bagdad. Dort offerierte man uns als Stabsgebäude das ehemalige VIP-Empfangsgebäude von Saddam Hussein – einen weißen Marmorpalast. Die entsprechenden Flächen davor konnten wir für unsere Hubschrauber nutzen, auch die Möglichkeiten zur Betankung wurden uns zugesagt.

Danach legten wir die Regeln fest, unter denen dort geflogen werden sollte. Da ich noch keine Schreibmaschine, geschweige denn einen Schreibcomputer zur Verfügung hatte, schrieb ich von Hand vorläufige SOPs – also „Standard Operation Procedures“ – für den Flugdienst im Irak auf einem ganz normalen Schreibblock. Nach Überprüfung im Heimatland und Freigabe des Dokuments war es für die ersten Soldaten im Einsatz so etwas wie die Bibel für diesen Einsatz. Dort wurde im Detail geregelt, was sie durften und was nicht. Der gesamte Flug- und Dienstbetrieb war beschrieben und festgelegt, wie zum Beispiel die Dienstzeiten, der Genuss von Alkohol und was auch immer.

Das Besondere an diesen SOPs im Vergleich zum normalen Betrieb in Deutschland waren aber vor allem die Vorgaben für den Flugbetrieb unter kriegsmäßigen Bedingungen. Es gab seinerzeit noch eine voll funktionierende Flugabwehr der Iraker, die sich noch im Kriegsmodus befand und mit der wir uns abstimmen mussten. Und auf der anderen Seite gab es eben die Luftüberwachung der Amerikaner mit scharf bewaffneten Flugzeugen, die dort Patrouille flogen und die alles vom Himmel geholt hätten, was dort ohne Genehmigung unterwegs war.

Das war die eine Besonderheit. Die andere war, dass es keine funktionierende Flugsicherung und Flugüberwachung gab. Diese stellten wir selbst durch einen nicht für den Flugbetrieb eingesetzten Piloten, der mit einem von der Luftwaffe ausgeliehenen Funkkoffer tätig wurde. Deswegen benötigten wir neben zusätzlichen Navigationsgeräten auch weitreichende Kommunikationseinrichtungen, die es damals aber als Standardausrüstung für Hubschrauber der Bundeswehr noch nicht gab.

So rüsteten wir jede Maschine, die in diesem Einsatz flog, extra mit einem mobilen HF-Sprechfunkgerät und einer Inmarsat-Telefonanlage * aus. Ich erinnere mich, dass die Beschaffung der beiden koffergroßen Anlagen zum damaligen Zeitpunkt nicht ganz einfach war. Der für die Beschaffung zuständige Referatsleiter im Ministerium wurde mit der Bemerkung zitiert, dass noch nicht einmal der damalige Bundeskanzler eine so hochwertige Anlage zur Verfügung habe. Wir konterten mit dem Argument, dass dieser auch nicht in einem Kriegsgebiet möglicherweise in der Wüste landen müsse. Wir bekamen schließlich die Ausrüstung, mit der übrigens heute viele Maschinen der Bundeswehr standardmäßig ausgerüstet sind. Im Notfall konnte der Hubschrauber also landen und die Bordtechniker – je nach Mission waren zwei oder drei dabei – waren in der Lage, die Anlage so zu bedienen, dass sie von jedem Punkt, egal ob in der Wüste oder in den Bergen, eine Verbindung zu unserem Gefechtsstand in Bagdad aufnehmen konnten. Wenn man vom zuvor festgelegten Flugplan abweichen musste, war dies ab und zu tatsächlich notwendig. Denn wie vorher erwähnt, hatten wir die Pläne ja im Detail mit den Amerikanern und den Irakern abgestimmt und Änderungen mussten sofort in irgendeiner Art und Weise kommuniziert werden können, weil der Hubschrauber sonst Gefahr lief, abgeschossen zu werden. Daher hielten sich unsere Piloten immer sklavisch genau an diese Procedures.

Wir hatten zudem eine Abmachung mit den Amerikanern: Es durfte keine unserer Maschinen abheben, wenn nicht der Führer oder sein Stellvertreter telefonisch bei der entsprechenden amerikanischen Dienststelle die Bestätigung bekam, dass dort der detaillierte Flugplan vorlag, AWACS verständigt war, die Funkfrequenz festgelegt war und zudem die Callsigns, also die Rufzeichen der Maschinen, bekannt waren. Die Maschine, die abhob, meldete sich dann bei dem zuständigen amerikanischen AWACS und teilte zum Beispiel mit, dass „Golf One“ jetzt in der Luft war und die angemeldete Mission flog. „Golf One“ war zum Beispiel das Callsign des Führers der Heli-Unit. So konnten unsere Leute sicher sein, dass sie nun ganz offiziell bei den Amerikanern auf dem Schirm waren und die Mission unter deren Beobachtung durchgeführt wurde.

Dazu kam, dass wir bei jedem Flug auf die Begleitung eines irakischen Hubschraubers mit militärischem Personal an Bord bestanden. Für den Fall, dass wir eine unbeabsichtigte Außenlandung hätten machen müssen, sollten sie bei Problemen am Boden regelnd eingreifen. Zusätzlich flog in der CH-53 immer ein irakischer Stabsoffizier mit. Dies war auch für den Fall gedacht, dass sie uns kurz vor der von uns geplanten Landung im Einsatzgebiet per Funk in ihrer Landessprache anmeldeten, wenn wir einen unangekündigten Besuch in einer irakischen militärischen Anlage machten. So wollten wir einen möglichen Beschuss unserer Hubschrauber verhindern. Zusätzlich wollten wir beim Auftreten technischer Probleme direkt Unterstützung vor Ort haben.

Diese benötigten wir jedoch niemals, in einer Situation lief es aber umgekehrt. Wegen eines technischen Schadens, den ein Sandsturm an dem irakischen Begleithubschrauber verursacht hatte und in dem die irakische Besatzung selbst die Orientierung verlor, mussten die Begleiter landen. Unsere Maschine landete daher ebenfalls und wartete, bis die Iraker ihren Hubschrauber wieder flugtauglich gemacht hatten. Wer einmal einen Sandsturm im Irak erlebt hat, diese typische dunkelgraue oder braungraue Wand, der weiß, dass man darin nichts mehr sieht. Eine terrestrische Navigation ist dann unmöglich. Die Sandstürme waren so schnell, dass sie uns sogar überholten. Wenn ein Sandsturm zuvor schon angesagt war, starteten wir gar nicht erst. Selbst in einer Großstadt wie Bagdad legte so ein Sturm das gesamte Leben still. Man konnte die Fenster und Türen geschlossen halten – der Sand war trotzdem noch im Mund zu spüren.

Die erwähnten Inmarsat-Anlagen waren noch aus einem anderen Grund wichtig. Als ich als Teil des Vorkommandos in Bagdad stationiert war, hatten wir diese Anlage noch nicht. Wir fuhren immer zum UN-Hauptquartier in der Canal Street und führten dort unsere dienstlichen Gespräche über die Anlage der UN – aber niemals Privatgespräche. Diese waren über die Anlage der UN tabu. Über Nachfragen bei den Irakern fanden wir heraus, dass es damals tatsächlich ein Fernmeldeamt in Bagdad gab, das in der Lage war, per Handvermittlung nach Deutschland zu verbinden. Ein Gespräch musste man einige Stunden vorher anmelden. Also überlegte ich mir immer, wie spät es gerade in Deutschland war, wann meine Frau und meine Kinder zu Hause sein würden, und meldete dementsprechend das Gespräch beim Fernmeldeamt an. Irgendwann nach Stunden klingelte tatsächlich das Telefon und ich hatte die Verbindung nach Deutschland. Manchmal wartete man auch vergeblich, weil die Vermittlung aus technischen oder anderen Gründen nicht klappte. Später, als wir unsere eigene Inmarsat-Anlage hatten, vereinbarte unser Heimatverband in Mendig mit dem Ministerium, dass jeder Soldat pro Woche für eine Minute zu Hause anrufen durfte. Diese eine Minute war die kostbarste der Woche. Dazu muss man aber wissen, dass damals eine Minute 17 D-Mark kostete. Nur wenn irgendwelche außergewöhnlichen Dinge passierten, durfte der Führer vor Ort entscheiden: „Ans Telefon.“

In der Regel hatten wir ständig drei Hubschrauber vor Ort. Wenn eine Maschine ausgetauscht werden sollte, wurde die neue über Zypern eingeflogen und dann hatten wir für einen gewissen Zeitraum auch mal vier CH-53 im Irak. Die Maschinen wechselten nicht mit den Kontingenten, sondern nur, wenn eine größere technische Inspektion anstand. Dann wurden die Hubschrauber ebenfalls nach Zypern geflogen und von dort mit einem Transportschiff nach Bremerhaven gebracht. Die großen periodischen Inspektionen erfolgten in Deutschland.

Nach 100 Flugstunden wechselten wir die Triebwerke selbst vor Ort aus. Pro Tag war immer mindestens ein Hubschrauber für fünf bis sechs Stunden in der Luft im Einsatz, und das meistens an allen sieben Tagen der Woche. Rund 50 Stunden sammelte eine CH-53 im Monat, sodass wir etwa alle zwei bis drei Monate die Triebwerke wechseln mussten. Im Friedensbetrieb fliegt man bei Weitem nicht so viel. Dieser tägliche Rhythmus machte uns aber nichts aus, wir gewöhnten uns schnell daran. Es blieb trotz allem noch genug Zeit, sich in den Inspektionspausen der UN auch mal Land und Leute anzuschauen. Mit Genehmigung der Iraker unternahmen wir Ausflüge, zum Beispiel nach Samarra zu dem berühmten Minarett oder zu den Ruinen von Babylon.

So gab es also auch immer wieder freie Tage für einzelne Teammitglieder. Wir unterteilten die Besatzung in flugfreie Tage und in Flugdiensttage. Die Besatzungen trugen zur Unterscheidung alle einen Smiley an ihrem Kombi. Ein Gesicht mit einem hängenden Mund trugen diejenigen, die unter gar keinen Umständen einen Tropfen Alkohol auch nur angucken durften, weil sie am folgenden Tag fliegen mussten oder als Bereitschaft eingeteilt waren. Diejenigen, die ein Feierabendbier trinken durften, trugen hingegen einen lachenden Smiley. Wir hatten uns den Luxus erlaubt, uns Dosenbier zu beschaffen. Das führte zu einem weiteren Brauch neben den Smileys. Wir sagten uns: „Immer wenn eine Maschine sicher und wohlbehalten gelandet und kein weiterer Flugdienst an diesem Tag angesagt ist, dann ist das ein Grund, darauf anzustoßen.“

Kehrte ein Hubschrauber zurück, warteten die Kameraden mit einem lachenden Smiley schon in unserem Flugsicherungscontainer an der Landebahn mit je einer Dose in der Hand. Sobald das Bugfahrwerk erkennbar Bodenberührung hatte, gab einer das Kommando „Jetzt!“ und die Dosen wurden geöffnet, um ein „Gear-Down-Bier“ zu trinken. Das erlaubten wir, damit die Männer den täglichen Stress ein wenig abstreifen konnten. Wir standen alle immer unter einer gewissen Anspannung. Wir wussten ja nie, was in so einem Einsatz an einem Tag alles passieren konnte – und schnelle Hilfe von verbündeten Streitkräften im Falle eines Falles war nicht zu erwarten. Es gab innerhalb des Irak außer uns 30 Deutschen von der UNSCOM keine weiteren militärischen Kräfte der Alliierten.

Dazu ein Beispiel: Während einer Zwischenlandung im gebirgigen Nordirak – dort sollte ein schwerstverletzter UN-Mitarbeiter gerettet werden – warfen wütende Leute Steine in die Hubschraubertriebwerke. Offenbar war die Meute von einem Politkommissar aufgestachelt worden. Das passierte, während der Verletzte an Bord gebracht wurde. Um dort schnellstmöglich wegzukommen und um eine Katastrophe zu verhindern, entschied sich der verantwortliche Pilot an Bord richtigerweise für einen Notstart mit noch offener Heckklappe. Zum Glück ging das gut aus, denn bei der Kontrolle nach der Landung fanden wir noch Steine in den Triebwerken.

Außerdem hätte es ja auch durch einen technischen Defekt zu einer Notlandung oder Schlimmerem kommen können. Das war ja grundsätzlich nie auszuschließen, insbesondere nicht bei Wüstenlandungen. Jeder Führer eines Kontingents hatte die Befürchtung, dass etwas gerade während seiner Einsatzzeit passiert. In Ruhezeiten dachte ich häufig daran, dass ich nicht den Tag erleben möchte, an dem einem der Männer, die man mir für den Einsatz anvertraut hatte, etwas geschieht. Meine Kameraden und ich hatten Glück; es ist nichts geschehen.

Es gab in diesem Einsatz grundsätzlich drei regelmäßige Aufträge für uns. Der eine war, die Inspektoren der UN schnellstmöglich dorthin zu fliegen, wo immer sie auch hinwollten. Schnelligkeit war ein wesentliches Überraschungselement. Die Mitglieder der Inspektionsteams waren alle hochgradige Spezialisten für atomare, biologische und chemische Waffen aus verschiedenen Mitgliedstaaten der UN. Sie kamen vorwiegend aus den USA, Deutschland, Russland und wohl auch aus Israel. Diese Teams hatten ihre Suchaufträge aus New York und sie wussten aus nachrichtendienstlichen Quellen und Aufklärungsflügen der U-2* sehr genau, was sie taten und wo sie prüfen mussten. Sie wurden grundsätzlich mit einer deutschen Transall über das Emirat Bahrain eingeflogen, fuhren nach der Landung direkt in das irakische Außenministerium, legten dort ihre UN-Akkreditierungen vor und gaben an, wie lange sie voraussichtlich bleiben würden und welchen Auftrag sie hatten.

Immer einen Tag vor einer „scharfen“ Inspektion kündigten sie an, in welcher Region sie kontrollieren wollten. Daraufhin gab es ein gemeinsames Briefing mit uns im bekannten Canal Hotel, in dem die UN bis zu seiner Zerstörung im Jahr 2003 ihr Hauptquartier hatte. Dort wurde der exakte Einsatzplan mit allen Details besprochen. Das Ziel konnte eine militärische Forschungs-, Entwicklungs- oder Produktionsstätte oder zum Beispiel auch eine Düngemittelfabrik sein, die zur Produktion nicht-ziviler Stoffe missbraucht wurde. Sehr wichtig war auch die Suche nach versteckten Scud-Raketen, da die UN einen genauen Überblick über die Anzahl dieser noch im Irak verbliebenen Mittelstreckenraketen haben wollte, die auch in der Lage gewesen wären, israelisches Staatsgebiet zu erreichen. Das Ziel konnte aber auch ein Schrottplatz sein, denn die Iraker waren sehr erfinderisch beim Verstecken ihrer Anlagen. So gab es westlich von Bagdad einen Schrottplatz, auf dem sich ein getarnter Eingang zu einer unterirdischen Produktionsanlage befand.

Wenn das genaue Flugziel feststand, legte die Besatzung spezielle „Boxen“ an, die wir als Zielgebiet definierten, um dem irakischen Militär nicht sofort zu verraten, welche Einrichtung kontrolliert werden sollte. Eine Box konnte 100 x 100 Kilometer groß sein, konnte aber auch kleiner angelegt sein. Erst wenn wir in diese virtuelle Box hineinflogen, gaben wir unserem irakischen Begleitoffizier das exakte Ziel bekannt. Dieser konnte dann über Funk die möglichen Ziele am Boden informieren. Diesen blieb aber nicht mehr genug Zeit, um verräterisches Gerät verschwinden zu lassen.

Unser zweiter Auftrag war es, ein Medical-Rescue-Team * zu fliegen, wenn es benötigt würde. Die CH-53 war groß genug, um einen Kleintransporter aufzunehmen, der alles notwendige medizinische Gerät an Bord hatte. Diese Hilfe leisteten wir in den Jahren des Einsatzes im gesamten Irak sowohl für Mitglieder der UN als auch für schwer verletzte Angehörige internationaler Hilfsorganisationen.

Als dritter Auftrag kam der Transport eines „Aerial Inspection Team“ hinzu, also eine Luftaufklärung aus dem Hubschrauber. Dieses Team bestand aus speziell ausgebildeten Fotografen verschiedener Nationalitäten, die mit einer Hochwertausrüstung ad hoc Inspektionen ohne lange Vorwarnzeit an jedem beliebigen Ort im Irak durchführen sollten. Obwohl wir ein fast freundschaftliches Verhältnis zu diesen Teammitgliedern hatten, fanden wir nie heraus, auf Basis welcher Erkenntnisse sie ihre Ziele aussuchten. Diese Teams zu fliegen war eine sehr herausfordernde Aufgabe, weil sie sich regelmäßig Gegenden aussuchten, in denen sehr sensible technische Installationen lagen, oder Gebiete, die in der sogenannten „Presidential Area“ von Saddam Hussein lagen. Dazu muss man wissen, dass Saddam Hussein eine große Anzahl von Palästen über das ganze Land verstreut hatte, die allesamt so betrieben und bewirtschaftet wurden, als wäre er persönlich vor Ort. Diese „Areas“ wurden jeweils durch spezielle Truppen inklusive Flugabwehr überwacht, die ausschließlich zu seinem persönlichen Schutz vor Ort waren. Diese Truppen hätten auf alles geschossen, inklusive irakischer Maschinen, was sich ohne Genehmigung über eine gewisse Abstandslinie hinaus genähert hätte. Wir wollten diese Angaben natürlich nicht austesten …

Als ich während eines Einsatzflugs an Saddam Husseins Geburtsstätte in der Nähe von Tikrit vorbeiflog, erklärte mir der irakische Verbindungsoffizier, wo sich dort die rote Linie befand. Wer diese überquerte, wäre sofort tot, wurde mir erklärt. Zumindest in einem Fall verhinderte die überzeugende und nachdrückliche Warnung des mit uns fliegenden irakischen Stabsoffiziers, dass wir in so ein Gebiet flogen. So verhinderte er den wahrscheinlichen Abschuss eines unserer Hubschrauber.

Die Vorbereitung auf die einzelnen Missionen war zwar zeitintensiv, aber nicht stressig. Die personellen Einteilungen waren von uns schon lange vorher gemacht worden. Nachdem die UN-Kontrolleure uns im Briefing erklärten, wohin sie am folgenden Tag fliegen wollten, erstellten wir in unserem Gefechtsstand in Al Rasheed die Flugvorbereitung und hielten dann das gemeinsame Briefing mit hohen irakischen Militärs im Generalsrang ab. Sie fanden zunächst im irakischen Verteidigungsministerium statt, später im Sheraton Hotel. In diesen Briefings wurde den Irakern zunächst von den UN-Leuten ihr Auftrag für den Folgetag erklärt. Wir berichteten im Anschluss, wie wir das fliegerisch durchführen wollten. Diese Besprechungen gab es jeden Abend zwischen 19 und 20 Uhr. Unsere Techniker machten am nächsten Morgen gegen 5 Uhr die Maschinen startklar und im Anschluss flogen die entsprechenden Crews ihren Einsatz.

Wir bereiteten dafür alles im Team vor – nicht nur die beiden Piloten und die beteiligten Techniker. Es war immer das gesamte Team beteiligt. Die einen erstellten die Flugvorbereitung an der Karte, die anderen schrieben zusammen mit dem jeweiligen „Pilot in Command“ den Flugplan. So lief alles Hand in Hand. Keiner arbeitete als Einzelkämpfer. Ich glaube, dass dieser besondere Teamgeist, neben der hochprofessionellen Einstellung jedes Einzelnen, das besondere Element für die erfolgreiche Durchführung dieser Mission war. Das bekamen wir auch deshalb hin, weil das Führungspersonal zu 90 Prozent immer aus einem Verband stammte und weil sich jeder Führer „sein“ Team mehr oder weniger selbst aussuchte. So passten alle immer auch menschlich zusammen, man kannte sich schon und wusste, dass man sich gegenseitig voll vertrauen kann.