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Inhalt

Was sind acht Minuten?

1 – „Was hast du zu verlieren?“

2 – „Von Ihnen wird man noch viel hören“

3 – Schreinemakers Live

4 – Kein Privatleben wie jeder andere

5 – Abgeschaltet

6 – Zum Glück nicht bei der Buntwäsche

7 – Vom Glück, eine Katastrophe überleben zu dürfen

8 – Als Schildkröte kannst du nicht steppen

9 – Hätte, hätte, Fahrradkette

10 – In die Kiste passt nur wenig

11 – Dann mach doch!

12 – Lass es krachen, lebe!

Epilog

Ein Brief, als eine Art Nachwort

Bildnachweis

Margarethe Schreinemakers

Was sind acht Minuten?

Es ist eine meiner absoluten Lieblingsstrecken. Ich jogge fröhlich zwölf Kilometer durch den Wald. Ein Morgen zum Niederknien schön: Endlich mal wieder Sonne, eine Landschaft, wie von einem großen Meister gemalt. Sie verströmt den wunderbar köstlichen Duft des erwachenden Frühjahrs. Das ist für mich das pure Leben. Solche Momente sauge ich jedes Mal ganz intensiv auf. Ich brauche den engen Kontakt mit der Natur. Jahre und Sorgen fallen in solchen herrlichen Momenten von mir ab. Der Wald erfüllt meine Seele. Hier fühle ich mich einfach jung. Ein solches Gefühl kann man nicht kaufen.

In einer halben Stunde werde ich wieder zu Hause sein, duschen und den wunderbaren Sonntag genießen. Zusammen mit Jean-Marie, meinem Lebensgefährten. Mein Traummann, der nach zwei Wochen Südafrikatour gerade wieder zu Hause angekommen ist.

Dass er schon jetzt wieder da ist, hier bei mir, dass er neben mir joggt, ist überhaupt nicht selbstverständlich. Noch nicht einmal 24 Stunden ist es her, da hätte er in Kapstadt fast keinen Flug mehr bekommen, weil seine Maschine hoffnungslos überbucht worden war. Wie durch ein Wunder kam er dann doch noch mit – in der letzten Minute. Wir ahnen nicht, wie wichtig dies für uns beide werden wird.

Im Rückblick ist es für mich der Tag, an dem ich eine unglaubliche Chance bekommen habe. Die Chance, mich meinem Leben noch einmal ganz neu zu widmen. Ich habe eine Lektion gelernt, die man normalerweise erst dann versteht, wenn man etwas fast für immer verloren hat: Wie wertvoll dieses wunderbare Leben tatsächlich ist.

Denn urplötzlich zog jemand meinen Stecker, so kam es mir vor.

Erinnerungen: keine. Alles schwarz wie die Nacht …

Ich war tot und ich hatte es nicht einmal bemerkt. Von einer Sekunde auf die andere war ich weg.

Der eigene Tod kann so beiläufig und banal passieren, dass du nicht einmal mehr Zeit hast, darüber zu staunen. Eigentlich eine gute Art zu sterben … nur war es für mich der falsche Zeitpunkt. Einfach viel zu früh!

Das denken bestimmt die meisten, die ihren Tod überleben durften. Wann ist überhaupt ein guter Zeitpunkt zu sterben?

Heute weiß ich, dass ich acht Minuten komplett weg von diesem Planeten war: keine Atmung, kein Puls. Kein Leben.

Was sind schon acht Minuten? Darüber habe ich mir zuvor kaum Gedanken gemacht. In acht Minuten kochst du ein dickes Bündel Spaghetti so richtig schön al dente. In acht Minuten können die besten Läufer 3.000 Meter laufen, das sind siebeneinhalb Runden im Stadion. Acht Minuten … so lange liegst du mit der Kanüle im Arm auf der Pritsche, bis – bei deiner Blutspende – der Halbliterbeutel voll ist. Es dauert etwa acht Minuten, wenn du ausgelassen durch deine Bude rockst und bei Led Zeppelins „Stairway To Heaven“ erneut auf „Repeat“ drückst.

Acht Minuten war ich tatsächlich tot. „Point of no return“ nennen die Mediziner das. Eigentlich kommst du da schon nicht mehr unbeschadet zurück. Unser Gehirn stirbt rasend schnell, wenn es keinen Sauerstoff bekommt. Ich hatte die Erde verlassen und war bereits über die berühmte Brücke gegangen. Mein gesamtes bisheriges Leben endete schlagartig an diesem Punkt, irgendwo im Wald auf meiner Lieblingsstrecke.

Du kannst dein Ende nicht planen, ja es dir nicht einmal vorstellen. Es wird immer anders sein, als du denkst.

Es gibt für mich seit dem 1. März 2009 ganz klar ein Leben vor diesen acht Minuten und eines danach. Und mein Tod ist das, was meine beiden Leben miteinander verbindet.

Mir kommt es manchmal so vor, als hätte ich den „PC meines Lebens“ noch mal hochfahren dürfen. Dabei kam es zu geringen Datenverlusten und ich entdecke immer mal wieder, dass einiges in anderen Ordnern gelandet ist. Aber die Festplatte läuft wieder einwandfrei.

Und das, liebe Freunde, ist das Beste, was mir passieren konnte.

„Was hast du zu verlieren?“, fragte mich die Heldin meines Lebens und brachte mir auf diese Weise bei, das Leben einfach anzunehmen und zu lieben. Mit all seinen Höhen und Tiefen.

Der erste Satz muss immer sitzen. Das gilt für Vorstellungsgespräche wie für Haustürvertreter – sonst knallt die Tür sofort ins Schloss. Und es gilt auch für TV-Moderatoren. Du kommst raus, du fängst an und musst direkt schauen, dass du einen Fuß in die Wohnzimmertür bekommst, sonst wird ratzfatz umgeschaltet. Wenn der erste Satz nicht gleich zündet, wird mit der Fernbedienung abgestimmt. Da kennt – vor allem der männliche – Zuschauer kein Erbarmen. Du musst überzeugend sein, wenn du jemanden für dich gewinnen willst. So einfach ist das … und doch so verdammt schwer.

Ich zähle zu den Menschen, die mit viel Liebe und einem Ja zu sich selbst groß geworden sind. In einer Zeit, wo Kinder eigentlich eher still und unauffällig sein sollten, förderten meine Eltern meinen starken Willen, mein Selbstbewusstsein, meine Persönlichkeit. Sie ermutigten mich, meine Position zu vertreten, auch wenn dies vielleicht damals nicht so angesagt war. Hauptsache, ich lernte zu argumentieren. Die beiden wollten dabei immer von mir wissen, ob ich es wirklich so meinte, wie ich es sagte. Und ich lernte von ihnen, mich zu engagieren und für eine Sache zu brennen.

Wenn man sich selbst von Anfang an schon die Butter vom Brot nimmt und nicht an sich glaubt, wenn man sich sein ganzes Leben lang nur bemüht, anderen irgendwie zu gefallen und ja nicht unangenehm anzuecken, dann hat man wahrscheinlich seine Ruhe. Ein Leben ohne Ecken und Kanten, das relativ störungsfrei vor sich hin plätschert. Einige bekommen davon aber auch Magengeschwüre, weil sie ständig ihren Ärger runterschlucken, sich dämpfen müssen. Sie spielen sich selbst nur als Rolle im Theater des Lebens. Das ständige und verkrampfte Bemühen um Unauffälligkeit ist anstrengend und frustrierend. Und es führt vor allem nicht weiter.

Ich habe in meinem Leben großes Glück gehabt. Immer wieder haben mich Menschen begleitet, die mir in den entscheidenden Situationen Mut gemacht haben, in unbekannte Gebiete aufzubrechen. Ich habe einiges riskiert, sicher auch vieles falsch gemacht, aber auf diese Weise Dinge erlebt, die ich niemals erfahren hätte, wenn ich im Schneckenhaus geblieben wäre.

Jetzt, wo ich dies schreibe, denke ich zum Beispiel daran, wie es war, als man mir vor einigen Jahren vorschlug, eine vom Art déco inspirierte Möbelkollektion zu entwerfen. Immerhin war ich da schon über 50. Als Allererstes dachte ich: Das geht doch nicht! Ich bin doch keine Möbeldesignerin! Der zweite Gedanke war – das werde ich nie vergessen: Versuchs doch einfach – was hast du denn zu verlieren? Und genau gleichzeitig mit diesem Gedanken hörte ich meinen Mann, Jean-Marie, zu mir sagen: „Mach es doch einfach mal! Nimm den Stift in die Hand. Wenns nichts wird, kannst du ja die Entwürfe immer noch in die Tonne treten. Und wenn sie gut sein sollten, dann baust du eben richtig tolle Möbel.“ Punkt.

Heute bin ich froh, dass ich es gewagt habe, Möbel zu gestalten, sie im Detail zu entwerfen. Das war fast wie eine Therapie für mich. Sonst hätte ich meinen Optimismus wahrscheinlich nicht so schnell wiedergefunden. Kreativität besiegt die Todesangst. Dass ich noch einmal ins Leben zurückkehren durfte, ist ein unfassbares Geschenk.

Aber brauchst du erst ein Nahtoderlebnis oder eine Dröhnung mit dem Vorschlaghammer des Lebens, um so richtig dankbar für alles zu werden?

Wann immer du willst, kannst du deinem Leben einen neuen Dreh geben. Du kannst es, weil du lebst. Nichts hindert dich daran. Höchstens du selbst.

Du kannst den Zeitpunkt, an dem du neu beginnen möchtest, hinauszögern. Du kannst dir tausend Gedanken machen, was alles passieren könnte, aber am Ende musst du nur eines wirklich tun: anfangen.

* * *

Ein Kinderfoto von mir

Ich hatte eine richtig schöne Kindheit. Mit zwei Besonderheiten: Ich hatte keine gleichaltrigen Geschwister und wuchs deshalb wie ein Einzelkind auf. Und entscheidend für mich war: Ich hatte einen Vater und zwei Mütter. Wie das zu verstehen ist, erzähle ich gleich.

Bei uns in der Straße gab es reichlich Kinder. Meine allerbesten Sandkastenfreundinnen hatten jeweils drei tolle Brüder. Damals herrschte noch Mut zum Dritt- oder Viertkind, also waren wir meist im Rudel unterwegs.

Zu Beginn der Sechziger spielten die Kinder noch den ganzen Tag draußen, wenn es das Wetter irgendwie zuließ. Es gab Kreide- und Hinkelspiele, Gummitwist, Abenteuer- und Räuberspiele – und noch keine Nachbarn, die sich gleich wie blöde darüber aufregen müssen, wenn ein Kind mal etwas lauter ist. Manchmal waren wir im Spiel Indianer und mussten die verhassten Typen von der noblen Nachbarstraße jagen und fangen. Diese armen Ackerstraßen-Kinder waren uns immer suspekt, denn sie waren ja erst viel später zugezogen und hielten sich, wie wir meinten, für etwas Besseres. In unserer Oststraßen-Welt durfte man die nicht mögen. Sie wurden erbarmungslos bekämpft und gerieten, wenn sie Pech hatten, bei einem unserer Indianerspiele in Gefangenschaft.

Mein Vater und meine Mutter waren sehr entspannte Typen … Sie haben mir viel Freiheit gegeben. Leicht habe ich ihnen das Leben bestimmt nicht immer gemacht, dazu war ich viel zu bunt, zu wild, irgendwie exotisch. Wer selbst so eine Tochter hat, weiß, wie anstrengend das sein kann. Trotzdem haben meine Eltern nicht versucht, mich kleinzuhalten. Sie haben mir meine Art gelassen. Wenn es ihm zu viel wurde, drohte mein Vater in schöner Regelmäßigkeit damit, ein Inserat in unserer Dorfzeitung aufzugeben: „Ruhiges Kind gesucht …“

Damals, als Kinder eigentlich erst dann reden sollten, wenn Erwachsene sie etwas fragten, machte ich schon meinen Mund auf, bevor ich gefragt wurde. Ich war nicht unbedingt vorlaut. Aber ich war mitteilsam und lebhaft, eine kleine, energische Persönlichkeit. Manch einer, der eher den autoritären Stil liebte, wird das damals sicherlich anders empfunden und sich gefragt haben, warum man mir eine derartige Freiheit gewährte.

Meine Eltern nahmen Kinder ernst, sie hörten ihnen zu. Sie ließen sich einfach gern auf Kinder und junge Menschen ein. Sie sprachen vom „Leben in der Bude“ und wie es sie bereichern würde.

Ich bin seit diesen Tagen in der Lage, mich auf mich selbst zu verlassen – weil sie mich gelassen haben.

Die Gelassenheit meiner Eltern war natürlich Schwankungen ausgesetzt. Es gab Tage, an denen ich sie extrem genervt habe, denn ich hatte ständig neue Ideen. Zum Beispiel sonntagmorgens konsequent ein Hotelfrühstück zu servieren. Das klingt zunächst super. Hat aber einen gewaltigen Haken.

In einem unserer seltenen Urlaube waren wir mal in einer hübschen Pension gewesen und da wurde morgens ein großartiges Frühstück serviert. Ich fand das grandios: die schön angeordneten Wurst- und Käsevariationen, verschiedene Säfte und diverse Brotsorten … ein Fest fürs Auge! Dass zudem ein aufmerksamer, ausgesucht netter Ton beim Frühstück herrschte, gefiel mir in der Kombination ganz besonders. Also beschloss ich, auch daheim so ein Frühstück einzuführen. Schön angerichtet und mit allem Drum und Dran. Sonntagmorgens.

Vielleicht sagst du jetzt: Super, ein zehnjähriges Kind, das seinen Eltern Frühstück macht, das ist doch der Hammer! Allerdings bin ich immer ein gnadenloser Frühaufsteher gewesen. So stand ich also sonntags um sechs bestens gelaunt vor dem Bett meiner noch tief schlafenden Eltern und textete sie restlos voll: „So, meine lieben Gäste, es ist Frühstückszeit. Wenn ich Ihnen vielleicht heute Morgen unser Büfett präsentieren darf …“ Wenn meine Eltern jetzt nicht sofort aufstanden und das Spiel begeistert mitmachten, wurde ich extrem stinkig. Mir war nicht im Mindesten klar, dass sie einfach nur hundemüde waren, da sie die ganze Woche hart gearbeitet hatten, und sich natürlich gefreut hätten, wenigstens einmal in der Woche ausschlafen zu können … Manchmal konnten sie dann nicht so recht meiner Begeisterung folgen und reagierten etwas genervt.

Und noch ein Feld gab es, wo es mit der Gelassenheit haperte. Mein Vater war Drehermeister und hatte es im zweiten Bildungsweg zum Maschinenbauingenieur gebracht. Für ihn bestand die Welt aus höherer Mathematik und vielen Maschinen. Und für mich eindeutig nicht. Er konnte bei einer Funktion 3. Ordnung erkennen, dass der Graph im 4. Quadranten gegen minus 2 gehen müsste – ohne zu rechnen! Wenn ich dann fragte: Wieso? Dann sagte er: Das sieht man doch! Ich sah da nichts. Das gab mitunter richtig Zoff, weil er mit großer Leidenschaft versuchte, mich zu einer mathematischen Koryphäe zu formen, die ich nie werden sollte. Ich fand es einfach nur grausam, mit ihm Mathe lernen zu müssen. Das ging über viele quälende Jahre so.

Urlaub mit den Eltern 1972, Costa Brava

Ich glaube, das Problem haben viele Eltern: Sie denken, dass ihre Söhne und Töchter ungeahnte Talente in Mathe, Geschichte, Sprachen oder sonst was entwickeln müssen, und doch gehen Kinder ganz eigene Wege.

Mein Vater wäre wahrscheinlich vor Freude geplatzt, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich Maschinenbau studieren will. Stattdessen sagte ich ihm, dass meine Zukunftspläne in Richtung Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin oder Journalistin gehen würden. Da hat er fast einen Anfall bekommen. Akute Luftnot. In meiner Aufzählung war aber auch restlos alles dabei, was für ihn definitiv ein rotes Tuch darstellte. Ich kann mich noch gut an unsere endlosen Diskussionen erinnern.

Mit 14 hatte ich mich bereits endgültig für den Journalismus entschieden und schon mit dem Schreiben für unsere Heimatzeitung angefangen. Am Ende hat mein Vater das getan, was er immer getan hat: Er hat mich machen lassen. Ein kluger Mann erkennt eben, wenn Widerstand gegen Frauen zwecklos ist.

Meine Mutter war sehr warmherzig, aber auch äußerst pragmatisch. Der Krieg und viele familiäre Verluste hatten sie gelehrt, sich nicht lange mit der Frage nach dem tieferen Sinn dahinter aufzuhalten. Das Leben ging weiter. Und so lange es weiterging, gab es Chancen, die man ergreifen musste. Sie war zudem extrem bedürfnislos. Ich habe eigentlich niemals erlebt, dass sie besondere Wünsche gehabt hätte. Sie war immer mit dem zufrieden, was sie hatte. Deswegen war es auch schwer, sie zu beschenken. Das meiste brauchte sie nicht. Und das sagte sie leider auch häufig, wenn sie ein Geschenk öffnete. Eine Frau ohne materielle Bedürfnisse, aber eine Frau, die gerne lachte, arbeitete und sich aus dem Nichts eine Freude machen konnte.

Und dann gab es noch ein drittes Familienmitglied, das mich bis in die Knochen geprägt hat: meine wunderbare Tante Grete. Sie war die erste Margarethe Schreinemakers in unserer Familie. Ich bin die zweite. Eigentlich sollte ich ja Rita heißen, nach Rita Hayworth, der Lieblingsschauspielerin meiner Mutter. Gott sei Dank ist dieser Name an mir vorbeigegangen. Nach meiner Geburt hat mein Vater mich dann doch mit leicht vernebeltem Kopf kurzerhand nach seiner Lieblingsschwester benannt. Der Grund: Bevor er zum Standesamt ging, hatte er mit meinem Patenonkel Walter, dem jüngsten Bruder meiner Mutter, noch ordentlich einen auf die Geburt seines Töchterchens gehoben. Auf dem Amt angekommen, war ihm der Wunschname seiner Gattin dann komplett entfallen. Totaler Black-out. So wurde aus Rita – Gott sei Dank – eine Margarethe. Und aus der Lieblingsschwester meines Vater somit auch meine Namensschwester und Patentante.

Grete, wie sie immer von allen genannt wurde, wohnte mit ihrem Mann nur 50 Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Beide Familien hatten zur selben Zeit ihre Häuser gebaut und ich bin als Kind immer hin und her geflitzt. Es heißt ja oft, man könne sich nicht genau an seine Zeit als Kleinkind erinnern. Aber ich habe viele Erinnerungen an diese Zeit – und ganz besonders an das dritte und letzte Kind meiner Tante. Das war meine Cousine Christel.

Links: Josefine Schreinemakers mit meinem Onkel Jakob Baumeister. Rechts: Tante Grete (meine Patentante) mit meinem Vater Matthias Schreinemakers.

Vor Christel hatte meine Tante schon zwei kleine Jungen bekommen. Tante Gretes erster Sohn war am plötzlichen Kindstod gestorben, den kannte ich nur von einem einzigen Foto. Ein Baby, aufgebahrt im Sarg, mit halb offenen Augen. Meine Tante sagte mir beim Betrachten dieses Bildes immer, dass die kleinen Augen sich durch den Lichteinfall in der Kapelle, in welcher der winzige Leichnam offen aufgebahrt worden war, plötzlich wieder ein bisschen geöffnet hätten. Der gebrochene Blick eines toten Säuglings. Es war das einzige Foto von ihm. Es hing immer an der Wand neben ihrem Sofa.

Gretes zweiter Sohn starb mit vier Jahren. Damals herrschte Krieg und er hatte Diphtherie. Es gab keine Medikamente und die Widerstandskräfte waren nicht sehr hoch. Meine arme Grete musste hilflos zusehen, wie ihr kleiner Junge an der Krankheit jämmerlich zugrunde ging. Unvorstellbar grausam. Du weißt, dass es Medikamente gibt, die dein Kind wahrscheinlich retten könnten. Aber es ist Krieg und du kommst an das Zeug einfach nicht ran. Du kannst nichts tun, außer zuzusehen, wie das Fieber und der endlose heisere Husten deinen kleinen Jungen fertigmachen. Wie seine Kehle so sehr zuschwillt, dass er panisch nach Luft schnappen muss. Du hörst das hohe Pfeifen, das jeden Atemzug begleitet. Du spürst, wie der kleine Körper Tag für Tag immer mehr vergiftet und schwächer wird – bis er es endlich, endlich hinter sich hat. Das Leben kann so brutal sein und es war brutal zu meiner Tante.

Tante Grete mit Tochter Christel, 1946

Noch während des Krieges ist Grete ein drittes Mal schwanger geworden. Mein Onkel Jakob hatte gerade Heimaturlaub gehabt. Seine Tochter Christel wurde im Luftschutzbunker während eines Bombenangriffs geboren. Sie wog nur zwei Kilo, war aber gesund.

Ich erinnere mich an Christel als eine junge, pubertierende Dame, die ganz zauberhaft mit mir umging. Dauernd kutschierte sie mich im Kinderwagen herum. Einmal versteckte sie heimlich ein Paar Schuhe im Netz meines Kinderwagens. Damals hatte man einfache Kleidung für den Alltag und die gute wurde ausschließlich für die Sonntage aufbewahrt. Kaum waren Christel und ich um die Ecke gebogen, zog sie heimlich die Schuhe mit den schicken Pfennigabsätzen an. „Psssst, nix der Mama verraten!“, flüsterte sie mir eindringlich zu und dann stöckelte sie mit mir im Kinderwagen ganz stolz durch die Gegend. Ich glaube, sie fühlte sich ungeheuer erwachsen in diesem Moment, und ich war Teil ihres Mutter-Kind-Spieles. Natürlich habe ich das sofort meiner Mutter erzählt. Nicht weil ich eine böse Petze war, sondern weil ich noch viel zu klein war, um Geheimnisse zu kapieren. Ich habe also direkt losgeplappert: „Die Christel hat Schuhe angezogen mit so was drauf.“ Gemeint waren die Schleifchen, die ihre Damenpumps zierten, aber das Wort war mir noch nicht geläufig. Da wusste natürlich jeder, dass meine Cousine ihre Sonntagsschuhe verbotenerweise unter der Woche angezogen hatte. Das gab dann ordentlich Stunk. So war das eben damals.

Ich erinnere mich auch noch daran, wie Christel plötzlich eine Wunde am Fußgelenk hatte, die nicht heilen wollte, obwohl ständig ein Pflaster drauf war. In einer anderen Momentaufnahme sehe ich sie im Haus meiner Tante sehr krank auf ihrer Schlafcouch liegen. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich nicht mehr drüben bei meiner Cousine sein konnte. Sie kam ins Krankenhaus. Und dann kam der Tag, an dem ich zusammen mit Tante Grete zum Krankenhaus ging, um meine Christel zu besuchen.

Auf dem Krankenhausflur kam plötzlich ein großer schwarzer Vogel auf uns zugeweht. Ich dachte, es wäre ein Pinguin in wallenden Gewändern, aber es war eine Nonne. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und streng. Ich hatte Angst und umklammerte fest die Hand meiner Tante. Der schwarze Vogel sagte mit eisigem Ton, fast beiläufig: „Frau Baumeister, machen Sie sich drauf gefasst, dass Ihre Tochter gleich stirbt.“ Dann wehte er weiter. Obwohl ich noch sehr klein war, spürte ich mit einem Schlag eine Kälte, die mir das Herz zusammenpresste. Und dann fing meine Tante an, laut zu schreien. Sie schrie und schrie und ich klammerte mich noch panischer an ihre Hand, als würde mein Leben davon abhängen. Ich hatte furchtbare Angst, dass der Eisvogel, diese Pinguin-Frau uns alle fressen würde …

Wir wurden in ein Zimmer geführt, das am Ende des Ganges links lag. Das kann ich wirklich noch präzise aus meinem Gedächtnis abrufen, denn die Ereignisse dieses 1. Novembers (ausgerechnet auch noch an Allerheiligen!) sind für immer und ewig in meinem Kopf eingebrannt. Es war das sogenannte Sterbezimmer, wie ich später erfahren sollte. In diesem Zimmer roch es nach Weihrauch, Kerzen brannten. Und es stand am Bett schon ein weiterer schwarzer Vogel, ein katholischer Pfarrer, der laut murmelnd die Sterbesakramente herunterleierte. Ich wusste damals natürlich nicht, was Sterbesakramente sind. Aber was der Mann da machte, wirkte auf mich bedrohlich. Und unsere arme Christel schrie immer: „Mama, ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!“

Ich stand zitternd mit dem Rücken an die Wand gepresst. Natürlich hatten mich alle Erwachsenen im Raum restlos vergessen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand. Mir kam es ewig vor. Die Bilder werde ich niemals vergessen. Ich musste mit ansehen, wie meine 15-jährige Cousine einen gewaltigen Blutsturz bekam. Ein Blutsturz ist, wenn du im Schwall Blut erbrichst. Du hustest und deine Bettdecke wird in Blut getränkt. Christel, meine wunderbare Cousine, starb qualvoll an Leukämie. Mit gerade mal 15 Jahren.

Christels Tod hat meiner Tante fast das Genick gebrochen.

Seit diesem Tag hatten sie und ich eine ganz besondere Verbindung. Wir waren gemeinsam durch die Hölle gegangen. Was konnte uns jetzt überhaupt noch trennen? Über diesen grausamen Tag und auch über den Tod ihrer beiden anderen Kinder haben Grete und ich selbst Jahrzehnte später immer wieder geredet. Meine Mutter beteiligte sich oft an diesen Gesprächen. Sie ließen Gretes Kinder nie so ganz sterben. Die drei waren durch unsere Unterhaltungen immer irgendwie präsent. Sie blieben ein fester Teil der Familie. Wir waren eine verschworene Schicksalsgemeinschaft. Grete, die Lieblingsschwester meines Vaters, meine Mutter und ich.

Natürlich gab es auch damals schon jede Menge merkwürdige Zeitgenossen, die meinten, man müsse den Umgang mit Gretes toten Kindern effizienter abhandeln. Menschen, die schnell mit den Themen Tod und Krankheit durch sind, solange sie nicht selbst betroffen sind. Sie erteilten dann gerne gute Ratschläge: „Pass mal auf, irgendwann musst du damit fertigwerden. Was tot ist, ist tot. Das Leben geht weiter!“ Am schlimmsten fanden wir immer die Leute, die meine Tante als „kinderlos“ bezeichneten: „Das kannst du ja nicht verstehen, du hast ja keine Kinder.“

Nach Christels Tod hat mich meine Mutter fast jeden Tag zu Grete rübergeschickt. Heute weiß ich, dass sie mich, ihre kleine Prinzessin, mit der geliebten Schwägerin bewusst geteilt hat. Sie und mein Vater spürten: Unsere Grete überlebt das nur, wenn wir ihr ganz oft das Kind überlassen. Für mich war das ein unfassbares Glück. Ich liebte meine beiden „Mütter“ und wurde von beiden geliebt. Und Energie hatte ich eh genug für zwei Haushalte.

* * *

Nun weißt du, warum ich anfangs sagte: Ich hatte drei Eltern. Weil ich tatsächlich zwei Mütter hatte. Diese Doppelbesetzung war – aus kindlicher Sicht und auch später – der pure Luxus und ich war mir dessen auch immer bewusst. Und noch eines ist nun sicherlich klarer geworden: Meine Kindheit war nicht nur behütet und schön, sie war auch voller Verlust und Schrecken. Schon früh habe ich die Erfahrung machen müssen, dass tiefe Abgründe und entsetzliche Schicksale zum Leben unabwendbar dazugehören.

Es gibt diese Momente, in denen du meinst, du schaffst das jetzt nicht mehr, du versinkst in deinem Schmerz und steckst für immer darin fest. Und dann gibt es da plötzlich einen kleinen Trampelpfad, auf dem du doch irgendwie weitergehen kannst. Schritt für Schritt fühlt sich der Boden unter deinen Füßen wieder etwas fester an und aus dem Trampelpfad wird ein neuer Weg für dein Leben.

Später wurde ich oft gefragt: Wie hältst du das eigentlich aus, wenn in deiner Fernsehsendung Schreinemakers Live die Gäste hautnah von ihren Schicksalen berichten? Die Antwort ist ganz einfach: Ich kenne es ja. Der Schmerz ist ein guter Bekannter.

Ich war unzählige Male mit Tante Grete auf dem Friedhof. Auch noch zehn, zwanzig, dreißig Jahre später. Und immer wieder war es hart für sie. Wenn du Kinder auf dem Friedhof hast, die so klein gestorben sind, dann bleiben sie klein. Sie wachsen nicht. Sie werden nicht älter. Sie werden nie zu erwachsenen Menschen. Du bleibst also immer die Mutter von kleinen Kindern. Der Schmerz wird mit den Jahren, die verstreichen, sicherlich irgendwie erträglicher. Er wird zu einer Art Dauerbegleiter, an den man sich gewöhnen kann. Aber er wird nie verschwinden.

In die Kirche ging Tante Grete – seit dem Tod der Tochter – nicht mehr. Für sie gab es keinen Herrgott mehr. Der war erledigt.

Ich hingegen glaubte kindlich an den „lieben Gott“. Wie alle Kinder in meiner Heimat, die damals noch katholisch und tiefschwarz war. Mit Hingabe baute ich kleine Marienaltärchen und kaufte mir kitschige Devotionalien in Kevelaer. Das machte man damals so. Das machten alle Kinder so. Und auch das war wieder typisch für meine Familie: Sie unterstützten mich dabei, so gut sie konnten. Mein Vater fuhr mich sonntags zur Messe und holte mich auch brav wieder ab. Aber mit rein ging er nicht, in die Kirche musste ich alleine. Meine Eltern gingen nie zur Kirche – außer wenn sie mussten: zu Kommunionen, Hochzeiten oder Beerdigungen. Das war für mich nicht so ganz einfach. Montags fragte der strenge Pfarrer in der Schule immer nach, wer von uns in der Kirche war und wessen Eltern auch dort gewesen seien.

Schon damals wurde mir durch meine Familie klar, dass Glaube und Kirchgang nicht unbedingt dasselbe ist. Eine Messe zu besuchen, war auch damals für mich nichts Eindrucksvolles. Schon als Kind fand ich die Veranstaltung sehr starr und festgefahren, eher langweilig. In meinen Kinderaugen saßen in der ersten Reihe des Kirchenschiffs „Christen erster Klasse“, die demonstrativen Gutmenschen. Die waren sehr darauf bedacht, von allen gesehen zu werden, trugen schicke Kleider und fuhren repräsentative, große Autos. Es waren die „Promis“ aus unserem Dorf. Aber hatte Gott das tatsächlich so gemeint? Stand nicht irgendwo in der Bibel, dass vor Gott alle Menschen gleich sind?

Wir hatten daheim andere Werte: Keine Vorurteile zu haben, das wurde bei mir zu Hause tatsächlich gelebt. Oder zumindest aus Überzeugung versucht. Ob die Kumpels, die mich besuchten, lange Haare hatten oder Palästinensertücher um den Hals trugen, ob sie Parkas mit Peace-Zeichen, dem Che-Guevara-Antlitz, dem Porträt des Vorsitzenden Mao oder sonst was am Leibe hatten – sie waren kommentarlos willkommen. Hauptsache, sie waren höflich, sagten „Guten Tag“, streiften ihre Schuhe (meist Fransenboots, sehr hip damals) auf der Fußmatte ab und aßen viel und gern, was meine Mutter gekocht hatte. Dann war jeder absolut willkommen.

Meine Mutter hatte eine Freundin, deren Sohn schwul war. In den Sechzigern war das ein Unding. Damals gab es ja noch den Paragrafen 175, der „sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts“ sogar mit Knast bestrafte. Das muss man sich mal vorstellen! Der wurde tatsächlich erst 1994, also gute fünfundzwanzig Jahre später, vollständig abgeschafft. Wegen Olaf war Schwulsein häufig Thema bei uns. Trotzdem wusste ich noch nicht so richtig, was das überhaupt sein sollte. Aber ich wusste schon: Schwul ist, wenn ein Mann Männer liebt, und das ist zwar anders, aber okay.

Es war jedenfalls kein Verbrechen, so wie das, was Jürgen Bartsch auf dem Gewissen hatte. Der war ein Kindermörder, über den damals viel gesprochen wurde. Und einige taten so, als sei ein schwuler Mann eben auch ein schlimmer Verbrecher. Für meine Mutter war jedenfalls klar: Ihre Freundin hatte diesen einen wunderbaren Sohn und den liebte sie natürlich – so wie er war. Punkt. Und wer meinte, dämliche Bemerkungen machen zu müssen, der kriegte sofort ein Problem mit meiner Mutter. Das war mein Zuhause. So habe ich es erlebt.

* * *

Es ist schon seltsam: Christels Geburtstag, der 1. März, wurde um ein Haar zu meinem Todestag. Mein plötzlicher Zusammenbruch beim Joggen fällt exakt auf dasselbe Datum. Zufall, sagst du jetzt vielleicht. Kann sein. Aber für mich hat das eine tiefere Bedeutung. Erst 2010, als ich die Beerdigung meiner Tante organisieren musste, fiel mir das auf. Ich blätterte in ihrem alten Stammbuch und sah die Geburts- und Sterbedaten ihrer drei Kinder, die sie selbst handschriftlich eingetragen hatte. Das muss man sich mal vorstellen: Du trägst untereinander die Todesdaten deiner drei eigenen Kinder ein und findest danach noch die Kraft weiterzuleben.

Grete, diese wunderbar starke Frau, die in ihrem Leben so vieles durchmachen musste, wurde die Älteste von allen. Mein Vater, der seine Schwester ganz besonders liebte, sagte, wenn er über sie und ihr hartes Schicksal sprach: „So schnell stirbt unsere Grete nicht. Die Kerze, die als Erstes flackert, brennt am längsten.“ Wie wahr. Grete starb zehn Monate nach meinem Beinahetod. Ich habe ihr nie gesagt, dass ich fast noch vor ihr dran gewesen wäre. Das hätte sie sicher nicht mehr verkraftet. Oft sagte sie zu mir: „Was soll ich denn bloß machen, wenn ich dich mal nicht mehr habe.“

Als sie starb, war sie die letzte Bezugsperson aus meiner Familie. Alle anderen waren da schon lange tot. Das ist das total Verrückte: Die Frau, die seit Jahrzehnten ein gebrochenes Herz hatte, überlebte alle. Grete überlebte meinen Vater, ihren 7 Jahre jüngeren Bruder um satte 18 Jahre und meine Mutter, 6 Jahre jünger als sie, immerhin auch noch um 5 Jahre. Grete wurde fast 93 Jahre alt!

Einmal sagte sie zu mir auf meine Frage, wie denn Weiterleben überhaupt möglich sei, wenn man alle seine Kinder in jungen Jahren beerdigen musste: „Hör zu, Margarethe, wenn dir der Verlust von drei Kindern nicht das Herz bricht, was kann dich denn dann überhaupt noch umbringen?“

Tante Grete war Zweitmutter und beste Freundin zugleich. Immer wenn ich junges Mädchen meiner Tante Grete etwas anvertraute – und weiß Gott, das konnte man –, sagte sie: „Nun erzähl erst mal die Geschichte, wie sie wirklich war, und dann überlegen wir uns, was wir davon überhaupt deiner Mutter sagen können.“ Immer konnte ich ihr ohne Abzüge, Beschönigungen oder falsche Rücksichtnahme einfach nur erzählen, was los war. Ich konnte und durfte so sein, wie ich war, ohne dass jemand gleich über mich gerichtet hätte. Viele Mütter meinen ja, ihre Kinder würden ihnen alles erzählen. Dass das nicht geht, weiß ich von mir selbst. Du redetest mit deinen Eltern zum Beispiel damals nicht über Sex, vergiss es! Auch wenn die Sixties die muffigen Fünfziger schon abgelöst hatten, fand die sexuelle Revolution höchstens irgendwo in den großen Städten und in den Illustrierten statt – aber ganz bestimmt nicht in der deutschen Durchschnittsfamilie und schon gar nicht in ländlicheren Regionen.

* * *

War Grete der wichtigste Mensch in meinem Leben? Ich glaube ja. Jedenfalls hat sie mich am meisten geprägt. Ohne sie wäre meine Kindheit, so wie sie verlief, nicht denkbar. Sie ist es auch, die mich schon früh zum Nachdenken gebracht hat: Warum müssen manche Menschen eigentlich so viel mehr Leid erfahren als andere? Gretes Geschichte beweist: Es gibt keine ausgleichende Gerechtigkeit im Leben.

Meine Mutter zum Beispiel hatte nie eine OP, bis sie starb. Einmal musste sie beim Hautarzt eine kleine Warze entfernen lassen, das gab ein kleines Närbchen. Aber das wars auch schon. Meine Mutter ist sozusagen „chirurgisch ungeöffnet“ im Alter von 81 Jahren unter die Erde gegangen. Tante Grete dagegen war mit Operationsnarben übersät. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft sie im Krankenhaus war – und wie oft fast tot. Mit der Zeit sah ihre Haut jedenfalls aus wie eine Mondkarte.

Auch in ihrer Ehe lief es nicht so prickelnd. Als Gretes Mann aus dem Krieg nach Hause kam, hatten sie sich – wie so viele – eigentlich nicht mehr viel zu sagen. Jakob war lange weg gewesen und als er wiederkam, war seine Tochter Christel immerhin vier Jahre alt. Die hat nur geschrien: „Wer ist der fremde Mann? Der Mann soll weggehen!“ Kein guter Einstieg für einen Kriegsheimkehrer und Neu-Papa. Grete und Jakob rauften sich nur mühsam zusammen. Ich glaube, eines ihrer Hauptprobleme war, dass Jakob nach Christels Tod scheinbar zur Tagesordnung überging. Und Grete eben nicht. Die beiden lebten in zwei Parallelwelten. Sie machte ihr Ding und er machte sein Ding. Eigentlich haben sie gar nicht zusammengepasst. Das hast du ja heute auch oft genug. Aber damals zog man so eine Ehe eben noch komplett durch. Grete hat mir mal gesagt: „Die meisten Frauen unserer Generation brauchen sich wirklich nichts auf ihre langjährigen Ehen einzubilden. Wenn wir etwas gelernt und unser eigenes Geld verdient hätten – wir wären fast alle abgehauen.“ Wenn Grete hörte, dass ein Paar 45 Jahre verheiratet war, fragte sie: „Auf welcher Basis denn? Echte Liebe oder Zuneigung? Oder vielleicht doch nur weil derjenige, der den anderen verlässt, keinen Pfennig Unterhalt bekommt?“ Damals wurden Ehen noch nach dem Schuldprinzip geschieden.

Mit Onkel Jakob habe ich mich sehr gut verstanden, auch wenn er eher der Buchhaltertyp war. Und er mochte mich auch aufrichtig und von Herzen. Ich durfte viele Dinge bei ihm machen, die er anderen nie im Leben erlaubt hätte. Wir hatten da ein Spiel: Friseursalon. Das passte eigentlich gar nicht zu ihm. Er war mein Kunde und ich durfte ihm stundenlang Lockenwickler eindrehen und ihn frisieren.

BaderQuelleBaderOtto-Versand

Da gab es eine Arzttasche aus Leder, die war total toll. Aber sie kostete 278 Mark. Vor 35, 40 Jahren war das umgerechnet so viel wie heute 800 Euro! Aber Grete sagte nur: „Das kriegen wir schon hin. Dann kriegt Jakob eben für eine Weile Aufschnitt aus dem Sonderangebot.“ Wir bestellten die Tasche, zahlbar in zwölf Monatsraten. Das war Tante Grete pur! Mit dem Herz am richtigen Fleck schaffte sie es, mitten heraus aus unermesslichem Leid eine unbändige Freude am Leben zu versprühen. Das machte sie zu einer echten Lebenskünstlerin und zu meinem großen Vorbild.

Gretes Großzügigkeit stieß in der Familie nicht nur auf Bewunderung. Weil Grete gerne mit vollen Händen gab, türmte sich regelmäßig ein „heimlicher“ Schuldenberg auf, der immer wieder mühsam abgetragen werden musste. Das schaffte sie allerdings immer. Davon ahnte natürlich der sparsame Ehemann nix. Jakob war die personifizierte Sparsamkeit, die schon gewisse Züge von Geiz hatte.

Meine Mutter, stets in alles eingeweiht, lachte Tränen, wenn die Rede darauf kam, und sagte: „Lasst sie doch Spaß haben! Eine Frau, die alle Kinder verloren hat, darf das.“ Meine Mutter, eigentlich auch eine recht sparsame Frau, ermöglichte ihr dann so manche Zwischenfinanzierung. Grete kaufte nicht nur etwas für mich. Sie kaufte auch vieles für sich. Ein kleines bisschen Ersatzlebensglück per Bestellnummer. Sie hatte ein Recht darauf, so sah es meine Mutter und gönnte ihrer Schwägerin alles, was es nur zu gönnen gab.

Einmal, Jahre später, schenkte ich meiner Mutter eine recht schwere, teure Goldkette. Da war mein Gehaltskonto bereits ansehnlich gefüllt. Meine Mutter war ja keine anspruchsvolle Frau und deshalb besaß sie auch kaum Schmuck. Und als sie die Kette auspackte, sagte sie nur: „Die wäre aber auch was für unsere Grete! Die würde sich darüber bestimmt noch mehr freuen als ich.“ Da war mir klar: Diese Kette würde Grete tragen. Das hat meine Mutter glücklicher gemacht, als wenn sie die Kette selbst behalten hätte.

An Muttertagen besorgte ich in der Folge grundsätzlich immer zwei identische Geschenke, für jede der beiden eines. Nachdem Grete damals die Kette von meiner Mutter bekommen hatte, habe ich manchmal sogar zweimal dasselbe Schmuckstück gekauft. Nur so war ich wenigstens sicher, dass meine Mutter auch mal etwas für sich behielt.

* * *

Als Grete 88 oder 89 Jahre alt war, lag sie einmal wieder im Krankenhaus und ich war zu Besuch bei ihr. Selten habe ich sie so wütend erlebt. Zuvor war ein Psychologe an ihrem Bett gewesen und hat wohl vorschnell gedacht, alle alten Leute seien dement. Deshalb hatte er offensichtlich arg blöd mit ihr geredet. Da bekam Grete einen regelrechten Ausraster: „Wie reden Sie eigentlich mit mir? Hören Sie mal gut zu, wer auch immer Sie sein mögen! Ich kenne Sie nicht und habe Sie nicht bestellt! Ich will Sie hier nicht noch einmal sehen und damit Sie es gleich wissen: Ihre Rechnung zahle ich auch nicht!“

Schade, dass ich nicht dabei gewesen bin. Die Szene muss eindrucksvoll gewesen sein. Da tritt der ahnungslose Arzt huldvoll an das Bett der alten Dame, spricht die vermeintlich senile Greisin langsam und überdeutlich an, und auf einmal hat er statt einer Mumie eine Furie vor sich, die ihn schimpfend aus dem Zimmer jagt. Der Kerl war fertig! Aber anscheinend noch nicht ganz: Denn er schaffte es, später doch eine Rechnung zu schicken. Tante Grete griff zum Telefon, rief in der Praxis an und schickte resolut eine Salve von Verwünschungen durch den Hörer. Eine erneute Zahlungsaufforderung ist dann nie mehr gekommen.

Aufzugeben war eben nicht Gretes Ding. „Was hast du zu verlieren?“, fragte sie mich, als ich einmal vor einer folgenreichen Entscheidung stand und nicht den richtigen Mut fand, den Schritt nach vorn zu wagen. Da sah ich diese Frau vor mir stehen, die so viel in ihrem Leben verloren und trotzdem keine Angst davor hatte, noch ein weiteres Mal in die Knie zu gehen. Weil es in ihr steckte, dass sie wieder aufstehen würde. Grete hatte einfach das Aufsteh-Gen.

Genau diese Haltung ist es, die ich in all den Jahren mit ihr aufgesogen habe. Meine Grete, so glaube ich, hat tatsächlich einen guten Anteil daran, dass ich wieder zurück ins Leben fand, als ich eigentlich schon tot war.