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Bruno Pellegrino

Atlas Hotel

Bruno Pellegrino

ATLAS HOTEL

Roman

Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow

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Dieses Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung
der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit,
Organisation aller 26 Kantone.

Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia gefördert.

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Der Verlag bedankt sich hierfür.

Die Originalausgabe ist 2015 unter dem Titel
Atlas nègre bei Tind éditions erschienen.

© 2015 Tind éditions, Paris

© 2016 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
(für die deutschsprachige Ausgabe)
www.editionblau.ch
www.rotpunktverlag.ch

Lektorat: Daniela Koch

Umschlaggestaltung: Camille Scherrer

ISBN 978-3-85869-721-9

1. Auflage 2016

Die Bäume rastlos, die Temperaturen fallend,

die ganze nördliche Religion der Dinge

aufs Ende gerichtet.

JONATHAN FRANZEN

Die Korrekturen

Süden

Ich trank – weiße Mauern und Ölbaumhügel – eine Welt der Heldentaten, der Abenteuer, der stürmischen Liebschaften und der Wirbelstürme.

Ach, alle Flüsse austrinken: den Niger, den Kongo, den Sambesi, den Amazonas, den Ganges

Alle Meere austrinken auf einen einzigen Neger-Zug ohne Zäsur doch nicht ohne Akzente

Und alle Träume austrinken, alle Bücher, jegliches Gold, alle Wunder von Coimbra.

LÉOPOLD SÉDAR SENGHOR
»Élégie der Saudades«

1

Als er mit ihr Schluss machte, hätte er nie gedacht, dass sie schon so bald wieder miteinander schlafen würden. Wobei er auch nicht glaubte – das nun auch wieder nicht –, dass ihre Trennung halten würde. Er machte mit ihr Schluss, aber in der Hoffnung, ja eigentlich in der Gewissheit, dass es nur auf Zeit wäre – eine Pause, würde man den Freunden sagen, wir machen eine Pause. Tatsächlich haben sie gleich wieder angefangen, miteinander zu schlafen: ein paar Wochen, vielleicht einen Monat später, so genau weiß er es nicht mehr. Was allerdings auch nicht hieß, dass sie wieder zusammen waren. Von außen betrachtet mochte die Situation kompliziert erscheinen, aber zwischen ihnen war es jetzt leichter. Sie machten das als Singles, ohne Verpflichtungen, aber mit der in sieben Jahren entstandenen Vertrautheit (sie waren so verdammt jung gewesen am Anfang). Dieses neu gefundene Gleichgewicht stand auf schwachen Füßen, ja, aber es war da und es war ihrs.

Heute ist er also aufgebrochen. Die Reise war lange geplant, noch zu der Zeit, als sie zusammen waren, er hat keine Sekunde darüber nachgedacht, doch nicht zu fahren. Vor drei Jahren hatte es dort, wo er hinfährt, einen Putsch gegeben. Davon hatte er nichts gewusst, bis die Zuständige seiner Organisation ihm per Mail mitteilte, dass eine andere Praktikantin abgesagt hätte, die Unruhen breiteten sich aus, die Weißen verließen die Insel, niemand wüsste, ob die Situation noch eskalieren würde. Bis zum letzten Moment hat er sich gefragt, ob er fahren soll. Am Ende hielt ihn nichts mehr zurück, nicht einmal sie, vor allem nicht sie, sie hätte ihn nie von irgendetwas abhalten wollen – er solle ruhig gehen, seine Erfahrungen machen, schließlich habe er sie nicht umsonst verlassen.

Als die guten Gründe für seine Unternehmung weniger augenfällig wurden, hatte er, um sich Mut zu machen, einen Lonely Planet gekauft, der nun, noch verpackt, tief in seinem Rucksack unter dem Vordersitz steckt. Das Hochglanzcover zeigt einen schwarzen Mann in kurzer Hose und ärmellosem Shirt, der mit einem langen Stock in der Hand und einem Fuß auf einem Einbaum auf eine blaue Lagune blickt. Das ist es nicht, was ihn reizt: die ferne Wildnis, das Exotische der traumhaften Fotos auf Google Bilder (tropische Tiere, Strände, Affenbrotbäume und diese kegelförmige Insel von dichtem Grün, die sich in die Rundung der Bucht schmiegt, sich aus dem selbstverständlich glasklaren, saphirblauen, smaragdgrünen, lapislazulifarbenen Wasser erhebt), das hat man schnell gesehen. Nur, wenn er die offiziellen Gründe für seine Reise aufzählt – arbeiten, etwas von seiner Zeit abgeben, etwas für andere tun, zum ersten Mal in diesen paarundzwanzig Jahren –, überzeugt ihn das genauso wenig.

Seine Reise schien heute Morgen in Genf gleich mit einem Fehlstart zu beginnen, als das Flugzeug nach Norden drehte. Die Nacht war kurz gewesen, er hatte seine Freunde rausschmeißen müssen, um sich zwei adrenalinberauschte Stunden Schlaf zu gönnen, noch hinausgezögert vom ausgedehnten Abschied von ihr, bei dem sie sich gegenseitig Briefe und Fotos mitgaben. Er hätte gern im Flugzeug geschlafen, doch, wie elektrisiert, gelang es ihm nur, vor sich hin zu dämmern. Die letzten Wochen war er mit Abschiednehmen beschäftigt gewesen. Nun, da er sich endlich losriss, hallten in ihm die Ratschläge nach, mit denen man ihn bedacht hatte: in punkto Ernährung, Kriminalität, Malaria, Frambösie, Bilharziose, Amöbenruhr, und was für eine tolle Erfahrung, auf jeden Fall viel Spaß, ganz viel Spaß – aber Spaß wobei, wenn er schon nicht mehr weiß, warum er sich eigentlich diese einsamen Monate auf feindlichem Boden auferlegt hat, die doch das, was zwischen ihm und ihr gerade noch oder gerade wieder ist, in Gefahr brachten. Er weiß nicht einmal, er hat nicht daran gedacht, sie zu fragen, ob ihre Trennung noch aktuell ist oder ob all die Male, die sie seither miteinander geschlafen haben, doch etwas zählen.

In Roissy hatte er sich mit pochenden Schläfen an eine Bar gesetzt, um einen Kaffee zu trinken. An einem der Tische hielt ein Mann sein Smartphone zärtlich in der einen Hand, während er mit der anderen liebevoll über das Display strich, unermüdlich dieselben Seiten durchscrollte und aktualisierte, ohne dabei auch nur einmal seinen Blick auf die vom Ignoriertwerden abgestumpften Augen der Frau zu richten, die sich ihm gegenüber an ihren nicht mehr dampfenden Becher klammerte, diesen aber kein einziges Mal an die Lippen führte. Sein Gate erschien auf der Anzeigetafel; er nahm den letzten, lauwarmen Schluck von seinem Americano: los, schnell jetzt, Gedränge, Aufregung, Chaos. Am Terminal sah er in die Gesichter und versuchte zu erraten, wer wohl von dort kam, wer vielleicht für immer zurückkehrte und wer weshalb das Land verlassen hatte. Der Putsch hatte damals Todesopfer gefordert; zu dem Thema gab es eine eigene Wikipedia-Seite, und er bereute es jetzt, sich nicht weiter dafür interessiert zu haben. Er hätte auch gern gewusst, was es mit den anderen, den Weißen, auf sich hatte, was sie wohl dort wollten: das Pärchen im Safari-Outfit, die Gymnasiasten in Hemd und Turnschuhen, dieser junge Typ mit dem grelllila T-Shirt, das sich faltenlos über seine Wampe spannte und auf dem fett USE YOUR über einem gezeichneten Gehirn stand – alle deplatziert, skurril – nur, wie er selber wirkte, war eben auch die Frage.

Einsteigen, abheben, Kurs auf Süden: Jetzt gibt es kein Zurück mehr, endlich kann er sich fallen lassen, bis er von den Kurzzeitschläfchen zwischen James Bond und dem letzten Almodóvar einen ganz steifen Nacken bekommt. Unter dem weißen Blech des Tragflügels die Alpen, die Balkankette, kurz die griechischen Inseln und das Mittelmeer – aber bald schon weicht das Blau den gewaltigen Felsen Ägyptens und des Sudans, dann durchtränkt die Sonne Äthiopien, keine Chance, den Kilimandscharo zu erspähen, aber er erhascht zwischen den subsaharischen Wolken einen Blick auf Sansibar, das in der äquatorialen Nacht funkelt. Jetzt rauscht der mächtige Luftstrahl der Triebwerke über dem vom unerbittlichen Dunkel verschluckten Ozean. Der Bildschirm am Vordersitz zeigt einen Punkt irgendwo zwischen den Komoren und Mosambik an, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als das zu glauben, denn das zerkratzte Plastik seines Fensters spiegelt nur seinen wirren Blick, die bleiche Visage, kaum zu erkennen, wie auf einem verwackelten Foto, verdoppelt, als wäre er im Vollrausch.

Viel mehr als ihren unendlich langen und unaussprechbaren Namen weiß er nicht von der Stadt, in der er gleich landen wird. Den Rest hat er aus dem Internet und von denen, die da waren: eine brandende Hauptstadt auf Hügeln wie Wellen, die einem das schwarze Salz der Luftverschmutzung entgegenschleudern, die einen überrollen und zermürben – du wirst sehen, das hat schon was –, eine Stadt, die einen zwischen ihren in die Vegetation verwachsenen Häusern einkeilt, in ihrem roten Schlamm und ihrem rissigen Beton einschließt und einen dann doch, nachdem man sie oft verflucht hat, in ihre nicht gerade katholischen, gerade eben menschlichen Geheimnisse einweiht. Im Moment ist es ihm, in seinen Economy-Sitz gekrampft, egal, was sie erzählen. Er will da sein, will selber sehen, um es zu glauben. Er hätte absagen können, Putsch, Seuchen, Armut, Naturkatastrophen, jeder hätte es verstanden, wenn er auf diesen Quatsch verzichtet hätte. Jetzt ist es zu spät, um nervös zu werden. Die Regenzeit wühlt den Himmel auf – Sommer auf der Südhalbkugel, feuchte Hitze, du wirst so leiden, Alter –, und fast nirgendwo gibt es Strom seit dem heftigen Zyklon, der gerade über das Hochland gefegt ist; davon sagen sie nichts in den Nachrichten, aber du wirst in einer übel zugerichteten Hauptstadt ankommen, im Moment herrscht da Notstand.

Im Dunkeln braucht es den Stoß der Landung, damit sich die Insel unter dem glatten Rumpf der 777 ausbreitet. Als das Flugzeug in der warmen Luft des Rollfelds von Ivato langsam zu seinem Platz abdreht, werden die doppelreihigen Leuchten entlang der Landebahn noch kurz von seinem Fenster eingerahmt, dann gehen sie aus. Er fragt sich, was er mehr bereuen wird: mit ihr Schluss gemacht zu haben oder dass sie, ohne groß nachzudenken, so schnell wieder miteinander geschlafen haben.

Das Fenster des Büros geht auf eine hohe Umgebungsmauer, auf deren Beton hier und da braune Flechten sprießen. Am Morgen war das Licht weich und angenehm warm, seine erste afrikanische Sonne, aber jetzt sticht es, blendet mehr, als es erhellt, bleicht das Durcheinander auf dem farblosen Hof aus: den Wust an kläglichen Bananenstauden, deren große Blätter traurig herabhängen; die paar kargen Sträucher und rotbraunen Gräser, die als Überreste der Vegetation aus dem harten Boden hervorstoßen; zwei seltsame längliche Hühner und eine lädierte Ente, die in einem heruntergekommenen Gehege im Stroh scharren.

Es ist noch nicht mal zwanzig Stunden her, dass er gelandet ist, und doch kommt es ihm wie eine alte, abgewetzte Erinnerung vor, wie er am Abend vorher über das Rollfeld geht und ihm unter den erloschenen Laternen plötzlich der Geruch der Tropen entgegenschlägt. Etwas Verbranntes in der Luft erinnerte ihn an die Karibik, an Nassau, Castries oder Pointe-à-Pitre, aber hier war die Küste weit entfernt, keine Meeresbrise, keine Prise Salz, die die Schwüle hätte auflockern können. In der konfusen Schlange, die sich vor dem Holzschalter drängte, warf er immer wieder einen Blick zum Ausgang, in der Hoffnung, Madame Andrissa zu erspähen. Da warteten mehr Leute, als Passagiere im Flugzeug waren; ganze Sippschaften hatten sich hinter den Metallbarrieren und der Schilderwand von Air France, Europcar, Madarental zusammengerottet. Falls niemand auftauchen sollte, solle er sich für die eine Nacht ein Hotel in Ivato nehmen, egal welches, das koste eh fast nichts und wäre auf jeden Fall besser, als zu versuchen, auf eigene Faust in die Stadt zu gelangen. Er entdeckte sie zuerst; sie hielt ein großes Pappschild in der Hand, auf das mit schwarzem Filzstift sein Name geschrieben war. Sie war klein, hatte breite Schultern und Hüften, ein kupferfarbenes Gesicht, eine hohe Stirn, hervorstehende Wangenknochen und Kinn, ihre am Schädel glatt gezogenen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und platzten am Hinterkopf zu einem Strauß aus schwarzen Locken auf; gar nicht rabiat, sondern wie in Zeitlupe arbeitete sie sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen durch die Menge vor. Ein wenig abseits, vor dem geschlossenen Schalter einer Reiseagentur, fanden sie dann zusammen. Sie rückte ihre Brille zurecht, bevor sie ihm die Hand gab. Man hatte ihm von dieser starken, heroischen Frau erzählt, sie hatten Mails ausgetauscht, ihr Name war das Erste, das von dieser Insel zu ihm gedrungen war, das genügte ihm: Er begab sich in die Hände von Madame Andrissa, die ab dem nächsten Tag seine Chefin sein würde – ihr Händedruck sagte genug.

Unter dem Fenster läuft der Wachmann entlang. Mit beiden Händen holt er aus dem Brunnen ganz hinten im Hof einen rosa Plastikeimer hervor. Derselbe hatte ihnen heute Morgen auch das große Metalltor geöffnet, als er, noch nicht ganz wach nach dieser kurzen, bleiernen Nacht zwischen unbekannten Laken, mit Madame Andrissa zum Büro kam. Noch keine vierzig, aber zahnlos und faltig, sieht er jetzt schon aus wie der Urahn, der er mal sein wird, sollte ihm ein langes Leben gegeben sein; er spricht kein Französisch, war aber trotzdem sehr gesprächig und hat mit schorfigen Lippen gelächelt, bevor er wieder im Inneren der winzigen Bretterbude verschwand, die man zuerst gar nicht wahrnimmt, so versteckt in der Mauerecke, und in der er mit seiner Familie lebt (in den als Tür dienenden Vorhang gewickelt, lugte ein kleines Mädchen hervor). Eine Meute bellender gelber Hunde, waschechte Promenadenmischungen, sprang hinter einem in der Ecke vor sich hin rostenden Müllcontainer hervor. Madame Andrissa haute dem größten, der sich zwischen ihre Beine gewagt hatte, auf die Schnauze, und das kleine Rudel trat den Rückzug an; genau so hatte sie es am Vorabend auch mit den Taxifahrern gemacht, die sie am Ausgang des Flughafens bestürmten.

Er hatte keine Uhr mitgenommen – keine äußeren Zeichen für Reichtum, Kumpel, sonst zücken sie die Machete, und zack, ab ist das Handgelenk –, aber eine Uhr braucht er auch gar nicht, um zu wissen, dass dieser Tag niemals enden wird. Er macht sich keine Illusionen mehr: Dieser Typ ihm gegenüber, dessen Namen er bei der Vorstellungsrunde nicht verstanden hat, wird seine Nase nicht aus den Papieren erheben, die er liest, durchblättert, zu fein säuberlichen Stapeln anordnet und dann wie ein Kartenspiel mischt; und von der Sekretärin mit dem kantigen Gesicht, die gerade eine handgeschriebene Seite in den Computer tippt, muss man sich auch nicht mehr erwarten. Verdattert, dass man ihn so ohne Beschäftigung lässt, sieht er ihnen zu. Als Madame Andrissa ihm am Morgen in ihrem gemächlichen Sprechtempo und sich für ihr eingerostetes Französisch entschuldigend – das sie übrigens einwandfrei spricht, sie lässt nur viel Platz zwischen den Wörtern –, die Tätigkeitsbereiche der Organisation vorgestellt hat, hat er ihr wie gebannt zugehört, in Erwartung des Moments, in dem sie ihm einen Platz zuweist, ihm erläutert, welche Rolle er zu spielen hätte. Jetzt bahnt sich langsam eine gewisse Beunruhigung an.

Er gibt sich gelassen und fragt seinen Kollegen, wo die Toiletten sind. Er hat seit dem Vorabend im Flugzeug nichts mehr getrunken, und das Brot vom Frühstück hat ihm vollends den Mund ausgetrocknet, aber er hat nicht die geringste Hoffnung, seinen Durst stillen zu können: Sollte es durch ein Wunder fließendes Wasser geben, wimmelt das sicher vor Amöben, und er hat keine Flasche, in der er eine Micropur-Tablette auflösen könnte. Aber er muss aus diesem Büro raus. Im Bad schlägt ihm ein säuerlicher Mief entgegen. Der zerbrochene Toilettendeckel ist gegen die Wand gelehnt; anstelle einer Spülung muss man mit einer großen Tasse Wasser aus einem Eimer unterm Waschbecken schöpfen. Der Wasserhahn dreht ins Leere. Er harrt dort aus, außerhalb des Blickfelds der anderen. Er müsste nur nachfragen, seine Unterstützung anbieten, daran erinnern, dass er dafür da ist; aber er tut es nicht, er hat Angst, jemanden zu kränken oder dass man ihn fragt, was er hier zu suchen hat, wenn doch nicht mal er das weiß.

Er schleppt seinen Durst und seine Langeweile bis zum Mittag mit sich herum. Im Speisesaal sitzen sie vor bunten Plastiksuppentellern mit dunklem Reis, die erst einmal nicht angerührt werden. Die anderen reden untereinander, manchmal spricht ihn einer auf Französisch an. Als der Letzte – mit einem lachsfarbenen Hemd, das ihm um den hageren Oberkörper schlottert, asiatischen Augen, eingefallenen Wangen, einem Bart im Kinngrübchen – dazustößt, am Tischende Platz nimmt und die Hände an der Stirn faltet, senken die anderen mit geschlossenen Lidern die Köpfe, und er beginnt, in einer ernsten und weichen Sprache voller rollender Sch-Laute zu beten, bis alle Amen sagen und dabei nach dem Löffel greifen: Attacke. Er sieht sich um, aber Madame Andrissa ist nicht da. Die Masse aus schlecht geschältem und schon kaltem Reis pappt am Gaumen fest. Er übergießt sie mit einer klaren Brühe, an deren Oberfläche ein paar Wurstfetzen schwimmen; er überwindet sich aus Höflichkeit, die versalzene Einlage mitzuessen, und so knirschen zwischen den Zähnen Knorpel, zähe Stücke und kleine Steinchen. Es wird geschlürft und geräuschvoll geatmet. Die magere Schreibkraft bringt einen durchsichtigen Krug, von dessen goldbraunem Inhalt dampfende Schwaden aufsteigen. Er hält sein Glas hin, leert es mit ein paar Schlucken und unterdrückt einen Brechreiz, als ihm klar wird, dass das kein Tee war – Wasser, erklärt man ihm lachend, das auf den angebrannten Topfboden gegeben und dann gekocht wurde, du siehst, wir lassen hier nichts verkommen.

Nach dem Essen bekommt er seine erste Aufgabe: Er soll eine mit Bleistift in ein Schulheft eingetragene Buchführungsseite abschreiben. Vergeblich versucht er, die Zahlen ganz langsam aufzumalen – er hat das schnell fertig; ungern gibt er das Heft wieder ab und lässt den Nachmittag sich hinziehen. Er überschlägt erst ein Bein, dann das andere, guckt aus dem Fenster – jenseits der flechtenbewachsenen Mauer ein undeutlicher Hintergrund, ein rot-grünes Relief, in trübes Licht getaucht, unter weißem Himmel –, und am Ende seiner Kräfte fügt er sich schließlich in sein Schicksal, redet sich ein, dass das nur der Anfang sei, das kommt noch, er wird sich schon einleben. Als er es nicht mehr aushält, steht er auf und wandert eine Weile durchs Haus. Das steht ebenerdig in der Mitte des Hofs, wo die Hunde Schatten suchen, und wird von einem einzelnen Gang durchzogen, einer Wirbelsäule aus türkisfarbenem Linoleum, gespickt mit Postkarten und kleinen gerahmten Bildern. Madame Andrissas Büro ist abgeschlossen, im Gegensatz zu den anderen beiden winzigen Räumen, die mit ein paar nackten Stühlen und auf Tischböcken befestigten Brettern möbliert sind und die sich der Rest des Teams teilt. In einem dieser Büros sind ein Kissen und ein Sperrholztisch mit Fensterblick für ihn reserviert; da liegen ein frischer Block kariertes Papier und zwei Stifte – ein roter, ein blauer –, alles säuberlich aufgereiht.

In letzter Minute und wie aus dem Nichts taucht Madame Andrissa auf, um ihn im Auto mitzunehmen. Sie legt Wert darauf, dass er sich die wichtigsten Orientierungspunkte einprägt, damit er den Weg in Zukunft allein gehen kann – das sind höchstens zwanzig Minuten, und das Viertel ist sicher, solange er aufpasst, Gott sei Dank sind wir hier nicht im Zentrum. Der schwarze Jeep wirkt ziemlich imposant mit seinen glänzenden Chromfelgen und der mächtigen Stoßstange. Auf der Fahrt vom Flughafen hat Madame Andrissa den Wagen über die Straße gejagt und, im Zickzack um die Schlaglöcher, immer wieder abrupt beschleunigt und zu plötzlichen Ausweichmanövern angesetzt. Mit ihrer monotonen Stimme erklärte sie ihm, dass diese Straße nachts sehr gefährlich sei, oft würden Leute hier überfallen, verstehst du, das ist ein sehr, sehr armes Land – sie wiederholte: ein sehr, sehr armes Land, und dabei rollte sie seltsam das »r«, mit einem Akzent, den sie bei keinem anderen Wort hatte. Er starrte durch die Windschutzscheibe, doch Erde und Himmel der Insel waren in dasselbe Schwarz getaucht. Aus dem bisschen, was im Strahl der Scheinwerfer aufschien, setzte er sich Folgendes zusammen: eine schmale aufgeplatzte Straße, Absperrgitter, die vom vorbeifahrenden Jeep erzitterten, Werbeplakate, aufgestapelte Ziegelsteine, Hunde mit gelben Augen, die zur Seite sprangen, Haufen von Schutt, die vielleicht auch liegende Körper waren.

Jetzt, da es hell ist, sieht er auch nicht klarer. Madame Andrissa zeigt auf die Hütten am Straßenrand – zwei Etagen, verwitterte Fassaden, Blechdächer, überbordende Balkone voller Wäsche, die vor dem nächsten Regen trocknen soll – und erläutert: Das da ist die Schule, hier kannst du Eier kaufen, da Kaffee, würde ich dir aber nicht empfehlen. Alles ist dreckig, überall fällt der Putz ab, es drückt ihm auf den Schädel, er würde gern den Blick abwenden. Diese Bretterbuden sind Eisenwarengeschäfte unter freiem Himmel – Haufen von rostigen Nägeln, Drahtrollen, Kabel, Felgen, herabhängende Reifen, Metallrohre und Gummischläuche – oder Metzgereien – ein riesiges, längs in zwei Hälften gesägtes Schwein, rotes, von Fliegen bevölkertes Fleisch, entweder zu glänzenden Haufen getürmt oder wie Kronleuchter an stumpfe Haken gehängt, von denen das wässerige Blut herabtropft. Vor einer der Buden halten sie an. Die Ware ist auf Regalen hinter der Theke aufgereiht, und er zeigt mit dem Finger auf eine Flasche Mineralwasser, eine Packung Nudeln, eine Büchse Mais. Er würde gern Tee und Schokolade nehmen, aber das traut er sich nicht, in seinem Rücken beobachtet ihn die ganze Straße; es würde so wirken, als wollte er seinen Reichtum zur Schau stellen, als wollte er zeigen, dass er es ja hat. Erst beim Bezahlen fällt ihm ein, dass er nur Euro in großen Scheinen hat. Madame Andrissa zieht ein knittriges Knäuel schmutziger Scheine aus ihrer Tasche. Er ergeht sich in Entschuldigungen, sie lächelt und sagt, das sei kein Problem, sie würde ihn die Tage mal zur Bank mitnehmen.

Am Abend zuvor sind sie spät angekommen. Der Oberst ist auf den Balkon in der ersten Etage getreten – nackter Oberkörper, runder Bauch über hellen Boxershorts – und hat sich ein T-Shirt übergestreift, bevor er zu ihnen herunterkam. Das Zimmer, das nun seins werden würde – Kommode, lila Bettwäsche, alter Röhrenfernseher, Dusche und Waschbecken –, befand sich nicht im Haus selber, sondern in einem anderen Gebäude, das sich über die ganze Länge des Hofs erstreckte. Es gab Warmwasser, und Charlotte, eine dürre junge Frau mit schlechten Zähnen, die er erst für die Tochter des Obersts gehalten hatte, würde seine Wäsche waschen. Mit so viel Luxus hatte er nicht gerechnet, er war fast enttäuscht. Die Fenster wurden von Gitterstäben geschützt, und der Oberst erklärte ihm, wie er sie von innen schließen konnte, wenn er die Holzläden heranzog und drei Riegel vorschob.

Zwischen seiner Ankunft und dem Ende dieses ersten Tages ist er um zehn Jahre gealtert. Es wird dunkel, der Regen setzt ein, es ist noch früh. Er kämpft mit der Müdigkeit: stürzt seinen Liter Wasser herunter, macht den Fernseher an – Schnee auf dem Bild, nichts in Französisch –, versucht zu lesen, die Lider werden schwer. Sein Körper macht sich bemerkbar, die schweren Glieder, der verspannte Rücken, die pochende Stirn, die immer noch trockene Kehle; sein Körper, das Einzige hier, das ihm nicht neu und fremd ist, den er plötzlich an jeder Stelle fühlt und mit letzter Kraft zusammenrappelt. Sein Koffer steht offen, er müsste erst mal auspacken, sich einrichten. Ohne Vorwarnung wird der Strom gekappt. Als das Licht später wiederkommt, wirft es ihn matt zurück in diesen Tag, der nicht enden will, obwohl tiefe Nacht ist. Auf der Kommode hat sich sein Handy ausgeschaltet, kein Akku mehr, seinen Laptop hat er nicht hervorgeholt, wozu auch, auf Internet braucht er hier nicht zu hoffen. Er liest von vorn bis hinten den Beipackzettel der Micropur-Tabletten durch: Wie ein Talisman trösten ihn dieses Medizinfranzösisch und die anderen Nationalsprachen daneben, diese Worte, die für verletzliche und nutzlose Menschen wie ihn gewählt wurden, dieses kleine Gedicht, gedruckt auf ein Stück zartes Papier, das wieder zusammenzufalten ihm nicht gelingt. Der Hunger treibt ihn nach draußen. Charlotte bringt ihm zwei zerbeulte Töpfe; im Hof setzt er auf einer elektrischen Kochplatte am Boden Wasser auf. Er würde gern über die Miete reden, aber der Oberst ist schon schlafen gegangen. Allein isst er seinen Teller trockene Nudeln. Charlotte besteht darauf, den Abwasch zu machen.